Chalkis (Χαλκίς). 1) Die nach Lage und Geschichte bedeutendste Stadt der Insel Euboia, als deren Hauptstadt sie im späteren Altertum unbestritten anerkannt war (Strab. X 446. 448, vgl. Nonn. Dion. XIII 166 μητρόπτολις Ἐλλοπιήων).
Inhaltsverzeichnis
Lage.
Name.
Geschichte.
Topographie.
Verfassung.
Karten
Chalkis mit dem Euripos
Chalkis
Anmerkungen (Wikisource)
Lage.
Ch. lag etwa in der Mitte der dem Festland zugewandten Seite von Euboia, wo der in seinem nördlichen Teile ‚Euboisches Meer‘ genannte Meeresarm, der die genannte Insel vom Festland scheidet, sich zu einer schmalen und hafenreichen Meeresstrasse, dem Euripos (s. d.), verengert, und die Insel gerade in ihrem breitesten und fruchtbarsten Teile an Boiotien, die centrale Landschaft Mittelgriechenlands, lose angeschlossen erscheint. Durch diese bevorzugte Lage und im Besitz eines reichen Hinterlandes war Ch. von Haus aus zum natürlichen Ein- und Ausfuhrplatz Euboias und zum Vorort der Insel bestimmt, welche Stellung ihr in älterer Zeit nur durch das 13 km. weiter südöstlich gelegene Eretria, welches mit Ch. um den Besitz des fruchtbaren lelantischen Gefildes (s. u.) kämpfte, streitig gemacht wurde. Erleichtert wurde der Verkehr mit dem Festlande, das sich hier der Insel jetzt auf etwa 70 m. nähert, durch einen in der engsten Stelle des Sundes gelegenen Felsen, welcher als Stützpunkt der seit dem J. 411 v. Chr. über die Meerenge führenden Brücke diente. Der ganz seichte Strom zwischen dem Felsen und dem Festlande war im Altertum wahrscheinlich durch Anschüttung seitens der Boioter auf 28 Schritt verschmälert worden und war in neuerer Zeit von einer Steinbrücke abgesperrt; der östliche, für die Schiffahrt allein in Betracht kommende Arm nach Euboia zu war von einer 40 Schritt langen hölzernen Brücke durchquert; vgl. u. S. 2083 und Lolling in Bädekers Griechenland³ 211. Letztere wurden vor einigen Jahren abgebrochen, um die Durchfahrt hier zu erweitern, welche auf 39,3 m. Breite und 8,7 m. Tiefe gebracht werden soll, Admiralty Chart 2802 (Ausg. Febr. 1895). Überaus wichtig wurde in makedonischer und römischer Zeit (s. u. Geschichte) die Lage der Stadt für die militärische Beherrschung Griechenlands, [2079] und nicht unpassend vergleicht Liv. XXX 23, 12 (d. h. Polybios) den Euripos mit den Thermopylen.
Name.
Gegen die nahe liegende und schon von den Alten vertretene Ableitung von χαλκός haben Bursian Geogr. II 413, 2 und Kiepert Alte Geogr. § 226, 1 denselben auf χάλκη = κάλχη ‚Purpurschnecke‘ zurückzuführen gesucht, was angesichts des in der Nähe thatsächlich betriebenen Kupferbergbaus wenig Wahrscheinlichkeit hat. Über die Kupfergruben bei der Stadt vgl. Neumann-Partsch Phys. Geogr. 229. 233. Busolt Gr. Gesch. I² 452. Andere Namen, die für Ch. angeführt werden, sind Εὔβοια (Hekat. 105. vgl. Nr. 2), Στύμφηλος, Ἁλίκαρνα, Steph. Byz. Eustath. zu Il. II 537 und Dion. perieg. 764.
Geschichte.
Als Urbewohner werden genannt Abanten (Il. II 536f.), deren Führer vor Troia, Elephenor, zum Sohn des Eponymos von Ch., Chalkodon, gemacht wird (ebd. 541. IV 464; eine Phyle Ἀβαντίς noch auf einer Inschrift der Kaiserzeit bei Ulrichs Reisen II 223f.); Kureten nach Archem. bei Strab. X 465 (FHG IV 315); attische Colonisten unter Pandoros, Sohn des Erechtheus, Skymn. 573, oder Alkon (s. d. Nr. 1) nach Proxen. in Schol. Apoll. Rhod. I 97, nach [2080] dem troianischen Krieg unter Kothos, Strab. X 447. Plut. qu. Gr. 22. Vell. Pat. I 4, 1. Ἀθηναίων ἄποικος nennt Ch. Liban. im Arg. Dem. I. Jedenfalls weisen viele Beziehungen der ältesten Zeit nach Attika, anderseits freilich auch nach Boiotien hin, Busolt 291. Zeitlich mögen die Anfänge der Stadt bis in die mykenische Periode hinaufreichen, E. Meyer Gesch. d. Alt. II 198. Duncker Gesch. d. Alt. V 479. Schon in den ersten Jahrhunderten des letzten Jahrtausends v. Chr. muss Ch. eine durch Handel blühende und seemächtige Stadt gewesen sein; denn von dort gingen zahlreiche Colonien nach den verschiedensten Richtungen aus. Ein Hauptzug chalkidischer Colonisation war nach Norden gerichtet; dort wurden die sogenannten nördlichen Sporaden, Skiathos, Peparethos, Ikos, an welchen die nördliche Ausfahrt aus dem euboeischen Meer vorbeiführte, von Ch. aus besiedelt (Skymn. 580–586) und damit ein wichtiges Zwischenglied für die Verbindung mit der thrakischen Küste gewonnen, wo an der grossen dreigliedrigen, nachmals Chalkidike (s. d.) genannten Halbinsel eine Reihe kleinerer Pflanzstädte gegründet wurde. Die Zeit dieser Siedelungen wird in das 8. Jhdt. zu setzen sein, Busolt 452f. Gleichzeitig richtete sich das Augenmerk der Chalkidier nach dem Westen, wo sie in enger Handelsfreundschaft mit den Korinthern als Führer der griechischen Colonisation erscheinen. Als ihre älteste Pflanzstadt galt dort Cumae (s. d.), deren überliefertes Gründungsdatum (1051 v. Chr.) freilich nur auf einer Verwechslung mit dem aiolischen Kyme (s. d.) beruht, Duncker 485f. Busolt 391f. Über das 8. Jhdt. kann nach allem, was wir von der Entwicklung der hellenischen Seefahrt und Handelsbeziehungen wissen, eine Colonisation an diesen Küsten nicht hinaufgerückt werden. Hand in Hand damit gingen die Niederlassungen in Sicilien (Strab. X 447), wo (doch wohl schon früher als Cumae) um 735 v. Chr. Naxos (s. d.) als erste griechische Pflanzstadt begründet wurde, das seinerseits wieder Ansiedler an Katane und Leontinoi abgab. Ebenso wurden an der Meerenge Zankle und Rhegion von Ch. aus besiedelt und von ersterer Stadt aus Mylai und Himera. Näheres hierüber siehe bei den einzelnen Städten, sowie bei Holm Gesch. Sicil. I 116ff. Duncker 483ff. Busolt 385f. 390. 396. 415f. 442. Meyer 470ff. Die Handelsfreundschaft mit Korinth, ohne welche eine so unbehinderte Festsetzung der Chalkidier im Westen nicht möglich war, kam in der Folge auch in der gleichförmigen Entwicklung der Münzwährung (seit etwa 700 v. Chr.) zum Ausdruck, s. Curtius Herm. X 215ff. und die Nachweise bei Busolt 451f. Head HN 303 (älteste Münzen von Elektron). War so der Handel in den westgriechischen Gewässern wesentlich in den Händen der Chalkidier und Korinther, so zeigte sich der Einfluss jener auf die geistige Kultur darin, dass das in Ch. gebrauchte Alphabet nicht nur für einen grossen Teil des festländischen Griechenland, sondern durch Vermittlung der chalkidischen Colonien in Campania auch für die einheimischen Völker Italiens massgebend wurde, von denen es in der Form der lateinischen Schrift auf die modernen Kulturvölker überging. Vgl. Bd. I S. 1614. 1627ff. und die Karte zu Kirchhoff Studien z. Gesch. [2081] d. gr. Alph. Duncker 481. 488f. Wie die Schrift, so wanderten auch griechische Mythen, so die Aineiassage, von Ch. über Cumae nach Italien, s. Busolt 394f. Während so Macht und Einfluss der Chalkidier nach aussen hin immer wuchs, hatten sie zu Hause einen schweren Kampf um den Vorrang auf der Insel auszufechten. Eretria, die nur drei Stunden entfernte Nachbarin von Ch., hatte seinen Einfluss über den südlichen Teil von Euboia hinaus bis auf die Kykladeninseln Andros, Tenos und Keos ausgedehnt (Strab. X 448), während Ch. den Norden mit der aegaeischen Hafenstadt Kerinthos beherrschte. Lange waren beide Städte bei der Aussendung von Colonien gemeinsam vorgegangen, da mochte das drückende Übergewicht von Ch. und der häusliche Streit um den Besitz des fruchtbaren lelantischen Gefildes, das sich zwischen den beiden Städten ausdehnte, für Eretria der Anlass sein, den Entscheidungskampf aufzunehmen, der weit über die Bedeutung einer Localfehde hinaus die griechische Welt erregte und besonders die Seemächte in zwei Lager teilte (Thuk. I 15, 3). So hielt Samos zu Ch., Milet zu Eretria (Herodot. V 99), in gleichem Sinne standen sich Korinth und Megara gegenüber, und Hülfstruppen der thrakischen Tochterstädte wie thessalische Reiter (unter Kleomachos, dessen Grabmal mit hoher Säule später am Markt gezeigt wurde, Plut. amat. 17) kämpften für Ch. gegen die überlegene Ritterschaft von Eretria. Ein ritterlicher Zug geht durch diesen ‚lelantischen Krieg‘, nur das Schwert und die Stosslanze, deren kundige Führung schon Il. II 542ff. an den Kriegern Euboias rühmt und Archil. frg. 3 besingt, sollten im Nahkampf entscheiden, verpönt war der Gebrauch aller Wurfwaffen, wie Wurfspeer, Bogen und Schleuder, und eine feierliche Vertragsurkunde im Tempel der Artemis zu Amarynthos (Strab. X 448) heiligte das Übereinkommen. Wiederholt mögen die Kämpfe erneuert worden sein, deren Ausbruch an das Ende des 8. Jhdts. gesetzt werden muss, während die Entscheidung erst um die Mitte des 7. Jhdts. fiel; sie endeten mit der Niederlage Eretrias, das mit der lelantischen Ebene auch den Vorrang auf der Insel und seine Machstellung im aegaeischen Meer einbüsste. Dondorff De rebus Chalcid. (Hal. 1855) 5–18. Duncker 489–492. 515. Busolt 455ff. Meyer 539f. Holm Aufs. f. E. Curtius (1884) 21ff.
Dieser Erfolg nach aussen bedeutete für die innere Entwicklung der Stadt zunächst eine Stärkung des herrschenden Regierungssystems, der Aristokratie. Nach der Abschaffung des Königtums, zu dessen letzten Vertretern wir vielleicht den halb sagenhaften Amphidamas (s. d. Nr. 7. Duncker 479f.), den Zeitgenossen Hesiods, zu zählen haben, kam die Herrschaft an die adeligen Ritter, die ἱπποβόται (Herod. V 77. Aristot. bei Strab. X 447 und pol. IV 3, 2). Ihre Macht wurde erst gebrochen durch die Niederlage, welche Ch. gegen Ende des 6. Jhdts. durch das demokratische Athen erlitt. An dem Feldzuge, den Sparta im J. 506 v. Chr. gegen Athen unternahm, beteiligten sich mit den Boiotern auch die Chalkidier und drangen von Norden her in das attische Gebiet ein (Herodot. V 74). Der unrühmliche Abzug des peloponnesischen Heeres stellte sie dem Angriff der Athener [2082] blos, welche an einem Tag die zur Hülfe herbeieilenden Boioter und, über den Sund setzend, die Chalkidier schlugen (Herod. V 77). Simonides von Keos hat diese Thaten in Grabschriften auf die gefallenen Athener (frg. 89. 108 Bgk.) und einem Epigramm auf dem ehernen Viergespann, das zum Andenken des Siegs der Stadtgöttin geweiht wurde, verherrlicht (frg. 132 Bgk.). Von dem letzteren Tetrastichon, das auch Herodot. a. a. O. Diod. X 24, 3 mitteilt, haben sich Bruchstücke sowohl der ursprünglichen wie der nach 440 v. Chr. (s. u.) erneuerten Ausführung auf Stein erhalten, CIA I 334. IV 1, 334 a. H. Blümner zu Paus. I 28, 2. Die Folge dieser Niederlage war, dass der chalkidische Adel das im lelantischen Kriege gewonnene fruchtbare Ackerland an den Sieger abtreten musste, der es unter 4000 attische Kleruchen verteilte (Herodot. V 77. VI 100) und sich von nun als ‚Herr‘ der Stadt betrachtete (Diod. a. a. O.). Auf diese Bewirtschaftung des lelantischen Feldes durch Colonisten aus einem demokratischen Gemeinwesen und die Änderung der Verfassung von Ch. in demokratischem Sinne beziehen wir mit Duncker VI 575f. die Klage des Theognis 891ff., welche Meyer 539 minder wahrscheinlich auf Parteikämpfe nach dem lelantischen Kriege zurückführen will. Doch erfahren wir von solchen, chronologisch allerdings nicht näher bestimmbaren Parteikämpfen aus dem Bericht bei Aen. Tact. 4 über eine Einnahme von Ch. durch ‚Verbannte‘ (nach Meyer a. a. O. Demokraten) von Eretria aus. Jedenfalls war durch die Niederlage des J. 506 die Adelsherrschaft in Ch. erschüttert, die Machtstellung der Stadt gebrochen und die Herrschaft der Athener über ganz Euboia angebahnt worden, Duncker VI 570–77. Busolt II² 442ff. Die 4000 attischen Colonisten konnten sich allerdings nicht lange ihres Besitzes ungestört erfreuen. Beim Anzug der Perser im J. 490 sollten sie dem bedrohten Eretria Hülfe leisten, zogen es aber vor, sich über die Meerenge nach Attika zurückzuziehen, Herodot. VI 100. Duncker VII 117f. Busolt II² 577f. Dass sie später wieder in ihr Besitztum zurückkehrten, wird nicht überliefert; ein freundschaftlicheres Verhältnis der Athener zu Ch. seit jener Zeit kann wohl daraus vermutet werden, dass erstere den Chalkidiern im J. 480 zwanzig Schiffe zur Bemannung gegen die Perser stellten, Herodot. VIII 1. Busolt III 431. Jedenfalls lässt letztere Thatsache auf den gewaltigen Rückgang der Seemacht von Ch. seit dem 6 Jhdt. schliessen. Die Teilnahme der Χαλκιδῆς an der Schlacht bei Plataiai (479) kündet Herodot. IX 28, 31 und die Schlangensäule in Constantinopel, IGA 70. In der Münzprägung (Silber) beginnen seit etwa 480 die Aufschriften Ψ und ΨΑL[WS 1], Head HN 303f.
Dass Ch. wie die übrigen euboeischen Städte sich seit der Begründung des attischen Seebundes in einer gewissen Abhängigkeit von Athen befand, ergiebt sich aus dem ‚Abfall‘ derselben im J. 446; vgl. Euboia und Duncker IX 68ff. Busolt III 424ff. Aus Plut. Per. 23 erfahren wir, dass bei der Unterwerfung der Insel durch Perikles die Hippoboten, welche offenbar bei der Auflehnung gegen Athen die Hauptrolle gespielt hatten, aus der Stadt vertrieben wurden; die wichtige Nachricht [2083] von einer Aufteilung des chalkidischen Landes unter 2000 attische Kleruchen bei Ael. var. hist. VI 1, welche man früher als Parallelbericht zu Herodot. V 77. VI 100 auf die erste Eroberung um 506 (s. o.) bezogen hatte, wird jetzt mit H. Swoboda Serta Hartel. (Wien 1896) 30ff. wohl richtiger mit den Ereignissen der J. 446/5 in Verbindung gebracht. Die Chalkidier wurden nun zu förmlichen Unterthanen Athens und ihre Rechte und Pflichten als solche durch Volksbeschlüsse genau formuliert, CIA I 244. 257. IV 1, 1, 27 a. Dittenberger Syll. 10. 16. 17. 18. Busolt 431ff. Duncker 89ff. Diesem neuen staatsrechtlichen Verhältnisse entspricht es, dass die Münzprägung von Ch. jetzt aufhört, Head HN 304.
Das Missgeschick Athens im peloponnesischen Kriege, speciell die Niederlage einer athenischen Flotte im Sunde zwischen Eretria und Oropos im J. 411 veranlassten einen neuen Abfall der euboeischen Städte an welchem sich auch Ch. beteiligte, Thukyd. VIII 95, 6f. Grote Gesch. Griech. IV 364. Curtius Gr. Gesch. II⁴ 717. Um an dem benachbarten Boiotien einen festeren Rückhalt zu haben, wurde damals die Meerenge bei Ch. von beiden Seiten her durch Aufschüttung eines Dammes noch weiter verschmälert und die Durchfahrt (σῦριγξ) für die Schiffe von einer 62 m. langen (δίπλεθρος) hölzernen Brücke überdeckt, deren Enden noch durch feste Türme und Thore geschützt waren, Diod. XIII 47–56[WS 2] (setzt den Brückenbau in das J. 410). Strab. IX 403. X 447. Grote IV 394. Gleichwohl war Ch. mit den übrigen euboeischen Städten unter den ersten, welche sich im J. 377 dem neuen attischen Seebunde anschlossen, Diod. XV 30, 1, und erhielten daher auch in dem Bündnisvertrag weitgehende Selbständigkeit zugesichert, CIA II 17. 17 b = Dittenberger Syll. 63. 64. Schäfer Demosthenes I² 38. Das Aufstreben der thebanischen Macht brachte Ch. neuerdings in eine Zwitterstellung, und nach der Schlacht bei Leuktra mussten die euboeischen Städte dem Epameinondas Heeresfolge leisten, Xen. hell. VI 5, 23. VII 5, 4; Ages. XI 2. 24. Von dieser Zeit beginnt Ch. wieder selbständig zu münzen, Head a. a. O.; doch wurden die Versuche Thebens, sich in die Angelegenheiten von Euboia selbst einzumischen, auf die dringende Mahnung des Timotheos im J. 357 von Athen aus rasch und energisch zurückgewiesen, s. Euboia und Grote VI 175. Schäfer I 162f. Das Bündnis mit Ch. wurde damals erneuert, CIA II 64 = Dittenberger Syll. 86. Aber schon im J. 350 finden wir Ch. wieder unter den Gegnern Athens, das trotz der Abmahnungen des Demosthenes dem Tyrannen Plutarchos von Eretria Hülfe leistete, Schäfer II 78ff. Euboia bleib seither den Athenern entfremdet, ebd. 85f. Die Beziehungen von Ch. zu Athen wurden erst wieder angeknüpft, als unter Einfluss der Brüder Kallias und Taurosthenes, der Führer der Volkspartei in Ch., welche sich schon bei der Fehde gegen Plutarchos hervorthaten, der Plan eines euboeischen Städtebundes lebhaft erwogen wurde, aber weder am makedonischen Hofe noch in Theben einen günstigen Boden fand; da wandte man sich wieder an Athen, wo Demosthenes den Abschluss eines neuen Bündnisses mit Ch. durchsetzte (Winter [2084] 343/42?); Näheres s. bei Schäfer 420ff. 484f. III 237. Zum Kriege gegen Philipp überliess man, wie einst gegen die Perser (s. o. S. 2082), den Chalkidiern attische Schiffe, für welche angesehene Athener Bürgschaft leisteten, CIA II 804 B a 1ff. 809 c 42ff. Kallias operierte mit diesen geliehenen Schiffen erfolgreich gegen Makedonien, Schäfer II 492; auch zu Theben scheint das Verhältnis ein sehr gespanntes gewesen zu sein, ebd. 537f. Als die Entscheidung bei Chaironeia gefallen war, musste auch Euboia sich dem Sieger fügen; doch hatte dies für Ch. den Vorteil, dass es nun in den endgültigen Besitz des ihm von den Thebanern bestrittenen Küstenstriches auf der boiotischen Seite des Euripos gelangte und dort den früher nur als Gräberstätte benutzten Felshügel Kanethos (jetzt Kara Baba, 60 m.) als stark befestigten Brückenkopf mit der Stadt verbinden konnte, Strab. X 447. IX 403. Schäfer III 38. Bursian Geogr. I 216. II 414f. Aber die Freiheit der Stadt war doch zu Ende; denn schon damals hatte der wichtige Platz, wie es scheint, makedonische Besatzung, wie auch im Hafen eine makedonische Flotte lag, Arrian. an. II 2, 4. Schäfer 38, 4. 52, 4. Droysen Hellenismus² I 109. 163. Auch die Münzprägung ist seit Alexanders Zeit königlich, Head HN 304. Über den Aufenthalt des Aristoteles zu Ch. (323/22) s. Bd. II S. 1021.
In den Wirren der Diadochenzeit bewährte sich Ch. als ein fester Stützpunkt der makedonischen Machthaber, so des Kassandros, dem es zwar durch den Strategen Ptolemaios, des Antigonos Neffen, entrissen wurde (Winter 313/12), aber durch dessen Verrat und Abzug zum Lagiden (309) von selbst wieder zufiel, Diod. XIX 78, 2 (ἐπίκαιρος γὰρ ἡ πόλις ἐστὶ τοῖς βουλομένοις ἔχειν ὁρμητήριον διαπολεμεῖν περὶ τῶν ὅλων). XX 27, 3 (Abzug des Ptolemaios). Droysen II 2, 31. 33f. 36. 84. Zwar finden wir im J. 304 eine boiotische Besatzung in der Stadt (Diod. XX 100, 6), doch kann diese nur im Sinne des Kassandros gehandelt haben; denn es war ein gegen diesen gerichteter Schlag, dass Demetrios Ch. besetzte und (wie vordem Ptolemaios) für frei erklärte, Diod. a. a. O. CIA II 266. Droysen 180f. Wie vordem unter Philipp, Alexander und Κassandros, so blieb nun Ch. in den Händen der Antigoniden einer der festen Punkte makedonischer Herrschaft und besonders wichtig als Flottenstation, Droysen 208. 288. III 1, 95. 226f. Um so empfindlicher war es für Αntigonos II., dass dessen Neffe Alexandros (s. d. Nr. 15, Bd. I S. 1436) als Commandant der Besatzungen von Korinth und Ch. von ihm abfiel und in beiden Städten als selbständiger Fürst herrschte (zwischen 265 und 244), Droysen 239f. Nach seinem Tode fiel Ch. mit Euboia wieder an Antigonos, s. Droysen 243. 344, 2. Auch unter dessen Nachfolgern Demetrios und Antigonos Doson scheint der Besitz nicht gestört worden zu sein, Droysen III 2, 65. Niebuhr Vortr. üb. alte Gesch. III 366. 370. 406. Bekannt ist der Ausspruch Philipps V., welcher Ch. mit Korinth und Demetrias als die ‚Fesseln‘ von Griechenland bezeichnete, ersteres speciell mit Bezug auf die Beherrschung von Euboia, Boiotien, Phokis, Lokris, Pol. XVIII (XVII) 11, 5f. Liv. XXXII 37, 3f. Ernstlich wurde die makedonische [2085] Herrschaft in Ch. erst durch die Römer bedroht. Im J. 207 unternahm P. Sulpicius Galba in Verbindung mit König Attalos (s. o. Bd. II S. 2164) einen energischen Angriff, welcher jedoch an der festen Lage und den für eine feindliche Flotte ungünstigen Verhältnissen in der Meerenge, die durch heftige Meeresströmungen (s. Euripos) und unberechenbare Fallwinde (venti ab utriusque terrae praealtis montibus subiti ac procellosi se deiciunt) bewegt war, scheiterten, Liv. XXVIII 6, 8–7, 2. Auch C. Claudius Cento, welcher die Stadt im J. 200 durch einen Handstreich überrumpelte und die Umgebung des Marktes samt dem Arsenal und Proviantdepot des Königs in Asche legte, konnte sich mangels genügender Besatzungstruppen dort nicht halten, Liv. XXXI 22, 7–24, 2. Hertzberg Griechenl. unt. röm. Herrsch. I 62f. Mommsen R. G.⁷ I 703f. Makedonien gewann in Ch. neuerdings festen Stand, und die Friedensverhandlungen mit Rom im J. 197 scheiterten hauptsächlich daran, dass Philipp auf den Besitz seiner drei militärischen Hauptpunkte in Griechenland nicht verzichten wollte, Hertzberg 73f. Mommsen 709. Die Schlacht bei Kynoskephalai zwang ihn freilich, dieselben den Römern zu überlassen, die jedoch nach der ‚Befreiung‘ Griechenlands ihre Besatzungen wieder zurückzogen (194), Hertzberg 81f. 90. Mommsen 718. Die Münzen aus der folgenden Periode (bis 146) zeigen zuerst die volle Aufschrift ΧΑΛΚΙΔΕΩΝ, Head HN 304f. Ein Versuch des Aitolers Thoas, sich der Stadt zu bemächtigen (192), wurde durch die römische Partei vereitelt, Liv. XXXV 37, 4–39, 3. Hertzberg 117. Mommsen 726f. Dittenberger Syll. 198 Z. 230 A.; ebenso wies man den ersten Versuch des syrischen Königs Antiochos, die Stadt zu gewinnen, zurück, konnte sie aber, trotz der von Flamininus gewährten Unterstützung, gegen die bei Aulis lagernde Armee des Seleukiden nicht halten, Hertzberg 119f. Mommsen 728. 730. Bekannt ist, wie der König den Winter 192/91 in Ch. zubrachte und mit der schönen Tochter des Kleoptolemos prunkvolle Hochzeit feierte, nach der Schlacht bei den Thermopylen aber sich dort eiligst einschiffte und den Schauplatz seines Liebesabenteuers den Römern überlassen musste, Hertzberg 123f. 126. Mommsen 730f. Das Strafgericht, welches der Stadt für ihren Abfall zum Syrerkönig drohte, wurde nur durch die Fürbitte des T. Quinctius Flamininus abgewendet, dem dafür die Stadt noch zu Plutarchs Zeit Feste feierte, Plut. Tit. 16. Hertzberg II 225f.
Nochmals spielte Ch. eine Rolle im Kriege gegen Perseus, vor dessen Ausbruch schon Q. Marcius die Stadt besetzen liess (172/1), welche unter der Willkür römischer Beamten manches zu leiden hatte, Hertzberg I 189f. 193. 260. Mommsen 762. 765. Dies mochte sie wohl veranlasst haben, sich dem Aufstand des Kritolaos im J. 146 v. Chr. anzuschliessen, dessen für Griechenland unglücklicher Ausgang die Schleifung der Mauern von Ch., verbunden mit wüsten Scenen der Plünderung und Mordlust, zur Folge hatte, Lip. ep. LII. Polyb. XXXIX (XL) 17, 5. Hertzberg 263ff. 277. Mommsen II 45. 47. 49. Doch bewahrte Ch. trotzdem durch den Vorzug seiner Lage, durch welche sie die Seeverbindung an der [2086] Ostküste Griechenlands beherrschte, noch eine hohe militärische Bedeutung. Im ersten mithridatischen Kriege finden wir dort eine Hauptstation der Asiaten unter dem Befehl des Bruders des Archelaos, Neoptolemos, während Sullas Legat Munatius auf dem Festlande gegenüber eine beobachtende Stellung einnahm (88 v. Chr.), Hertzberg 358. 361. 364. 371. Mommsen 290. 293. Selbst nach der Niederlage bei Chaironeia (86 v. Chr.) bot die wahrscheinlich durch Schanzen wieder in Verteidigungszustand gesetzte Stadt dem sehr reducierten Heere des Archelaos einen sicheren Rückhalt, den Sulla nicht anzugreifen wagte, und blieb nach wie vor Hauptquartier des pontischen Generals und Mittelpunkt der Flottenbewegungen, bis die neue Niederlage bei Orchomenos (85 v. Chr.) dessen Operationen ein Ende machte, Hertzberg 374. 377f.
Geschichtlich tritt Ch. nun kaum mehr hervor; doch ergiebt sich aus Strab. I 446–448, dass die Stadt zu Beginn unserer Zeitrechnung jedenfalls die bedeutendste der Insel und in leidlich blühendem Zustande war; was dagegen auf Grund von Dio Chrys. or. 7 über späteren Verfall angenommen wurde, ist unsicher, da die dort geschilderte Stadt auch Karystos sein kann, s. Hertzberg II 191f. 290. Von Beziehungen zu einzelnen Kaisern sind die Widmungen von Statuen an Tiberius und Caligula hervorzuheben, CIG 2148f. Über die Münzen der Kaiserzeit s. Head HN 305.
Aus Iustinians Zeit giebt Prokop. aed. IV 3 eine nähere Schilderung des Euripos mit seiner beweglichen Holzbrücke; auch soll der Kaiser die Befestigung der Stadt erneuert haben, Hertzberg Gesch. Griech. seit d. Absterb. d. ant. Leb. I 92. Ende des 9. Jhdts. stellt der Protospathar Theophylaktos die Strasse von Ch. nach der lelantischen Ebene wieder her, CIG 8801. Hopf Allg. Encykl. LXXXV 132, 48. Hertzberg 233. Von den Bedrängnissen, denen die Stadt in jenen trüben Zeiten ausgesetzt war, giebt die Nachricht Kunde, dass der Emir Osman von Tarsos im J. 880 mit 30 Schiffen Ch. angriff, aber durch den Satrapen von Hellas, Oineiates, zurückgeschlagen wurde, Hopf 122, 92. Hertzberg 234.
Seit dem 12. Jhdt. wird für Ch. der Name Εὔριπος allgemeiner üblich, der dann mit leichter Änderung der Aussprache in Egripos umgeändert wurde, Hertzberg 234. 333. Auf ihre Handelsblüte in jener Zeit lässt der hohe Steuersatz schliessen, dem Ch. mit Euboia damals unterworfen war, Hertzberg 400f.
1209 fassten die Venezianer in Ch. Fuss, denen die Stadt eine neue Befestigung, Wasserleitung, überhaupt ihre architektonische Physiognomie bis zur Neuzeit verdankt, s. Hertzberg Gesch. d. Byz. 395. Baedekers Griech.³ 211. Die ‚Baronia Negroponte‘ s. bei Spruner Handatlas³ 86 (Achaia). Die venezianische Periode endet mit der türkischen Eroberung unter Mohammed II., welche am 12. Juli 1470 nach fünf furchtbaren Stürmen erfolgte, v. Hammer Gesch. d. osman. Reich.² I 495f. Am 7. April 1833 ging die Stadt an die Regierung des neuen griechischen Königreichs über, in dessen Freiheitskampf derselben mehrfach gedacht wird, Hertzberg Gesch. Griech. IV 106. 179. 256. 259. 303. 599. 1889 zählte [2087] die Stadt 9900, die Gemeinde 15 700 Einwohner, Wagner-Supan Bevölk. d. Erde IX 70. Durch Schleifung des venezianischen Mauerkranzes hat sie in den letzten Jahren viel von ihrem malerischen Äussern verloren, Philippson S.-Ber. d. niederrhein. Ges. in Bonn 1896/7, 31.
Topographie.
Eine anschauliche Beschreibung der Stadt giebt uns [Dikaiarch.] 26ff. bei Müller Geogr. Gr. min. I 105: ‚Die Stadt der Chalkidier hat einen Umfang von 70 Stadien, länger als der Weg von Anthedon dorthin. Sie ist durchaus hügelig und beschattet und hat zahlreiche salzige Wasser, eines aber, welches zwar auch etwas brackig schmeckt (?, ἡσυχῆ μὲν ὑπόπλατυ), aber zum Gebrauch gesund und kühl ist und von der Quelle Arethusa (s. d. Nr. 1) in genügender Menge ausfliesst, so dass ihre Wassermenge allen in der Stadt Wohnenden zu genügen vermag. Auch mit öffentlichen Gebäuden ist die Stadt reichlich versehen, wie Gymnasien, Säulenhallen, Heiligtümern, Theatern, Gemälden, Statuen und einem für die Geschäfte unübertrefflich gelegenen Marktplatz. Denn die Strömung vom boiotischen Salganeus und dem euboeischen Meere her sammelt sich im Euripos und zieht hart an den Mauern des Hafens hin, wo das Hafenthor (κατὰ τὸ ἐμπόριον πύλη) liegt, an das sich sogleich der breite und von drei Säulenhallen umgebene Marktplatz anschliesst. Da nun der Hafen nahe beim Markt liegt und die Löschung der Schiffsladungen rasch erfolgen kann, ist der Handelsverkehr ein überaus reger. Denn auch der Euripos mit seiner doppelten Einfahrt zieht den Handel in die Stadt. Ihr ganzes Land ist mit Ölbäumen bepflanzt, und auch das Meer ist sehr ergiebig. Die Einwohner sind Griechen, nicht nur dem Stamme, sondern auch der Sprache nach, wissenschaftlich und litterarisch gebildet (μαθημάτων ἐντός – γραμματικοί), reiselustig (φιλαπόδημοι) und wissen die ihrer Vaterstadt zugefügte Unbill mit Würde zu [2088] ertragen. Denn sie sind schon lange unterjocht, haben aber die Freiheit ihres Charakters bewahrt, indem sie eine grosse Fähigkeit besitzen, Unfälle leichten Sinnes zu ertragen. So sagt Philiskos: ‚Gar wackerer Griechen Stadt ist Ch.‘‘
Ausser dieser Hauptstelle kommt für die Topographie hauptsächlich noch in Betracht, was oben S. 2078 u. S. 2083 über den Bau der Brücke und die Verbindung mit dem Brückenkopf Kanethos gesagt ist, woraus sich von selbst das Vorhandensein zweier Häfen ergiebt (gemini portus in ora duo versi Liv. XXVIII 6, 8). Aus Liv. XXXI 23, 4 ersehen wir, dass auf der Südseite des Euripos sich ein in die Befestigung einbezogener, aber öder Stadtteil befand; diese infrequentissima urbis entsprechen offenbar dem ἐρημότατον τῆς πόλεως bei Aen. Tact. 4 (von Eretria her!). Von sonstigen Örtlichkeiten wird bei Plut. Tit. 16 noch das Gymnasion und das Delphinion (Heiligtum des Apollon Delphinios) genannt; aus Plut. quaest. Gr. 33 kennen wir das Πυρσόφιον (πυρσοφορεῖον?) und die ἀκμαίων λέσχη, aus ebd. 22 das ‚Grab des Knaben‘ am Wege zum Euripos. Den Tempel des olympischen Zeus in Ch. nennt CIA IV 27 a (Dittenberger Syll. 10). Als Hauptgottheit auf den Münzen erscheint Hera, Head HN 304. Über die Quellen und die Wasserversorgung der Stadt vgl. ausser [Dikaiarch.] a. a. O. Bursian Geogr. II 415f.
Verfassung.
Was wir über die Verfassung von Ch. wissen, beschränkt sich auf das Vorherrschen der adeligen Grundbesitzer, der ἱπποβόται, in älterer Zeit (s. o. S. 2081), wozu auch die hochconservative Beschränkung des Zutrittes zu öffentlichen Ämtern auf das Alter von über 50 Jahren gehört, Herakl. Pont. 31 (FHG II 222). Duncker V 480. Nicht näher bekannt ist die Tyrannis des Phoxos (Aristot. pol. V 3[4]) und jene des Antileon (ebd. 10[12]). Über das Erwerbsleben der Stadt (Rinderzucht, Bergbau, worüber auch oben S. 2079 zu vgl., Metallindustrie, Wein und Getreidebau, Zucht von Kampfhähnen, Fischfang, Purpurfärberei, Seehandel) haben Dondorff De reb. Chalcid. 19ff. und Blümner Gewerbl. Thätigk. d. Völk. d. klass. Altert. 86ff. das Material zusammengestellt. Archaeologisch-topographische Beschreibungen geben Leake North. Greece II 254–266 (mit Kartenskizze). Stephani Reise 13–24. Ulrichs Reisen II 213–223. Baumeister Topogr. Skizze d. Insel Euboia 4ff. Bursian Geogr. II 413–415. Baedekers Griechenl.³ 210ff. Specialkarten des Euripos und Umgegend lieferte die brit. Admiralität nr. 1554 u. 2802, dazu die geographisch-nautische Erläuterung im Mediterranean Pilot IV 60ff.
Karten
Chalkis mit dem Euripos
[2079.4]
Chalkis
[2087.31]
[Bürchner.]
Anmerkungen (Wikisource)
Vorlage: und
Vorlage: 36
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