Gnomon (γνώμων). 1) Ein aufrechtstehender Stift, der als Schattenmesser diente und daher auch σκιαθήρας, indagator umbrae, benannt war. Kleom. κυκλ. θεωρ. I 10 p. 98, 10–15. 17–22 Ziegler. Vitruv. I 6, 6. IX 7, 2 Rose2. Hultsch Abh. Ges. d. Wiss. Göttingen N. F. I Nr. 5 (1897), 13, 3. Der schattenmessende Stift stand auf einer mit Stundeneinteilung versehenen Tafel oder auf dem ebenfalls in Stunden geteilten Abschnitte einer Hohlkugel (σκάφη). Diese Einteilungen (descriptiones) mußten für jeden Ort der Erde nach seiner Polhöhe und geographischen Länge besonders hergerichtet sein. Vitruv. IX 1, 1. 7, 1ff., s. den Art. Horologium. Die Kunst, den G. zu gebrauchen, hieß γνωμονική, Papp. synag. VIII 1070, 1. Geminos bei Procl. in I. elem. 41, 25, oder nach Papp. VIII 1026, 1 γνωμονικὴ θεωρία. Sie wird von Geminos a. a. O. 41, 24–26 der Astronomie, von Vitruv. I 3, 1 der Baukunst zugeordnet. Vitruvius gebraucht in gleichem Sinne auch gnomonicae res VIII a. E. oder gnomonicae rationes IX praef. 18. Die dieser Wissenschaft Kundigen hießen γνωμονικοί, s. Diodoros o. Bd. V S. 711, 22–36.
Mit der Einrichtung und dem Gebrauche des G. waren längst vor dem Aufblühen der griechischen Mathematik die alten Babylonier und Ägypter vertraut gewesen. Herodot II 109 berichtet, nachdem er die Erfindung der Geometrie den Ägyptern zugeschrieben hat, daß die Griechen die Nachbildung der Himmelskugel mit ihren [1501] Sternbildern, den G. und die Einteilung des Tages in zwölf Stunden von den Babyloniern gelernt haben. Anaximandros hat also nicht, wie Favorinos bei Diog. Laert. II 1, 3 meldet, den G. erfunden, wohl aber die Griechen mit dem Gebrauche desselben bekannt gemacht. Diog. a. a. O. Suid. s. Ἀναξίμανδρος. Zu diesem Behufe stellte er in Lakedaimon eine Sonnenuhr (ὡρολόγιον σκιοθηρικόν vgl. Plin. n. h. II 187) auf, Diog. a. a. O., wonach die Tradition bei Plin. a. a. O., daß Anaximenes dies getan habe, zu verbessern ist. Was Vitruv. IX 8, 1 Rose2 von Berossos meldet, bezieht sich auf eine besondere praktische Einrichtung der Sonnenuhr, nicht auf die Erfindung derselben. Vgl. Bretschneider Geometrie vor Euklides 60. Cantor Vorles. über Gesch. d. Math. I2 102. 134f. Günther Mathematische Geographie 78.
Aus der Vergleichung zweier Quadrate oder rechtwinkliger, oblonger Parallelogramme ergab sich unter der Voraussetzung, daß die kleinere Figur nur mäßig von der größeren überragt wurde, als Unterschied die Form ╚ oder ╚, die als Winkelmaß gedeutet und ebenfalls G. benannt wurde. Boeckh Philolaos des Pythagoreers Lehren 142f. Iambl. in Nicom. 58, 19–25 Pistelli. Cantor Vorles. I2 150. Auch Demokrit scheint mit dem Titel seiner Schrift Nr. 33 (Thrasyllos bei Diog. Laert. IX 47) περὶ διαφορῆς γνώμονος ἢ περὶ ψαύσιος κύκλον καὶ σφαίρης eine dem Winkelmaß ähnliche geometrische Form gemeint zu haben. Allman Greek Geometry from Thales to Euclid 30f. 80. 83. Bei Eukl. elem. II def. 2 ist dieser Ausdruck auf den Unterschied von zwei Parallelogrammen, gleichviel ob sie recht- oder schiefwinkelig waren, ausgedehnt worden. An zwei Seiten des kleineren Parallelogramms und an seine verlängerte Diagonale lehnten sich dann zwei Streifen an, die zusammen den G. oder den Überschuß des größeren Parallelogramms über das kleinere darstellten. Eukl. elem. II 5. 8 p. 130, 15–21. 140, 13–23 Heib., vgl. die Figuren dazu und zu I 43. 44. Heron defin. 59 Hu. Schol. Eucl. op. V, Buch II nr. 11. 14. Cantor Vorles. I2 150f.
In der Arithmetik hat die Theorie des G. ihre Anwendung bei der Ausziehung von Quadratwurzeln gefunden. Setzen wir a = Seite des kleineren Quadrates und b = Überschuß der Seite des größeren Quadrates im Vergleich zu a und nehmen an, daß beim Wurzelausziehen a2 gefunden worden ist, so bleibt in der geometrischen Figur ein G. übrig, der zwei παραπληρώματα von der Form ab und das Quadrat über b enthält. Aus diesem Überschuß sind dann, so weit als tunlich, die Bruchteile der Wurzel zu entnehmen. Cantor Vorles. I2 460f. Hultsch o. Arithmetica § 15f.
Die fortschreitende Summierung der ungeraden Zahlen von 1 ab ergibt, wie o. Arithmetica § 18 gezeigt worden ist die Reihe der Quadratzahlen, denn es ist 1 + 3 = 22, 1 + 3 + 5 = 32 usw. Indem die ungeraden Zahlen, wie ich [1502] vermute, von 3 ab alternierend zu den Schenkln eines rechten Winkels beigeschrieben wurden, entstand eine an ein Winkelmaß erinnernde, ebenfalls γνώμων benannte Figur. Theo Smyrn. 54f. 64f. Dupuis. Iambl. in Nicom. 58, 7–60, 7 Pistelli. Schol. Eucl. op. V, Buch 2 Nr. 13. Boeckh Philolaos des Pythagoreers Lehren 142ff. Cantor Vorles. I2 151f.
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