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Atlantis (griech.: Άτλαντὶς νῆσος „Insel des Atlas“) bezeichnet ein erstmals vom antiken griechischen Philosophen Platon genanntes Inselreich. Dieses Reich wird als eine Seemacht beschrieben, die ausgehend von ihrer „jenseits der Säulen des Herakles“ gelegenen Hauptinsel große Teile Europas und Afrikas unterwarf. Nach einem gescheiterten Angriff auf Athen sei es schließlich um 9600 v. Chr. in Folge einer Naturkatastrophe, innerhalb „eines einzigen Tages und einer unglückseligen Nacht“ untergegangen.
In der Antike wurde der Bericht aus Atlantis als fiktive Erzählung mit ausgeprägten surrealen Elementen betrachtet und er geriet schließlich in Vergessenheit. Erst in der Renaissance wurde er wiederentdeckt und begeistert verbreitet. Platons Schilderungen inspirierten die Staatsutopien von Thomas Morus („Utopia“), Tommaso Campanella („Der Sonnenstaat“), Francis Bacon („Nova Atlantis“) und anderen. Bis heute hat Platons Inselreich die Fantasie zahlreicher Schriftsteller und Filmemacher angeregt. Ebenso fand es in esoterischen und okkultischen Kreisen einen großen Wiederhall (z.B. bei Rudolf Steiner und der Theosophie). Seit dem 19. Jahrhundert wurden zahlreiche aber erfolglose Versuche unternommen, Atlantis in den verschiedensten Gegenden der Welt zu lokalisieren. Die diesen Versuchen zugrundeliegenden Annahme, Platons Erzählung sei als historischer Bericht zu verstehen, wird von Althistorikern und Philologen seit langem zurückgewiesen. Die Schriftgelehrten und Altertumswissenschaftler deuten Platons Bericht vielmehr als politische Allegorie auf die gescheiterte Seemachtspolitik Athens.
Beschreibung
Die einzigen Quellen zu Atlantis stellen Platons Dialoge „Timaios“ und „Kritias“ dar, wobei letzterer nur fragmentarisch erhalten ist. In diesen Werken lässt Platon den Astronomen Timaios, eine wahrscheinlich fiktive Person, den Philosophen Sokrates sowie die beiden Politiker Kritias und Hermokrates auftreten. Dabei handelt es sich nicht um historisch reale Gespräche der genannten Personen, vielmehr ist die Form des Dialogs ein besonders bei Platon systematisch angewandtes methodisches Element, um Leser besser von Lehraussagen überzeugen zu können, indem diese nicht dogmatisch vorgegeben, sondern vor den Augen des Lesers dialektisch entfaltet werden (siehe Sokratischer Dialog). Während das Thema Atlantis im „Timaios“ nur kurz angerissen wird, folgt im „Kritias“ eine ausführliche Beschreibung des Inselsreichs.
Nachdem im „Timaios“ die grundlegenden Züge des platonischen Staates aus der „Politeia“ zusammengefasst wurden, folgt der Wunsch Sokrates', eine so angelegte Stadt in der Realität und im konkreten Fall des Krieges funktionieren sehen zu wollen (Tim. 17a-20c). Da erinnert sich Kritias an eine Geschichte, die ihm einst in jungen Jahren von seinem damals neunzigjährigen Großvater, der ebenfalls Kritias hieß, erzählt wurde (Tim. 20d ff.). Der ältere Kritias hatte die Geschichte einst von seinem Vater Dropides, einem Weggefährten Solons erfahren. Und dieser wiederum hatte sie einst auf einer Ägyptenreise in Sais aus dem Mund eines Priesters der Göttin Neith vernommen, der für ihn jahrtausende alte Schriften übersetzte (Tim. 23e). In dieser Geschichte wird von einer der „größten Heldentaten Athens“ berichtet, nämlich der angeblichen Abwehr eines riesigen Heeres der expandierenden Seemacht Atlantis, die bereits ganz Westeuropa bis Tyrrhenien und Afrika bis nach Ägypten beherrschte, und sich nun daran machte, auch Griechenland zu unterwerfen. In späterer Zeit sei Atlantis durch ein schweres Erdbeben und eine darauffolgende Flut zerstört worden. Auch das Heer der Athener sei bei dieser Naturkatastrophe, die sich 9000 Jahre vor Solon abgespielt haben soll, vernichtet worden (Tim. 25c-d). Die Kunde von der Heldentat Athens sei nun Generation für Generation nur mündlich überliefert worden, bis sie schließlich tausend Jahre nach der Katastrophe erstmals in Ägypten aufgezeichnet worden sei (Tim. 23d-e sowie Kritias 108e, 109d ff., 113a). Immer wieder betont Kritias dabei, dass diese Geschichte nicht erfunden sei, sondern sich tatsächlich so zugetragen hätte (Tim. 20d, 21d, 26e).
Im „Kritias“ wird Atlantis nun ausführlicher beschrieben. Eine riesige Insel sei es gewesen, größer als Libyen (Λιβύης) und Asien (Ασίας) – womit höchstwahrscheinlich der damals bekannte Teil Nordafrikas sowie Vorderasiens gemeint war – zusammen (Tim. 24e). Es lag außerhalb der „Säulen des Herakles“, also der Straße von Gibraltar, im Atlantìs thálassa, dem Atlantischen Meer, wie es schon bei Herodot heißt (Hdt. I,202,4). Atlantis war nach Platons Beschreibung reich an Rohstoffen aller Art, insbesondere an Gold, Silber und einem gewissen „Oreichalkos“ (deutsch: „Bergerz“), das wie Feuer glänzte und das die Bewohner von Atlantis „nach dem Gold am meisten schätzen“ (Kritias 114e). Zudem gab es auf der Insel Bäume, Pflanzen, Früchte und Tiere verschiedenster Arten, unter anderem auch das „größte und gefräßigste“ Tier von allen, den Elefanten (Kritias 115a). Die weiten Ebenen der großen Inseln seien äußerst fruchtbar gewesen, man habe sie exakt parzelliert und durch künstliche Kanäle mit ausreichend Wasser versorgt. Zwei Ernten brächte ihnen so der Boden jährlich, durch die Ausnutzung des Regens im Winter und des reichlich vorhandenen Wassers aus den Kanälen im Sommer (Kritias 118c-e).
In der atlantischen Architektur – wie auch in der Umwelt – steckt eine nahezu perfekte Geometrie. In der Mitte der Insel liege eine 3000 mal 2000 Stadien (ein „Stadion“ = ca. 180 m) große Ebene, die mit breiten, schiffbaren Kanälen durchzogen sei, wodurch erneut kleine Inseln entstanden. Im Inneren erstrecke sich eine Insel über eine Breite von fünf Stadien. Sie umgab ein künstlicher Wassergürtel von einem Stadion Breite. Darauf folgen der Beschreibung nach zwei Paare von Land- und Wassergürteln, die jeweils zwei und drei Stadien breit gewesen seien (Kriatias 115d-116a). „Wir sehen uns also einer Sequenz gegenüber, die deutlich nach einer Spiegelung aussieht: 5 (3+2), 1, 2, 2, 3, 3. Wer die in der Mitte liegende Insel verläßt, tritt sehr schnell in die Welt der Verdopplung ein.“. Die Bedeutung von doppelten und dreifachen Abständen in der Struktur der Weltseele hatte Platon zuvor bereits im „Timaios“ beschrieben (Tim. 36d).
Im Zentrum der Stadt Atlantis läge laut Platon die Akropolis. Daneben befände sich ein kolossaler Poseidontempel, welcher „ein Stadion lang, drei Plethren breit und von einer entsprechenden Höhe“ gewesen wäre. Außen und innen sei der Tempel mit Gold, Silber und Oreichalkos überzogen, und um ihn herum stünden zahlreiche goldene Weihestatuen. Das Kultbild Poseidons zeige ihn als Lenker eines sechsspännigen Streitwagens (Kritias 116d-e). Ganz in der Nähe befände sich ein Hippodrom. Der innere Bezirk der Stadt, zu dem auch noch die Wohnstätten der Herrschaft gehören, wird von einer Ringmauer umfasst. Die Peripherie der Stadt, in der von innen nach außen die Quartiere der Wächter, Krieger und der Bürgerschaft untergebracht sind, wird von drei weiteren, konzentrisch angeordneten Ringmauern umschlossen (Kritias 116a-c). Die äußeren Kanäle von Atlantis bilden zugleich die Häfen der Insel, wobei der äußere der Handelshafen und der innere der Kriegshafen ist (Kritias 117d-e).
Die Macht über die Insel habe Poseidon einst seinem mit der sterblichen Kleito gezeugten Sohn Atlas gegeben, von welchem sich auch der Name der Insel ableite. Atlas ist allerdings nur der älteste Sohn aus fünf Zwillingspaaren (Kritias 114a-c). Während Atlas und seine Nachfahren über die Hauptstadt regierten, bekamen seine jüngeren Brüder die Herrschaft über andere Teile der Insel. Unter dieser Regentschaft wandelte sich Atlantis mit der Zeit durch den Bau von Kanälen und Hafenanlagen von einer ursprünglich ländlich geprägten Insel zu einer Seemacht. Allein die Nachfahren Atlas' hätten über ein Heer von 10.000 Streitwagen, 60.000 leichten Gespannen, je 120.000 Hopliten, Bogenschützen und Schleuderern sowie 240.000 Mann Besatzung für 1200 Kriegschiffe verfügt (Kritias 119a-b). In ihrem Drang nach Expansion eroberten die Atlantier ganz Westeuropa und Afrika bis Ägypten (Tim. 24e-25b). Eine weitere Ausdehnung scheiterte schließlich am Widerstand Athens.
Schon diese militärische Niederlage sei eine Strafe für die atlantische Hybris gewesen (Tim. 24e, Kritias 120e, 121c). Während von Generation zu Generation der „göttliche Anteil“ an den Nachfahren Atlas' schwand, seien die Herrscher über Atlantis von der Gier nach Macht und Reichtum ergriffen worden (Kritias 121a-c). An der Stelle, an der nun die Götter zum Strafgericht über Atlantis zusammentreffen und beraten sollten, bricht der „Kritias“ ab. Das Ende von Atlantis ist jedoch – wie Eingangs erwähnt – von Platon bereits im „Timaios“ beschrieben worden.
Neben Atlantis wird im „Kritias“ ebenso – wenn auch deutlich kürzer – das alte Athen, das „Ur-Athen“, beschrieben. Es ist – im Gegensatz zum Athen aus Platons Lebzeiten – eine reine Landmacht, die Attika bis zum Isthmos von Korinth beherrscht (110e). Es liegt zwar in der Nähe der Küste, habe aber keine Häfen und betreibe bewußt keine Seefahrt. Platon beschreibt die Polis Athen als äußerst fruchtbares Land, bedeckt von Feldern und Wälder, und „imstande, ein großes Heer von den Geschäften des Ackerbaues Befreiter zu unterhalten“ (Kritias 110e-111d). Die Göttin Athene hätte in diesem Athen einst die staatlichen Strukturen und Institutionen eingerichtet, die beinahe identisch mit dem im „Politeia“ beschriebenen Idealstaat sind. Als es schließlich von Atlantis angegriffen wurde, war es in der Lage, sie zu schlagen und einige bereits unterworfene griechische Stämme zu befreien. Die Flut, die wenig später Atlantis vernichten sollte, zerstörte dabei auch Athen. Die Menschen seien in ein dunkles Zeitalter zurückgeworfen worden, hätten lesen und schreiben verlernt, und so sei lediglich in Ägypten, welches von der Flut verschont wurde, die Atlantis-Geschichte überliefert worden.
Die beiden Atlantis-Dialoge „Timaios“ und „Kritias“ sind nur ein Teil eines zunächst offenbar umfangreicheren Plans. Der Dialog „Timaios“ schließt sich unmittelbar an den Dialog „Politeia“ an, dessen Ergebnisse er rekapitulierend aufgreift. Der kurze „Kritias“ ist unvollendet abgebrochen, und den in „Timaios“ angekündigten Dialog des Hermokrates begann Platon gar nicht erst. Die Atlantis-Erzählung bricht daher unvollendet ab. Der Grund ist nicht überliefert. Als letzter Dialog dieser Reihe kann „Nomoi“ gelten, der das Ende der letzten Naturkatastrophe im Sinne von „Timaios“ und „Kritias“ als Anknüpfungspunkt der Erörterung wählt
Deutungen
Die Platon bekannten Teile der Erde. Weltkarte in Anlehnung an die Darstellung des Hekataios, 5. Jhdt. v. Chr. [Quelle]
Die Ansicht, dass es sich bei Atlantis lediglich um eine Erfindung Platons handelt, wurde (in der modernen Historiografie) bereits 1841 von Thomas H. Martin ausführlich beschrieben und wird heute von einer Mehrzahl an Althistorikern und Philologen vertreten. In erster Linie wird dabei die Überlieferungsgeschichte, die Platon von Kritias angeben lässt, angezweifelt, denn obwohl nach Platon die Atlantis-Geschichte durch Solon (also um 560 v. Chr.) nach Athen gekommen sei, wird sie bis zu Platons „Timaios“ (um 360 v. Chr.) von keinem einzigen griechischen Schriftsteller erwähnt. Würde es sich bei dem Sieg über Atlantis wirklich um eine der „größten Heldentaten Athens“ handeln, müsste sie zumindest in einer der zahlreichen „Leichenreden“, in denen zu Ehren Verstorbener die große Geschichte Athens resümiert wurde, Erwähnung finden. Doch in keiner der bis heute überlieferten Reden findet sich eine Erwähnung von Atlantis. Nicht einmal in der von Platon geschriebenen Leichenrede im „Menexenos“ wird Atlantis genannt.
Des Weiteren wird die ägyptische Tradition der Atlantis-Geschichte – insbesondere die eintausend Jahre der mündlichen Überlieferung vom Untergang Atlantis' bis zur Niederschrift der Legende in Ägypten – als Konstrukt Platons betrachtet, das die Historizität des Berichts unüberprüfbar und damit für die antiken Zeitgenossen auch unwiderlegbar machte. „Es gehört schon einige literarische Ahnungslosigkeit dazu, zu übersehen, daß diese Angaben zur Überlieferungslage gerade dazu da sind, einerseits den traditionellen Wahrheitsanspruch literarisch zu variieren und zu ‚modernisieren‘, andererseits die dadurch möglich werdende Frage nach einem etwaigen historischen Gehalt der Geschichte wieder spielerisch auszuklammern“ (Szlezák, S. 236). Gerade die angebliche Überlieferung in Ägypten kann als Hinweis auf den wahren Charakter der Atlantis-Geschichte gedeutet werden, lässt Platon doch im „Phaidros“ eine Erzählung mit den Worten kommentieren: „O Sokrates, mit Leichtigkeit erdichtest du Geschichten aus Ägypten oder sonst einem Land, woher auch immer du willst“ (Phaidros 275 B).
Gründe
In der Forschung werden unterschiedliche Antworten auf die Frage, warum Platon die Geschichte von Atlantis und Ur-Athen erfunden haben soll, diskutiert. Gängig ist dabei die Annahme, es handele sich bei dem Atlantis-Mythos um eine politische Allegorie auf die expansive Seemachtspolitik Athens. Platon hatte 404 v. Chr. die Niederlage seiner Heimatstadt Athen im Peloponnesischen Krieg miterleben müssen, der einst durch das Hegemoniebestreben der Athener in der Ägäis ausgelöst wurden war. Wenige Jahrzehnte später, als Athen wieder einen Teil seiner ehemaligen Macht zurückgewonnen hatte, wurde der einst in Folge der Niederlage aufgelöste Attische Seebund – wenn auch kleiner – neugegründet. Athen – so mag es Platon erschienen sein – wiederholte damit die einst begangenen Fehler und steuerte erneut auf eine politische Katastrophe zu. Um dem entgegen zu wirken, um seine Mitbürger eines Besseren zu belehren, habe Platon die Geschichte von der an Expansionismus zugrunde gegangenen Seemacht Atlantis und der siegreichen Landmacht Ur-Athen erfunden. „Er zeigte die Gefahren auf, die eine solche imperialistische Seemacht erwarten […], und er versuchte sozusagen den quasi-historischen Beweis zu erbringen, dass ein Staat, der wie sein Idealstaat eingerichtet war, sich in einer solchen Lage überzeugend bewähren würde“ (Nesselrath, S. 38).
Zeichnung eines Hopliten, von 1888.Ein möglicher alternativer (oder zusätzlicher) Grund betrifft Platons Schriften, genauer sein Werk über den Idealstaat – „Politeia“. Ein Kritiker Platons, Isokrates, schrieb als unmittelbare Reaktion auf die „Politeia“ eine Schrift mit dem Titel „Busiris“, in der der gleichnamige – freilich nur in der griechischen Mythologie existierende – ägyptische König in seinem Land eine Gesellschaftsordung einrichtet, die der des platonischen Idealstaat vorweggenommen zu sein scheint. Um auf den damit verbundenen Vorwurf des Plagiats zu reagieren habe Platon den Mythos von Atlantis und Ur-Athen erfunden, in dem nicht irgendein König, sondern die Göttin Athene selbst eben jene Gesellschaftsordnung „erfindet“ – und zwar zuerst in Athen, und erst eintausend Jahre später in Ägypten.
Als dritter möglicher Grund könnte Platons „Konkurrenz“ zu Homer gelten, und damit ferner sein Anliegen, die mythisch-poetischen Werke Homers durch seine eigenen philosophischen Werke zu „ersetzen“. Schon in der „Politeia“ schrieb Platon von dem „alten Streit zwischen Dichtung und Philosophie“ (Politeia 607b). Im „Timaios“ spricht Kritias davon, dass Solon ursprünglich plante, den Stoff „Atlantis“, den er in Ägypten vernahm, künstlerisch zu verarbeiten. Er wurde jedoch davon abgehalten, da man ihn in Athen als Politiker brauchte – was allerdings chronologisch falsch ist, da Solon erst nach seiner „politischen Karriere“ Ägypten besuchte. Hätte er den Atlantis-Mythos in Poesie verwandelt, so ist sich Kritias sicher, hätte dieses Werk die Homerischen Epen Ilias und Odyssee weit überstrahlt (Tim. 21d). In diesem Zusammenhang gelte der Wahrheitsanspruch der Atlantis-Geschichte als ein Teil dieser „Erneuerung“ Homers; nämlich insofern, als dass sich Platon nicht wie der Dichter auf Musen beruft, sondern auf eine scheinbar historische Überlieferungen (deren Ursprung jedoch absichtlich so weit im Dunkeln liegt, dass sie unmöglich überprüft werden können).
Unabhängig davon, warum Platon die Atlantis-Geschichte erfunden haben soll, muss die Frage beantwortet werden, warum er den „Kritias“ unvollendet ließ. Die dazu in der Antike geäußerte Vermutung (bei Plutarch Sol. 32,1), der Tod habe Platon an der Vollendung dieses Spätwerks gehindert, kann nicht stimmen, da Platon nach dem „Timaios“ und „Kritias“ sein umfangreichstes Werk „Nomoi“ schrieb. Es scheint als habe Platon freiwillig die Arbeit am „Kritias“ aufgegeben, und zwar – wie man in der Forschung meint – weil er der Versuchung erlag, Atlantis schillernder darzustellen als Athen, und dies bereute. „Manch ein Romanschriftsteller, der […] versucht, den Triumph des Guten über das Böse darzustellen, präsentiert am Ende einen faszinierenden Schurken und einen Helden, der nichts weiter ist als ein langweiliger Bursche. Plato ging in diese Falle. Athen, sein ‚Held‘, stellt sich als ein öder, langweiliger Ort heraus, während der ‚Schurke Atlantis‘ die Menschheit über Jahrhunderte hinweg in seinen Bann schlug. Plato selbst unterlag den Verführungen von Atlantis. Hätte er ihm sonst in Kritias dreimal soviel Raum gegeben wie Athen?“ (Sprague de Camp, S. 261).
Inspirationen
Auch wenn Atlantis als Fiktion Platons gedeutet wird ist davon auszugehen, dass Platon sich mit dieser Fiktion auf reale Vorbilder aus seiner Zeit bezog, die die Elemente der Atlantis-Geschichte prägten. Die zeitliche Angabe der „9000 Jahre vor Solon“ hängt zwar einerseits mit Platons Auffassung von Weltzyklen zusammen, orientiert sich aber auch an den Angaben Herodots zum Alter der ägyptischen Kultur (Hdt. II 100,1). Für den gesellschaftlichen Aufbau von Athen ist anzunehmen, dass Platons eigenes Werk „Politeia“ als Vorlage diente. Eine gewisse Orientierung des Bildes der Landmacht „Ur-Athen“ an der realen Landmacht Sparta scheint auch denkbar. Der Beschreibung Attikas liegt wiederum eine geologische Theorie zugrunde, nach der die isolierten Felsen wie Akropolis und Lykabettos Überreste einer einstigen Hochebene sein, deren „weiche“ Anteile an fruchtbarer Erde einst durch Regen und Fluten erodiert sein.
Für Atlantis scheint politisch das Perserreich als Muster gedient zu haben. Die Organisation der Königsmacht in Atlantis, mit einem „Oberkönig“ und neun „Unterkönigen“, erinnert stark an die persische Struktur von Großkönig und ihm untergeordneten Satrapen. Ebenso scheint die persisches Sommerresidenz Ekbatana, bzw. ihre Beschreibung bei Herodot, eine Vorlage für die Beschreibung der Hauptstadt von Atlantis zu sein; während bei Platon von drei konzentrischen Wasseringen um die Akropolis die Rede ist, beschreibt Herodot die Stadtbefestigung von Ekbatana mit „insgesamt sieben Mauerringen“, und zwar „jeweils einen Mauerring im anderen“ (Hdt. I 98,3–6). Für die Hafenanlage könnte unterdessen Karthago als Modell benutzt worden sein. Dem Handlungskern der Atlantis-Geschichte, nämlich dem gescheiterten Angriff Atlantis' auf Athen, dürften die Perserkriege und dabei insbesondere die Konstellation der Schlacht von Marathon (490 v. Chr.) als Vorbild gedient haben. In beiden Fälle schlug das relativ kleine Athen, ganz auf sich gestellt, eine angreifende Übermacht und bewahrte so ganz Griechenland vor der Unterwerfung. Der fehlgeschlagene Eroberungszug der Seemacht Atlantis könnte aber auch als Reflexion der Sizilienexpedition verstanden werden, in welcher die übermütigen Pläne der Seemacht Athen, ganz Sizilien und anschließend Karthago zu unterwerfen, grandios scheiterten.
Darstellung eines Tsunami. „Die große Welle von Kanagawa“ von Katsushika Hokusai (1830).Für den charakteristischen und bis heute faszinierendsten Bestandteil der Atlantislegende – den Untergang des Inselreichs in Folge einer Naturkatastrophe – mag die Stadt Helike als Inspiration gedient haben. Diese einst sehr reiche Stadt in der Landschaft Achaia versank im Winter des Jahres 373 v. Chr. in den Fluten eines Tsunami, der durch ein schweres Erdbeben im Korinthischen Golf ausgelöst worden war. Diese Katastrophe, bei der nahezu alle Bewohner Helikes ihr Leben verloren, fand während der gesamten Antike einen starken Nachhall (bspw. bei Diod. XV 48,1–3). Wie auf Atlantis wurde in Helike ein Poseidonkult betrieben; vor dem großen Tempel des Poseidon Helikonios stand einst eine monumentale Weihestatur des Meeresgottes, die selbst nach dem Untergang der Stadt noch von der Wasseroberfläche aus zu sehen gewesen sei. Wie Atlantis ging auch Helike durch die „Macht“ desjenigen Gottes unter, den sie eigentlich veehrten. Neben der Helikeflut ereignete sich zu Platons Lebzeiten eine weitere schwere Flutkatastrophe. Diese folgte 426 v. Chr. einem Erdbeben im Golf von Euböa und zerstörte die Stadt Orobiai sowie eine Insel namens Atalante (Thuc. III 89). Aufgrund der Namensähnlichkeit wurde diese Insel Atalante von manchen Forschern als Vorbild für das Untergangsszenario von Atlantis betrachtet, jedoch ist aufgrund der verheerenderen Folgen sowie der zeitlichen Nähe zur Niederschrift von „Timaios“ und des „Kritias“ eher Helike als Vorbild anzusehen.
Einige Forscher favorisieren die Theorie, dass der Ausbruch der Vulkaninsel Thera (vermutlich 1628 v. Chr.) der Ursprung des Untergangsszenarios ist. Allerdings ist umstritten, ob und inwieweit Platon und seinen Zeitgenossen jene Katastrophe bekannt war. Schriftliche Überlieferung dazu gibt es in Griechenland keine. In Ägypten finden sich sehr vage Beschreibungen von Ereignissen (verdunkelter Himmel, Ascheregen) auf der sog. „Unwetterstele“ des Pharaos Ahmose (ca. 1530 – 1504 nach ägyptischer Kurzchronologie), die möglicherweise Folgen des Ausbruchs auf Thera waren. Ebenso findet sich eine Aufzeichnung in China, in der von verdunkeltem Himmel und sommerlichem Frost berichtet wird (Folgen des Vulkanischen Winters). Diese Informationen dürften Platon allerdings schwerlich bekannt gewesen sein. Spekuliert wird daher über eine mündliche Überlieferung. Analog zum Kern bekannter Mythen wie der Ilias oder der Argonautensage, die über mehrere schriftlose Jahrhunderte aus mykenischer in die homerische Zeit des 8. Jahrhunderts v. Chr. mündlich überliefert wurden, könnte möglicherweise auch der Vulkanausbruch auf Thera den einen oder anderen Mythos inspiriert haben. Ein vielzitiertes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Legende von der Deukalion-Flut, in der von einer (stark an Noah erinnernden) Sintflut berichtet wird.
Die Verlagerung Atlantis' westlich der „Säulen des Herakles“ hat den Hintergrund, dass es sich dabei um den Griechen größtenteils unbekanntes Gebiet handelt. Zum anderen wird damit die Vorstellung erklärt, die durch von phönizischen Seeleuten verbreitete Gerüchte entstand; nämlich dass das Meer westlich der Heraklessäulen schlammig und zähflüssig sei, sodass kein Schiff darin fahren könne (Hdt. II 102,1–2; Hdt. IV 43). Dieses schlammige Wasser erklärt Platon nun mit einem versunkenen Kontinent.
Nachwirken
Antike
Morus' „Utopia“. Holzstich von Ambrosius Holbein (1518).Kaum ein antiker Bericht hatte eine ähnlich intensive Nachwirkung wie Platons Atlantis. Seit vielen Jahrhunderten dient es Utopisten als Inspiration, wird von Archäologen gesucht und fasziniert als Thema in der Unterhaltungsindustrie ein breites Publikum. Während heute jedoch allzuoft von einem realen Hintergrund der Geschichte ausgegangen wird, war man in der Antike skeptischer. Praktisch keiner von Platons Zeitgenossen hielt die Atlantis-Geschichte für „wahre Historie“, denn auch nach der Veröffentlichung von „Timaios“ und „Kritias“ wurde die Abwehr des atlantischen Angriffs in keiner Aufzählung der Heldentaten der Athener erwähnt. Platons bekanntester Schüler Aristoteles gehört zu den ersten Kritikern der Atlantis-Erzählung und wird mit den Worten „Er, der diese Insel erfand, ließ sie auch verschwinden“ bei Strabon (II 3,6) zitiert.
Als Vorlage für Utopien fand Atlantis jedoch bereits in der Antike Verwendung. So etwa bei Euhemeros von Messene, dessen fiktive Insel Panchaia sowohl Ähnlichkeiten zu Atlantis wie zu „Ur-Athen“ zeigt (Diod. 5,41–46). Panchaia sei eine außergewöhnlich fruchtbare Insel, auf der die Gesellschaft – wie auf Atlantis – in drei Klassen eingeteilt war. In der Mitte der Insel fände sich ein großer Tempel, der Zeus geweiht gewesen sei. Ein anderer antiker Autor, Theopompos von Chios, persifliert Platons Atlantis-Erzählung in seinem Werk „Philippika“. Darin wird von einem Land namens Meropis jenseits des Atlantischen Ozeans berichtet, von wo aus ein Heer mit zehn Millionen Soldaten aus der Stadt der Krieger („Machimos“) ausrückt, um die Hyperboreer auf der anderen Seite des Ozeans zu unterwerfen (FGrHist 115, F 75). An die Stelle von Solon und dem Priester von Sais treten bei Theopompos der mythische König Midas und ein Silen.
Der Philosoph Krantor von Soloi, der den ersten Kommentar zu Platons „Timaios“ verfasste, soll auch der erste gewesen sein, der die ägyptische Tradition der Atlantis-Überlieferung nachweisen konnte. In seinem nur fragmentarisch bei Proklos erhaltenen Werk berichtet er, die Stelen mit der ägyptischen Version des Atlantis-Berichts in Sais vorgefunden zu haben (FGrHist 665, F 31). Dies wurde bis heute von einigen Forschern als Beweis für die ägyptische Tradition der Atlantis-Geschichte gehalten. Krantors Bericht ist allerdings insofern unglaubhaft, als dass er von Inschriften auf Stelen (στῆλαι) spricht, während im „Timaios“ von schriftlichen Darstellungen die Rede ist, die man „zur Hand nehmen“ (τὰ γράμματα λαβόντες - Tim. 24a) könne, also beispielsweise Papyrusrollen.
Die Frage, ob es sich bei Atlantis um eine reale Geschichte handelt, wird auch von späteren Autoren diskutiert, etwa von Poseidonios, der bei Strabon zitiert wird (Strab. 2,3,6). Während Plinius noch Zweifel an der Authenzität der Geschichte als ganzes äußert (nat. 2,92,205), hält Plutarch zumindest die ägyptische Tradition für möglich, will sich aber ansonsten nicht festlegen, ob es sich um Mythos oder Wahrheit handele (Plut. Solon 31). Weitere Autoren, wie etwa der Kirchenvater Tertullian, nutzen Atlantis ohne Vorbehalt als historisches Paradigma. Nachdem jedoch noch im 6. Jahrhundert der Byzantiner Kosmas Indikopleustes den fiktionalen Charakter des Atlantis-Berichts festhielt, geriet er schließlich im europäischen Mittelalter in Vergessenheit.
Renaissance
In der frühen Neuzeit wurden die alten römischen und griechischen Manuskripte von den Gelehrten wiederentdeckt, und so verbreitete sich auch Atlantis erneut. Besonders mit der Entdeckung Amerikas bekam die Atlantis-Legende eine gewisse Bestätigung, da man annahm, Amerika sei zumindest der Überrest des versunkenen Kontinents. Bartolomé de Las Casas schrieb in seinem Werk „Historia general de las Indias“ dazu: „Kolumbus konnte vernüftigerweise glaube und hoffen, dass, obgleich jene große Insel verloren und versunken war, andere zurückgeblieben sein würden oder wenigstens das Festland und dass, wenn man sie suchte, man sie finden würde.“ Auch Girolamo Fracastoro, bekannt für seine Beschreibung der Syphilis, setzte Amerika und Atlantis gleich.
Karikatur des Atlantisforschers Olof Rudbeck.Eine Reihe von Philosophen der frühen Neuzeit nahm die platonische Methode der Sozialkritik durch eine Scheingeschichte auf. Als erster tat dies 1516 der Engländer Thomas Morus mit seinem Werk „Utopia“ (auf welches der heutige literarische Gattungsname „Utopie“ zurückgeht). In seinem neulateinisch abgefassten Werk, das wie Platons „Timaios“ und „Kritias“ in Dialogform geschrieben ist, tritt Morus selbst als literarische Figur auf, und hört von einem angeblichen Gefährten Amerigo Vespuccis namens Raphael Hythlodeus die Beschreibung von Utopia, einer bislang unbekannten Insel vor der Küste Amerikas. Der im Laufe der Erzählung beschriebene Idealzustand auf dieser Insel soll die vorher geäußerte Sozialkritik am politischen System Englands noch verstärken.
Etwa ein Jahrhundert später nahm der italienische Dominikanermönch Tommaso Campanella den platonischen Mythos von Atlantis sowie die Beschreibung des „Sonnenstaat“ von Iambulos zum Vorbild, um eine eigene Staatsutopie zu erschaffen. Diese heißt in der italienischen Fassung „Cittá del sole“ benutzt ebenfalls die Form des Dialoges, zwischen einem weitgereisten genuesischen Admiral und einem Hospitaliter. Campanellas fiktiver Sonnenstaat ist auf der realen Insel Taprobane (heute Sri Lanka) angesiedelt. Insbesondere bei der Beschreibung der Stadt orientiert sich Campanella an Platons Beschreibung von Atlantis im „Kritias“: „In einer weiten Ebene erhebt sich ein gewaltiger Hügel, über den hin der größere Teil der Stadt erbaut ist. Ihre vielfachen Ringe aber erstrecken sich in eine beträchtliche Entfernung vom Fuße des Berges. [...] Sie ist in sieben riesige Kreise oder Ringe eingeteilt, die nach den sieben Planeten benannt sind“.
Beinahe zeitgleich zu Campanella, um 1624, schrieb in England Francis Bacon an seiner Utopie „Nova Atlantis“, die sich schon im Titel deutlich auf Platon bezieht. Er benutzt Platons Atlantis dabei als historischen Fakt und identfiziert es mit Amerika, um somit seiner eigenen Utopie eine scheinbare Glaubwürdigkeit zu geben. Eine Sintflut habe einst das „alte Atlantis“ bis auf wenige Überlebende vernichtet. Bacons „neues Atlantis“ ist eine Südsee-Insel namens Bensalem, auf welcher – Platon sehr ähnlich – eine hierarchische, monachistische Staatsordnung, patriarchalische Familienstruktur und christliche Sittenstrenge zu finden sind. Herrschaftszentrum sei das „Haus Salomon“, in welchem ein gotterwählter, „ehrwürdiger Vater“ thront. Bacons Werk bliebt unvollendet und wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht. Sozialkritik ist daher nicht darin zu finden.
Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts wird Atlantis zunehmend von Gelehrten zum Ursprung der menschlichen Zivilisation erklärt, und wurde damit für das „Einflechten“ in eigene nationale Mythen interessant. Nachdem zunächst in Amerika die Überreste der versunkenen Insel gesehen wurden – womit sich der Anspruch der spanischen Conquista rechtfertigen ließ – begann Ende des 17. Jahrhunderts der Gelehrte Olof Rudbeck, seine schwedische Heimat und insbesondere die Stadt Uppsala als Platons Atlantis zu propagieren. Drei zwischen 1675 und 1698 erschienene Bände widmete er diesem Thema. Während der Französischen Revolution wurde schließlich Sibirien durch Jean-Sylvain Bailly zum Ursprungsland der Kultur erklärt und mit Platons Atlantis gleichgesetzt.
19. und 20. Jahrhundert
Im 19. Jahrhundert, mit der einsetzenden Verwissenschaftlichung der historischen und archäologischen Forschung, trennen sich die Wege der Atlantisdeutung unter Gelehrten und Halbgelehrten. Auf der einen Seite wiesen Althistoriker und Philologen immer wieder auf den fiktiven Charakter von Platons Atlantis-Erzählung hin; zunächst Thomas Henry Martin in seiner bedeutenden „Dissertation de l'Atlantide“ im Jahr 1841, später Eduard Meyer und William Heidel, in neuerer Zeit L. Sprague de Camp, Pierre Vidal-Naquet, Heinz-Günther Nesselrath und Thomas Szlezák. So urteilte beispielsweise Meyer, Atlantis sei „eine reine Fiktion, der keinerlei geschichtliche oder naturwissenschaftliche Kenntnisse zugrunde liegen“. Ungeachtet dessen wurde der Atlantis-Mythos dennoch von einer Vielzahl von mehr oder minder seriösen Forschern aufgriffen, und entwickelte so im Laufe der Zeit eine gewisse Eigendynamik. Es folgte „die Wandlung eines Lehrgedichtes für eine konservative Sozialreform in eine sozialistische Utopie und schließlich in eine mehr oder weniger ernstgemeinte Abenteuergeschichte. Der Name blieb, der Inhalt verflüchtigte sich und verlor den Zusammenhang mit dem Schöpfer der Legende“ (Brentjes, S. 176).
Fantasiedarstellung des Untergangs von Atlantis, von Monsù Desiderio (frühes 17. Jahrhundert).Am Anfang dieser Entwicklung steht der Hobby-Archäologe Augustus Le Plongeon, der mit populären Schriften wie „Archaeological Communication on Yucatán“ (1879) oder „Queen Moo and the Egyptian Sphinx“ (1900) die spekulative und irrationale Form der Atlantis-Forschung begründete, welche sie bis heute aufweist. Le Plongeon vermengt Atlantis mit eigenen Phantansiegeschichten vom Lande Mu, die er aus Maya-Inschriften gedeutet haben will. Vor 11500 Jahren seien Maya-Kolonisten nach Indien, Ägypten und ins Zweistromland aufgebrochen, um dort Kultur und Religion zu verbreiten. Ein Drittel der Maya-Sprache, so behauptet Le Plongeon weiter, sei reines Griechisch, der Rest identisch mit dem Assyrischen. Auch Palästina habe Kultur und Sprache von den Maya bekommen, und so habe selbst Jesus von Nazareth Maya gesprochen. Beinahe alle diese Ideen sind frei erfunden, dennoch beriefen sich zahlreiche spätere Autoren auf Le Plongeon als handle es sich um feststehende Tatsachen.
Auf Le Plongeon folgte der US-amerikanische Politiker und Hobby-Historiker Ignatius Donnelly, dessen Buch „Atlantis, the Antediluvian World“ (1882) eine wahrer Bestseller wurde. Donnelly verbindet Platons Bericht und die biblische Sintflutgeschichte, und beschreibt Atlantis als untergegangenen Kontinent im Nordatlantik, der – wie von Platon beschrieben – innerhalb eines Tages und einer Nacht absank. Während zu Donnellys Zeit noch kontrovers über die Entstehung der Ozeane diskutiert wurde, und sich Donnelly zumindest teilweise auf die Theorien des österreichischen Geologen Eduard Suess berufen konnte, gilt die plötzliche Absenkung eines Kontinents heute – nach Alfred Wegeners Theorie der Plattentektonik – jedoch als widerlegt. Ebenso wie Le Plongeon sieht Donnelly in den Atlantern die Kulturbringer der Alten und Neuen Welt. Auch diese Theorie hat die moderne Wissenschaft widerlegt, in dem sie eigenständige Kulturentwicklungen in allen Erdteilen nachwies. Doch wie Le Plongeon wird auch Donnelly von zahlreichen heutigen Atlantis-Autoren in diesen Punkten zitiert. Donnellys Theorie wurde in den 1920ern von Lewis Spence aufgegriffen und erweitert. Laut Spence gab es in Atlantis eine Sonnenreligion wie in Ägypten, und zum Kreis der Götter gehörte Atlan, der mit dem aztekischen Gott Quetzalcóatl gleichzusetzen sei. Diese Version der antiken „Superzivilisation“ fand begeisterte Aufnahme in esoterischen und theosophischen Kreisen und wurde bis heute durch zahlreiche Spekulationen ergänzt, so beispielsweise von Charles Berlitz, James Churchward, Erich von Däniken und Otto Muck.
Churchward, der in seinen Büchern von Begegnungen mit alten indischen Priestern berichtet, die ihm die wahre Vorgeschichte der Menschheit berichtet haben sollen, legte dabei noch die Fundamente für die rassistische Auslegung der Atlantis-Legende, als er beispielsweise schrieb, „die voherrschende Rasse im Lande Mu war eine weiße Rasse“, die so lange „glücklich lebte, wie die Rassenreinheit gewährt habe“. Diese wurde unter anderem von Alfred Rosenberg, einem der „Chefideologen“ des Nationalsozialismus, aufgegriffen und erweitert. Atlantis wurde als Urheimat der Arier gedeutet, die mit Thule gleichzusetzen sei und ohne Zweifel im Norden gelegen haben müsse. Durch Romane von Otto Willi Gail („Der Stein vom Mond“, 1926) und Edmund Kiß („Die letzte Königin von Atlantis“, 1931 und „Frühling in Atlantis“, 1933) ging das Atlantis-Thule-Motiv in die deutsche Jugend- und Trivialliteratur ein, und überlebte so den Nationalsozialismus. In den 1950ern wurde es vom in Friesland arbeitenden Pastor Jürgen Spanuth erneut aufgegriffen. In seinem Buch „Das enträtselte Atlantis“ (1953) lokalisiert er den untergegangen Kontinent in der Nordsee; eine versunkene Insel östlich von Helgoland deutete Spanuth dabei als Hauptstadt von Atlantis. Für Spanuth war die Kultur der Atlantier mit der Nordischen Bronzezeit und der Seevölkerwanderung zu identifizieren. Da dies aber nicht mit Platons Zeitangabe von 9000 Jahren übereinstimmt, behauptet Spanuth, die Ägypter hätten statt „echter Jahre“ Mondjahre (und damit Monate) gemeint – eine völlig haltlose Behauptung, da keine einzige ägyptische Quelle Datierungen in Mondjahren angibt. Als eine der wenigen Atlantis-Theorien wurde Spanuths Version von seriösen Wissenschaftlern intensiv geprüft; diese kamen dabei zu einem vernichtenden Urteil.
Minoisches Fresko aus Akrotiri.Kurz nachdem Arthur Evans um die Jahrhundertwende die minoischen Ruinen auf Kreta ausgrub wurde die Theorie, nach der das minoische Kreta das von Platon beschriebene Atlantis sei, verbreitet. Auch hierfür mussten die Angaben Platons zur Ort, Zeit und Größe „uminterpretiert“ werden. Als der griechische Archäologe Spyridon Marinatos in den 1960ern die verschütteten Überreste einer minoischen Siedlung auf Thera freilegte, bekam die Atlantis-Thera-Theorie einen neuen Aufschwung. Der Vulkanausbruch auf Thera habe um 1500 v. Chr. eine Flutwelle ausgelöst, die die minoischen Zentren auf Kreta vernichtete – eine offensichtliche Parallele zu Atlantis. Spätere Autoren wie James W. Mavor, John V. Luce und Rodney Castleden übernahmen diese Theorie und komplettierten sie. Einige seit Mitte der 1990er stattfindende naturwissenschaftliche Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass der Ausbruch des Thera nicht mit dem Untergang der Minoer zusammenfällt. Während der Ausbruch in das 17. vorchristliche Jahrhundert neu datiert wurde, exitierte die minoische Kultur mindestens bis ins 15. Jahrhundert vor Christus. Damit fiel diese – im Prinzip einzige, denn die Minoer haben nie ein Weltreich beherrscht und nie Athen attackiert – Parallele zu Atlantis für Kreta weg.
In den 1990er erregte eine neue Atlantis-Theorie des Geoarchäologen Eberhard Zangger, der Atlantis mit Troja gleichsetzen will, besonders in der Presse große Aufmerksamkeit. Die anschließende Widerlegung dieser Theorie durch angesehene Experten wie den Troja-Ausgräber Manfred Korfmann blieb dagegen nahezu unbeachtet. Zangger sieht in Platons Atlantis-Bericht die ägyptische Version der homerischen Ilias, die durch die lange Überlieferung entstellt sei. Dennoch will Zangger eine große Anzahl von Übereinstimmungen zwischen Troja und Atlantis erkennen – neben Poseidonkult und Hafen auch Banalitäten wie Nordwinde. Dass Troja weder eine Insel ist, noch jemals überschwemmt wurde, dass es im Trojanischen Krieg nicht Angreifer sondern der Angegriffene war, wird von Zangger ignoriert.
Es existieren heute zahlreiche weitere Lokalisierungsversuche zu Atlantis, die sich jedoch oft widersprechen. Platons Angaben zur Ort und Zeit müssen verändert werden, um Atlantis in Spanien, Tunesien, Sizilien, Irland, Sri Lanka, dem Bermuda-Dreieck, auf Kuba oder in der Antarktis finden zu können (diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit). Zum Teil wird auch nicht mehr Platons, sondern Donnellys und Le Plongeons Atlantis – nämlich das der kulturbringenden Superzivilisation – gesucht. Von Platons ursprünglichen Intentionen hat sich diese Atlantis-Metaforschung weit entfernt.
Wie jedoch die Internationale Atlantis-Konferenz 2005 in Milos zeigte, beschäftigen sich in letzter Zeit auch zunehmend anerkannte Universitätswissenschaftler mit Platons Atlantisgeschichte,um sie mit modernen Methoden auf ihre eventuell doch vorhandene historische Realität zu untersuchen.
Seit etwa 1850 wurde das Atlantis-Motiv im Zuge der Popularisierung des Mythos von Schriftstellern übernommen. So besichtigen beispielsweise Kapitän Nemo und Professor Aronnax in Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“ die Ruinen von Atlantis am Meeresgrund. Auch in Film und Fernsehen kam es zu zahlreichen Adaptionen von Atlantis, zuletzt in der Idee einer versunkenen, aber immer noch existierenden Zivilisation in Walt Disneys „Atlantis - Das Geheimnis der verlorenen Stadt“ (siehe auch: Atlantis als Sujet).
Platons Insel Atlantis, Ulrich Hofmann
Literatur
Primärliteratur
- Diodorus Siculus: The Library of History (Loeb Classical Library), gr.-eng., übersetzt von C. H. Oldfather, 12 Bde., Cambridge/Mass 1933 ff.
- Herodot: Historien, gr.-dt., übers. v. Josef Feix, 2 Bde., München 62000. ISBN 3-7608-1539-1
- Platon: Timaios und Kritias (= Sämtliche Werk, Bd. 8), gr.-dt., übers. v. Friedrich Schleiermacher, Frankfurt am Main 1991. ISBN 3-458-33108-5
- Timaeus (englischer Text)
- Plinius (der Ältere): Naturalis historia, lat.-dt., übers. v. Marion Giebel, Stuttgart 2005. ISBN 3-15-018335-9
- Plutarch: Lebensbeschreibungen. Theseus, Romulus, Lykurgos, Numa, Solon, Poplicola, Themistokles, Camillus, Perikles, Fabius Maximus, übers. v. Johann Friedrich Kaltwasser, München 1964.
- Strabon: Geographika I-IV, gr.-dt., übers. v. Stefan Radt, Göttingen 2002. ISBN 3-525-25950-6
Sekundärliteratur
Zunächst im Artikel verwendete Literatur, die nicht direkt mit Atlantis zu tun hat.
- Jan Driessen und Colin F. MacDonald: The troubled island. Minoan Crete before and after the Santorini Eruption, Univ. de Liège, Liège 1997. ↑
- Christoph Eucken: Isokrates. Seine Positionen in der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Philosophen, Berlin 1983. ISBN 3110086468 ↑
- Paul Friedländer: Platon I. Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit, de Gruyter, Berlin 1964. ↑
- William K.C. Guthrie: A history of Greek Philosophy, Bd. 5, Cambridge Univ. Pr., Cambridge 1978. ↑
- Klaus J. Heinisch: Der utopische Staat. Morus: Utopia. Campanella: Sonnenstaat. Bacon: Nova Atlantis, Rowohlt, Reinbeck 262001. ISBN 3-499-45068-2 ↑
- Andrea Klug: Königliche Stelen in der Zeit von Ahmose bis Amenophis III, Fondation Égyptologique Reine Élisabeth, Bruxelles 2002. ISBN 2503991238 ↑
Eine umfassende Bibliografie zu Atlantis (bis ins Jahr 1926) bietet:
- Jean Gattefossé und Claudius Roux: Bibliographie de l'Atlantide et des questions connexes, Impr. Bosc frères & Riou, Lyon 1926. (fr.) ↑
Im folgenden finden sich aktuellere Titel zu Atlantis, nach Thesen geordnet (sowohl Pro als auch Kontra).
Atlantis als Fiktion
- Pierre Vidal-Naquet: Athen und Atlantis. Struktur und Bedeutung eines platonischen Mythos, in: Ders., Der Schwarze Jäger, Frankfurt am Main 1989, 216-232. ISBN 359333965X ↑
- Reinhold Bichler: Athen besiegt Atlantis. Eine Studie über den Ursprung der Staatsutopie, in: Canopus 20 (1986), No. 51. 71-88. ↑
- Burchard Brentjes: Atlantis. Geschichte einer Utopie, DuMont Buchverlag, Köln 1993. ISBN 3770129105 ↑
- Richard Ellis: Imaging Atlantis, Knopf, New York 1998. ISBN 0679446028 (engl.) ↑
- Friedrich Gisinger: Zur geographischen Grundlage von Platons Atlantis, in: Klio 26 (1933), 32-38. ↑
- Herwig Görgemanns: Wahrheit und Fiktion in Platons Atlantis-Erzählung, in: Hermes 128 (2000), 405-420. ↑
- William A. Heidel: A suggestion concerning Platon's Atlantis, in: Daedalus 68 (1933), 189-228. (engl.) ↑
- Paul Jordan: The Atlantis Syndrom, Sutton Publishing, Stroud/Gloucestershire 1994. ISBN 0750935189 (engl.) ↑
- Thomas H. Martin: Dissertation sur l'Atlantide, in: Ders., Études sur le Timée de Platon, Bd. 1, Paris 1841, 257-332. (fr.) ↑
- Kathryn A. Morgan: Designer history. Plato's Atlantis story and fourth-century ideology, in: Journal of Hellenic Studies 118 (1998), 101-118. (engl.) ↑
- Heinz-Günther Nesselrath: Platon und die Erfindung von Atlantis, K.G. Saur Verlag, München/Leipzig 2002. ISBN 3598775601 ↑
- Heinz-Günther Nesselrath: Atlantis auf ägyptischen Stelen? Der Philosoph Krantor als Epigraphiker, in: ZPE 135 (2001), 33-35. ↑
- Edwin S. Ramage (Hrsg.): Atlantis. Mythos, Rätsel, Wirklichkeit?, Umschau-Verlag, Frankfurt am Main 1979. ISBN 3524690106 ↑
- Alfred E. Schmeck: Atlantis. Platons Idealstaat, R.G. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2003. ISBN 3830104685 ↑
- Lyon Sprague de Camp: Lost continents. The Atlantis theme in history, science, and literature, Dover Publ., New York 1970. ISBN 0-486-22668-9 ↑
- Thomas A. Szlezák: Atlantis und Troia, Platon und Homer. Bemerkungen zum Wahrheitsanspruch des Atlantis-Mythos, in: Studia Troica 3 (1993), 233-237. ↑
Atlantik und Karibik
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- Charles Berlitz: Das Atlantis-Rätsel, Zsolnay, Wien 1986. ISBN 3552028129 ↑
- Andrew Collins: Neue Beweise für Atlantis, Scherz Verlag, Augsburg 2002. ISBN 3502151385 ↑
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- Marc-André Gutscher: Destruction of Atlantis by a great earthquake and tsunami? A geological analysis of the Spartel Bank hypothesis, in: Geology, 33/8 (2005), 685-688. ↑
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- Otto Heinrich Muck: Alles über Atlantis/Atlantis-Gefunden, Econ-Verlag, Düsseldorf/Wien 1976. ISBN 3426035480 ↑
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- Karl A. Frank: Atlantis war anders, Verlag für Sammler, Graz 1978. ISBN 3853650368 ↑
- Axel Hausmann: Atlantis. Die versunkene Wiege der Kulturen, Books-on-Demand, Norderstedt 2000. ISBN 383110249X ↑
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- Rainer Kühne: A location for Atlantis, in: Antiquity 78, 2004. Link ↑
- Ivar Lissner: Rätselhafte Kulturen, Walter Verlag, Olten 1961. ↑
- Adolf Schulten: Tartessos. Ein Beitrag zur ältesen Geschichte des Westens, Hamburg 21950. ↑
Megalithkultur
- Uwe Topper: Das Erbe der Giganten, Walter Verlag, Olten 1977. ISBN 3530881007 ↑
- Helmut Tributsch: Die gläsernen Türme von Atlantis, Ullstein Verlag, Frankfurt/Berlin 1986. ISBN 3548343341 ↑
Nordeuropa
- Gerhard Gadow: Der Atlantis-Streit, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1973. ISBN 3596262100 ↑
- Günther Kehnscherper: Auf der Suche nach Atlantis, Urania-Verlag. Leipzig 1978. ISBN 3332001612 ↑
- Jürgen Spanuth: Das enträtselte Atlantis, Stuttgart 1953. ↑
- Jürgen Spanuth: Atlantis. Heimat, Reich und Schicksal der Germanen, Tübingen 1965. ↑
- Jürgen Spanuth: Die Atlanter. Volk aus dem Bernsteinland, Grabert-Verlag, Tübingen 1976. ISBN 3878470347 ↑
- Carl Schott: Atlantis. Gedanken zu einem Buch von J. Spanuth, in: Erdkunde 21 (1967), 316–318. ↑
- Hans Steuerwald: Der Untergang von Atlantis, Kulturbuch-Verlag, Berlin 1983. ISBN 3889610005 ↑
- Arn Strohmeyer: Roter Fels und brauner Mythos. Eine deutsche Reise nach Atlantis, Fischer, Frankfurt am Main 1990. ISBN 3-89406-192-8 ↑
- Franz Wegener: Das Atlantidische Weltbild. Nationalsozialismus und Neue Rechte auf der Suche nach der versunkenen Atlantis. Kulturförderverein Ruhrgebiet, Gladbeck 2001, ISBN 3931300048 ↑
- Richard Weyl (Hrsg.): Atlantis enträtselt? Wissenschaftler nehmen Stellung zu Jürgen Spanuths Atlantis-Hypothese, Mühlau, Kiel 1953. ↑
Übrige Welt
- James M. Allen: Atlantis. The Andes solution, St. Martins Press, New York 1999. ISBN 0312219237 (engl.) ↑
- Rand und Rose Flem-Ath: Atlantis. Der versunkene Kontinent unter dem ewigen Eis, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1997. ISBN 3426772892 ↑
- Robert Schoch: Die Weltreisen der Pyramidenbauer, Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2002. ISBN 3861504464 ↑
Antikes Griechenland
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