ART

4) Ammianus Marcellinus (der volle Name in den Subscriptionen seines Geschichtswerkes; von Lib. ep. 983 und Priscian. IX 51 nur Marcellinus genannt). Antiochener (Lib. a. O. Graecus Amm. XXXI 16, 9; vgl. XXII 8, 33. ΧΧIIΙ 4, 10. 6, 20) aus guter Familie (XIX 8, 6), trat als ganz junger Mann (XV 1, 1. XVI 10, 21) in das vornehme Truppencorps der Protectores domestici (XV 5, 22. XVI 10, 21. XXXI 16, 9) und war 353 in Nisibis dem Magister equitum Ursicinus als Adjutant zucommandiert. Diesen begleitete er dann nach Antiochia, wohin sein Chef vom Caesar Gallus zur Leitung der Hochverratsprocesse gegen die Freunde des Domitianus und Montius berufen worden war (XIV 9, 1), und 354 nach Mailand an den Hof des Constantius (XIV 11, 5). Ursicinus wurde gleich darauf nach Köln geschickt, um den Aufstand des Silvanus zu unterdrücken (XV 5, 22. 26. 9, 6), blieb dann in Gallien und war hier Zeuge der ersten Thaten des Caesar Iulianus (XVI 2, 8). Im Sommer 357 berief ihn Constantius zu sich nach Sirmium und sandte ihn zurück in den Orient (XVI 10, 21). Nach kurzem Aufenthalt in Samosata (XVIII 4, 7) wurde er wieder abberufen (5, 4–5), doch als er auf dem Wege zum kaiserlichen Hoflager eben erst an den Hebrus gelangt war, erhielt er den Gegenbefehl, eiligst nach Mesopotamien zurückzukehren, wo damals ein Angriff der Perser erwartet wurde (XVIII 6, 5). So eilte er denn, überall den Widerstand vorbereitend, über Nisibis nach Amida in steter Gefahr, von den Feinden gefangen zu werden (6, 8–17). A. Marcellinus, der ihn auf all’ diesen Kreuz- und Querzügen vom Rhein bis zum Tigris begleitet hatte, wurde [1846] im Frühling 359 als Späher zu dem Satrapen von Corduene gesandt, der den Römern geneigt war. Dieser liess ihn auf einen hohen Berg führen, von wo er das Tigristhal weithin überblicken und den Anmarsch der Perser beobachten konnte (XVIII 6, 20ff. ΧΧIIΙ 6, 21. 80). Mit seinen Nachrichten zu Ursicinus zurückgekehrt, wollte er mit diesem nach Samosata ziehen, doch wurde unterwegs das Gefolge des Feldherrn durch einen feindlichen Überfall zerstreut und A. gezwungen, in Amida Schutz zu suchen (XVIII 8). Hier beteiligte er sich an der heldenmütigen Verteidigung der Stadt, und als sie endlich fiel, rettete er sich nach Melitene und ging von dort nach Antiochia (XIX 8, 5–12). Als Ursicinus 360 abgesetzt wird (XX 2), verschwindet auch A. Marcellinus aus der Geschichte; wahrscheinlich hatte er sich zugleich mit seinem Gönner in das Privatleben zurückgezogen. Doch machte er 363 wieder den Perserfeldzug des Iulianus mit (ΧΧΙII 5, 7. XXIV 1, 5. 16. 2, 1. 3. 5, 1. 8, 4. XXV 1, 1. 4. 3, 1. 6, 11. 8, 3. 4. 15), scheint aber, als das Heer nach Antiochia zurückgelangt war (XXV 10, 1), dort geblieben zu sein. Jedenfalls erlebte er in seiner Vaterstadt die Hochverratsprocesse des J. 371 (XXIX 1, 24. 2, 4. 15), und war wohl auch während der Katastrophe des Valens im J. 378 noch dort (XXXI 1, 2). Doch scheint er diesen Aufenthalt durch mehrere Reisen unterbrochen zu haben; denn auch Ägypten (XVII 4, 6. XXII 15, 1. 24. 16, 17) und Griechenland (XXVI 10, 19) kannte er aus eigener Anschauung. Später zog er über Thrakien (ΧΧII 8, 1. XXVII 4, 2), wo er die Schlachtfelder des Gothenkrieges besuchte (XXXI 7, 16), nach Rom und liess sich dort dauernd nieder (Liban. ep. 983. XVI 7, 7), obgleich ihn der Hochmut des Senatorenadels oft verletzte (XIV 6, 12ff. 21ff. XXVIII 4, 10. 17). Er behandelt daher die Häupter desselben in seinem Geschichtswerke mit entschiedener Missgunst (XIV 6, 1. XXVII 3, 5. 11, 1ff. XXVIII 1, 33. 4, 2. XXX 5, 4ff.); nur für die treuesten Anhänger des sinkenden Heidentums, Praetextatus und Symmachus, hat er eine ausgesprochene Vorliebe (XXI 12, 24. XXVII 3, 3. 9, 8). Mit dem Sohne des letzteren stand er vielleicht in persönlicher Verbindung, denn Symm. ep. IX 110 könnte wohl an ihn gerichtet sein. Ist dies richtig, so würde sich aus dem Inhalte des Briefes ergeben, dass A. Marcellinus in den römischen Senat aufgenommen wurde. An sich wäre dies sehr wahrscheinlich, da litterarische Leistungen damals oft durch Ehren und Würden belohnt worden sind (Götting. gel. Anzeig. 1887, 502); doch liegt darin eine Schwierigkeit, dass er in den Subscriptionen seines Werkes nicht vir clarissimus genannt wird. Zur Zeit der Hungersnot von 383 war er wohl noch nicht Senator, da er, nach seinen erbitterten Worten (XIV 6, 19. XXVIII 4, 32) zu schliessen, von der Ausweisung, welche damals gegen die Fremden verfügt wurde, mit betroffen zu sein scheint. Doch war er 391 wieder in Rom und hatte eben damals die ersten Teile seines noch unvollendeten Geschichtswerkes unter grossem Beifall recitiert (Lib. ep. 983). Über seine späteren Schicksale ist nichts bekannt (W. A. Cart Quaestiones Ammianeae, Berlin 1868).

[1847] Ist Symm. ep. IX 110 an A. Marcellinus gerichtet, so hatte dieser auch Reden verfasst. Erhalten ist von ihm nur die 2. Hälfte seines Geschichtswerkes (Buch XIV–XXXI), welche die J. 353–378 n. Chr. umfasst. Dasselbe führt in der Hs. und bei Priscian. IX 51 den Titel rerum gestarum libri; vollständiger lautete er vielleicht rerum gestarum a fine Cornelii Taciti, denn die Schrift begann ursprünglich mit der Regierung Nervas (XXXI 16, 9; vgl. XXII 15,1), war also eine Fortsetzung des taciteischen Werkes. Die successive Publication, welche Lib. ep. 983 und vielleicht Symm. a. O. bezeugen, prägt sich darin aus, dass Buch XV und XXVI besondere Vorreden haben. Auch die doppelte Behandlung desselben Gegenstandes, welche sich mehrmals nachweisen lässt (XIV 6 = XXVIII 4; vgl. XIV 4, 2. ΧΧII 15, 1 u. sonst), erklärt sich wohl daraus, dass die schon herausgegebenen Bücher keine andere Form des Supplements gestatteten. Als XIV 6, 19 geschrieben wurde, lag die Hungersnot von 383 nicht sehr lange (haut ita dudum) zurück; auf ein späteres Ereignis ist bis zum Ende von XXV nicht angespielt (Sievers Libanius 272); dagegen wird XXII 16, 12 das Serapeum, welches wahrscheinlich 391 zerstört wurde, noch als bestehend erwähnt. Der Sturz des berühmten Heiligtums machte zu grosses Aufsehen, als dass er dem Α., der selbst Orientale war und mit seiner Heimat gewiss in Correspondenz stand, lange hätte unbekannt bleiben können. Mithin durften diejenigen Teile seines Werkes, welche er nach Lib. a. O. im J. 390 oder 391 veröffentlichte, bis zum XXV. Buche gereicht haben. Dieses sollte wohl ursprünglich das Ende des Ganzen sein, wodurch er im Sinne seiner heidnischen Freunde, Libanius, Symmachus und Praetextatus, die Regierung Iulians als den ruhmvollsten Teil der letzten Vergangenheit zum glänzenden Abschluss gemacht hätte. Doch veranlasste ihn der Beifall des Publikums, seine Geschichte bis zum Tode des Valentinian und Valens fortzusetzen (Lib. ep. 983 τοῦ φανέντος ἐπαινεθέντος μέρος ἕτερον εἰσκαλοῦντος; vgl. XXVI 1, 1). Da bald darauf (392) ihre Dynastie ausstarb, konnte er von ihnen mit der vollen Schonungslosigkeit reden, welche ihm eigen ist. Zeitweilig dachte er auch daran, die Regierung von Gratian, Valentinian II. und Theodosius I. zu schildern (XXVIII 1, 57). Doch als der letztere, dessen Untergang man 394 in Rom erwartet hatte, seine Herrschaft über den Occident wieder herstellte und dann das Reich seinen Söhnen hinterliess, verzichtete er auf ein Unternehmen, bei dessen Durchführung ungeschminkte Wahrheit ihm hätte gefährlich werden können. In dem letzten Teil seiner Geschichte (XXV–XXXI) sind die spätesten Ereignisse, welche XXVI 5, 14 und XXVII 11, 2 erwähnt werden, das Consulat des Neoterius (390) und der Tod des Probus, welcher 389 noch am Leben war (Seeck Symmachus p. CIV); doch da Theodosius XXIX 6, 15, ganz ähnlich wie vorher Iulian und Valentinian (XV 2, 7. XVI 11, 6), princeps postea perspectissimus genannt wird, nicht nunc princeps noster, so wird das Werk wohl nicht vor seinem Tode (395) abgeschlossen sein. Dass es unter dessen Söhnen, nicht unter dem Gegenkaiser Eugenius [1848] (392–894) veröffentlicht ist, zeigt das Compliment an Theodosius, mit dem es schliesst, and das sehr absichtliche Lob seines Vaters (XXVIII 3, 1. 6, 26. XXIX 5, 4ff). Dagegen wird von Gildo gegen die Gewohnheit des A. gesprochen, ohne dass ein Wort über seine späteren Schicksale hinzugefügt würde (XXIX 5, 6. 21. 24). Dies deutet auf die Zeit hin, da man nicht recht wusste, in welchem Tone von ihm zu reden sei; das XXIX. Buch dürfte also dem Herbste 397. wo ihn der römische Senat zum hostis publicus erklärte und damit jede Zweideutigkeit in seiner Stellung beseitigte, kurz vorausliegen und folglich der Abschluss des ganzen Werkes an das letzte Ende des Jahrhunderte fallen (Cart a. O. 45).

Das Werk des A. Marcellinus will einerseits nach dem Muster des taciteischen, welches es fortsetzte, Reichsgeschichte sein, andererseits strebt es auch nach einer gewissen Annäherung an das Schema der Kaiserbiographien, das seiner eigenen Zeit geläufiger war. In dem ersteren Sinne ist die Stadtchronik von Rom, das noch immer als der Träger des Reichsgedankens galt, vollständig aufgenommen (Seeck Herm. XVIII 289), und die Schicksale der Provinzen, wie Plünderungen der Barbaren, Erdbeben u. s. w. werden verzeichnet, soweit sie bemerkenswert scheinen. An die biographische Form erinnern die Charakteristiken, welche A. beim Tode jedes Kaisers giebt, mit ihrer regelmässigen Einteilung: Familie und Abstammung, Tugenden, Laster, Körperbau und Aussehen, wozu meist noch ein kurzer Überblick über ihre gesamten Lebensschicksale hinzukommt. Noch bezeichnender ist, dass die Geschichte des Orients bis zum Tode des Valens (378) herabgeführt ist, während die des Occidents nur bis zum Tode Valentinians (375) reicht, ausser soweit sie, wie die Alamannenkriege Gratians, untrennbar mit den Ereignissen des Ostens verflochten ist. Dem entsprechend citiert auch A. Marcellinus frühere Teile seines Werkes nicht nach Büchern, sondern nur nach Kaisern, meist in dieser Form: ut in Gordianorum actibus rettulimus (XIV 1, 8. 4, 2. XXI 8, 1. ΧΧII 9, 6. 13, 3. 15, 1. ΧΧΙII 5, 7. XXV 8, 5. XXVII 8, 4. XXVIII 3, 8). Die Behandlung muss eine höchst ungleichmässige gewesen sein, während in den erhaltenen Teilen ein Zeitraum von 26 Jahren 18 Bücher füllt, waren vorher 257 Jahre in 13 Büchern abgethan. Denn dass die Zeit von Nerva bis Constantin nicht in einem gesonderten Werke geschildert war, welches von den XXXI rerum gestarum libri verschieden gewesen wäre, ergiebt sich mit Sicherheit aus XXXI 16, 9 und ΧΧIIΙ 6, 24 (vgl. L. Jeep Rh. Mus. XLIII 60). Die Verteilung des Stoffes innerhalb der einzelnen Regierungen ist sehr confus. Bis Buch XXV dürfte sie wesentlich durch die Quellen des A. Marcellinus bestimmt sein; denn dass er hier neben seinen eigenen Erinnerungen mindestens zwei Geschichtswerke benutzt hat, beweisen die Dubletten, von denen ΧΧΙII 5, 5–8 = 15–25. XXIV 1, 1–5 die auffälligste ist. Infolge dessen laufen zwei Einteilungsprincipien wirr durcheinander. Das eine ist rein annalistisch; die Ereignisse werden nach Jahren gesondert (XVI 6, 1. XVIII 1, 1. XX 8, 1. ΧΧΙII l, l) und diese beginnen zugleich mit dem Consulat (XVI [1849] 1, 1. XVII 5, 1. XVIII 1, 1. XX 1, 1. XXII 7, 1. ΧΧΙII 1, 1). Die zweite Quelle scheint dem Muster des Thukydides folgend, nach Sommern und Wintern geschieden zu haben. Hier werden die Consuln beim Anfang der warmen Jahreszeit genannt (XIV 10, 1. XVI 11, 1), oder ihr Antritt wird im Verlaufe der Erzählung erwähnt, ohne einen Abschnitt zu machen (XXI 6, 5. XXV 10, 11). Dabei bedeutet der Winter die Zeit der Winterquartiere, deren Beginn einen Abschnitt bezeichnet (XTV 5, 1. 10, 16. XV 4, 13. XVII 10, 10); er endet erst, wenn der Kaiser ins Feld zieht, kann sich also bis in den Juni erstrecken (XVI 10, 20; erst 11, 1 folgt das Consulat) und für die verschiedenen Reichsteile von verschiedener Länge sein. Ist bis zum XXV. Buche die Chronologie zwiespältig, aber doch noch kenntlich, so hört sie im Schlussteil (XXVI–XXXI) fast ganz auf. Hier benutzte A. ausser einigen Panegyriken (XXXI 10, 5) wohl keine schriftlichen Quellen mehr, und bei der Erzählung von Ereignissen, welche 20–30 Jahre weit zurücklagen, war sein Gedächtnis nicht zuverlässig genug, um ihm die genaue Datierung jedes einzelnen zu gestatten. Er macht daher gar keine zeitlichen Abschnitte mehr, sondern berichtet nur nach dem inneren Zusammenhange, indem er meist auf den einzelnen Schauplätzen die Vorgänge mehrerer Jahre zusammenfasst (z. Β. XXVII 3, 3–13. 5, 1–10). Andere Eigentümlichkeiten, welche diesen letzten Teil von dem vorhergehenden unterscheiden, hat Michael (Philol. Abh. f. M. Hertz 229) gesammelt. Mit Reden treibt A. keinen Luxus; vom XXVIII. Buche an hören sie ganz auf, und auch vorher wollen sie keine rhetorischen Prunkstücke sein, sondern sind kurz und sachgemäss. Von XIV–XXVII enthält jedes Buch in der Regel eine; eine Ausnahme machen XVIII und XIX. Doch wird für die hier fehlenden Reden dadurch Ersatz geboten, dass XXI zwei und XVII neben einer Rede auch zwei längere Briefe bietet. Sehr reich ist A. an Excursen, welche meist in höchst ungeschickter Weise die fortlaufende Erzählung unterbrechen. Sie handeln von allem möglichen Wissenswürdigen und müssen dem Werke, als es noch vollständig war, beinahe den Charakter einer Encyclopädie gegeben haben. Eine besondere Stelle nehmen unter ihnen die geographischen ein, von denen jeder, soweit sie sich nicht mit den Ländern der freien Barbaren beschäftigen, eine Diöcese des Reiches zu behandeln pflegt. Sie scheinen planmässig derart über das Werk verteilt gewesen zu sein, dass sie in ihrer Gesamtheit eine abgeschlossene Erdbeschreibung darstellten. Für sie alle ist das gleiche Schema befolgt, ‚dass die Beschaffenheit der Landschaft, Gebirge, Flüsse, Fruchtbarkeit, dann die Verwaltungsbezirke nach älterer und besonders nach diocletianischer Ordnung, die namhaften Städte nebst ihren Memorabilien, endlich der Eintritt einer jeden Provinz in das römische Reich dargelegt werden‘. Die Hauptquellen dafür sind Rufius Festus, ein officielles Verzeichnis der Provinzen und Städte des Reiches, das kurz vor 373 abgefasst sein muss, Ptolemaios, eine Chorographia Pliniana, dem Solinus ähnlich, nur vollständiger, endlich ein Werk des Timagenes, wahrscheinlich ein περίπλους. Doch daneben sind auch [1850] Livius, Caesar, Sallust, Lucan und manche andere benutzt (Mommsen Herm. XVI 602. Gardthausen Jahrb. f. Philol. Suppl. VI 509. Gutschmid Lit. Centralbl. 1878, 737. Schuffner A. M. quae de sedibus ac moribus complurium gentium scripserit, Meiningen 1877. Christophe Géogr. d’A. M. Asie centrale, Gaule, Égypte, Lyon 1880).

Für die Geschichtserzählung selbst hat A. in den verlorenen Teilen seines Werkes neben anderen Quellen den Herodian (Schneider Quaestiones Ammianeae, Berlin 1879) und den Eutrop (XV 5, 18 = Eutr. IX 26. XTV 11, 10 = Eutr. IX 24) ausgeschrieben. Im XIV.–XXV. Buch legt er abwechselnd den Magnus von Carrhae (s. d.) und einen anderen unbekannten Historiker zu Grunde, welcher letztere sein Werk bis zur Thronbesteigung Valentinians I. fortgeführt hatte und mittelbar auch von Zonaras benutzt worden ist. Ausserdem kennt er die Schriften Iulians (XVI 5, 7. ΧΧII 14, 2). Endlich wird er von den Panegyriken, welche damals die häufigsten Erzeugnisse der Tageslitteratur waren und zum Teil sehr viel historisches Material enthielten, gewiss manchen jetzt verlorenen herangezogen haben; einmal scheint er auf eine solche Rede anzuspielen (XXXI 10, 5). Im allgemeinen aber sucht er in der Geschichte seiner eigenen Zeit seine Abhängigkeit von geschriebenen Quellen zu verhüllen und stellt sich, als wenn er alles aus eigener Anschauung oder durch die Erzählungen von Augenzeugen wüsste (XV 1, 1. XVIII 6, 23. XXXI 14, 8). Vgl. H. Sudhaus De ratione quae intercedat inter Zosimi et Ammiani de bello a Iuliano imp. cum Persis gesto relationes, Bonn 1870.

Die Art seiner Quellenbenutzung lässt sich am besten an den geographischen Excursen studieren, da hier seine Vorlagen grösstenteils noch erhalten sind. In ihnen tritt ‚nicht bloss eine arge Fahrlässigkeit zu Tage, sondern auch das Bemühen, durch leere Worte die mangelnde Kunde zu verdecken und ein scheinhaftes Bescheidwissen an allen Orten und von allen Dingen dem Leser vorzuspiegeln, welches bei ernstlicher Prüfung vielmehr sich darstellt als eine ebenso unzulängliche wie dreiste Übertünchung der eigenen Unkenntnis‘ (Mommsen Herm. XVI 635). Mitunter macht er sichs bequem und schreibt seine Quelle fast wörtlich aus (Mommsen 608); häufiger fügt er Zusätze aus anderen Autoren oder auch freie Ausschmückungen hinzu, welche den Inhalt der Vorlage manchmal arg verfälschen (Mommsen 607). Dass er unbesinnlich genug ist, ganz dieselbe Geschichte aus zwei verschiedenen Schriftstellern unmittelbar hinter einander zweimal zu erzählen, haben wir schon S. 1848, 62 gesehen. Seine Hauptquellen hüllt er in Dunkel, ausser wenn sie durch ihre Abgelegenheit dem Leser imponieren können (Mommsen 618). Denn er prunkt gerne mit Gelehrsamkeit, häuft zu diesem Zwecke überflüssige Parallelen aus der älteren Geschichte (z. Β. XIV 11, 29ff.) und schwelgt in Citaten aus berühmten Autoren, vor allen aus Cicero, der 34 mal namentlich angeführt wird (Michael De Α. Μ. studiis Ciceronianis, Breslau 1874; Philol. Abh. f. M. Hertz 235; vgl. Wilamowitz Herm. XI 301).

[1851] Sein Latein hat der Antiochener in der Schule gelernt und nie ein lebendiges Sprachgefühl in sich entwickelt. Er will auch im Stil auffallen und glänzen und bevorzugt daher die ungewöhnlichsten Wortstellungen und Satzgefüge (Hassenstein De syntaxi Α. Μ., Königsberg 1877. Reiter De Α. M. usu orationis obliquae, Würzburg 1887. Reinhardt De praepositionum usu apua Α. Μ., Halle 1886. Ehrismann De temporum et modorum usu Ammianeo, Strassburg 1886. Liesenberg Die Sprache des Α., Blankenburg 1888. 1889). Mit grosser Belesenheit sucht er sich seltene Wörter und Floskeln bei Plautus, Terenz, Vergil, Horaz, Ovid, Lucan, Valerius Flaccus, Statius, Caesar, Sallust, Livius, Valerius Maximus, Seneca, Florus, Plinius, Tacitus, Sueton, Apuleius, namentlich aber bei Cicero und Gellius zusammen und verwendet sie vermittelst eines unglaublichen Gedächtnisses oder, was wahrscheinlicher ist, eines sehr gut geordneten Zettelkastens. Auch in dieser Beziehung sucht er die Provenienz seiner Lesefrüchte zu verhüllen. Deshalb verteilt er Stücke desselben Excerpts an weit auseinander liegende Plätze, mischt Floskeln verschiedener Schriftsteller durcheinander, stellt die Worte möglichst um oder braucht sie in einem Zusammenhange, welcher demjenigen seiner Quelle gerade entgegengesetzt ist. Auch der Sinn seiner Darstellung wird mitunter durch dies zusammengelesene Zeug entstellt. So lässt er nach Gell. V 6 den Iulian coronae obsidionales, navales, ciricae und castrenses verteilen (XXIV 4, 24. 6, 16), eine Sitte, die zu seiner Zeit längst abgekommen war; der König der Chioniten eröffnet den Kampf nach dem Ritus der römischen Fetialen (XIX 2, 6) und begräbt seinen Sohn indicto iustitio (XIX 1, 10); was Livius (XXIX 3, 13) von den Africanern sagt, wird auf die Hunnen übertragen (XXXI 2, 11). Die strenge Wortinterpretation führt daher bei A. sehr leicht irre (Hertz Herm. VIII 257; De Amm. Marc. studiis Sallustianis, Breslau 1874. H. Michael De Α. Μ. studiis Ciceronianis, Breslau 1874. Gerber Phil. XXIX 559. Wirz Phil. XXXVI 627. Klebs Phil. XLIX 310).

Die historische Auffassung des A. Marcellinus ist kühl und unparteiisch. Selbst die religiösen Kämpfe seiner Zeit berühren ihn kaum, denn sein Heidentum ist blasse philosophische Theorie, nicht lebendiger Glaube. Er tritt für unbedingte Toleranz ein (ΧΧII 10, 2. XXX 9, 5), tadelt den heidnischen Übereifer des Iulian (XXII 10, 7. 12, 7. XXV 4, 17. 20), hat auch für die christliche Lehre Worte der Anerkennung (XXI 16, 18. XXII 11, 5. XXVII 3, 15) und versagt dem Heldenmute der Märtyrer seine Bewunderung nicht (XXII 11, 10). Aber den Kultus ihrer Reliquien bezeichnet er spöttisch mit sepulcris haerere (XIX 3, 1; vgl. XVIII 7, 7), der Streit der Secten erscheint ihm verächtlich, und die zahlreichen Synoden, welche Constantius zusammenberief, sind ihm nur insofern von Bedeutung, als durch das Hin- und Herreisen der Bischöfe die Postpferde ruiniert wurden (XXI 16, 18. XXII 5, 4; vgl. Cart Quaestiones Ammianeae 23). Doch wenn er sich den Blick nicht durch Fanatismus trüben lässt, so hat dies andererseits [1852] den Nachteil, dass er für die religiöse Bewegung seiner Zeit gar kein Interesse besitzt und die wichtigsten Ereignisse dieser Art vornehm übergeht oder mit ein paar Worten abthut, während Vorzeichen und Prodigien einen überflüssigen Raum bei ihm einnehmen (vgl. XIX 12, 20). In der Darstellung der Kriegszüge und Schlachten strebt er mehr nach rhetorischem Prunk, als nach sachlicher Klarheit. Die Phrasen vom Schmettern der Drommeten, dem Strömen der Blutbäche, dem Wimmern der Verwundeten u. dgl. m. überwuchern daher das strategisch Bedeutsame, für welches A. Marcellinus kaum ein Verständnis zu haben scheint. Dagegen besitzt er in der Schilderung menschlicher Charaktere eine Meisterschaft, welche in der ganzen antiken Litteratur kaum ihresgleichen hat und ihn trotz seiner grossen Schwächen den ersten Geschichtschreibern aller Zeiten anreiht. Persönliche Zu- und Abneigungen haben auf ihn, wie auf jeden Menschen, ihre Wirkung ausgeübt, aber im ganzen hat er sich eine erstaunliche Unparteilichkeit zu wahren gewusst und wohl durch Unachtsamkeit und die Sucht, mit glänzenden Phrasen zu prunken, doch niemals aus Haas oder Liebedienerei die Wahrheit entstellt.

Citiert wird A. Marcellinus nur einmal bei Priscian IX 51; doch hat er schon früh, wahrscheinlich in Sulpicius Alexander (s. S. 1446), einen Fortsetzer gefunden und ist auch von Cassiodor stilistisch nachgeahmt und in dessen Gothengeschichte benutzt (Μοmmsen Jordanes p. ΧΧΧΙII).

Der Text des A. beruht ausschliesslich auf einer Hersfelder Hs. aus dem Anfang des 10. Jhdts. Von ihr sind nur sechs Blätter als Actendeckel aufgefunden und werden jetzt in Marburg bewahrt; der Rest ist verloren. Doch hatte man schon im 10. Jhdt. eine Abschrift davon für das Kloster Fulda gefertigt, welche durch Poggio nach Italien gebracht wurde und sich jetzt im Vatican (nr. 1873) befindet. Auf diese gehen alle anderen Hss. und Ausgaben zurück. Kritischen Wert hat nur die Ausgabe des Sigismund Gelenius (Basel 1533). Diese ist zwar auch zum Teil nur ein Nachdruck der Ausgaben des Erasmus (Basel 1518) für die Bücher XIV-XXVII und des Accursius (Augsburg 1533) für XXVIII–XXXI; doch hat Gelenius in diese Vorlagen zahlreiche Besserungen eingetragen, viele zwar aus Conjectur, den grösseren Teil aber aus dem Hersfeldensis, welchen er noch vollständig benutzen konnte. Namentlich hat er aus diesem Lücken ausgefüllt, die umfangreichste XVII 4, 18–23 (Nissen Ammiani Marcellini fragmenta Marburgensia, Berlin 1876). Editio princeps von Angelus Sabinus (Rom 1474). Kritische Ausgaben von F. Eyssenhardt (Berlin 1871) und V. Gardthausen (Leipzig 1874–75); Ausgabe cum notis variorum, darunter die trefflichen des Valesius, von J. A. Wagner (Leipzig 1808). Gimazane Ammien Marcellin, sa vie et son oeuvre, Toulouse 1889.
[Seeck.]

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