ART

Ra, als Name der Wolga (Ptolem. V 8, 6f. 12. VI 14. Ammian. Marc. XXII 8, 27), wird der römischen Geographie um die Wende des ersten Jhdts. n. Chr. bekannt. Aber schon Jahrzehnte vorher kannten und gebrauchten Botaniker, Apotheker, Ärzte diesen Namen oder den anklingenden Ῥῆον für die Rhabarberwurzel (Rheum Rhaponticum L.), die aus den Häfen der Krim importiert wurde und bei den griechischen und skythischen Händlern nach dem Strom hieß, von dessen Mündung man sie bezog und wo sie gewiß damals angebaut war, wenn das auch erst Ammianus (a. a. O.) bezeugt und die Rhabarberpflanze heute anscheinend nicht mehr an den Wolgaufern vorkommt (die Angaben hierüber sind widersprechend). Plinius, der die Pflanze Rhecoma nennt (XXVII 128), und Dioskurides (III 2; vgl. dazu Galen. XIII 224) bezeichnen die Striche am Schwarzen Meer oder noch eingeschränkter am kimmerischen Bosporus als Ursprungsgebiet, weil sie von hier aus exportiert wurde, – ein sicherer Beweis, daß die Geographen noch nichts von dem gleichnamigen Fluß wußten. Und ‚Pontisch‘ (Rha Pontikon) blieb fortan ein Beiwort dieser Stammform des Rhabarbers, neben der die chinesische, in ihrer Heimat schon seit Jahrtausenden bekannte und nachher aus Indien ausgeführte als Rha barbarum unterschieden wurde, wiederum wohl nach einem Zwischenemporion (der Barbarikeküste am Golf von Aden). Die zweite Namenform, Ῥῆον, geht deutlich auf eine skythisch-iranische Bezeichnung zurück, und von dieser leitet sich auch persisches rewend her, das dann die weiteste Verbreitung im arabischen, türkischen, sogar im russischen und serbischen Sprachgebiet gefunden hat (vgl. Schrader, Reallexikon d. indogerm. Alt. unter Rhabarber). Das von den kaspischen Steppen bis in den Altai und nach Transbaikalien verbreitete Rheum Rhaponticum war also auch in Vorderasien vor dem chinesisch-tibetischen officinale und palmatum bekannt und gebraucht.

Die finnischen Mordwinen nennen die Wolga noch heute Raw oder Rau (Müllenhoff D. A. II 75. III 16. Marquart Osteurop. u. ostasiat. Streifzüge 378). Die bestimmte Form lautet Rawš, und davon kommt wohl direkt das byzantinische Ῥῶς; so das anonyme geographische Compendium 29 (Geogr. Gr. min. ed. Müller II 502) und auch Ibn Ḥauqal (naḥr al Rōs). Das Wurzelwort wird auch sicherlich dem finnischen Sprachgebiet angehören; denn die Skythen Südrusslands hatten einen eigenen Namen für den Strom, den die pontischen Hellenen schon im 6. Jhdt. v. Chr. hörten und mit Oaros wiedergaben (s. d.). Das ist avestisches vouru, der [2] „breite“, noch sehr viel später von den Türkstämmen mit Atl übersetzt (s. u.). Darum hat auch die Ableitung des finnischen Ra von einem vorausgesetzten skythisch-iranischen Raha, das der Raṇha des Avesta, der Rasa des Rigveda entspräche, sehr wenig Wahrscheinlichkeit für sich, so verlockend auch der Versuch ist, von dieser Seite her dem rätselhaften Strom näher zu kommen (so zuletzt Marquart Streifzüge 378, 4, mit Berufung auf Lagarde, Kuhn, A. Weber). Wir werden weiter unten sehen, daß der Name Ra von dem finnischen Oberlauf und nicht von dem skythischen Unterlauf der Wolga ausgegangen ist.

Haben die hellenischen Geographen schon sehr früh eine ganz vage, aber mit schweren Irrtümern verknüpfte Kunde von der Wolga gehabt (s. den Art. Oaros), so ist der Strom doch erst in der letzten wissenschaftlichen Phase der antiken Erdkunde geographisch faßbar geworden. Aber damals haben Marinos und Ptolemaios in den Hauptzügen ein so überraschend treues kartographisches Abbild des Stromes entworfen, daß es für die Beurteilung ihrer Karte des östlichen Rußland notwendig und lohnend erscheint, ihm im einzelnen nachzugehen. Richtig läßt die Ptolemaioskarte die Wolga im hohen Norden aus zwei großen, einander fast entgegenfließenden Quellflüssen entstehen (Wolga und Kama). Richtig gibt sie dem vereinigten Strom zunächst eine allgemeine Hauptrichtung nach Südwesten; richtig läßt sie ihn in scharfer Knickung nach Osten umbiegen; richtig lenkt sie ihn ein zweites Mal nach Südsüdost ab bis zur Mündung ins geschlossene Kaspische Meer. Richtig verzeichnet sie am ganzen Unterlauf die Nesiotis χώρα, das ist die breite Flußaue, in der sich die Wolga neben dem Hauptbett in zahlreiche, oft weit abgehende Nebenläufe und Kanäle zerspaltet, die ebensoviele „Inseln“ umfassen. Richtig hat der Don-Tanais seine ungeheure östliche Ausbiegung, durch die er sich der Wolga gegenüber ihrer großen Knickung bis auf einen geringfügigen Zwischenraum nähert; die Entfernung zwischen beiden Strömen ist mit 440 Stadien fast genau getroffen. Aber diesen vortrefflichen Zügen stehen bedeutende Mängel und Entstellungen gegenüber. Das ungemein ausgedehnte Wolgadelta mit seinen vielen Armen ist noch unbekannt, obwohl es damals doch wenigstens in seinen Anfängen vorhanden gewesen sein muß. Die Verhältnisse der einzelnen Teile des Stromlaufes sind ganz unglücklich. Die kurze West-Ostrichtung nach der großen Knickung ist ungeheuer in die Länge gezogen, ebenso der ganze südsüdöstlich gerichtete Unterlauf bis zur Mündung (6400 Stadien gegenüber etwa 2500 der [3] Wirklichkeit in ganz roher Schätzung). Wir wissen, warum. Die irrtümliche Orientierung der Längsaxe des Kaspischen Meeres von West nach Ost anstatt von Süd nach Nord und die ungemein übertriebene nord-südliche Streckung der Maiotis tragen die Schuld. Dafür ist der Mittellauf enorm verkürzt (zu 1800 Stadien gegenüber bedeutend mehr als 5000 der Wirklichkeit). So kommt es, daß doch die Stromlänge für Mittel- und Unterlauf im ganzen auf der Karte und in natura wenig differieren. Umsostärker die Längen der Quellflüsse Wolga und Kama. Die erstere mißt nur 2500 gegenüber 9000 der wahren Länge in rohester Schätzung, die Kama 3500 gegenüber etwa 6000. Diese starken Differenzen beweisen, daß dem Kartographen keine bestimmten Zahlen, etwa über die Dauer eines Anaplus auf dem Strom vorlagen. Deutliche Fixpunkte der Kartenkonstruktion waren die größte Wolga-Donannäherung und die Mündung des R., diese nach dem Küstenperiplus des Kaspischen Meeres (bei Ptolemaios von der Cyrusmündung 4000 Stadien entfernt, gegenüber etwa 5600 der Wirklichkeit). Von diesen Punkten ausgehend hat Marinos den Wolgalauf gezeichnet nach allgemeinen Nachrichten, die das ganze Flußsystem betrafen; Nachrichten, die uns außerhalb der Ptolemaioskarte keine Spur hinterlassen haben, aber mit größter Sicherheit vorausgesetzt werden können. Wir verfolgen sie des näheren.

Im Osten der zweiten Wolgaknickung läßt die Ptolemaioskarte (ed. Wilberg VI 14) ein langgestrecktes (weit über 3000 Stadien) Gebirge mit Namen Rhymmika ὄρη von Südwest nach Nordost streichen. Hier entspringt, zwischen Wolga und Uralfluß = Daix gelegen, der Rhymmos; er soll ins Kaspische Meer münden (VI 14). Auch wenn heute der große und kleine Usen lange vorher in Salzseen und Sümpfen der Steppe versiechen, so kann auf jeden Fall nur einer von ihnen der Rhymmos sein. Auf den Rhymmischen Bergen entspringen noch mehrere andere Flüsse, οἱ μὲν εἰς τὸν Ῥᾶ ποταμὸν ἐκβάλλοντες, οἱ δὲ συμβάλλοντες τῷ Δάῖκι ποταμῷ. Auch hier setzt ein Blick auf die moderne Karte außer Zweifel, daß unter den Nebenflüssen der mittleren oder unteren Wolga unbedingt nur der Große Irgis und die Samara gemeint sind. Die Rhymmischen Berge entsprechen also dem Obščei Syrt genannten, mäßig hohen Landrücken, der am südlichen Ende des Uralgebirges ansetzt und nach Westen verläuft. Seinen Südrand begrenzt der Mittellauf des Uralflusses. Die Quelle dieses Flusses (des Daix) wird von der Ptolemaioskarte auf das Norosson ὄρος verlegt, ein Gebirge im Südosten der Rhymmika ὄρη. Auf dem Norosson entspringen ἄλλοι τινὲς συμβάλλοντες τῷ Ἰαξάρτῃ. Diese wertvolle Angabe läßt wiederum keinen Zweifel, wo wir auf unseren Karten das Norosson zu suchen haben. Denn die zum Syr darja gehenden Gewässer sind vornehmlich die Steppenflüsse des Irgis, die heute in der Sandwüste versiechen, aber wahrscheinlich wirklich einmal den Aralsee oder den Syr nahe seiner Mündung erreicht haben. Ihre Ursprünge liegen am Ostrand des meridional gerichteten Mugodšargebirges, eines breiten Plateaulandes [4] mit niedrigen Bergzügen, das den südlichen ‚waldreichen‘ Ural fortsetzt. Dieses ist das Norosson ὄρος der Ptolemaioskarte. Vom Uralgebirge trennt es die breite und sanfte Talfurche des Uralflusses in seiner rein westlichen Richtung, die bei dem Städtchen Orsk beginnt. Hier vereinigen sich der aus meridional gerichtetem Längstal in rechtem Winkel umbiegende, obere Ural und der ihm genau entgegenfließende Or, der im Mugodšar jenes Längstal fortsetzt. Da nun der Daix, wie gesagt, auf dem Norosson entspringen soll, so ist unbedingt der letztgenannte Fluß, nicht der obere Ural als der eigentliche Quellfluß angesehen. Dazu stimmt weiter, daß Ptolemaios ausdrücklich hervorhebt (s. o.), der Daix empfange auch von den Rhymmischen Bergen mehrere Nebenflüsse. Das können nur die oberhalb Orenburg sich vereinigenden und bei dieser Stadt in den Ural mündenden Gewässer sein, namentlich Salmyš und Sakmara, diese wiederum aus mehreren Längstälern des waldreichen Ural (Ik, Urmansilair usw.) entstehend, jener in breiter Talfurche die orographische Grenze zwischen Obščei Syrt und Ural bildend. Wahrscheinlich war aber auch der obere Uralfluß selber bis Orsk unter diesen, von den Rhymmika kommenden Nebenflüssen des Daix einbegriffen, und die langgestreckten, auf der Ptolemaioskarte 3000 Stadien messenden Rhymmika ὄρη sind in Wahrheit nicht bloß der Obščei Syrt, sondern auch das südliche ‚waldreiche‘ Uralgebirge.

Nunmehr sind wir in den Stand gesetzt, die Grundlagen zu erkennen, die Marinos für seinen Kartenentwurf des südöstlichen Rußland verarbeitet hat. Sie waren deutlich im wesentlichen die Beschreibung der großen Handelsstraße, welche, die Steppen- und Sumpfregion zwischen den Unterläufen der Wolga und des Ural in weitem nördlichem Bogen umgehend, von Tanais und der Krim über den Isthmus der Wolga-Donannäherung bei Zarizyn und das östliche Wiesenufer der Wolga zu den nördlichen Ausläufern des Obščei Syrt lief, auch dieses niedrige Gebirge, die Rhymmika ὄρη, im Norden umging und dann über dasselbe vom Tale der Samara nach Orenburg hinüberstieg. In diesem Zuge kreuzte sie wirklich die Quellbäche des Usen-Rhymmos ebenso wie den Großen Irgis und die Samara, die Nebenflüsse der mittleren Wolga, die darum alle Aufnahme in die an Marinos gekommene Beschreibung der Straße gefunden haben. Sie lehrte auch die Gewässer von Orenburg kennen, die richtig als Nebenflüsse des Daix bezeichnet wurden. Nachdem sie bei Orenburg den Ural überschritten, folgte sie dem Ilek aufwärts auf das Plateauland des Mugodšargebirges, das Norosson ὄρος, und durchquerte den Hauptrücken nahe der Quelle des Or, die als der eigentliche Ursprung des Daix-Ural angesehen wurde, und im Norden der größten Erhebung, des Airükberges. Beim Abstieg in die Steppenregion kreuzte sie die Quellbäche des Irgis, des Nebenflusses des Iaxartes. Man sieht längst, daß sie hier im wesentlichen zusammenfiel mit der großen, einst ungewöhnlich bedeutsamen Orenburg-Taškenter Heerstraße. Die Entfernungen der Ptolemaioskarte lassen sich mit der geschilderten [5] Straße recht wohl vereinigen. Es sind 5500 Stadien von der großen Wolgaknickung zu den Rhymmika ὄρη, entsprechend der Weglänge zwischen Zarizyn und Orenburg mit Umgehung des Obščei Syrt. Es sind weiter etwa 2000–2500 Stadien von dem Rhymmischen Gebirge bis zum Norosson ὄρος, wie die Strecke Orenburg bis zum Übergang über das Mugodšar nördlich seiner höchsten Erhebung Airük. Im ganzen war diese Straße, über die Ptolemaios etwa aus dem letzten Drittel des ersten Jhdts. n. Chr. topographisch so wichtige, neue Nachrichten hatte, noch dieselbe wie der von Herodot geschilderte skythische Karawanenweg des 6. und 5. Jhdts. (siehe den Art. Issedones). Mir scheint, daß, ganz gegen die Gewohnheit des Marinos, dank den neuen Nachrichten diese alte Beschreibung auf der Ptolemaioskarte offensichtlich großenteils unverwertet geblieben ist. Großenteils, doch nicht völlig; denn an der Wolga erscheinen noch immer die Phtheirophagen, d. h. Budinen. Aber neben ihnen finden wir neue, zum erstenmal genannte Volksstämme wie Materoi, Paniardoi, Sammitai und die Kanodipsas χώρα, diese ausdrücklich an der Wolga angesetzt gegen die Rhymmika ὄρη, also wohl der Landstrich zwischen Großem Irgis und Samara im Norden des Obščei Syrt.

Dabei fällt wenig in die Wagschale, daß das Norosson ὄρος auf der Ptolemaioskarte äquatoriale Richtung statt der ausgeprägten meridionalen erhalten hat. Der Obščei Syrt ist einigermaßen richtig orientiert. Solchen Fehlgriffen mußte der Kartograph bei der Mangelhaftigkeit seines Quellenmaterials nur allzu oft zum Opfer fallen. Nach den zerstückelten Angaben über das Uralgebirge und seine verschiedenen südlichen und südwestlichen Ausläufer glaubte Marinos drei völlig verschiedene Gebirge unterscheiden zu müssen: die Rhymmika ὄρη, das Norosson und weit von diesen entfernt im höchsten Norden das größte und längste, die Hyperboreia ὄρη. Dieses streicht in 61° nördlicher Breite mit genau äquatorialer Richtung. Auf ihm entspringen im äußersten Westen und Osten die beiden großen Quellflüsse des R. Für den Ursprung des östlichen, der Kama, ist die geographische Breite, wenn man den eigentlichen Gebirgslauf, die Wišera, in Betracht nimmt, merkwürdig genau; für die Wolgaquelle auf der zentralrussischen Waldaihöhe 3½° zu hoch. Aber die Gesamtzeichnung, die Orientierung der beiden einander fast entgegengerichteten Flüsse erscheint so treu, wie sie nur auf Grund von Angaben Ortskundiger ausfallen konnte. Darunter werden Hinweise auf das mittlere und nördliche Uralgebirge nicht gefehlt haben; sie klingen auf der Karte in den Hyperboreischen Bergen nach. Aber wenn wir uns auch ihren Inhalt unbestimmt genug denken mögen, um die Umdrehung des Ural aus der meridionalen in die äquatoriale Richtung nicht weiter auffällig zu finden, so bleibt doch immer unerklärlich, warum Marinos dieses ost-westlich orientierte Gebirge, anstatt es auf die Region des östlichen R. zu beschränken, wie er in anderen ähnlichen Fällen getan, bis zur eigentlichen Wolgaquelle durchgeführt hat. Wohl reichten andere ortskundige Berichte [6] nachweislich (s. u.) bis ins Ursprungsgebiet der Wolga hinauf; wohl besteht darum die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, daß dem Kartographen auch eine Kunde von der im nördlichen Flachland so auffälligen Waldaihöhe zugekommen war. Aber welche tatsächliche Nachricht hätte ihm Anhaltspunkte zu der kühnen Hypothese eines die Waldaihöhe mit den Bergen am östlichen R. verbindenden, 5400 Stadien langen Gebirges liefern können. Hierfür müssen wir die Erklärung offenbar in anderer Richtung suchen. Nicht so sehr neues geographisches Wissen dokumentiert jene kartographische Konstruktion als im Gegenteil das Wiederaufleben einer uralten geographischen Vorstellung, deren Wurzeln in die mythische Vorzeit hinaufreichen und die dann ionische Kosmologie und Erdkunde und schließlich der Roman recht ausgebildet haben. Die Hyperboreischen Berge sind im Grunde nichts anderes als die Rhipai, das ungeheure Nordgebirge, das die Tag- und Nachtbögen der Sonne scheiden sollte; hinter dem die Hyperboreer ihr glückseliges Leben führten (s. den Art. Rhipaia). Solche Erinnerungen müssen dem Kartographen suggeriert haben, die neuen unklaren Nachrichten über den Ural zu sicheren Zeugen uralten geographischen Wissens aufzurufen.

Warum aber dann der neue Name, mag er gleichwohl sichtlich aus den alten Mythen hergeleitet sein. Und noch bedenklicher, finden wir auf der Ptolemaioskarte 2600 Stadien nach Südwesten von den Hyperboreischen Bergen ein anderes kleineres Gebirge wirklich mit dem Namen Rhipaia ὄρη ausgestattet. Es enthält die Donquelle. Daß der Tanais auf den Ripaien entspringe, war seit dem 3. Jhdt. feststehende geographische Tradition. Marinos hat sie anerkannt. Er hat sie sogar so sehr anerkannt, daß er ihr zuliebe ein neues imaginäres Gebirge an der Tanaisquelle erfindet; denn es gibt dort keines. Aber er hat sie merkwürdigerweise nicht als das genommen, was sie in erster Linie zu sein scheint, eine neue gewichtige Bestätigung des Nordgebirges. Er setzt sich sogar in offenen Widerspruch zu der herkömmlichen Anschauung, er vertritt eine neue, die Nordgebirge und Ripaien scheidet, obwohl ihn doch anscheinend nichts hinderte, jenes noch weiter nach Westen auszudehnen und die Don- und Wolgaquellen in derselben geographischen Breite zu fixieren. Hier versteckt sich also ein richtiges Wissen. Von hier aus vermögen wir die kartographische Arbeit des Marinos aufzuhellen. Und wenn irgend eines, so scheint dieses ein unvergleichliches Beispiel, wie sich in ihr Jahrhunderte alte Tradition und neue bessere Ortskenntnis auf das seltsamste gemischt haben. Denn nur unter dem Zwange einer ganz bestimmten Nachricht über Entfernung und gegenseitige Lage der Don- und Wolgaquellen erklärt sich dieses kuriose Hin- und Herschieben der geographischen Erbstücke auf der Ptolemaioskarte. So legt es aber zugleich sicheres Zeugnis ab für das neue topographische Wissen. Tatsächlich entsprechen die 2300 Stadien der Karte recht wohl dem Abstand des Donursprunggebietes (bei Tula) vom Südrand der Waldaihöhe.

Unter den Hyperboreischen Bergen, an den [7] Quellen des östlichen R. (der Kama) verzeichnet die Ptolemaioskarte (VI 14) das Volk der Robaskoi (Roboskoi). Nach der handschriftlichen Überlieferung von III 5, 10 stoßen von Westen an die Ripaien die Boruskoi; an den Grenzen ihres Gebietes liegt die Tanaisquelle, stehen die ‚Altäre Alexanders d. Gr.‘, von dem Gebirge unmittelbar überragt und ὑπὸ τὴν ἐπιστροφήν des Don. Diese merkwürdigen Alexanderaltäre am europäischen Tanais sind stehen geblieben, auch nachdem längst niemand mehr an die einst traditionelle Verbindung zwischen diesem Flusse und dem innerasiatischen Iaxartes glaubte; nun gaben sie der Legende Fleisch und Blut, daß Alexander auch an den Don gezogen sei. Marinos entnahm die Altäre, kritiklos genug, entweder direkt aus der Weltkarte, die später Orosius zur Grundlage seiner Geographie der Oikumene machte, oder aus der Quelle, die jener Karte zu Grunde liegt. Denn bei Orosius (I 2) lesen wir, ganz übereinstimmend mit Ptolemaios: a flumine Tanai qua Riphaei montes Sarmatico aversi oceano Tanaim fluvium fundunt qui praeteriens aras ac terminos Alexandri Magni in Rhobascorum finibus sitos Maeotidas auget paludes quarum inmensa exundatio (auch dieser Zug gleich der Ptolemaioskarte) usw. Man hat schon lange vermutet, daß die von Orosius genannten Rhobasci die Boruskoi des Ptolemaios seien. Mag das richtig sein oder mögen die Borusken nur zufällig in die Nachbarschaft der Altäre und Ripaien geraten sein, was ich für wahrscheinlicher halte, jedenfalls macht die genaue Übereinstimmung des Ptolemaios mit Orosius in allen anderen Angaben zweifellos, daß auch die Robaskoi richtiger von diesem angesetzt sind und unbedingt ins Quellgebiet des Don und nicht der Kama gehören. Aber Marinos hat gewiß nicht ohne Grund sei es zwei Stämme dieses Namens unterschieden, einen am Tanais, den anderen am östlichen R., sei es die Verschiebung des Volkes vom oberen Don an das Uralgebirge vorgenommen. Ich sehe nur eine Erklärung. Ihm muß eine andere Nachricht vorgelegen haben, welche die Robaskoi wirklich im Quellgebiet der Wolga lokalisierte; bestimmte Kenntnis dieser zentralrussischen Striche haben wir bereits oben erschlossen. Nun hat es durchaus nichts Unwahrscheinliches, daß dieses Volk in Wahrheit die ganze Region im Westen Moskaus vom Südrande der Waldaihöhe bis Tula eingenommen habe. Dann konnten mit gleicher Berechtigung gewisse Nachrichten den Tanais, andere die Wolga aus dem Robaskenland ableiten. Marinos aber hat den offenkundigen Irrtum begangen, diese allgemein gehaltene Angabe auf den östlichen R. anstatt auf den westlichen zu beziehen.

Ist so die Lage der Robasken an der oberen Wolga gesichert, so läßt sich nunmehr auch die von Marquart (Streifzüge 378) versuchte Erklärung des Ethnikons als ‚Anwohner des Raufers‘ (von mordwinischem Raw, Rau, Rōs Ῥοϝάσκοι) sehr wohl hören. Marquart vergleicht noch Rogastadzans, möglicherweise gothische Übersetzung des finnischen Namens; denn jenes Volk erscheint neben Merens und Mordens, d. h. Mērja und Mordwinen an der Wolga, unter den [8] von Ermanarik unterworfenen zentralrussischen Stämmen (Iordanes 23). Wenn diese Erklärung ‚Anwohner des Ra‘ richtig ist, so gibt sie ein neues Indizium für die uralte Bodenständigkeit des Wolganamens R. im finnischen Waldgebiet und gegen die angebliche Entlehnung von den iranischen Skythen der Steppenregion (s. o.). Offenbar hieß zuerst gerade der Oberlauf des Stromes so und drang die finnische Bezeichnung allmählich und spät gegen den Unterlauf vor, den die Skythen und Griechen vielmehr Oaros nannten.

Und während am Oberlauf die alte Benennung sich bis auf den heutigen Tag forterhielt, wechselte die untere Wolga mit dem Ansturm neuer zentralasiatischer Völker neuerlich ihren Namen. Die vor 400 geschriebene χωρογραφία οἰκουμενική des Pappos aus Alexandreia hat noch Ra (Excerpt in der armenischen Geographie des Ps.-Moses von Chorene p. 11–12. Marquart Eranšahr 139). Dagegen setzt die armenische Länderbeschreibung selber in der Übersetzung der betreffenden Kapitel des Ptolemaios für R. Atʿl und beschreibt an anderer Stelle (ed. Soukry 26 = Marquart Streifzüge 153f.) den Unterlauf der Wolga als den ‚70armigen Fluß, den die Türken Atʿl nennen‘. Im folgenden werden dann mehrere Inseln zwischen diesen 70 Armen beschrieben; unterhalb derselben vereinigen sie sich wieder und gelangen ins Kaspische Meer. Also ist die Zahl eher auf die Kanäle und Nebenläufe der Nesiotis χώρα (s. o.) als auf das Delta zu beziehen. Die Byzantiner haben die türkische Bezeichnung der Wolga zuerst im J. 569f. durch die Gesandtschaft des Zemarchos an den Türkenchan kennen gelernt (Menander Protektor ed. de Boor 452–454 Atila). Aus Theophanes Chronogr. 356f. lernen wir dann, daß der Atel als gewaltiger Strom vom Okeanos herabkommt – er ist also mit dem schmalen Hals des Kaspischen Meerbusens auf der Eratostheneskarte verwechselt – und in die Maiotis mündet, nachdem er vorher den vom Kaukasus entspringenden Tanais-Don aufgenommen hat (die Donquelle auf dem Kaukasus nach einer traditionellen antiken Theorie) und wiederum nahe der Mündung dieses Flusses als Nebenarm den Kuphis d. h. den Kuban ausgesendet hat (!). In der armenischen Geographie ist’s wenigstens nur ein Nebenarm, den der Ra-At l zum Don abgibt, und Marquart (a. a. O.) erklärt diesen geographischen Irrtum vortrefflich aus einer falschen Lesart der benutzten Ptolemaioshandschrift. Aber die grauenhafte Wirrnis des byzantinischen Chronographen (die man freilich nicht als Norm byzantinischer Erdkunde nehmen darf) wird so einfach nicht aufgehellt. Um den ungeheuren Fortschritt der Karte Ostrußlands im Ptolemaiosatlas recht zu ermessen, vergleiche man die höher stehenden Karten des ausgehenden Mittelalters, etwa den mappamondo Fra Mauros von 1459 oder die Karte Juan de la Cosas von 1500 mit ihrem bunt geschlungenen Gewebe der russischen Ströme, die aus dem großen zentralen See oberhalb Moskaus nach allen Himmelsrichtungen ausgehend in das Baltische Becken, ins Weiße Meer, als Wolga-Edil in den Kaspi, als Borysthenes und Tanais in den Pontus Euxinus münden.
[Kiessling.]

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