- Kunst Galerie -

 

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Der Mann von vierzig Jahren

Ein kleiner Roman
von

Jakob Wassermann

S. Fischer, Verlag, Berlin
1913
Erste bis zehnte Auflage.


Man weiß von Sternen, die ohne ergründbare Ursache ihr Licht verlieren, um entweder für kurze Frist oder für immer in die Finsternis des unendlichen Raums zu entschwinden; so gibt es auch Menschen, deren Schicksal von einem gewissen Zeitpunkt ab in Dämmerung und Dunkelheit gleitet.

Ein solcher Mann war der Herr von Erfft und Dudsloch, der gegen das Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zwischen Würzburg und Kitzingen im unterfränkischen Kreis lebte. Seine Wirtschaft und seine häuslichen Angelegenheiten befanden sich in gutem Stand; obwohl es ihm versagt war, einen Luxus zu entfalten, nach dem er sich bisweilen in müßigen Stunden sehnen mochte, erlaubten ihm seine Vermögensverhältnisse doch, alle Wünsche zu befriedigen, die durch phantasievolle Neigung oder eingefleischte Gewohnheit in ihm lebendig erhalten wurden. Die beiden Güter warfen ein ansehnliches Erträgnis ab, die hypothekarische Belastung einzelner Grundstücke und Neubauten wurde mit jeder Ernte geringer, und ein Kapital, das aus der Mitgift der Frau und den allmählich angewachsenen Ersparnissen bestand, war in einem Würzburger Bankhaus niedergelegt. Sylvester von Erfft konnte mehrere Reitpferde und einen Kutschierwagen halten, konnte ein ziemlich ausgedehntes Waldland pachten, um sich dem Vergnügen der Jagd hinzugeben, konnte mit Agathe, seiner Lebensgefährtin, kleine Reisen nach einer nördlich oder südlich gelegenen Residenz unternehmen, weil hier ein Konzert, ein Theater, dort ein geselliger Zirkel lockte, und war vor allem nicht daran gehindert, seine Bibliothek zu bereichern, denn er war ein Mann von Kenntnissen und lebhaften Interessen.

Doch an alledem fand sein heftiger Tätigkeitstrieb kein Genügen. In seiner Jugend hatte er mehrere Jahre in England verbracht, und nachdem er geheiratet hatte und landsässig geworden war, beschäftigten ihn lange Zeit hindurch allerlei Reformpläne; er wollte das Pachtwesen und die Ökonomieverwaltung nach englischem Muster einrichten; er regte Versammlungen der Bauern an, in denen er vorschlug, daß sie sich gegen den drohenden Industrialismus und die wirtschaftliche Ausbeutung als starke Gemeinschaft zur Wehr setzen möchten; er ging sogar damit um, die Erbfolge in den deutschen Adelsfamilien nach dem Vorbild der englischen Aristokratie umzugestalten und richtete eine Eingabe an den König, die von weitem Blick und Sachkenntnis zeugte, aber nicht im mindesten beachtet wurde, sondern ihm, als etwas davon verlautete, unter seinen Standesgenossen Feindseligkeiten und Spöttereien zuzog. Sein Schwager, der Major von Eggenberg auf Eggenberg, stellte ihn sogar wegen dieser närrischen Schrift, wie er sich ausdrückte, zur Rede; Sylvester schlug es ab, sich zu rechtfertigen, und lächelte nur, als der Major ihm sagte, wenn er einen so unbändigen Tatendrang verspüre, möge er sich doch wählen lassen und als Abgeordneter nach Frankfurt gehen. Der Herr von Bismarck sei ja im Begriff, Deutschlands leibhaftiges Unglück zu werden, und man brauche Männer im Kampf gegen diesen Drachen.

Von so beschaffener Politik wollte Sylvester nichts wissen. Mehr als eine höfliche Teilnahme konnte er denen nicht widmen, die das Räderwerk der Staatsmaschine in Gang setzten; wer gut regierte, war ihm schätzbar, den schlechten Herrn machten eifrige Diener nicht besser. »Ich liebe meine Heimat,« pflegte er zu sagen, »die Erde, die mich trägt und nährt, aber es ist mir gleichgültig, was diese Erde auf den Landkarten für einen Farbenrand hat, und kein Minister kann von mir verlangen, daß ich ihm meine Steuern mit einem patriotischen Jubelgesang bezahle.« Wie so viele aufgeklärte und überlegene Geister verstand er seine Zeit nicht recht. Es schien ihm eine tote Zeit zu sein; eine leere und nüchterne Zeit, eine Zeit der Spießbürger, der schlechten Musik, der schlechten Bücher, der geschmacklosen Möbel und des unfruchtbaren Geschwätzes. Ihm dünkte, man mache nur deshalb soviel Lärm, weil man die Dinge verwirren und die Ideen verfinstern wollte; er glaubte nicht an eine gedeihliche Zukunft, ohne Hoffnung blickte er auf sein Vaterland und ohne Anteil auf die trügerische Erregung seiner Mitbürger, denn alles, was er selbst zu ihrem Besten hatte vornehmen wollen, war schmählich mißlungen.

Dadurch wurden aber sein Lebensmut und seine Heiterkeit keineswegs getrübt. In den letzten Jahren hatte er eine große Vorliebe für Gartenkünste gefaßt, er hatte eine Orangerie gebaut und einen Gärtner aus Richmond kommen lassen; mit diesem beriet er stundenlang über die Anlage neuer Wege, über Pfropfungen und Verpflanzungen. Agathe unterstützte ihn dabei, soweit sie es vermochte, und zu der Ritterlichkeit, die er gegen sie an den Tag legte, gesellte sich Dankbarkeit. Sie war nur um zwei Jahre jünger als er; dieser Umstand machte sie um so mehr zu seiner Freundin; bei jedem vortretenden Anlaß achtete er sie für gleichberechtigt. Es gab auch Zank, denn er war jähzornig und nicht ohne Launen, und Agathe war nicht die Person, die sich sklavisch unterwarf, aber jedesmal fühlte sie sich entzückt durch sein williges Bemühen, ein Unrecht vergessen zu machen, das er ihr zugefügt. Manchmal konnte er sie mit seinen Neckereien bis zu Tränen bringen; dann nahm er am Abend irgendein Buch mit schönen Gedichten und las ihr vor. Im dritten Jahre ihrer Ehe war ihnen ein Kind geboren worden, ein Mädchen; es hieß Silvia, war jetzt sieben Jahre alt und sehr schön. Am Vater wie an der Mutter hing es mit der überschwenglichen Kraft, die der frühen Jugend eigen ist, und mit seiner geschmeidigen Gestalt und seinem heitern Antlitz wandelte er durch die Träume des Kindes wie ein Gott.


Von irgendeinem Tage ab, niemand konnte genau sagen von welchem, veränderte sich Sylvesters Wesen ganz und gar. Eine unentschiedene, schwankende, zweifelvolle Stimmung war ihm anzumerken, eine Unlust, die sich bis zur Verdrossenheit steigerte und die Agathe mehr und mehr Besorgnis einflößte. Bisweilen versuchte sie es, ihn aus sich herauszulocken, aber er antwortete nur mit einem Achselzucken und einem fremden Blick. Er hörte auf, sich mit Silvia zu beschäftigen; was er mit dem Kind redete, klang gezwungen und zerstreut.

Umsonst grübelte Agathe über die Ursache der Verwandlung nach. Umsonst ließ sie Leckerbissen für ihn kochen; umsonst machte sie ihm einen englischen Hühnerhund und ein neues Jagdgewehr zum Geschenk; umsonst waren ihre Anstrengungen, ihn aufzuheitern; er schien wie eingemauert. Eines Tages trat sie in sein Zimmer und beobachtete ihn, wie er, den Rücken gegen sie gekehrt, unbeweglich vor dem Spiegel saß. Sie erschrak über den Ausdruck seines Gesichts, den ihr der Spiegel zeigte. Sie näherte sich ihm; er hörte sie nicht. Er hatte den Kopf auf die Hand gestützt, und sein Blick war verloren auf das Ebenbild gerichtet. Sein Auge war voll Schwärze; um die Brauen hatten sich dunkle Entschlüsse geballt wie Wolken um ein Gebirge; aus den Lippen schien eine quälende Frage unhörbar zu dringen. Agathe schlich davon, und als sie den Flur erreicht hatte, rang sie stumm die Hände.

Ein anderes Mal geschah es, daß sie ihn, es war mitten in der Nacht, in der Bibliothek unermüdlich auf- und abgehen hörte. Sie lag im Bett, aber schlafen konnte sie nicht. Je länger sie dem Geräusch seiner Schritte lauschte, je wacher wurden ihre Sinne. Endlich erhob sie sich, umhüllte die Schultern, verließ das Zimmer und ging nacktfüßig die Treppe hinauf. Leise pochte sie, denn sie wollte ihn nicht überfallen, aber als sie die Klinke herabdrückte, merkte sie, daß die Tür verriegelt war. Im selben Augenblick erlosch der Schein in den Ritzen und Spalten, und drinnen wurde es still. Kein Zweifel, daß er das Klopfen gehört, und daß er wußte, Agathe sei es, die vor der Schwelle stand. So genügt also, dachte Agathe, das Bewußtsein meiner Nähe, um ihn mit Furcht zu erfüllen, mit Furcht und mit solchem Abscheu, daß er die Lampe ausbläst, um mich zu verscheuchen.

Am andern Morgen übergab sie das Kind der Pflege ihrer Wartefrau und fuhr zu ihrer Schwester nach Eggenberg. Ihrem Gatten hinterließ sie ein paar Zeilen, des Inhalts, daß sie Sehnsucht nach der Schwester empfinde und sich für die Reise um so leichter entschlossen habe, als sie annehme, daß er ihrer nicht bedürfe und eine Trennung von acht oder zehn Tagen ihm in seiner gegenwärtigen Verfassung vielleicht willkommen sei. Sie lebte bei Schwester und Schwager wie in einem peinvollen Exil, doch stellte sie sich völlig harmlos, und kein Wunsch, drohende Gefahren zu erörtern, war ihr anzusehen; es widersprach dem Grundgefühl ihrer Natur, eine Sache vor andere Ohren zu bringen, die einer nur mit sich selbst und seinem Partner ausmachen kann. Indessen wartete sie von Tag zu Tag auf Nachricht; eine ihr eigentümliche Halsstarrigkeit hinderte sie daran, die Frist zu brechen, die sie sich selbst gesetzt, und als sie nach Verlauf von eineinhalb Wochen wieder in Erfft eintraf, erfuhr sie, daß Sylvester schon vier Tage vorher abgereist war. Er hatte Adam Hund mitgenommen, seinen Diener aus früheren Jahren, den er nach seiner Verheiratung mit einer Aschaffenburger Bierbrauerstochter als Verwalter in Dudsloch angestellt hatte.

Kein Brief, kein Zeichen meldete ihr, wohin er sich gewandt. Frau Österlein, Silvias Pflegerin, erzählte, er sei in der Nacht zuvor an das Bett des Kindes getreten, habe es aus den Polstern gerissen und an seine Brust gedrückt; Silvia habe jedoch fest geschlafen und von dem Zwischenfall nichts in Erinnerung behalten. Fast gleichzeitig bekam Agathe eine Post des Würzburger Bankhauses, worin ihr ordnungsgemäß mitgeteilt wurde, daß Herr von Erfft die Summe von zweitausend Talern behoben habe.

Agathe begab sich in ihr Zimmer, setzte sich hin und wühlte die Stirn in die Winkel beider Arme wie in ein Versteck. Sie schämte sich vor dem Mittagslicht, und die erste Frage an ihr Inneres war, welchen Makel sie auf sich geladen, welche Sünde sie unwissentlich begangen haben könne. Sie war bereit, jeden Fehler in sich selbst zu suchen und hätte sich eines Verbrechens bezichtigt, wenn sie es nur zu entdecken vermocht und dadurch Klarheit erlangt hätte. Das Herz, das ihr am teuersten war, in geheimnisvoller Weise umschleiert zu wissen, dünkte ihr unerträglich. Desungeachtet bewahrte sie vor den Leuten ihre Haltung, und kein Späherauge war imstande, hinter den wohlwollend ernsten Zügen den nagenden Kummer zu bemerken.

So verging eine Woche. An einem Nachmittag stand Agathe im Hof und sprach mit dem Inspektor, da kam der Bote und reichte ihr einen Brief. Ohne zu sehen, spürte sie, daß der Brief von Sylvester war. Diesmal versagte die Selbstbeherrschung: ihre Hand zitterte, ihr Gesicht erbleichte. Sie eilte ins Haus; im Wohnzimmer mußte sie sich an die zugeworfene Türe lehnen und die erregte Brust erst ausatmen lassen, ehe sie die Briefhülle aufriß. Dann las sie, und ihre angespannte Miene wurde mit jeder Sekunde ruhiger, aber auch verwunderter.

Der sonderbare Mann schrieb ihr, als ob es die natürlichste Sache von der Welt sei, daß er sich fern von Haus und Hof befand und als ahne er nichts von Agathes Herzensunruhe. Er wußte seine Mitteilungen in einen anmutigen Stil zu kleiden; es war seine vorzügliche Gabe von jeher gewesen, aber nie früher und nie mit solchem Recht hatte Agathe dieser Gewandtheit so tiefes Mißtrauen entgegengesetzt; die glatten und schmuckhaften Wendungen erschienen ihr wie Lügen, und sie bedurfte der Mühe großer Selbstüberredung, damit die festgegründete Achtung sich nicht verringerte, die sie gegen Sylvester hegte. Er schrieb ihr von gleichgültigen Bekannten, die er getroffen, von der Familie des Präsidenten, wo er diniert, von der Einladung des Großherzogs, nach Karlsruhe zu kommen, von seiner Reiselust, von einem schlechten Theaterstück das er gesehen; dann fuhr er fort: »Ich bewohne zwei elende Zimmer im Gasthof, hoch oben im dritten Stock, denn wegen der Nürnberger Messe ist alles überfüllt. Doch hat mir dieses Ungemach zu einem kleinen Abenteuer verholfen. In dem Fenster gegenüber ist eines Abends ein junges Mädchen aufgetaucht. Wir haben einander in die Augen gesehen wie zwei Wesen von verschiedenen Sternen. Sie ist mehr als jung, das Blut in ihren Adern singt vor Jugend; dabei ist sie melancholisch wie alle Aufwachenden, mit ihren schwarzen Judenaugen klagt sie mir das Leiden von vielen Geschlechtern, und ihre Gebärden sind unbeholfen wie bei Gefangenen. Wenn ich mit de Vriendts Schach spiele, denke ich an sie, wenn ich durch die öden Säle der Residenz gehe, um meine geliebten Tiepolos anzusehen, begleitet sie mich wie eine flehende Sklavin. Rätst du mir, sie zu verführen, Agathe? Sie zu verführen, nur um sie loszuwerden? Ich weiß, du legst auf eine Treue kein Gewicht, die sich nur um des Scheines willen behauptet. Du hältst ja wenig von den Sinnenfreuden, zu wenig vielleicht, um mich ganz zu verstehen. So weit ich Tier bin, duldest du mich, deine Nachsicht ist zu überirdisch, als daß sie mich nicht demütigen sollte.«

Agathe ließ das Blatt sinken und ihre Augen trübten sich gedankenvoll. Das klang wie Ironie; für Ironie fehlte ihr das Verständnis. Nach einer Weile las sie weiter: »Ich war nie der Ansicht, daß Blutstrieb ein Brandmal der Kreatur sei. Soll ich meinen Gelüsten eine Larve aufstecken, mit der sie heuchlerisch in mein Leben grinsen? Liebe ist etwas sehr Weihevolles, aber auch etwas sehr Irdisches, und wir müssen nicht fürchten, gemein zu werden, wenn wir unschuldig genug sind, unsern Körper zu achten. Ich mache mir nichts aus der schmachtenden Orientalin, ich mache mir aus keiner was, es ist nur Begehrlichkeit, und nur lahme Seelen sind begehrlich. Meine Seele ist lahm, Agathe, sie muß geheilt werden. Ich werde meinen Aufenthalt verändern. Wohin ich gehe, kann ich noch nicht sagen; wann ich zurückkehre, kann ich auch nicht sagen. Hab Geduld und vergiß für einige Zeit deinen Sylvester.«

Es war Agathe zumute, als fließe Quecksilber über ihre Finger. Sie faßte nicht die Worte; aus einem vertrauten Antlitz sprach eine unbekannte Stimme; ein böser Geist täuschte die Gestalt eines Freundes vor. Er ist krank, fuhr es ihr durch den Sinn, und da nun Silvia mit groß fragenden Augen vor sie hintrat, als ahne das Kind den Schmerz und Zwiespalt der Mutter und fordere stumm eine entscheidende Handlung, beschloß sie zu ihm zu gehen. Es war Abend geworden, als sie diesen Vorsatz gefaßt hatte, sie schickte zum Inspektor hinüber und bestellte den Wagen. Am andern Tag, in ziemlich früher Morgenstunde, fuhr sie in die Stadt.

Es war um eine Stunde zu spät.


Agathe stammte aus einer angesehenen Adelsfamilie, die im Nassauischen begütert war. Ihr Vater hatte lange Zeit in Frankreich gelebt, hatte dann in Deutschland tätigen Anteil an der Revolution genommen und war in den Märztagen durch einen unglücklichen Schuß getötet worden. Sie war die jüngste unter sieben Schwestern, die man wegen ihrer Schönheit die Plejaden nannte. Ihren Gatten hatte sie bei einem Hofball in Darmstadt kennen gelernt, Sylvester stand damals im achtundzwanzigsten Lebensjahr. Er hatte nicht die Absicht, zu heiraten. Er hatte ein Vorurteil gegen die Ehe, das ihm berechtigt schien, weil es durch vielfache Erfahrung und mancherlei Einblick in das Eheleben anderer Menschen erzeugt und erhärtet worden war. Er wollte seine Freiheit nicht verlieren; er hatte Angst davor, an ein Haus, an eine Stube, an einen Tisch gefesselt zu werden; er wünschte nicht, seine Selbstbestimmung einzubüßen; er trug kein Verlangen nach Familienfrieden und ungestörter Idylle, er war zu sehr an die Aufregungen des Ungefährs, an die Zufälle und Abenteuerlichkeiten des Umherschweifens gewöhnt. Er hatte viel von der Welt gesehen, aber doch nicht genug, die Lockrufe in ihm waren noch nicht verstummt. Dies alles sagte er Agathe. Er sagte ihr, daß er nicht für sich bürgen könne.

Allein Agathe wußte ihn zu überzeugen, daß eine gemeinschaftliche Existenz mit ihr zu seinem Glück ausschlagen werde, und je länger er sie kannte, je mehr war er geneigt, ihr zu glauben. Er nahm eine Art von Tatkraft in ihr wahr, die er noch an keinem menschlichen Wesen bemerkt hatte. Es war die Tatkraft gewisser Pflanzen, die aus zartesten Anfängen zu einer unwiderstehlichen Gewalt emporwachsen, mit der sie Abgründe überbrücken und Felsen zerreißen. Dieser nicht zu beirrende Wille machte ihn zum Untertan Agathes, ohne daß er es wußte. Er bewunderte sie, ohne es zu wissen. Sie konnte ihn einfach rauben, denn der Widerstand, den er ihrer Liebe entgegensetzte, hatte seine Quelle in einer sonderbaren Furcht vor ihr, Furcht vor ihrer Entschlossenheit, vor ihrem Mut, ihrer naiven Leidenschaft und dem stürmischen Tempo, in dem sich ihr Geist und ihr Herz bewegten, lauter Dinge, denen er sich nicht gewachsen fühlte. Er war nicht stark in Handlungen, nicht einmal in Überlegungen, nur seine Eindrücke waren von großer Tiefe und Unvergeßlichkeit. Sie liebte ihn mit dem ganzen Ungestüm ihrer Natur. Er ließ sich von ihr lieben, und an diesem Punkt begann seine Schuld. Obwohl er ihre Liebe erwiderte, gab er sie nicht freiwillig her, sondern er gewöhnte sich so daran, sein Gefühl erobern zu lassen, daß er völlig passiv wurde und jeden Zoll zu bezahlen versäumte. Sie verlebten glückliche und reine Tage, aber Agathe bemerkte nicht, daß sie ihrem Mann bequem wurde. Sie schien ihm zur Gefährtin auserlesen, ja er sah in ihr das Wunder einer Gefährtin, aber mit der Zeit wurde ihm dies selbstverständlich. Sie ließ ihm nichts zu erraten übrig, sie enthüllte sich in jedem Augenblick, und in jedem Augenblick ohne Rückhalt und ohne Vorbehalt. Wäre sie nicht so reich erschaffen worden, in seiner Nähe hätte sie bald verarmen müssen, denn alles was in ihm schenken und bauen konnte, wurde ihr gegenüber stumm und lustlos. Trotzdem war ihm ihre Gesellschaft unentbehrlich, die Jahre gingen hin, die aufwachsende und zum Menschen werdende Silvia kettete sie noch fester aneinander, bis eines Tages eine Unruhe in Sylvester erwachte, über die er sich lange keine Rechenschaft geben konnte.

An einem Morgen fing es an, als er in ihr Schlafzimmer trat. Agathe saß vor dem Spiegel und frisierte sich. Dieses Schauspiel habe ich schon viele tausendmal gesehen, zuckte es Sylvester durch den Kopf. Agathe begann von Wirtschaftssorgen zu sprechen, und er hörte nicht den Sinn ihrer Worte, sondern nur den Klang ihrer Stimme. Und irgend etwas in dieser Stimme, sei es der bekannte Tonfall, sei es die bekannte Folge der Worte, erbitterte ihn in einer höchst ungerechten und sein eigenes Gefühl beleidigenden Weise. Er wartete, welche Bewegung sie machen würde und riet im stillen, daß sie den Kopf an einer genau von ihm bestimmten Stelle fassen und auf die linke Hand stützen würde. Es geschah so, und seine Erbitterung verwandelte sich in Widerwillen. Er sah ihre auf den Stühlen liegenden Kleider, die Schuhe, Bänder und Wäschestücke, und jeder einzelne dieser Gegenstände vermehrte seinen unheimlichen Haß. Die Decke ihres Bettes war zurückgeschlagen, und der Geruch des Frauenkörpers, der dem Linnen zu entströmen schien, erweckte keine Begierde oder Zärtlichkeit mehr in ihm.

Von jener Stunde an wuchsen Unlust und Unzufriedenheit beständig in seinem Innern. Daß sie darunter litt, blieb ihm nicht verborgen, und er freute sich dessen; ihm war, als müsse er Rache an ihr üben, ihm war, als hätte er durch Agathe seine Jugend verloren, als wäre sie die Diebin seiner Illusionen und seiner Hoffnungen. Die zehn Jahre, die er an ihrer Seite verbracht, erschienen ihm wie ebenso viele Jahre der Verbannung und der Kerkerhaft. Eine schreckliche Angst vor dem Altwerden packte ihn, und der Spiegel wurde ihm zum Zeugen der Zerstörung. Der Anblick der Furchen auf seiner Stirn und der Unebenheiten seiner Wangen verfinsterte seinen Geist, und oft, wenn er über den Vernichter grübelte, der so tückisch unter der Epidermis wühlte, über dies langsame Hinschwinden und Niederbrennen, erfaßte ihn eine quälende, aber in ihrem innersten Kern beglückende Sehnsucht, die er anfangs nicht zu betäuben versuchte.

Eines Nachmittags saß Agathe mit der kleinen Frau des Inspektors zusammen. Sie schwatzten über Frauensachen, Sylvester hatte am Tisch Platz genommen und las in einem Buch; bisweilen blickte er zu den beiden hinüber und da bemerkte er, daß die kleine Inspektorin ebensooft einen raschen, erkundenden Blick auf ihn warf. Er beobachtete sie schärfer, und sie spürte es sofort, denn sie versteckte die Füße unter dem Kleid, und Schultern und Arme zeigten jene koketten halben Bewegungen, die zu gefallen berechnet sind. Es lag darin etwas Belebendes für Sylvester. Die sinnliche Strömung, die zwischen ihm und dem fremden Weib entstanden war, machte ihn feurig und froh. Er erhob sich und ging an den Frauen vorüber, und er tat es nur deshalb, damit er im Vorübergehen mit seinem Ärmel das Gewand der Inspektorin streifen konnte; in der Sekunde, in der es geschah, glaubte er sie zu besitzen; in derselben Sekunde wurde ihm auch bewußt, daß er fort mußte, fort von Agathe und dem Kind, daß er dadurch seinen Untergang vielleicht herbeiführen würde, daß aber sein Bleiben diesen Untergang nicht verhüten könne. Er stellte sich dann hinter Agathes Stuhl, Agathe schaute zu ihm empor, und sie lächelte vergnügt, weil sie ihn lächeln sah. Aber sein Lächeln galt nicht ihr, es galt der andern, die auch zu ihm aufblickte. Und obwohl ihm Agathes Züge vertraut und angenehm vertraut waren, da ihre Art zu sprechen, zu denken, zu lachen, zu weinen ihnen die ihm allein enträtselbaren charakteristischen Formen verliehen hatte, obwohl ihr Antlitz ihm wie ein Gefäß voll zarter und heiliger Erlebnisse war, die sein Dasein verändert und verschönert hatten, hingen seine Gedanken und Empfindungen doch an dem gewöhnlichen und leeren Gesicht der Fremden, die nichts weiter als hübsch war, hübsch, jugendlich und unbekannt.

Er hatte danach die Inspektorin weder gesprochen, noch hatte er das flüchtige Spiel zum zweitenmal anzufangen versucht. Aber er hatte sich selbst begriffen. Er sah ein Gleichnis für seine Not. Jemand will eine Reise antreten; auf dem Weg zum Bahnhof begegnet ihm ein Freund, der ihm die Reise dringend widerrät; die Gesellschaft des Freundes entzückt ihn, sie verbringen Tage, Wochen, Jahre miteinander, endlich aber schlägt dem Zurückgehaltenen das Gewissen; war es gleich kein bestimmter Auftrag, der ihn einst zu der Reise veranlaßt, so war es doch sein innerer Trieb; ihm ist, als sei er sich selber ungehorsam gewesen, als habe er sich selbst betrogen; ihn peinigt der Gedanke an die Schönheit der Landschaften, die er nicht gesehen hat, an die Möglichkeiten und Aussichten, die ihm entgangen sind, und mag sein gegenwärtiges Glück noch so groß sein, das Gefühl des unwiederbringlichen Verlustes wird ihn nicht zur Ruhe kommen lassen.

Sylvester wollte noch einmal frei sein. Weiß ich denn, an welchem Tag sich die Pforte hinter mir schließen wird? fragte er sich. Weiß ich denn, was mich hinschleudern, kraftlos, wunschlos, müde machen wird? Ihm tauchten Bilder auf von mannigfacher Lockung. Es riefen ihn Stimmen von allen Seiten. Er wollte leben, ohne Ziel und ohne Maß leben. Nicht der Luxus der Städte, nicht Feste und Geselligkeit zogen ihn hin; es kam wie von einem Traum. Ergreifen und ergriffen werden waren Worte, vor denen er wie vor einem Urwald stand. Wenn er an die unendlichen Gestaltungen des Lebens dachte, überlief ihn ein Schauer, den er seit seiner Jugend nicht mehr verspürt hatte. Er taumelte dahin und suchte Platz. Die Vielzahl der Wege berückte seine Augen. Eine wechselvolle Erwartung stürmte wie Brandung in ihm. Es mußten nicht nur lächelnde Gesichter sein, auch Tränen zu sehen war er bereit. Schon ahnte er, wie sein Herz verstrickt wurde; noch ist es nicht zu spät, sagte er sich, noch ist der wunderbare Magnetismus in mir, den ich verloren zu haben gefürchtet. Und darauf eben kam es an. Dies war zu erproben. Seine Seele war erfüllt von einer Schar bunter Genien; wenn er im Walde ging oder einsam lag und vor sich hinsann, gewahrte er Frauen und Mädchen mit schönen Augen und schönen Haaren; sie warteten auf ihn; jede war in einer stillbeschlossenen Bewegung; jede beglückte ihn durch ihre eigentümliche Weise, zu sein. Aber auch die Wirklichkeit hatte einen neuen Zauber für ihn gewonnen: eine, die am Brunnen stand und Wasser schöpfte; eine, die am Fenster ihrer Kammer saß und zum Mond emporschaute; eine, die hinterm Zaun auf ihren Geliebten wartete; eine, die verschleiert in einem Wagen zur Kirche fuhr; eine, die vor seinem Blick errötete und sich dann niederbeugte, um ihr Schuhband zu knüpfen. Jede hatte ihr Geheimnis; die Augen einer jeden Frau waren geheimnisvoll; er liebte ihre Augen bis zum Schmerz; jedes Auge war ihm eine unerforschte Welt; dies war das Göttliche, das Geisterhafte; aber das Sinnliche, das Nahe waren ihre Hände, sanfte, stolze Wesen für sich, sonderbar entkleidet, herrlich gegliedert, unbewußt die gehütetsten Regungen verratend.

Sein Herz verschmachtete nach Zärtlichkeit, denn es war ihm klar geworden, daß er die Leidenschaft nicht kannte. Er hatte geliebt, oft und heftig; er hatte als junger Mann vieles Ungewöhnliche erlebt an Begegnungen, an Hingabe, manche Stunde der Gnade und der Lust, manche Wochen des Rausches, manche Nacht jener halb gern gelittenen Leiden, die traurig und erfahren machen, aber ein Gefühl, das alles bisherige Leben tötet und ein neues dafür schafft, das auflöst und sammelt in einem Atem, von dem jeder zu wissen scheint und zu welchem doch nur Gottes Lieblinge erwählt werden, das kannte er nicht. Er wollte es kennen lernen. Und wenn er heimkehren mußte, ohne es gefunden zu haben, dann wußte er wenigstens, daß es ein solches Gefühl für ihn nicht gab.


Die junge Jüdin erschien immer zu einer bestimmten Stunde des Abends am Fenster. Die Gasse, die Sylvester von ihr trennte, war nicht zwei Armlängen breit. Man mußte nur vermeiden, sich über das Sims zu beugen, dann konnte man von den tief unten gehenden Menschen nicht gesehen werden. Nachbarn waren nicht zu fürchten; auf der einen Seite endeten beide Häuser im Straßeneck, auf der andern erhob sich ein Torturm.

Der von einer Lampe erhellte Raum, in den Sylvester täglich schauen konnte, hatte grüne Tapeten; an der gegenüberliegenden Wand hing das Bildnis eines alten Mannes, der einen goldnen Becher in der Hand trug. Sylvester hörte, wie drüben die Uhr tickte; auf ihrem geschweiften Mahagonigehäuse stand ein alabasterner Adler mit ausgebreiteten Flügeln.

Schon am ersten Abend hatte Sylvester das Mädchen beobachtet. Schweren Herzens war er im dunklen Zimmer herumgegangen, zu vergessen gewillt, daß er ein Haus auf dem Rücken schleppte und daß ein Weib ihm folgte, unfühlbar fesselnd; da sah er wie in einem Panorama durch die beiden geöffneten Fenster beider Häuser die an den Tisch hingelehnte Gestalt; eine Hand, die den Kopf stützte, lag im schwarzen Haar vergraben, das Gesicht hatte einen Ausdruck von träumerischem Enthusiasmus, aber die feuchten Augen besaßen die Glut einer Nonne, die sich mitten im Gebet an eine sündhafte Vision verliert.

So sehen sie aus, dachte Sylvester, die Schläferinnen, wenn das Seelchen zwischen Jubel und Qual seiner selbst inne wird. Ein Weib zu belauschen, das sich allein wähnt, das heißt, der Natur ihr am meisten bewachtes Geheimnis zu entreißen, dachte er weiter; wie nackt ist solch ein Seelchen, wie menschenhaft! Bittet und lockt, wenn das Schicksal schweigt, und zuckt und wimmert, wenn es spricht. Er war versucht, sie anzurufen.

Eine leichte Unruhe in den Zügen des Mädchens belehrte ihn über die Kraft, die der ungewußte Blick eines andern auszuüben vermag. Sie erhob sich plötzlich und ging zum Fenster, um es zu schließen. Ihr Körper war enttäuschend klein, in der Senkung der Schultern verriet sich Zaghaftigkeit als eine gewohnte Last. Sylvester beugte sich über die Brüstung, und das Mädchen stieß einen hauchenden Schrei aus; es duckte den Kopf und starrte in das jäh emporgetauchte, unbestimmt erhellte Gesicht des fremden Mannes. Aber er haschte förmlich nach ihr, er hielt sie fest durch Blick und Willen. Er redete; er wußte, daß er nicht laut sein durfte; in zwei Sätzen erriet er sie ganz, ihr Leben, ihre Wünsche, ihre Träume, und sie, nicht ahnend, wie leicht dies sei, umklammerte mit den Fingern den Fensterpfosten und staunte ihn groß an. Die nie Umworbene braucht nur begehrt zu werden, und sie begehrt selbst; sie gleicht dem Schlafwandler, der beim ersten Laut aus Menschenmund sich gefangen gibt; ihre Liebe ist Vorrat, ihre Hingebung der Fall einer reifen Frucht, ein Abenteuer verleiht ihr Bestimmung.

Den Mut zu antworten fand sie noch nicht. Aber es folgten andere Abende. Sie war immer zu dieser Stunde in der Wohnung allein. Sie ging zum Fenster wie ein Hungriger zur Mahlzeit. Sie fragte nicht: wer bist du da drüben? sie glaubte an den unerwartet Erschienenen blindlings. Vielleicht hielt sie ihn für einen jungen Menschen, doch um sie zu täuschen, hätte es der Dunkelheit kaum bedurft, sie sah nur, wonach sie verlangte. Ihre Ausdrucksweise war der eines Kindes ähnlich, ihr Vertrauen zur Welt war durch den Argwohn eines tyrannischen Vaters nur um so schrankenloser geworden. Sie hieß Rahel und sie war achtzehn Jahre alt. Ihr Vater war ein Antiquitätenhändler, und so lange Rahel denken konnte, lebte er einsam mit ihr in diesem schmalen, hohen und finstern Haus. Ihre Mutter hatte sie nicht gekannt, sie wußte nichts von ihr, der Vater sprach nie von ihr. Während des Tages mußte sie bei ihm drunten im Laden bleiben; hinter dem Laden war eine kleine Küche, und dort kochte sie. Es war ihr verboten mit den Menschen zu reden. Wenn es dunkel wurde, sperrte der Vater den Laden zu, schleppte seine Geldtruhe über die drei Stiegen hinauf, und dann ging er zum Gottesdienst. Seine Furcht vor den Menschen grenzte an Wahnsinn. Zitternd lag er in seinem Bett, wenn des nachts die Trunkenbolde auf der Straße lärmten, und stets verzerrte sich angstvoll sein Gesicht, wenn der Bäcker am Morgen die Hausglocke zog. Er bewachte jeden Blick und Atemzug der Tochter; als sie einmal einem Vorübergehenden, der sie um den Weg gefragt, Auskunft erteilt hatte, kauerte er bei ihrer Rückkehr in den Laden in seinem Polsterstuhl und heulte dumpf in sich hinein, so daß sie mit Beteuerungen und ihren eigenen Tränen seinen Kummer stillen mußte. Ohne seine Begleitung durfte sie nicht über die Straße gehen, und er geriet schon in Unruhe, wenn sie die Augen aufschlug. So war ihr die Welt zum verbotenen Fest geworden, und wenn es eine Ungeduld gibt, die Ketten sprengen und Kerkermauern stürzen kann, die ihre war von solcher Art.

Die abendliche Fensterstunde war schon Erlösung; das Beisammensein mit der Straße als Abgrund dazwischen reizte Sylvester zu verwegenen Plänen; Rahel ließ sich genügen, bis sie die schürenden Worte des Freundes besser begriff. Ihr war ja das Wort noch neu; es mußte keimen, vom Mund zum Ohr konnte es noch nicht Beute der Sinne werden, aber von der Nacht zum Morgen schlug es Wurzeln, und dann kam sie erglüht wieder. Sie war ohne die Gabe der Verstellung; ihre Freude, ihre Hoffnung, ihr Erstaunen, alles prägte sich in frische Münze des Ausdrucks um; wenn er ihr Blumen hinüberreichte, wurde sie stumm und bleich vor Dank, und sogleich malte sich die Ratlosigkeit in ihren Zügen, wie sie das Geschenk vor den Augen des Vaters verbergen könne.

Einmal brachte er ihr rote Rosen; sie geriet außer sich; sie hatte nicht gewußt, daß man im November Rosen haben könne, und sie schaute ihn an wie einen Zauberer. Mit einem fast verstörten Entzücken fragte sie wieder, wohin sie damit solle; Sylvester sagte, sie möge sie unter das Kopfkissen ihres Bettes legen, doch eine, bat er, möge sie an ihrer Brust bewahren. Sie nickte, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht; da verlangte er, daß sie es vor seinen Augen tun solle, aber sie fragte verwundert, weshalb er dies wünsche. Er antwortete nur, indem er seine Bitte dringlicher wiederholte. Rahel schüttelte betrübt den Kopf. Nun stellte sich Sylvester verletzt, und sie, mit erstickter Stimme, beschwor ihn, von solcher Forderung abzulassen. Er entgegnete kalt, ob sie an ihrer Schönheit zweifle, er selbst müsse zweifeln, weil sie sich so ziere, und sogleich machte er Anstalten sich vom Fenster zu entfernen. Als sie sah wie ernst es ihm schien, war sie bereit, ihm zu willfahren, und obwohl ihr anzumerken war, wie sie sich vergebens mühte, den Sinn seines Willens zu ergründen, öffnete sie ihr Gewand und steckte die erblühteste unter den Rosen zwischen das Hemd und den Körper.

Sylvester gewahrte die weiße Haut; dunkel bewegt faltete er die Hände gegen Rahel. Endlich verstand sie ihn. Wie ein Licht strahlte es aus ihren Augen, in dieser Sekunde erwachte das Weib in ihr. Es drängte sie, seine Hinneigung, von der sie Gewißheit zu haben glaubte, zu belohnen und ihm durch eine Tat zu beweisen, daß sie sie verdiene; da streifte sie mit einer keuschen Lässigkeit Kleid und Hemd völlig von den Schultern und der Büste herunter und stand vor ihm wie eine Herme aus Opal. Es sah aus, als ob der Lampenschein ihren Leib durchglühe, und die schöne Rose, deren Stengel noch innen hinter dem Gürtel festgehalten war, glich zwischen den weißen Brüsten einem Wundmal. Ein süß bescheidener Triumph lag in ihrer Haltung, und während Sylvester sie regungslos anschaute, grüßte sie ihn mit einem fast mütterlichen Neigen des Hauptes, dann schloß sie das Fenster und zog die Gardine zu.

Es wird Zeit, dies Gespinst zu Ende zu spinnen, sagte sich Sylvester in einer angenehmen Trunkenheit; es soll mich nicht fesseln, es soll mich nur beschäftigen. Am andern Abend warf er ihr ein Briefchen hinüber, dessen sorgsam berechnete Leidenschaftlichkeit Rahels Herz entflammte. »Komm zu mir,« hatte er geschrieben, »komm, wenn es Nacht ist, komm zu einem Durstigen, du selbst Verschmachtete. Laß mich nicht unwürdig um dich betteln, Glück ist ein schnellbeleidigter Gast, nur einmal wirft es dir den goldnen Schlüssel auf den Weg. Keine Reue ist brennender als die um das Versäumnis. Das Schicksal prüft dich, sei nicht sparsam mit dir, sonst rächt es sich durch einen Geiz, der dich für immer zu fruchtloser Sehnsucht verdammt. Komm, ich warte. Nenn' am Tor meinen Namen, frag' nach meinem Diener, er soll dich über die Treppen geleiten.«

Den Abend darauf stand er wieder am offenen Fenster. Ein kalter Regen fiel. Vom Dom schlug es sieben, es schlug viertel und halb acht, und die dumpfen Schritte der auf der Gasse Gehenden klangen spärlicher. Rahels Fenster blieb geschlossen. Will sie mir nicht einmal Antwort geben? dachte er zornig, und er fühlte wieder jenen bleiernen Überdruß in sich aufsteigen, der ihn solange beherrscht hatte. Aber jetzt knarrte hinter ihm die Türe seines Zimmers. Er wandte sich langsam um. Die Lampe war nicht angezündet, es flackerte nur eine Kerze auf dem Tisch. In dem entstehenden Luftzug wehte der Vorhang wie eine Fahne weit ins Zimmer hinein. Rahel schritt zögernd über die Schwelle, machte leise die Türe zu, blieb dann stehen und drückte die Hände gegen die Brust. Sie heftete die Blicke auf den Boden, und ihr Gesicht hatte einen Ausdruck von Tiefsinn und Verlorenheit.

Sylvester ging auf sie zu und schloß sie in seine Arme. Sie wagte ihn anzusehen; ihre Augen schienen zu flehen: sag' mir, wer du bist. Er spürte den warmen Körper unter dem Gewand, er spürte das zärtlich ungestüme Blut, doch in seine Freude mischte sich eine wunderliche Trauer, und je länger er sie hielt, je kühler wurde ihm ums Herz. Nachdenklich strich er mit der Hand über Rahels Haar, und ebenso nachdenklich küßte er die Schaudernde auf die Stirn und auf die Augen; plötzlich lauschten beide erschrocken. Vom Flur herein drangen streitende Stimmen. Gleich darauf wurde die Türe mit Heftigkeit geöffnet und ein alter Mann mit einem weißen Bart trat ein.

Bei seinem Anblick duckte sich Rahel; ihr Kopf fiel wie gebrochen gegen die Brust. Sylvester wollte den Eindringling zur Rede stellen, aber er begegnete einem Blick voll solcher Raserei, daß ihm der Mut verging und er sich nur mit einer fragenden Miene an seinen Diener Adam Hund wandte, der mit philosophischem Ernst auf der Schwelle stand und einem Wachtposten glich, dem man zu seiner Verwunderung das Gewehr weggenommen hat. Eine Magd und ein Kellner hatten sich in den stattgefundenen Wortwechsel gemengt und spähten neugierig ins Zimmer.

Eine Weile betrachtete der alte Mann stumm seine Tochter. Die unzähligen Falten in seinem Gesicht sahen aus wie Striche auf einem radierten Blatt; die weißen Haarringeln, die von der Stirn herabfielen, waren naß vom Regen. Auf einmal packte er das Mädchen bei den Haaren und warf es nieder; Sylvester und Adam sprangen herzu, aber er rollte die Augen wie ein Wahnsinniger und stieß mit den Füßen nach ihnen. Mit einer Kraft, die ihm niemand zugetraut hätte, schleifte er Rahel an den Haaren zum Zimmer hinaus, über den Flur, über die Stiege hinunter, so daß man die Schuhe der Unglücklichen auf den Stufen klappern hörte, schleifte sie drunten an einigen Leuten vorbei, die versteinert zuschauten, weil das Entsetzliche des Vorgangs jeden Entschluß lähmte, schleifte sie über den Gang bis zum Tor und dann noch über die Straße in sein Haus. Während alles dies mit ihr geschah, hatte das Mädchen nicht einen Laut hören lassen.

Zu spät gewann Sylvester Besinnung und Überlegung zurück. Als er die Treppe hinuntergerannt und vor dem Haus des Händlers angelangt war, hatten sich ungeachtet des strömenden Regens eine Menge Menschen in der engen Gasse versammelt. Sylvester rüttelte an der Tür, sie war verriegelt. In seiner Erregung forderte er die Umstehenden auf, daß sie ihm helfen möchten, das Schloß zu sprengen, doch keiner folgte seinem Geheiß, spöttisch und finster sahen sie ihn an. Da kehrte er um, und als er über die Stiege hinaufging, fand er einen von Rahels Schuhen dort liegen. Er hob ihn auf und nahm ihn mit. In der Wohnung des Juden blieb es den ganzen Abend über dunkel. Niemals erfuhr Sylvester, auf welche Weise der Alte von Rahels Flucht unterrichtet worden war, ob sie ihm selbst einen Hinweis gegeben, ob ihr Gefühl und Trieb sie verraten, ob er die Gefahr mit dem Instinkt der Argwöhnischen gewittert und sie heimlich beobachtet hatte, ehe sie selbst noch gewußt, was in ihrem Innern vorging.

Sylvester benutzte einen Teil der Nacht dazu, um seine Koffer zu packen. Am andern Morgen reiste er ab.


Als Agathe in der Stadt ankam, blieb ihr die Beschämung nicht erspart, von den Hotelbediensteten erfahren zu müssen, daß Herr von Erfft abgereist sei. Kaum brachte sie es über sich, zu fragen, ob er nicht eine Adresse hinterlassen habe. Die Antwort lautete verneinend.

Dann stand sie auf der Straße und überlegte. »Zum Baron de Vriendts,« befahl sie dem Kutscher.

Der Domherr Baron de Vriendts wohnte in einem alten palastähnlichen Hause am Residenzplatz. Sie wurde über eine breite, mit roten Teppichen belegte Stiege in einen Saal geführt und übergab dem livrierten Diener ihre Karte. Aus einem entfernten Raum tönte das Spiel einer Orgel. De Vriendts galt für einen großen Liebhaber der Musik, und man erzählte sich, daß eine junge Verwandte bei ihm lebe, manche behaupteten auch, daß es eine Fremde sei, ein elternloses adeliges Mädchen, das eine Virtuosin auf der Orgel war.

In früheren Jahren war de Vriendts häufiger Gast bei Sylvester und Agathe gewesen; jetzt litt er dermaßen am Podagra, daß er nicht mehr sein Zimmer, geschweige denn die Stadt verlassen konnte. Das körperliche Übel hatte auch seiner Umgänglichkeit Abbruch getan; so oft Sylvester in der Stadt gewesen, hatte er gegen Agathe Klagen geführt über die zunehmende Verdüsterung des einst so lebensfrohen Mannes.

Der Lakai kam zurück und sagte, Hochwürden lasse bitten. Sie ging durch ein Zimmer, in welchem Kupferstiche hingen und alte geschriebene Folianten auf schmalen Pulten lagen, und durch ein zweites, in dem sich eine Münzensammlung befand. Dann mußte sie über einen Korridor schreiten, der Diener öffnete die Tür, und eine überheizte Luft schlug ihr entgegen. Bei ihrem Eintritt hörte das Orgelspiel auf, sie vernahm einen raschen, leichten Schritt hinter dem Instrument und sah durch den Spalt einer sich schließenden Tapetentür ein weißes Gewand. De Vriendts lag in einem Polstersessel; seine Füße staken in dicken Verbänden. Auf einem Tischchen vor ihm war ein Schachbrett aufgestellt, und die majestätisch hinrollende Fuge schien ihn nicht daran gehindert zu haben, die Position auf dem Brett zu studieren. Neben ihm in einem Käfig mit versilberten Stäben hockte ein grüner Papagei unbeweglich wie aus Stein; zwischen dem Kamin und der Türe hingen sechs venezianische Marionetten, deren bunte Kleider und wilde Gesichter etwas Gespenstisches hatten. Agathe erschrak bei dem Anblick de Vriendts. Sein Gesicht war eingefallen und aschfahl; die furchtbare Häßlichkeit der Züge wurde nur durch den Ausdruck des Leidens gemildert. Die Entfleischtheit des Kopfes bot einen schaurigen Gegensatz zu dem dicken und aufgequollenen Körper, aus dem hart und laut ein gepreßter Atem brach. Agathe mußte sich Gewalt antun, um ihr Entsetzen, in das sich Abscheu mischte, zu verbergen. De Vriendts lud sie mit einer mühsam liebenswürdigen Bewegung zum Sitzen ein. »Wie jung Sie sind, wie schlank,« sagte er mit einer hohlen, gellenden, angestrengten Stimme, und etwas wie Neid und Haß war in seinen höchst unruhigen Augen.

Stockend brachte Agathe ihr Anliegen vor und fragte, ob de Vriendts nicht wisse, wohin sich Sylvester gewandt habe. De Vriendts zog die Brauen hinauf und erwiderte, er wisse nichts von Sylvester, der seit vier Tagen nicht mehr bei ihm gewesen sei. Er heftete einen mißtrauischen Blick auf Agathe und fragte ein wenig lebhafter: »Ja, ihr lieben Leute, wart ihr denn nicht glücklich miteinander?«

»Ich war der Meinung, daß wir glücklich seien,« antwortete Agathe leise, »aber für das Glück bin ich vielleicht doch nicht mehr jung genug. Mit siebenunddreißig Jahren muß eine Frau verzichten lernen, scheint mir.«

De Vriendts legte den Kopf zurück und mit gleichgültiger Miene schloß er die Augen.

»An wen könnte ich mich nur wenden?« fuhr Agathe ebenso leise fort. »Ich will ja alles hinnehmen, ich will ja warten, aber einen Grund will ich wissen.«

De Vriendts hob jäh den Kopf und sah böse aus. »Wenn Sie den Weg nicht scheuen und übles Gerede nicht fürchten, dann erkundigen Sie sich doch bei Ursanner,« stieß er fast schadenfroh hervor.

»Hat er denn mit Ursanner verkehrt?« fragte Agathe verwundert.

»Nichts natürlicher, als daß einer mit dem Teufel anbindet, wenn er von Gott verlassen ist,« versetzte de Vriendts höhnisch.

Agathe versuchte einzulenken. »Sylvester war in früheren Jahren sehr befreundet mit Achim Ursanner,« sagte sie schüchtern.

»Das mag ja sein, jeder Verbrecher war einmal unschuldig, Ursanner wahrscheinlich auch. Und damit ich's Ihnen nur offen gestehe: als man mir hinterbrachte, daß Sylvester mit diesem Menschen zusammenkommt, habe ich ihn gebeten, mein Haus zu meiden.«

Ein Frösteln lief Agathe über den Rücken.

Das war der jahrtausendalte, unversöhnliche Geist der Kirche, der ihrem Herzen fremd blieb. Sie beschloß, zu Ursanner zu gehen.

Sie schien zu vergessen wo sie war. Vor den Fenstern lag ein dicker Nebel, der das Zimmer mehr und mehr verdunkelte. Die Schachfiguren verloren ihre Farbe und sahen aus wie eine Schar von Gnomen. Es war ein wunderschönes Elfenbeinspiel; die Türme hatten goldene Fähnchen auf ihren Basteien.

Unten auf der Straße zogen Soldaten mit dumpfem Gleichschritt vorüber. De Vriendts hatte Agathes Schweigen geschont, weil er ihr Zeit geben wollte, sich zu sammeln. Nun, da er seiner Christen- und Priesterpflicht genügt zu haben glaubte, veränderte sich sein Wesen völlig. »Sie leben doch, Frau Agathe, Sie leben,« sagte er, und sein Genießermund, der alle Leckerbissen des Daseins gekostet hatte, wölbte sich gierig-schlaff, »ihr Lebenden wißt nicht, was das heißt. Ich, sehen Sie, ich habe nur noch einen Wunsch, ich möchte noch einmal singen hören. Nicht von einem Mann, Männer dürften eigentlich nicht singen. Auch nicht von einer Frau, Frauen sind schon zu erfahren, das himmlische Instrument in ihrer Kehle ist verstimmt. Was ich meine, ist der Gesang vor den Toren des Lebens, der von Sünde und Tod nichts weiß, der die Wollust heiligt und das Blut süßer macht. Wenn ich das noch einmal hören kann, will ich meine letzte Flasche Bocksbeutel entkorken, den ältesten, der so jung und sanft wird mit der Zeit und will ihn schlürfen, bis sich der kleine Rausch in den großen Tod verwandelt hat.« Er griff nach einer Zeitung, die neben ihm lag. »Haben Sie von Gabriele Tannhauser gelesen?«

»Von der Sängerin?«

»Schon nennt man sie die Göttliche. Alle Journale sind voll von ihr. Morgen singt sie in Karlsruhe. Ich werde hinfahren und wenn man mir vorher die Beine amputiert.«

Agathe hatte ein seltsames Gefühl von Scham. Der ekstatische, ja fast irre Blick aus den blaßgrünen Augen des Greises ängstigte sie. De Vriendts beleckte mit der Zunge seine Lippen, faltete die Hände und fuhr mit heiserer Stimme fort: »Haben Sie nie die Erfahrung gemacht, daß man eine Blüte mit anderen Augen ansieht, als mit bloß neugierigen oder bewundernden, wenn man sie noch in der Knospe gesehen hat? Es mag jetzt vier Jahre her sein, im Herbst, da fuhr ich von Rom nach Deutschland und mußte in Augsburg übernachten. Am Abend ging ich durch die Straßen, traurig und verstimmt, da komm' ich ans Theater und lese auf dem Zettel, daß ›Lucia di Lammermoor‹ aufgeführt wird. Die Vorstellung hat schon angefangen, ich kaufe mir ein Billett, und mit geringer Erwartung geh' ich hinein. Das Theater ähnelt einem Stall, überall riecht es nach Öllampen, kaum hundert Personen sitzen schläfrig herum, und das Orchester macht einen Lärm, daß mir die Ohren weh tun. Nicht viel anders sieht es auf der Bühne aus, Akteure und Aktricen sind mit schmierigen Lappen bekleidet und singen zum Steinerweichen. Auf einmal erscheint da ein Persönchen und erhebt seine Stimme und mir ist, als ob Rom ein böser Traum sei und Florenz eine Hölle und Deutschland ein Grab. Mir ist, als juble der süßeste von allen Engeln über die Auferstehung der Toten, mein Herz wird klein und groß, meine Augen füllen sich mit Wasser, die Hände zittern mir, und als der Vorhang fällt, wanke ich hinaus und lese auf dem Zettel: Gabriele Tannhauser. Ich habe sie dann gesehen. Ein jämmerlicher Bursche, den sie Direktor nannten, hat mich hinter die Kulissen geführt. Sie saß auf einem Pappendeckelfelsen und blickte mich mit großen, grauen Augen fremd an. Sie konnte nicht älter als achtzehn Jahre sein. Ich nahm ihre Hand und küßte sie und sagte: später werden Könige dasselbe tun. Sie erhob sich und ihre Augen leuchteten. Es war etwas Erschütterndes in diesem zuversichtlichen und zugleich demütigen Glanz. Ich ging weg wie ein neuer Mensch, und nicht zwei Jahre hat es gedauert, da klang dieser Name aus der Dunkelheit in die beglückte Welt. Nun möchte ich sie noch einmal hören.«

Agathe schwieg. Sie wußte nichts zu sagen. Halb war sie erstaunt, halb von ihren quälenden Gedanken abgezogen. Sie stand auf und verabschiedete sich.


Sie aß bei einer alten Verwandten zu Mittag, schrieb dann mehrere Briefe und bestellte den Wagen, um nach Randersacker zu fahren. Als sie der alten Dame sagte, daß sie zu Ursanner wolle, bekreuzigte sich diese und schüttelte entsetzt den Kopf.

Achim Ursanner war der Sohn eines Flußbaumeisters, eines angesehenen und in seinem Fach tüchtigen Mannes. Seine Mutter war eine Französin gewesen, aber gerade diesem Umstand verdankte er eine fast trotzige Liebe für sein Vaterland, für deutsches Wesen und deutsches Leben. Er hatte die Rechte studiert und dem Wunsch seines Vaters gehorsam die Laufbahn eines Staatsbeamten gewählt. Sein Talent, seine Tatkraft wie auch einflußreiche Verbindungen brachten ihn rasch in die Höhe, und mit dreißig Jahren war er bereits Kabinettschef im Ministerium. An dieser Stelle machte er sich zum erstenmal durch ein reformsüchtiges Treiben unliebsam bemerkbar, aber je mehr man diese Eigenschaft bekämpfte, je stärker trat sie hervor. Es erregte Aufsehen, als er nach vielen Bemühungen die Wiederaufnahme eines Prozesses durchsetzte, in dem nach seiner Meinung ein ungerechtes Urteil gefällt worden war; es erregte nicht minder Aufsehen, als er in einer Druckschrift gewisse Mängel der Justiz und der Verwaltung rücksichtslos an den Pranger stellte, und bald begnügte er sich damit nicht mehr, sondern ging dem Schlendrian der Behörden, der Bestechlichkeit der Beamten, dem Servilismus der Hofschranzen, der Verbrüderung der Profitmacher und der Nachlässigkeit in der Führung öffentlicher Geschäfte mit einer solchen Wut und Bitterkeit zuleibe, daß er eines Tages kurzerhand den Abschied erhielt und der König ihm befehlen ließ, die Hauptstadt zu meiden. Seine Frau, eine Münchener Kaufmannstochter, die er ein Jahr zuvor geheiratet und die ihn durch Anmut und leichte Lebensart bezaubert hatte, war bei dieser Nachricht wie aus den Wolken gefallen, denn sie hatte sich um das, was ihn erfüllte und gefährdete, nicht im geringsten bekümmert.

Es hatte begonnen als ein Funken; vielleicht mit einem Ärger, vielleicht mit dem Erstaunen über eine versäumte Handlung der Billigkeit; der Widerstand, den sein männliches Eingreifen erfuhr, hatte ihn erhitzt. Nach und nach mußte er wahrnehmen, daß er einem solchen Widerstand überall dort begegnete, wo er das Unrecht in Recht verwandeln wollte, daß es der Widerstand der Trägen, der Aufruhr der Bequemen war. Jetzt wurde ihm Lebensziel, was vorher nur Wallung gewesen. Sein ganzes Inneres entflammte sich gegen eine zerrüttete, verdorbene, faulende Welt.

Er ging in die Heimat. Seine Frau folgte ihm, mißvergnügt durch die Aussicht auf dauernde ländliche Langeweile und empört durch den erzwungenen Verzicht auf ihre gesellschaftliche Stellung in der großen Stadt. Die Seinen empfingen ihn kalt. Der Vater grämte sich über den Zusammenbruch der Hoffnungen, die er auf den einzigen Sohn gesetzt, zu Tode; die Mutter war verständnislos und den Einflüssen geistlicher Berater unterworfen. Ursanner nahm dies alles hin. Er publizierte eine Rechtfertigung, die eine glühende und beispiellos kühne Anklage gegen die Regierung war. Er nannte sich herausfordernd den Deutschen; die Deutschen, an die er sich wendete, von Mal zu Mal freier, gesammelter, bewußter und beredter, denen er den Wurzelfraß ihres nationalen Haders, ihrer Kleingeisterei, ihrer Verlogenheit und Selbstgenügsamkeit aufdeckte, nannten ihn den Feind. Er war so gefürchtet als gehaßt. Das Brandmal eines Verräters haftete ihm an, in dessen Seele die heißeste Liebe für sein Land und für sein Volk wohnte. Als es gar noch bekannt wurde, daß er mit Ferdinand Lassalle in brieflichem Verkehr stand, dem Erzketzer und Demagogen, verließen ihn selbst die wenigen, die bis dahin wenn auch nicht zu seiner Sache, so doch zu seiner Person gehalten hatten. Damals hatte sich auch Sylvester von Erfft von ihm zurückgezogen — gezwungenermaßen, um nicht selbst von seinen Freunden gemieden zu werden.

Aber es war Achim Ursanner vom Schicksal nicht bestimmt, auf dem geraden und zweifellosen Wege des geistigen Kampfes zu bleiben. Die Umstände rissen ihn ins Kleine und Gemeine und verzehrten dort seine Kraft. Ein Jahr nach dem Tod des Vaters starb auch die Mutter. Bei der Testamentseröffnung stellte sich heraus, daß sie einen Teil des Grundbesitzes, einen Weinberg und mehrere Äcker, dem nahegelegenen Karmeliterkloster vermacht hatte. Achim Ursanner bestritt die Gültigkeit dieser Schenkung und strengte einen Prozeß gegen das Kloster an. Sein Einspruch wurde zurückgewiesen; er appellierte; er brachte Zeugnisse bei, die klärlich bewiesen, daß seine Mutter in ihren letzten Lebenstagen in getrübter Geistesverfassung gewesen. Der Prozeß lief von Instanz zu Instanz und kostete Geld über Geld. Indessen hatte sich Jakobe, seine Frau, innerlich von ihm abgekehrt. Ihr Betragen gegen ihn wurde feindselig und sein Schmerz war groß, als sie es nicht mehr vor ihm verbarg, daß sie mit den Karmelitern im Einverständnis war und in ihm, wie die Mönche sie gelehrt, eine Art von bösem Dämon erblickte. Als er eines Tages von der Stadt zurückkehrte, war Jakobe mit den beiden Kindern verschwunden. Er liebte die Kinder bis zur Vergötterung, und von der Stunde ab war sein einziges Bestreben, wieder in ihren Besitz zu gelangen. Er verwandte darauf seine ganze Umsicht und Energie, alle Erfindungsgabe und allen Mut. Die Spuren der Flüchtigen zogen ihn nach den verschiedensten Gegenden des Landes, ja bis nach Tirol und Verona. Diese Reisen, das Aufgebot von Helfern und die Besoldung der Advokaten verschlangen nahezu sein ganzes Vermögen, und obgleich der Kampf, den er im Finstern und gegen die Finsternis führte, sein Herz zermalmte, erlahmte der Wille nicht. Nach dreizehnmonatlichen Fahrten entdeckte er Jakobes Aufenthalt. Sie befand sich in einem Dorf in der Nähe von Nancy, in der Wohnung einer Generalswitwe, und von dort fuhr sie bisweilen nach Paris, um sich zu zerstreuen. Nachdem Achim das Versteck gefunden, traf er alle Vorbereitungen, um die Kinder zu rauben, und als Jakobe wieder einmal von ihnen wegfuhr, wartete er den späten Abend ab, stieg durch ein Fenster in das Haus, nahm die schlafenden Kinder, von denen das eine sieben, das andere sechs Jahre alt war, aus den Betten und entfloh mit ihnen, ohne daß er gesehen wurde. Ein Wagen zum nächsten Bahnhof stand bereit, und zwei Tage darauf befand er sich mit den beiden Kindern wohlbehalten in Randersacker. Aber jetzt erst erhob sich die wahre Hölle gegen ihn. Jakobe rief die Gerichte an. Er konnte erhärten, daß ihn sein Weib ohne Rechtsgrund verlassen, daß sie ihm die Kinder böswillig genommen und daß er in erlaubter Notwehr gehandelt, als er sich wieder in ihren Besitz gesetzt hatte. Neue Prozesse kamen in Gang. Das Schlimmste war, daß die Bevölkerung gegen ihn aufgehetzt wurde. Er konnte kaum mehr wagen, auf die Straße zu gehen. Die Fülle der Verleumdungen, der Beleidigungen und des niedrigsten Unflats machte ihn krank vor Ekel. Sein Haus glich einer Festung. Er mußte von weit her und gegen hohes Entgelt Leute kommen lassen, die ihm dienten und seine Kinder beschützten. Er mußte täglich und stündlich gewappnet sein gegen den Andrang eines verrohten und mißleiteten Pöbels.

So standen die Dinge um Achim Ursanner, als Agathe sich anschickte, ihn zu besuchen.


Das Haus lag auf einem Hügel, und ein Schlangenweg führte hinauf. Agathe ließ den Wagen unten halten. Es fiel ihr auf, daß zwei junge Burschen am Tor oben standen und ein Pfeifensignal gaben, als sie den Weg hinanschritt. Jetzt erschien Achim Ursanner selbst, warf einen spähenden Blick auf Agathe und kam langsam hügelabwärts. Erst als er vor ihr stand, erkannte er sie, lüpfte den Hut und bot ihr zum Gruß die Hand.

Er war ein ziemlich kleiner Mann von gedrungenem Körperbau, kurzhalsig und breitbrüstig; das Gesicht war von einem rötlichbraunen Bart umrahmt, und er trug eine Brille mit dicken Hohlgläsern, hinter denen die Augen bisweilen rasch und erregt aufblitzten. Seine Züge hatten einen träumerischen Ausdruck, und der Mund war von fast frauenhafter Weichheit.

»Was führt Sie zu mir, gnädige Frau?« fragte er mit tiefer, verwunderter Stimme, während er an Agathes Seite umkehrte. Agathe schüttelte den Kopf, wie wenn ihr die Antwort nicht leicht fiele. Als sie in den Hof getreten waren, schlossen die beiden Wächter das Tor zu. Drei riesige Doggen sprangen herbei und umschnupperten Agathe mißtrauisch. Das Innere des Hauses zeigte Spuren der Vernachlässigung, die dem Auge einer Frau nicht entgehen konnten. Von den Wänden war an vielen Stellen der Mörtel abgefallen, Diele und Treppen waren seit langem nicht gescheuert, und die Türklinken waren rostblind. Ursanner schien die Gedanken Agathes zu erraten; sein resigniertes Lächeln wollte sagen: ein Kranker putzt sich nicht. Er geleitete Agathe in ein großes, niedriges Zimmer zu ebener Erde, zündete, da es schon dunkel wurde, die Hängelampe an und schaute nun seiner Besucherin ruhig forschend ins Gesicht. In seiner Haltung, in seinem Auge war etwas von einem Läufer, der stille steht und sich besinnt, etwas, wovon Agathe ahnungsvoll ergriffen wurde, so daß ihr plötzlich der Grund ihres Hierseins klein und unwichtig vorkam und sie nur mit Überwindung die Frage nach Sylvester über die Lippen brachte. Sie hatte sich niedergesetzt und blickte zaghaft zu Ursanner empor. Da er stumm blieb, fühlte sie das Unzulängliche der bloßen Frage und fügte in mattem Ton eine Erklärung ihrer seltsamen Situation hinzu.

»Ich weiß nichts von ihm,« antwortete Achim Ursanner, genau wie de Vriendts geantwortet hatte. Dann fuhr er fort: »Wir trafen uns eines Tages in der Stadt, als ich ins Pfandhaus ging. Anfangs war er verlegen, aber dann begleitete er mich bis hier heraus. Ich mußte ihm von meinen Umständen berichten, und er hörte mir geduldig zu. Er bot mir Geld an, aber ich schlug es aus. Ein Mann, der Weib und Kind hat, darf keinem andern Mann Geld borgen. Er sagte mir, daß er reisen wolle, und ich beglückwünschte ihn dazu. Und als er fortging, versprach er, mir zu schreiben. Er hat mir wohlgetan, es waren ein paar menschliche Stunden, wir haben uns sogar noch geduzt wie in früherer Zeit, als wir beim Regiment standen.«

»Er wollte Ihnen also schreiben?« unterbrach Agathe den hastig Redenden.

»Ja, er wollte schreiben. Sein Händedruck, als wir schieden, hatte auch etwas Bindendes, und das war nicht der Fall, als wir uns vor Jahren zum letztenmal die Hand reichten. Er hatte vielleicht eingesehen, daß er treulos gewesen, er, gerade er, mit dessen Namen ich den Himmel gegrüßt hätte. Aber was soll mir Reue? Ich hab' ihn ja noch immer gern, doch ein Freund, der vor mir steht und bereuen muß, läßt mein Herz nicht froh werden.«

Wie verändert er ist, dachte Agathe; Achim Ursanner war ihr noch gegenwärtig als eine Gestalt von eigentümlicher Helligkeit, die Wärme mitteilte und Offenheit natürlich machte, als ein Mann, dessen ordnender Verstand jedem Gespräch einen erquickenden Fluß verlieh und dessen Humor und stille Überlegenheit jeden Gegenstand adelte, den sein Wort berührte. So hatte sie ihn vor acht oder neun Jahren gesehen, als Sylvester den Jugendgefährten in sein Haus geführt hatte; jetzt aber schnürte sich in seiner Nähe ihre Brust zusammen, und die ganze Atmosphäre des Hauses erdrückte sie. Sie beugte sich weit vor, stützte beide Ellenbogen auf die Knie, legte die Wangen zwischen beide Hände und mit ernsten Augen, zwangvoll und furchtsam zugleich, bat sie ihn, er möge ihr erzählen, was sich in seinem Leben ereignet hatte; denn obwohl sie vom Hörensagen mancherlei wußte, und Sylvester bisweilen diese oder jene Neuigkeit über Achim aus der Stadt mitgebracht hatte, verlangte sie jetzt doch nach anderm Aufschluß und sie schämte sich, daß sie nur kannte, was die betrügerische Fama verbreitet hatte.

Er willfahrte ihr. Er erzählte. Er ging im Zimmer auf und ab, und es war, als spreche er zu den Wänden. Seine Sätze waren kurz, scharf, schneidend. Jeder einzelne enthielt eine Tatsache und nichts weiter. Es war aufregend, ihn zu hören.

»Nun ist es soweit gekommen, daß Bäcker und Krämer mir nichts mehr verkaufen wollen,« schloß er seinen Bericht; »Leute, denen ich einst geholfen habe, spucken aus, wenn sie mich sehen. Kinder und Weiber laufen vor mir davon. Heute habe ich sieben Drohbriefe erhalten, anonym natürlich. Die Bauern werfen mir Steine auf die Acker, des Nachts demolieren sie den Zaun und wollen meine Hunde mit vergiftetem Fleisch umbringen. Wer mich nur grüßt, der ist schon verfemt, und es war kein kleines Wagnis von Sylvester, zu mir zu kommen. Sie, Frau Agathe, scheinen nicht recht gewußt zu haben, was Sie taten. Ich bin vogelfrei. Wer mich besudelt, verdient sich einen Gotteslohn. Ich bin wie ein Aas, an dem sich die Raben mästen. Nun, wir wollen sehen. Es wird sich ja zeigen, wieweit die menschliche Niedertracht zu gehen vermag; es ist eine wahre Begierde in mir, ihre Grenzen kennen zu lernen; so sonderbar es klingt, ich bin immer wieder überrascht, wenn sie sich in einer neuen Entfaltung zeigt.«

Agathe hatte allmählich die Augen gesenkt und blickte wortlos zur Erde. Hie und da lief ein Frösteln über ihre Glieder, und es kam ihr vor, als hätte sie bis zu dieser Stunde nicht geahnt, in was für einer Welt sie lebte. Ihr ward es dunkel im Gemüt, und so beredt auch ihr Schweigen für Ursanner war, sie selbst nahm es für einen Beweis von Schwäche, ja von Mitschuld. Sie legte die Hand über die Augen. Achim setzte seine Wanderung durch das Zimmer unermüdlich fort. An den Fenstern trug jemand eine Pechfackel vorüber, und die Flamme war wie ein Band gebogen.

»Wollen Sie mich nicht zu Ihren Kindern führen?« ließ sich Agathe endlich vernehmen. Ursanner nickte, sie stand auf und folgte ihm durch den Korridor über den Flur in den ersten Stock. Er öffnete eine Türe und sie blieb auf der Schwelle stehen. Die zwei blondlockigen Knaben saßen auf der Erde und blickten in ein Bilderbuch. In der Ecke zwischen Ofen und Wand hockte ein alter Knecht mit der Tonpfeife im Mund und schlief. Die Kinder waren blaß und einander ähnlich wie Zwillinge. Sie bewegten kaum die Köpfe, als die Tür aufging, sie schauten nur schief zum Vater und zu der fremden Frau hinüber. Agathe trat zu ihnen, bückte sich und redete zärtlich auf sie ein. Doch sie schwiegen trotzig, und auf den Lippen des älteren Knaben zeigte sich ein sonderbar lauerndes Lächeln. Ratlos sah Agathe Achim Ursanner an, und sie bemerkte, daß seine Züge sich verfinstert hatten und daß sein Mund zuckte. Sie erhob sich. »Ich muß jetzt gehen,« sagte sie, »ich möchte am Abend zu Hause sein. Werden Sie mir Nachricht geben, wenn Ihnen Sylvester schreibt?«

»Das werde ich, Frau Agathe, das werde ich unbedingt,« versicherte Ursanner in seinem treuherzigen Ton. »Und wenn Sie erlauben, will ich auch Ihren Besuch erwidern, sobald ich aufatmen kann,« fügte er hinzu; »mir ist, als müßte ich Ihnen danken, und vielleicht darf ich's, denn sind Sie auch nicht meinetwegen gekommen, so weiß ich doch, daß Sie ein zweitesmal meinetwegen kommen würden. Stimmt es?«

»Es stimmt,« antwortete Agathe, und sie selbst fühlte etwas wie Dankbarkeit. Er begleitete sie hinunter zum Wagen; die drei großen Hunde standen um ihn her, und ihre Augen glühten aus der Dunkelheit. »Was raten Sie mir zu tun?« fragte Agathe, während ihre Hand schon den Griff der Wagentüre gefaßt hatte.

»Wenn ich mir den Eindruck zurückrufe, den Sylvester auf mich machte, so muß ich sagen, er ist auf keiner guten Bahn,« entgegnete Ursanner. »Es ist am besten, wenn Sie ganz stille bleiben. Seien Sie großmütig. Es gibt im Leben jedes Mannes eine Zeit, wo er Gott verliert, und wenn er da einen Menschen hat, der ihn liebt, was ist natürlicher, als daß der ein wenig Gottes Rolle übernimmt? Ich hätte nicht gedacht, daß zwischen euch beiden solche Dinge passieren könnten, aber eine Ehe ist für den Dritten so ziemlich das Geheimnisvollste auf der Welt. Und Mann und Weib, was wissen sie voneinander? Die Nähe macht grausam, die Ferne blind, Gefühle sind vergeßlich, Worte Luft. Und trotzdem, glauben Sie mir, wird mit einem Wort oft viel erreicht. Manchmal, wenn ich so zwei Leutchen zanken hörte oder einander stumm zerfleischen, war ich versucht, ihnen zuzurufen: Kinder, warum sagt ihr euch denn nicht das richtige, gute Wort? So geht's mir auch im Theater, wenn die Herrschaften einander Szene machen. Es ist sehr viel Freiwilligkeit in dem Bösen, das Eheleute einander zufügen, und jede Liebestat will sich rächen durch eine Hassestat. Seien Sie großmütig.«

Mit fast ungestümer Bewegung streckte Agathe dem Freunde die Hand hin, und er preßte sie fest in der seinen. Dann stieg sie ein, nickte noch einmal aus dem Fenster, und die Pferde zogen an.

Agathes Herz war schwer. Sie konnte die zwei Kinder nicht vergessen, das sonderbar lauernde Lächeln des einen Knaben, den schlafenden Knecht hinterm Ofen und Achim Ursanners zuckenden Mund. Es lag für sie eine Unheilsverkündigung in dem Bild, und ihr dünkte, sie sei mit dem nahenden Unheil verkettet.

War dies die Ursache, daß sie sich entschlossener als bisher in ihre Lage fand? War es die Vergleichung der Schicksale, die sie geduldiger stimmte, ernster, gesammelter? Sie wandte ihre ganze Aufmerksamkeit der Wirtschaft zu, überwachte die Lieferung des Holzes und der Viktualien, die Ausbesserung der Pflüge und Wagen, die Pflege der Tiere in den Ställen und rechnete jeden Samstag mit dem Inspektor ab. Ihr Einblick wurde tiefer, ihre Kenntnis der Verhältnisse gründlicher und im Umgang mit den angestellten Leuten zeigte sie sich verständig und durchaus fähig zu regieren. Aber ihr war, als ob sie Fleiß und Mühe ans Bodenlose verschwende, als sie eines Tages von dem Würzburger Bankier abermals eine Bescheinigung darüber erhielt, daß an Herrn von Erfft nach Paris dreitausend Taler geschickt worden seien.

So wußte sie also wenigstens, wo er war.

Bisweilen kam die Inspektorin mit ihrer Geige, Agathe setzte sich ans Klavier, und sie spielten eine Mozartsche Sonate. Bisweilen las sie, doch selten mit Anteil. In manchen Stunden war Schwermut unabweisbar, und wenn man nach innen weinen kann, sie spürte solche Tränen; dann floh sie den Anblick aller Menschen, die auf dem Gut um sie waren, stieg in das Turmzimmer über dem Hause und schaute regungslos in die winterliche Landschaft, bis es Abend wurde.

Einmal erspähte Silvia, wohin die Mutter ging und folgte ihr. Das kluge Kind stand lange vor der Türe und wagte nicht, sie zu öffnen; schließlich setzte es sich nieder, und seine schönen Augen füllten sich mit Traurigkeit. Es war kalt da oben, der Wind heulte im Sparrenwerk, und wenn der Schnee über die Ziegeln rutschte, klang es, als ob Geisterfüße über das Dach trippelten. Es wurde dämmerig und Silvia schien es, daß sie ganz allein auf der Welt sei. Sie lehnte den Kopf an einen schrägen Balken und gedachte ihres Vaters. Sie malte sich aus, wie er in der Fremde unter vielen Menschen herumirrte und wie er den Weg nach Hause nicht mehr finden konnte, weil überall der Schnee zu hoch war. Da knarrte die Tür, und Agathe, den Pelzmantel um die Schultern, trat heraus. Sie erblickte das Kind sich zu Füßen, erschrak und kniete nieder. Silvia umhalste die Mutter, ohne zu sprechen; Agathe bedeckte die Frierende mit ihrem Mantel, hob sie auf und trug sie hinab. Am Kamin in der Bibliothek setzte sie das Kind auf ihren Schoß und erzählte ihm das Märchen vom Wacholderbaum.

»… und als ein Monat vorbei war, da war der Schnee vergangen, und zwei Monat, da war es grün, und drei Monat, da kamen die Blumen aus der Erde, und vier Monat, da drängten sich alle Bäume in dem Holze und die grünen Zweige waren alle ineinander gewachsen. Dort sangen die Vöglein, daß das ganze Holz erschallte, und die Blüten fielen von den Bäumen. Da war der fünfte Monat vorbei und die Frau stand wieder unter dem Wacholderbaum, dort sprang ihr das Herz vor Freude, und sie fiel auf die Knie. Und als der sechste Monat vorbei war, da wurden die Früchte dick und stark und sie wurde ganz still und im siebenten Monat, da griff sie nach den Beeren und aß sich satt und wurde traurig und krank. Der achte Monat ging hin und sie rief ihren Mann und weinte und sagte: wenn ich sterbe, begrabt mich unter dem Wacholderbaum. Da war sie getrost, und im neunten Monat kriegte sie ein Kind so weiß wie Schnee und so rot wie Blut, und als sie das sah, freute sie sich so, daß sie starb.«

Silvia schaute drein wie eine Frau, und Agathe fuhr in ihrer Erzählung fort.

Am andern Tag kam ein reitender Bote von Achim Ursanner. Er brachte einen Brief des Inhaltes, daß Sylvester aus Paris geschrieben habe. »Ich will Ihnen die Epistel nicht schicken,« schrieb Ursanner, »wozu auch? Er versteckt ja nur sein Gesicht. Er berichtet von der Schönheit einer Tänzerin, und daß irgendeine Gräfin eine Liebschaft mit ihrem Kutscher hat, daß der Marquis de Luzon aus Indien zwei Tiger mitgebracht hat, daß einer gewissen Kreolin ganz Paris zu Füßen liegt, und daß man beim spanischen Gesandten auserlesene Weine trinkt; er schwärmt von den exotischen Blumen, die das Fräulein von Feurquiéres züchtet und von der Juwelensammlung des Herzogs von Praslin; von dem Bild eines berühmt gewordenen jungen Malers, von einer Begegnung im Versailler Schloß, von einer Bootsfahrt in Passy, von lustiger Gesellschaft auf dem Montmartre und von einem Feuerwerk im Luxembourg. Genug an dem, es ist Schaum. Mancher setzt sich einen bunten Kranz aufs Haupt, wenn ihn das schlechte Gewissen nicht schlafen läßt. Ich denke viel an Sie, aber ich kann nicht kommen, damit ist alles gesagt. Letzten Sonntag ist von der Kanzel herunter gegen mich gepredigt worden. Leben Sie wohl. A. U.«

Es ist alles aus, dachte Agathe, und sie spürte, wie es in ihrem Herzen dunkel und öde wurde, während sie langsam in den Flur ging, um den Boten zu entlohnen.


In Karlsruhe machte Sylvester Station. Er besuchte mehrere Freunde, ging zu Hofe und wurde zu einer Soiree im Schloß geladen. Vorher hatte er einen ganzen Nachmittag darauf verwendet, sein Gesicht verjüngen zu lassen, und zwar durch Adam Hund, der sich auf diese Kunst meisterlich verstand. Er hatte alle Utensilien in einem schwarzlackierten, länglichen Kasten, der mit seinen silbernen Spangen wie ein kleiner Sarg aussah; es befanden sich in ihm Rasiermesser, Schneide- und Brennscheren, Feilen, Bürsten, Pinsel und Kämme, Puderschachteln und Salbentuben, verschiedene Gläser mit Essenzen, eine Spritze mit kölnischem Wasser, und auf der inneren Seite des Deckels war ein geschliffener Spiegel angebracht.

Adam Hund war ein magerer Mann; dennoch wirkte er fett; alles war hell an ihm, das Haar, das Gesicht und die Augen; dennoch machte er einen finstern und unzufriedenen Eindruck, wenigstens solange er nicht redete; er glich einem Kavalier, dennoch erweckte er ein Gefühl von Fadenscheinigkeit. Diese widerspruchsvolle Person, bei der man an allen Ecken und Enden auf die Gegensätze der menschlichen Natur stieß, hatte sich zu Sylvesters Ergötzen immer mehr als ein unversöhnlicher Weiberfeind entpuppt. Das sechsjährige Zusammenleben mit der bösen Bierbrauerstochter hatte ihn mit tödlichem Haß gegen das andere Geschlecht erfüllt. Er war im Besitz einer Liste, die in alphabetischer Reihenfolge alle schlechten Eigenschaften aufzählte, die er an den Frauen entdeckt hatte; nämlich: Aberglauben, Dummheit, Eifersucht, Eigensinn, Habsucht, Hoffart, Klatschsucht, Launenhaftigkeit, Leichtsinn, Lügenhaftigkeit, Naschhaftigkeit, Neid, Neugier, Prahlsucht, Putzsucht, Rechthaberei, Sinnlichkeit, Spottsucht, Streitsucht, Vergnügungssucht und Verschwendungssucht. »Und in diesen Pfuhl von Qualitäten werfen Millionen von Männern ihre arme Seele,« pflegte er auszurufen, mit einer Gebärde wie Hamlet, wenn er seiner Mutter den Geist zeigt.

Zuerst hatte er nicht recht begriffen, welchen Zweck die Reise seines Herrn verfolgte. Der Zwischenfall mit der schönen Jüdin klärte ihn in einer angenehmen Weise auf. Er war überzeugt, daß sich Sylvester in einer Lage befand, die der seinigen sehr ähnlich war, nur daß er es nicht bei untätigem Groll bewendet sein ließ, sondern tätige Rache übte. Er soll nur möglichst viele von den langhaarigen Satanstöchtern ins Unglück stürzen, sagte sich Adam Hund, damit sie endlich das Kuschen lernen, und er hatte das Gefühl, einer Jagd beizuwohnen, die seine Dienste als Aufpasser und Spurenfinder in Anspruch nahm.

Während er Sylvesters brünettem Haar einen jugendlicheren Schnitt gab, dann den Schnurrbart zurechtstutzte, hierauf das Gesicht mit Fett bestrich, wie einen Teig knetete und wie eine Metallplatte rieb, erzählte er die Stadtneuigkeiten, die er ausgekundschaftet hatte. »Es soll jetzt eine Sängerin hier sein, die das ganze Mannsvolk behext,« sagte er; »der Erbprinz ist jeden Tag im Theater, wenn sie spielt, und es heißt, daß man ihn ins Ausland schicken will, um ein Malheur zu verhüten. Ein Legationsrat soll sich ihretwegen erschossen haben, und in Stockholm, man sollte nicht glauben, daß es dort droben so hitzige Leute gibt, hat sich ein Buchhändlersgehilfe aus Liebe zu ihr ins Meer gestürzt. Gabriele Tannhauser heißt die Kanaille. Das flötet und lockt, bloß damit unsereiner den Verstand verliert. Soll ich ein Billett besorgen, Herr Baron?«

»Also um meinen Verstand ist dir nicht bange?« fragte Sylvester lachend.

»Nein, Herr Baron; wenn einer die Schliche kennt, droht ihm keine Gefahr. Sobald ich merke, daß mich jemand mit einem Köder fangen will, werde ich doch nicht hineinbeißen; ich lauf' auch nicht davon, im Gegenteil, ich nehme mir den saftigen Köder vom Haken und verspeise ihn, dann hat der Angler das Nachsehen und ich hab' meine Freude.«

»Na ja, von dir kann man etwas lernen,« entgegnete Sylvester trocken.

Adam Hund hatte seine Arbeit vollendet. Er zog den Frisiermantel von Sylvesters Schultern, und mit liebkosend gespitzten Lippen blies er einige Härchen vom Halse weg. Sylvester trat vor den Spiegel und halb mit Spott, halb mit Befriedigung betrachtete er sein Bild. Er sah jung und gesund aus. Seine Augen glänzten. Er lächelte, um seine Zähne zu prüfen; sie hatten eine erfreuliche Weiße und Dichtigkeit. Nun vollendete er seinen Anzug und verließ trällernd das Zimmer. Wenn jetzt noch die Sonne schiene, wäre ich ein glücklicher Mensch, dachte er in einem eigentümlichen Zustand von Vergessen und Erwartung.

Er ging ins Kasino und hörte, daß an allen Tischen von dem Konzert gesprochen wurde, das Gabriele Tannhauser an diesem Abend veranstaltete. Er wurde gefragt, ob er eine Eintrittskarte habe und mußte verneinen. »Und Sie haben sie noch nicht gehört?« — »Nein.« — »Nie gehört?« — »Nie.« — »Und wollen abreisen, ohne sie gehört zu haben?« — »Was soll ich tun?« — »Es ist die letzte Gelegenheit, vielleicht auf Jahre; sie geht jetzt nach London und dann, wie es heißt, nach Amerika.« — »Wenn ich Ihnen raten darf, so zahlen Sie jeden Preis für ein Billett.« — »Man hat mir keines angeboten.« — »Lassen Sie mich dafür sorgen, ich werde mich an den Impresario wenden.«

Nach einer Stunde erwies es sich, daß auch dieser Versuch erfolglos gewesen war. Sylvester gab sich ohne sonderliches Bedauern zufrieden. Die allgemeine Erregung berührte ihn peinlich, zumal er auch Leute von ihr angesteckt sah, für die die Kunst nicht mehr war als etwa ein Hanswurst auf dem Marktplatz.

Er setzte sich an den Lesetisch und vertiefte sich in den Bericht über die letzte Rede, die der Bundeskanzler im preußischen Landtag gehalten hatte. Der Mann interessierte ihn, als Mann noch mehr denn als Politiker; seine Worte hatten etwas Unbedingtes, doch ihre Kraft wurde durch vielfach bedingte Verhältnisse scheinbar zerbrochen. Er stand wie in einer Wolke des Zorns, man spürte den Willen eines geborenen Herrschers und ein Feuer, das in Sylvester den Wunsch nach fruchtbarer Werktätigkeit erweckte. Es war ein Augenblick, wo er plötzlich die Zeit empfand wie sonst nur sich selbst, ihrer Gärungen inne ward wie des unterirdischen Rollens eines fernen Erdbebens und seiner zuschauenden Dumpfheit sich schämte.

Während er noch las, trat einer von den Herren, die ihm so ungestüm zugesetzt hatten, in Begleitung eines älteren Mannes zu ihm, den er als Graf Blumau vorstellte; der Graf hatte ein Billett zu vergeben, da seine Frau verhindert war, das Konzert zu besuchen. Sylvester nahm es mit Dank und fuhr ins Hotel zurück, um den Frack anzuziehen.

Vor dem Konzerthaus war große Auffahrt. Um acht Uhr sollte die Produktion beginnen, doch um halb neun war noch ein Teil des Publikums in der Eingangshalle vor den Türen festgekeilt. Endlich befanden sich alle Zuhörer auf ihren Plätzen. Der Raum war so voll, daß die Köpfe sich auf unbeweglichen Körpern zu drehen schienen. Der Lärm der Stimmen glich dem Brummen und Feilen einer ungeheuren Dampfsäge, und die Hitze stieg von Minute zu Minute. Sylvester saß in der Mitte des Saals, dessen beide Seiten glatte weiße Wände hatten; in halber Höhe der hinteren Schmalwand war eine Galerie, deren Sitze für die Mitglieder des Hofes und einige bevorzugte Würdenträger bestimmt waren.

Plötzlich erschallte eifriges Händeklatschen, dann richteten sich die Operngläser auf die Sängerin, die das Podium betreten hatte. Sylvester verschränkte die Arme über der Brust, was ein Ausdruck von Kritikbereitschaft war, denn wie es bei eitlen Menschen oft der Fall ist, waren ihm die Huldigungen unbehaglich, die man einer Person darbrachte, für die er selbst nichts fühlte und deren Leistungen er aus Widerspruchsgeist skeptisch zu beurteilen schon jetzt entschlossen war.

Ihr Gang ist zu bedächtig, um auf Temperament schließen zu lassen, nörgelte er; dieses Allerweltslächeln, das jedem Laffen schmeicheln soll, ich kenne es; der Klavierspieler hat die Physiognomie eines Dorfschulmeisters, seine rote Nase erweckt geringe Hoffnung auf seine Fähigkeit; wozu flüstert sie mit ihm? Komödie. Im übrigen ist sie gut gewachsen, das Gesicht ist fein, obschon von deutlich slawischem Schnitt, die Hände könnten kleiner sein, und die Toilette betont allzu absichtlich eine bescheidene Führung.

Die ersten Takte von Schuberts Wandererlied unterbrachen Sylvesters übellaunige Betrachtungen. Es trat eine so lautlose Stille ein, daß es schien, als hätten die Menschen von dem Augenblick an, da sich oben die singende Stimme erhob, keinen Atem, ja keine Seele mehr in ihrem Leib, als zucke keine Wimper mehr an ihnen, als höre ihr Blut auf zu fließen. Es war eine Bezauberung, die nicht so sehr von der Kunst Gabriele Tannhausers herkam, von der Kraft und Fülle des Organs, von der Weichheit und dem seltsam matten Glanz ihrer Töne, von der Leichtigkeit des Ansatzes, dem Schmelz und der vogelhaften Natürlichkeit der Übergänge, obgleich sie diese Eigenschaften, die von zeitgenössischen Kennern zur Genüge gepriesen worden sind, in hohem Grade besaß und dabei jene letzte Meisterschaft erst ahnen ließ, die als Versprechen noch köstlicher ist denn als Erfüllung, — es war eine in ihrem Herzen wohnende Gewalt, die ihr die Menschen unterwarf, das unbewußt Bewußte eines allgemeinen Leidens, das von stummen Generationen jahrhundertlang gesammelt wird, um in einem begnadeten Wesen als Gebet und Klage, Tröstung und Jubel aufzublühen, es war das, was jede Brust fühlt und doch nur vom Genius verkündet werden kann, das schmerzlich Entselbstete, unschuldsvoll Prophetische, dem auch die vollendetste Kunst nur Krücke und Behelf ist.

Sylvester sträubte sich noch immer, trotzdem er jene traumhafte Schwäche empfand, die sich bei starken Gemütsaffekten einzustellen pflegt, ja er wehrte sich mit einer Art von Verzweiflung, die ihn später erstaunte und ihm zu denken gab. Das Lied war noch nicht ganz zu Ende, als auf den Galerielogen ein störender Lärm hörbar wurde, der eine nachhaltige Erregung und entrüstete Rufe veranlaßte. Viele Leute wandten sich um, auch Sylvester schaute hinauf, und er gewahrte, daß zwei Lakaien einen Mann auf einem Liegesessel bis an die Brüstung trugen und ihn dort niederstellten. Der Mann, der auf dem Sessel lag, war de Vriendts. Es graute Sylvester bei dem Anblick dieses Gesichts, welches dem eines halbtoten Affen ähnelte. Mit überquellenden Augen starrte de Vriendts auf das Podium, und seine Kinnlade schlotterte. Gabriele Tannhauser stutzte; sie schien den tosenden Beifall nicht zu hören; auf ihren Wangen zeigte sich eine zarte, fieberische Röte; sie begann das zweite Lied: In questa tomba; ihre Augen waren unausgesetzt auf das ihr gegenüber befindliche Gesicht des Domherrn gerichtet, auf dieses entfleischte Gesicht, dessen fressende, angstvolle und krankhafte Gier, dessen vom Tod gezeichnete Häßlichkeit auf einmal wie ein Alpdruck über dem ganzen Saal lastete. Auch in Gabrieles Augen war Angst; der gespenstische Kopf erschien ihr wie eine Drohung; sie empfand ihre Jugend, ihre Macht, ihre Freiheit als Güter, die sie nur geraubt; sie erinnerte sich dieses Gesichts, sie hatte es irgendwo gesehen, und während sie nachdachte, klang ihre Stimme reiner, rührender und flehender. Das Publikum raste, als sie geendet hatte, aber auf der Galerie war ein bestürztes Zusammenlaufen. Man sah den Domherrn mit den Händen in die Luft greifen; röchelnde Laute drangen herunter. Nach einer Weile kamen die Lakaien und trugen den Sterbenden hinaus. Der Zwischenfall wurde herumerzählt und zu deuten versucht. Im Nu bildeten sich Legenden, die den Enthusiasmus für Gabriele Tannhauser steigerten. Als sie die letzte Note gesungen hatte, glaubte sich Sylvester in einem Haufen von Wahnsinnigen. Auf dem Podium erhob sich ein Berg von Blumen, junge Männer stürmten hinauf, junge Mädchen knieten auf den Stufen, aber Gabriele blickte gelassen in den Tumult; sie hatte den Kopf gesenkt und ihre niedere Stirn war kindlich verzogen.

Sylvester wurde von mehreren Bekannten um seinen Eindruck befragt. Er zuckte die Achseln. »Ich finde nicht, daß sie das ist, was die Welt aus ihr macht,« antwortete er, »ich vermisse Schwung und Leidenschaft. Sie hat noch nichts erlebt, dessen bin ich sicher. Vielleicht ist sie gar nicht fähig, etwas zu erleben.« Das klang plausibel, und die es vernahmen, machten ein tiefsinniges Gesicht.

Am andern Abend, bei der Soiree im großherzoglichen Schloß, lernte er Gabriele Tannhauser kennen. Sie wechselten nur wenige Worte. Er fragte sie, ob sie im Frühling in London singen werde; er selbst sei im Begriff, nach Paris zu gehen, doch sei es wohl möglich, daß ihn sein Weg auch nach England führen werde.

»Ja, Sie sollten nach London kommen,« erwiderte sie, ohne ihn anzublicken und wahrscheinlich auch ohne an ihn zu denken, »dort ist das Leben unmittelbarer als irgend sonst in der Welt.«

»Was könnte es Ihnen bedeuten, wenn ich käme, einer unter den Millionen,« sagte er lächelnd.

Der Unmut, der über Gabrieles Züge flog, zeigte, wie müde sie solcher Redensarten war. Sie reichte einem Offizier den Arm, der sie zum Tanz aufforderte. Sylvesters Eigenliebe war verletzt, und er suchte eine Gelegenheit, um die Sängerin noch einmal an sein Gespräch zu fesseln. Es war vergebens, und er überredete sich, daß ihm die Meinung, die sie von ihm hatte, gleichgültig sei. Doch war sein Ehrgeiz erwacht, und allmählich bildete sich ein Kreis von Menschen um ihn, die er durch seine Unterhaltung entzückte. Ohne daß er sich darüber klar wurde, entfaltete er diese Gabe nur für das junge Weib, das ihm so schnöde den Rücken gekehrt hatte.

Als er in der Nacht nach Hause kam, berichtete Adam Hund, daß der Domherr noch während des Transports auf der Straße verschieden sei. Wie schade, war Sylvesters erster Gedanke, ich hätte über de Vriendts mit ihr sprechen können. Unzufrieden und voll von Wünschen begab er sich zu Bett.


Unter demselben Dach wohnte in dieser Nacht Gabriele Tannhauser. Es war spät; zu wissen, daß alle Menschen schliefen, tat ihr wohl. Sie saß mit einem Buch bei der Lampe; auf dem Tisch vor ihr stand eine Schale mit Äpfeln.

Ihr war, als müsse sie die Zeit, die sie in Gesellschaft verlor, dadurch wieder einbringen, daß sie sich dem Alleinsein möglichst lange hingab. Die von keinem häßlichen Gedanken, von keiner unsteten Empfindung getrübte Ruhe ihres Antlitzes bezeugte, wie natürlich ihr diese Gewohnheit war.

Sie bedurfte der Menschen kaum. Sie hatte keine Freundin, keinen Freund. Allen, die sich um sie bemühten, begegnete sie mit Güte, und angeborene Liebenswürdigkeit verurteilte sie dazu, auch gegen die Aufdringlichen Geduld zu üben. In jeder Stadt waren Personen, denen sie für Dienstleistungen und Beweise der Ergebenheit verbunden war, Frauen und Männer, mit denen sie gern verkehrte und für die sie eine lebhafte Anhänglichkeit verspürte, aber in Wahrheit hätte sie sie entbehren können. Seit Sziralsky, ihr wunderbarer alter Lehrer, gestorben war, hatte sie sich an keinen Menschen mehr so innig angeschlossen, um nach seiner Nähe zu verlangen. Mit Anna Ewel, ihrer Zofe, einer Postmeisterstochter aus Gabrieles böhmischem Heimatsdorf, reiste sie umher, an keinem Ort verweilend, von Gasthof zu Gasthof, von Land zu Land, ohne Erregung, ohne sonderliche Neugier, ohne Launen und ohne zu ermüden.

Der beständige Wechsel ihres Aufenthalts verhinderte die Menschen, sich ihrer zu bemächtigen und sie mit Forderungen zu quälen, die sie nicht erfüllen konnte. Ihre anmutige, immer gleiche Freundlichkeit war wie eine Lichtflut um sie gebreitet, die es schwierig machte, sie genau zu sehen, und so wußte niemand auf der Welt, wie es eigentlich mit ihr beschaffen und welch ein merkwürdiges Kind Gottes dieses junge Geschöpf war, das mitten im Strom des Lebens und im Glanz des Ruhmes sein Glück in der Einsamkeit suchte.

Sie hatte keine Familie. Vater und Mutter waren tot, ein Bruder war vor zwei Jahren bei Königgrätz gefallen. Wenn sie ihrer Heimat gedachte, sah sie ein karges Hügelgelände, eine Straße, die in dunkle Wälder führte, einen regungslosen Teich, auf dem Gänse und Enten schwammen, gelbhäutige Kühe, arme Häuser, ein armes gedrücktes Volk, und über alldem einen blassen Himmel bei Tag und am Abend funkelnde Sterne. Schwermütige Abende, wenn aus den Schenken die Tanzmusik klang oder in einem Zigeunerlager eine Geige fiedelte, Licht um Licht in den kleinen Fenstern erlosch und der Mond wie eine glühende Glocke aus den geheimnisvollen Tiefen der Erde emporstieg. Erinnerte sie sich während des Singens daran, gewahrte sie dies Bild, das im Frühlingswerden oder in der Herbstesneige die Seele mit Frieden und Trauer erfüllt hatte, so zerflossen die vielen, ihr zugewandten Gesichter in Dunst, und nur die Augen strahlten ihr noch entgegen, fremd und fern.

Sie war nicht von der Art jener Künstlerinnen, denen ihr Auftreten zur festlichen Gefahr wird. Sie gehörte nicht zu denen, die ein Publikum schmähen, vor welchem sie zittern. Sie kannte nicht das Fieber der Vorstunde und die großen Gebärden des Erfolges. Sie war keine Diva, sie war ein junges Mädchen, das sang. Die Kunst gab ihr keinen Rausch und keine Ernüchterung, sie war ihr weder Lust noch Plage, sondern eine Pflicht. In ihr war ein Quell, der überströmte und überströmen mußte, wenn er sie nicht ersticken sollte. Sie arbeitete täglich viele Stunden, doch niemals mit Angst um die ihr gewordene Gabe. Sie hatte Ehrgeiz, aber nicht den zerstörenden und herztötenden; ihr Ehrgeiz glich dem jener mittelalterlichen Ritter, die Gut und Blut daran setzen, um ihren Schild fleckenlos zu erhalten. Es war eine dumpfe Bescheidenheit in ihr; den Gang aufs Podium oder auf die Bühne trat sie mit einem für ihre Umgebung unbegreiflichen Gleichmut an; sie ihrerseits hatte kein Verständnis für die Ränkesucht und das würdelose Treiben mancher Fachgenossen, und deshalb spielte sie nur noch ungern auf dem Theater.

Jeden Morgen erhielt sie Liebesbriefe und Blumen. Die Briefe verbrannte, die Blumen verschenkte sie. Ehedem hatte sie eine Leidenschaft für Blumen gehabt, jetzt machte sie sich nichts mehr daraus und grollte ihnen, daß sie solchem Zweck dienen mußten. Der Gedanke an Liebe hatte nichts Befeuerndes für sie, er besaß nicht einmal die Kraft, sie zu erwärmen; es entstand keine Hoffnung aus ihm, höchstens in seltenen Augenblicken eine Furcht. Bisweilen kam es vor, daß sie über sich selbst erstaunte, wenn sie sich so zugeschlossen fand, so kühl, so sehnsuchtslos, so allein im Raum, und sie konnte wünschen, eine Stimme zu vernehmen, die sie noch nie gehört und einen Blick zu spüren, der noch nie auf ihr geruht. Aber nicht mehr als eine Stimme und einen Blick, nicht mehr; zu viel war schon die Hand, die fremde Hand, die heiß sein konnte, zu viel das Wort, das lügen konnte. Ihr war dunkel zumute, als habe ihre Seele beim Eintritt ins Dasein den mystischen Befehl empfangen, niemals Flamme zu werden für eine andere Seele. Jugend und Gesang waren wie zwei ineinandergewebte Schleier, die sie nicht emporheben durfte, wenn sie nicht nackt und wehrlos dem Schicksal preisgegeben sein wollte.

Es gab aber auch Stunden, wie die der heutigen Nacht, wo ihr Inneres von einer gleichsam nur geträumten Unruhe erfüllt war, wo ihre Augen sich groß öffneten wie die eines erwachenden Kindes und sie sich fragte: Wer bin ich? Was wird aus mir?


In seiner Knabenzeit hatte Sylvester einmal im Herbst in einer Kammer einen Korb mit frischen Trauben entdeckt. Es war nicht Hunger, was ihn getrieben, darüber herzustürzen. Da es die ersten Trauben des Jahres waren, hatte auch die Freude am Anblick der schönen Dolden, das Entzücken, sie greifen zu können, seine Gier erweckt. Er war niedergekniet, hatte jauchzend zwei Hände voll gepackt und dann das Gesicht, den Mund, die Zähne förmlich in die Trauben vergraben, so daß der ausgepreßte Saft nicht nur über den Gaumen hinab, sondern auch über das Kinn und die Kleider träufelte.

Daran mußte er manchmal während seines Pariser Aufenthaltes denken. Es war dieselbe Lust an der Fülle, dasselbe unbedachte, gefräßige Ansichreißen. Jeder Tag hatte siebzehn Stunden, oft auch mehr, und keine Stunde war reizlos. Er hatte gewichtige Empfehlungen mitgebracht, wurde glänzend aufgenommen und führte das Dasein eines großen Herrn. Er wußte sich zu kleiden, er verstand Geld auszugeben, seine Umgangsformen waren ohne Tadel, er hatte Bildung und Geschmack, kein Wunder also, daß man sich um seine Person stritt. Ihm selbst schien es, als hätten seine besten Talente bis jetzt geschlummert, als sei er seiner Fähigkeiten jetzt erst sicher und brauche nur zu wählen unter den Zaubermitteln, durch die man die Menschen erobert. Desungeachtet war nichts von Krampf und künstlichem Feuer in seiner Lebensführung. Was an ihm gefiel, war seine kräftige Männlichkeit, eine Grazie des Geistes, die dem Deutschen doppelt angerechnet wurde, und jener angenehme Witz, der nicht verwundet und andere witzig macht.

Eine ununterbrochene Kette von Vergnügungen hielt ihn gefangen. Die körperliche Frische, die er mit triumphierendem Behagen täglich spürte, besiegte jeden Widerstand und gab ihm das Bewußtsein der Leichtigkeit und mühelosen Erneuerung. Ich habe zehn Jahre lang gespart, sagte er sich, nun kann ich Preise bezahlen, die mich nicht schrecken, so hoch sie auch sein mögen.

Sie waren hoch. Nicht gewillt, sich mit äußerer Repräsentation und einem oberflächlichen Gesellschaftstreiben zufriedenzugeben, suchte er ohne Scheu Gebiete auf, wo die menschliche Existenz nicht bloß wie ein harmloses Wasser flutet, wo nicht gefälliger Schmuck und leer verpflichtende Worte über den Mangel ernsthafter Verbundenheit hinwegtäuschen, sondern wo aus tieferen Schlünden die Elemente rauschen und der sich bewahren möchte, zur Entscheidung aufgefordert wird. Er lernte das Paris des zweiten Kaiserreichs gründlich kennen. Ein Schauder erfaßte ihn, wenn er dieser aus trunkenen Mänaden und wahnsinnigen Silenen gemischten Tänzerscharen inne wurde; wie da alles nur noch Schall war, was sonst ein Volk aus seinem Taumel riß, wie jeder nur von Gnaden des Momentes lebte, aus hohlem Überschwang Freude saugte und seinen dürftigsten Götzen zum Idol aufputzte; wie die Schatten vergangener Größe umherschlichen, um Almosen der Ehre zu erbetteln, wie jedes Fest zum Bacchanal wurde und Schönheit und Unschuld flüchtiger waren als der Seufzer eines Ertrinkenden, dies erfuhr Sylvester nicht ohne Zurückbesinnen und Zukunftsfurcht. Aber er wollte nicht Beobachter sein, er wollte mit diesen leben.

So blieb ihm keine Stätte des Lasters unbekannt, kein Ort, wo die Ausgestoßenen von lüsternen Jägern gestellt wurden, keiner von den Sümpfen, auf deren Grund das Verbrechen wie giftiges Reptil hauste und auf deren buntem Spiegel mancherlei bewimpelte Fahrzeuge schwimmen. Er knüpfte Beziehungen mit einer Italienerin an, die berühmt kleine Hände und Füße hatte; nach einer Woche verabscheute er sie; er machte auf einem öffentlichen Ball am Boulevard St. Michel die Bekanntschaft einer Strumpfwirkerstochter, die ein unstillbares Verlangen danach hatte, ein Diamanthalsband zu besitzen; er kaufte ihr nur einen Ring, und ihr Gewissen schwieg bei seiner Werbung. Sie glich einer Nordländerin und hatte das Blut einer Wilden. Ihre Launen ermüdeten ihn, und er verließ sie. Hinter einer kleinen Kirche im Quartier latin wohnte ein Arzt, dessen junge Frau so fromm war, daß das ganze Viertel darüber spottete. Ein Student, der hoffnungslos in sie verliebt war, erzählte Sylvester von ihr. Um sie zu sehen, ging er in jene Kirche, besuchte dann eines erfundenen Leidens halber den Arzt und war bald häufiger Gast im Hause. Er umstrickte die Frau, sie verfiel ihm, aber der Gatte war nicht blind; was sich zwischen den beiden ereignet hatte, wußte kein Mensch; eines Tages waren sie aus Paris verschwunden.

Erbeuten und wegwerfen; bewahrte das Gedächtnis einen Namen, ein zartes Wort, eine seltene Gebärde, so war die Mühe belohnt; Gestalt und Wesen schwanden hin. Wer Blüten pflückt, will oft kaum riechen; den Strauß in der Hand, mag er ihn schon nicht mehr weiter tragen, und schleudert er ihn fort, ist er sorgloser geworden. Aber Sylvester hatte eine schwere Sorge. Seine Geldmittel verringerten sich schnell. Die dreitausend Taler, die er hatte schicken lassen, waren verbraucht. Er verlangte einen Kreditbrief auf zehntausend Taler und berechnete, daß er ihn nach drei Monaten erschöpft haben würde. Eine gleichgroße Summe lag nicht mehr bereit. Ein Bankier riet ihm, Börsenpapiere zu kaufen, doch er fand das Geschäft zu unsicher und zu langwierig. In der Neujahrsnacht kam er in Begleitung mehrerer junger Engländer in ein Haus, wo Bakkarat gespielt wurde. Er beteiligte sich am Spiel und gewann neunzehnhundert Franken. Acht Tage später ging er wieder hin und gewann über viertausend Franken. Nach einiger Zeit wollte er zum drittenmal sein Glück versuchen, aber da verlor er. Es waren zwar nur dreißig Goldstücke, aber der Verlust ärgerte ihn, und er wollte ihn am andern Tag wieder einbringen. Er verlor. Nun hatte er keine Ruhe mehr und wähnte, das Glück erzwingen zu müssen. Allnächtlich saß er bis gegen die Morgenstunde am grünen Tisch, ruhiger als alle anderen Spieler und von einer seltsamen Neugier erfüllt, zu erfahren, wann das Mißgeschick aufhören wurde, ihn zu verfolgen.

Nach Verlauf eines Monats hatte er zweiunddreißigtausend Franken verloren. Um seine Schulden tilgen zu können, mußte er das ganze Depot erheben, das sich noch in Würzburg befand. Darauf schrieb er an den Inspektor nach Erfft, es müsse eine Anleihe aufgenommen werden, ein ihm bekannter Agent in München, an den er sich gleichfalls brieflich wandte, sollte dazu behilflich sein. Unter großen Schwierigkeiten wurden zwanzigtausend Taler flüssig gemacht. Sylvester spielte trotzig weiter, und in einer Woche verlor er die Hälfte dieser Summe. Nun erkannte er das Vergebliche seines Eigensinns, und da ihn nicht so sehr die Leidenschaft als der Wille beherrscht hatte, das dumme, blinde Ungefähr zu lenken, bedurfte es nur eines Entschlusses, um ihn von seinem verhängnisvollen Weg abzubringen. Freilich trug dazu ein Ereignis bei, das auch wie ein Spiel begonnen hatte, aber mit Trauer und Vernichtung enden sollte.

Durch einen jungen Marineoffizier, den er im Salon der Prinzessin Mathilde kennen gelernt hatte und der ihm eine herzliche Freundschaft entgegenbrachte, war er in das Haus des Lords Albany gekommen. Lord Cecil Albany war ein Mann von ungeheurem Reichtum, der es liebte, die Wintermonate in Paris zu verbringen und sich durch seinen Aufwand in großen Respekt gesetzt hatte. Er hatte in der Rue St. Honoré einen Palast gemietet und sah jeden Abend die vornehme Welt bei sich. Doch geschah dies nur seiner Frau zuliebe, er selbst war ziemlich menschenscheu und die ihn näher kannten, schilderten ihn als einen trockenen, hochmütigen und rohen Patron. Lady Evelyn war eine echte Engländerin, schlank, anmutig, äußerlich kühl, doch in irgendeiner Art heimlich besessen. Es war eine unverhehlte Tatsache, daß sie den Lord wider ihren Willen und nur auf den Befehl ihrer Eltern geheiratet hatte. Sie hatte erklärt: Wenn man mich zu dieser Ehe zwingt, so werde ich alles tun, um mich zu rächen. Das Zusammenleben mit Lord Cecil bestärkte ihre Abneigung, und es galt für ausgemacht, daß sie ihren Gatten betrog. Doch ging sie dabei mit List und Heimlichkeit zu Werke, und der Lord hatte bis jetzt nicht die geringste Ursache gehabt, sich über sie zu beklagen.

Sylvester fand sogleich den Ton, der ihrem romantischen Wesen zusagte, er gewann ihr Vertrauen, und nach kurzer Zeit standen sie im innigsten Einverständnis. Sie ergötzte Sylvester, und er konnte sie nicht ganz ernst nehmen, obgleich er das Pflanzenhafte an ihr wahrnahm, das allerdings nur in dieser besonderen Atmosphäre eines Treibhauses gedeihen konnte.

Seit sie seine Geliebte war, besuchte sie ihn in seiner Wohnung; nun geschah es aber, daß Lord Cecil nach London reisen mußte und seine Rückkehr erst für das Ende jener Woche in Aussicht stellte. An einem Abend ging Sylvester zu Lady Evelyn, und die Vorsicht vergessend, die sie beide bis jetzt beobachtet, blieben sie bis weit über Mitternacht beisammen. Als Sylvester durch den beleuchteten Flur zum Tor schritt, wurde die Nachtpforte gerade von außen geöffnet, und zu seinem peinlichen Erstaunen sah er Lord Albany hereintreten. Der Lord stutzte, griff aber dann nach seinem Hut und grüßte Sylvester mit außerordentlicher Höflichkeit. Darauf wandte er sich zur Treppe, und Sylvester verließ ziemlich beruhigt das Haus.

Indessen rief der Lord sämtliche Diener und Dienerinnen herbei, bedeutete ihnen, im Vestibül zu warten, forderte von einem der Mädchen ein gewöhnliches Kleid, und nachdem er es erhalten und über den Arm geworfen, betrat er das Schlafzimmer seiner Frau. Er brauchte keinen andern Beweis ihrer Schuld als den Umstand, daß sie im Bette lag. Mit eisigem Gesicht befahl er ihr, sich zu erheben, warf ihr das Gewand hin und hieß sie es anzuziehen. Sie gehorchte zitternd. »Nur wenn Sie augenblicklich das Zimmer und augenblicklich mein Haus verlassen, können Sie sich eine körperliche Züchtigung ersparen,« sagte er. Sie sah ihn an und wußte, daß sie nichts zu hoffen habe. Sinnlos vor Scham und Angst eilte sie hinaus, durch das Spalier der regungslosen Dienstleute hinunter auf die Straße. Lord Cecil sperrte das Tor hinter ihr zu und bewachte es eine Stunde lang, um zu verhüten, daß einer von den Leuten ihr folge und Hilfe leiste.

Erst drei Tage später gelangte die Kunde dieses Vorfalls zu Sylvester; da Lord Albany selbst sich in Schweigen hüllte, konnte das Gerücht nur durch die Mitteilungen der Dienerschaft in die Welt dringen. Man war entsetzt, man schüttelte den Kopf, und die Gespräche erschöpften sich in ausschweifenden Vermutungen. Sylvester war froh, daß nirgends sein Name genannt wurde, aber der Gedanke an das Schicksal der unglücklichen Evelyn verfolgte ihn beständig. Daß sie nicht zu ihm gekommen war und keine Nachricht gab, zeigte, daß auch sie das Spielerische und Haltlose ihrer gegenseitigen Beziehungen empfunden hatte, und seine Sorge um sie verdoppelte sich. Nach einigen Wochen erzählte ihm der Marineoffizier, Lady Evelyn habe Mittel gefunden, nach Essex zu kommen, wo ihre Eltern wohnten, habe sich ihrem Vater zu Füßen geworfen, sei aber von diesem mit großer Härte abgewiesen worden, da in den Augen eines anständigen Engländers ein Ehebruch unauslöschlichen Makel mit sich bringe, und eine Frau, die solcher Sünde überführt worden, von der menschlichen Gesellschaft verstoßen und auf ewig gebrandmarkt werden müsse. Einer ihrer Brüder habe ihr aus Mitleid eine geringe Summe Geldes zugesteckt, und damit sei Evelyn nach London gegangen, wo sie ein unstetes, ja, wenn man den Versicherungen des Sir Randolph Canning, eines Vetters von Lord Albany glauben wolle, verworfenes Leben führe. Sir Randolph behaupte nämlich, sie sei jede Nacht in einer berüchtigten Opiumkneipe im Norden der Stadt zu sehen.

Es kam der Juni, und Sylvester ließ sich von seinen englischen Freunden überreden, mit ihnen nach London zu gehen. Er entschloß sich um so leichter dazu, als er in den Pariser Zirkeln plötzlich eine feindselige Haltung gegen seine Nationalität spürte, eine Gespanntheit und zunehmende Kälte, die er sich nicht erklären konnte und die jedenfalls durch gewisse politische Machenschaften und Hetzereien begründet war. Eines Abends, im Foyer der Oper, stellte er den Herzog von Montmorency zur Rede, der in seiner Gegenwart eine spöttische Bemerkung über die »Prussiens« gemacht hatte, und es wäre zum Duell gekommen, wenn nicht einsichtige Vermittler den Streit geschlichtet hätten. Eben jener Sir Randolph, ein jüngerer Sohn des Lord Winchester, lud ihn ein, die Herbstmonate auf seinem Schloß in Bangor an der Irischen See zu verbringen. Er versprach es.

Schon die ersten Londoner Tage zogen ihn in eine verwirrende Geselligkeit und die Anforderungen wuchsen mit der Bereitschaft, sie zu erfüllen. Eines Morgens nahm er eine Zeitung zur Hand, und sein Gesicht verfärbte sich, als er unter den Todesanzeigen die Nachricht vom Hinscheiden der Lady Evelyn Albany las. Lord Cecil verkündete es in Ausdrücken geziemenden Schmerzes und teilte mit, daß sich die Leiche in seinem Haus am Trafalgar Square befinde und er daselbst die Kondolenzvisiten annehmen werde. Noch am Vormittag erhielt Sylvester den Besuch eines jener Alleswisser, die über die Ereignisse in der großen Welt genau unterrichtet sind und vernahm von ihm, daß man die arme Evelyn vor zwei Tagen gegen Morgengrauen in einem Elendsviertel bewußtlos auf der Straße gefunden habe. Sie sei ins Hospital geschafft worden, habe dort nur noch ihren Namen flüstern können und dann sei ihre Seele entflohen. Lord Cecil wurde verständigt; dem Tod gegenüber zeigte er sich wenn auch nicht versöhnt, so doch der äußeren Pflichten seiner Stellung eingedenk; durch ihren Tod wurde die grausam in den Schlamm des Lebens hinabgeschleuderte Evelyn wieder zur Lady Albany und alles was geschehen war, seit sie sich entwürdigt, wurde einfach als ungeschehen betrachtet.

Sylvester zögerte lange, bis er den Entschluß faßte, in Lord Cecils Haus zu gehen. Aber er glaubte es dem Andenken Evelyns schuldig zu sein, ihrem irdischen Rest einen Abschiedsgruß zu erweisen. Er wählte eine Stunde, wo er sicher war, daß man unter vielen Leuten seine Anwesenheit nicht beachten würde. Jedoch seine Erwartung traf nicht zu. Als er in den Saal kam, in welchem die Tote auf einem mit schwarzem Sammet ausgeschlagenen Katafalk lag, waren die meisten Besucher schon weggegangen, und einige Personen, die flüsternd in einer Ecke des Raumes standen, waren ebenfalls im Begriff, sich zu entfernen. Sylvester trat an den Sarg und blickte in das ergreifend zerstörte, unendlich abgehärmte Antlitz, dessen starre Ruhe zu trügen schien, und dessen Blässe phosphorisch leuchtete. Während er noch niederschaute, sah er plötzlich dicht neben sich Lord Cecil Albany. Der Lord hatte die Hände auf dem Rücken, wandte Sylvester den Kopf langsam zu und sagte mit heiserer Stimme: »Sie war schön, nicht wahr?« Sylvester zuckte zusammen, die Augen des Lords verdrehten sich unheimlich, als er seine Worte wiederholte: »Sie war schön, nicht wahr?«

Da senkte Sylvester die Stirn, kehrte sich um und ging schweigend hinaus.


Seiner selbst überdrüssig sein ist schrecklicher als sterben. Jeder Gedanke wird Anklage, das Herz erstickt in Melancholie, der Schritt spottet seines Zieles, nur Ekel saugt das Auge aus den Dingen, die Hand, wonach sie auch greift, sie hält nichts, der Mund mag nicht mehr reden, das Ohr nicht hören. Sich auskleiden am Abend, sich anziehen am Morgen, wozu? Und die Menschen, was soll ihre Eile frommen, ihr Gelächter, ihr Nein und Ja, ihr Schön und Häßlich; wie zwecklos dies Anzünden von Lichtern und Auslöschen von Lichtern, dies Abreisen und Wiederkommen, der Schmuck von Wänden, die Zierat der Städte, all dies Vergebliche, ach, so furchtbar Vergebliche!

Unheilvoller als vor Monaten in der Heimat gewann solche Stimmung Macht über Sylvester. Er blieb tagelang in seinem Zimmer, schloß die Läden zu und lag in der Dunkelheit. Jedes fremde Gesicht war ihm unerträglich und jeder Laut von der Straße verstörte ihn. Wenn der treue und besorgte Adam an die Türe pochte, antwortete er zuerst überhaupt nicht, dann übermannte ihn der Zorn und er befahl ihm unter Schimpfworten, sich zu trollen. In später Nacht ging er aus, um zu essen und kehrte oft hungrig wieder heim. Am liebsten weilte er am Fluß, in später Nacht; beugte sich über ein Brückengeländer und sah zu, wie das Wasser floß und Barken und kleine Dampfer dahin glitten. Er wollte sich nicht Rechenschaft darüber geben, was er unterlassen. Er war nicht gewohnt, über sich nachzudenken. Sein Schmerz hatte nichts mit seinen Handlungen zu schaffen, obwohl er sich klar darüber war, daß er nichts Gutes und Heilsames, sondern nur Schädliches und Schlechtes durch sie hervorgebracht hatte. Erinnerte er sich an die Begegnungen der letzten Zeit, an die Abenteuer und Verstrickungen, so fand er sich um so leerer und kälter, je deutlicher er sie vergegenwärtigte, und Evelyns bleiches Totenantlitz hatte nur einen Flammenschein in die Kälte und Armut seiner Brust geworfen wie eine Fackel in die Ruine eines Hauses. Sein Schmerz strömte aus dem allertiefsten Grund des Lebens, und mit ihm stieg zuweilen eine unermeßliche Sehnsucht empor, in deren Umklammerung er sich ohnmächtig hinschleppte.

Einmal träumte ihm, er sei mit Adam Hund von Erfft aufgebrochen. Sie ritten durch den Wald, Adam mit einer brennenden Fackel voraus. Es ist eine stürmische Nacht, die Zweige krachen und seufzend biegen sich die Stämme. Eine Regenflut prasselt nieder und verlöscht die Fackel. Die undurchdringliche Finsternis tötet alle Hoffnung in Sylvester, und er kann nichts denken als das eine: nur nicht zurück, nur nicht mehr nach Hause. Er spürt den warmen Leib des Pferdes und vernimmt Adams häufigen Zuruf, der sich seiner Nähe versichert. So irren sie viele Stunden lang umher, und als der Morgen graut, fangen die Pferde an zu wiehern, und Sylvester gewahrt durch Nebel und Regen hindurch sein Haus. Darüber empfindet er eine solche Verzweiflung, daß er sich über den Hals des Pferdes beugt und ihm ein Messer in die Brust stößt. Ein Blutstrahl quillt auf, steigt immer höher empor und leuchtet wie Feuer. Adam ist verschwunden, das Haus ist leer, Sylvester sucht und weiß nicht wonach, keuchend läuft er durch unbekannte Räume, die Luft ist rot von der Blutfontäne, er sinkt erschöpft zu Boden und erwacht.

Bei diesem Erwachen faßte er den Vorsatz, wieder unter Menschen zu gehen, damit die in seiner Nähe lebten, nicht das beständige Schauspiel selbstzerstörenden Tuns vor Augen hätten. Er rief Adam zum Rasieren, der schleppte mit heller Freude seinen Kasten herbei und behandelte Sylvester wie einen von Krankheit Genesenden; im übrigen war er schlecht auf England zu sprechen, weil er nirgends Suppe zu essen bekam, und nannte die Engländer traurige Hungerleider. Seine Gefräßigkeit wuchs im selben Maß wie seine zarteren Bedürfnisse schwanden.

Nur um die Zeit zu füllen ging Sylvester am Abend ins Coventgarden-Theater, nicht weil Gabriele Tannhauser dort sang. Um so unerwarteter war der tiefe Eindruck, den sie auf ihn machte. Zwei Tage später traf er sie auf einem Rout bei der Herzogin von Devonshire. Sie gewahrte ihn, als er unter die Türe trat, schien sich seiner zu erinnern und lächelte ihm flüchtig zu. Da sie von Bewunderern umlagert war, verschmähte er es, zu ihr zu dringen. Es fiel ihm auf, daß sie sich ganz und gar nicht als Dame gab, ganz und gar nicht als Stern für eine entzückte Menge, aber er vergaß nicht, wie schlank und fein sie dastand, spärlich in Gesten und wachsam hinter ihren besonderen Verschleierungen.

Die vielfachen Wege des gesellschaftlichen Lebens hatten Stationen, auf denen man sich immer begegnete. Schon am andern Tag sah er Gabriele auf einem Ball bei Lady Tankarville wieder, und am darauffolgenden bei einem Diner im Hause des Lord Keith. Sie hatte großen Erfolg in London, alle jungen Männer lagen ihr zu Füßen, und ehrwürdige Granden des Reichs gehörten zu ihren Anbetern. Sie schien es kaum zu merken. Die Last der Verpflichtungen, die ihr der Ruhm auferlegte, bedrückte sie. Sie klagte gegen Sylvester, daß sie unter dem Klima leide. Er riet ihr körperliche Bewegung an, empfahl ihr zu wandern, zu reiten und machte sich erbötig, sie bei Ausflügen zu beschützen. »Ich bin ein armer Sklave,« antwortete sie, »ich kann mein Joch nicht abtun.« Im Herbst wolle sie sich erholen, sagte sie; sie sei von den Cannings eingeladen, nach Bangor zu kommen und habe die Absicht, einige Wochen dort zuzubringen. Es berührte sie nicht unangenehm, als Sylvester ihr mitteilte, daß auch er in Bangor sein werde. Sie fand Gefallen an der Unterhaltung mit ihm. Sein offenes, geistig durchwühltes Gesicht hatte ihre Sympathie erweckt.

Sylvester hatte eine alte Freundin in London, eine Frau von Rhynow, die Gattin eines Konsuls. Sie war förmlich verliebt in Gabriele, der sie in dem fremden Land viele Dienste leistete, und da sie ein Vergnügen daran fand, Menschen zusammenzubringen, die sie gern hatte, lud sie Gabriele und Sylvester häufig zur Teestunde ein. Übertriebenes Zartgefühl ließ sie glauben, daß das harmonische Gespräch der beiden durch ihre Gegenwart gestört werde, und so ging sie meist aus dem Zimmer, nachdem sie ihre Gäste bewirtet hatte. Die Zurückgelassenen mußten ihre Situation scherzhaft nehmen, wenn sie ihnen nicht verfänglich scheinen sollte.

Gabriele war ohne Arg, auch gegen sich selbst. Sie war der Nähe eines Menschen froh, der fest in seiner Welt stand und ihre Empfindlichkeit gegen dieselbe Welt milderte. Sie durfte immer wieder in ihre Einsamkeit zurückkehren, sie hatte die Sicherheit, sich nicht verlieren zu können und als sie erfuhr, daß er verheiratet sei, wuchs ihr Vertrauen gegen ihn, ein mädchenhafter Zug und ein philiströser zugleich. Sylvester betonte sein Gefühl der Freundschaft; er sagte, daß sein Herz müde sei, und er glaubte es. Der Magnetismus, den zu erproben er ausgezogen, er spürte ihn nicht mehr; er hatte ihn verschwendet, in Kleinmünze zerstückt. Er hielt sich für unfähig, zu entflammen und unfähig, entflammt zu werden. Wenn er Gabriele vor sich sah, in der Herrlichkeit einer Jugend, die sie wie eine Bürde trug, wenn er in ihre Augen blickte, in denen unbewußt und ergreifend die Schönheit der Bereitschaft war, dann dünkte ihm Resignation natürlich und anständig.

In dieser stolzen und ergebenen Stimmung schrieb er an Achim Ursanner, an den er sich jetzt zuweilen wie an einen heimlichen Boten wandte: »Daß ich in meiner Zeit lebe, ist mein Schicksal; daß ich sie betrachte, enthält schon einen Triumph über das Schicksal. Vor ihr stehe ich wie vor einem Spiegel. Sie atmet mir die Welt entgegen, sie zeigt mir die Menschheit in dem Augenblick, wo ich es vermocht habe, mich ihr zu entziehen. Meine Selbstbesinnung ist mein Sieg über die Zeit. Ich kann die Augen schließen, und Welt und Zeit strömen in mich hinein, kein einzelnes hat mehr Gewalt über mich, ich habe die Gewalt des Träumers über das Ganze. Ich möchte mich mit einem Trauernden vergleichen, der in unzugänglicher Abgeschlossenheit haust, dennoch sich gehetzt, bedroht, aufs äußerste beunruhigt fühlt, und der gerade in der Sekunde der letzten Hoffnungslosigkeit einen zauberhaften Trost empfängt, so daß seine Stirn, von der neuen Morgenröte berührt, einen Schein mystischen Entzückens ausstrahlt, während die Brust noch in einer poesielosen Finsternis begraben ist.«

Aber Sylvester irrte sich. Die ganze Weisheit war gewünschtes Mißverständnis dessen, was in ihm vorging. Lockte ihn nicht die Gebärde, mit der die Freundin nach einer Notenrolle griff? Und jene, mit der sie die Arme hob, um den Schleier zu binden? Und jene halb fürstliche, halb zaghafte, mit der sie eine Tür öffnete? Gab nicht ein schelmisches Lächeln, ein verstohlener Blick Stoff zu Grübelei? Folgte nicht die Phantasie der schlanken Gestalt in ihr Alleinsein? Belauschte sie nicht die Gedanken hinter der eigentümlich gefesselten Stirn des Mädchens? War nicht sein Gleichmut erheuchelt, spürte er nicht, wie er sich wandelte, seinen Bindungen entfloh, seiner Gewißheit entschlüpfte?

Als sie bei Lady Jersey Polens Klage von Chopin sang, dieses Lied, in dem eine von Visionen umschauerte Melodie aus der von leidenschaftlichem Kummer verdüsterten Begleitung emporsteigt wie eine Liebende, die sich krank vom Lager erhebt, um noch einmal den Geliebten zu umarmen, empfand er zum erstenmal die Scham, mit der man einen heimlichen Besitz zum öffentlichen Gut werden sieht, und er hatte Mühe, sein eifersüchtiges Fieber zu verbergen. Ihm war, als entkleide sie sich und wisse es nicht, werfe sich hin vor die allgemeine Gier, geschändeten Herzens, sie, die das züchtigste besaß. An jenem Abend ging er nach Hause wie ein Betrunkener, ließ die Lampe brennen, bis es Tag wurde, hatte die Augen offen und vermochte nicht zu denken.

Er hatte bis zu dieser Stunde gehandelt und sich betragen als ein Mann, der frei ist, den keine Pflicht kettet, keine Rücksicht lahmt; er hatte sich losgelöst von Weib und Kind, hatte nicht geschrieben, ihrer kaum gedacht und zehn Monate lang ein Leben geführt, wie wenn die zehn Jahre vorher nur die Episode einer Nacht gewesen wären. So tief sein verspätetes Staunen war über das mondsüchtige Dahinstürmen, das Freveln ohne Verantwortung, die Existenz ohne Erinnerung und ohne Güte, so scharf erkannte er auch, daß der Wille zur Rückkehr ihn trotzdem beherrscht hatte, das Bewußtsein, daß der dunklen Wanderung ein unverrückbares Ziel gesetzt sei. Jetzt aber verlangte ihn nach wirklicher Freiheit. Er kämpfte gegen Agathe. Er bäumte sich auf gegen ihre stumme Forderung. Ihre Verlassenheit erweckte nicht seine Reue, sondern seinen Haß. Der Schein von Recht, mit dem sie ihn anklagte, erbitterte und die Macht, die sie plötzlich von fernher über sein Gemüt ausübte, erzürnte ihn. Doch als der erste Strahl der Morgensonne ins Zimmer fiel, erfaßte ihn Schrecken und Zerknirschung; noch kann ich die Gefahr abwenden, sagte er sich; es gibt in jedem Schicksal einen Augenblick, wo der Geist sich um seine letzte Freiwilligkeit betrügt, ich will diesen Augenblick nicht versäumen; ich will abreisen, ich kann es noch, ich würde lügen, wenn ich einen Zwang vorschützte, wo nur Schwäche ist.

Er sprang auf mit dem Entschluß zu packen. Adam zu rufen war es noch zu früh; doch wollte er alles für ihn zusammenlegen, dann konnten sie mit dem Vormittagszug nach Dover fahren. Beim Öffnen einer Lade erblickte er den Schuh der schönen Rahel, den er damals auf der Treppe gefunden. Die Erinnerung an ein Feuer, das von der Zeit gelöscht worden ist, überhaucht die Vergangenheit mit Todeskälte. Mutlos warf sich Sylvester aufs Bett, und auf einmal entsann er sich einer Menge von häuslichen Unannehmlichkeiten: es ist ein Wintermorgen, und im Frühstückszimmer raucht der Ofen durch eine zersprungene Kachel; er kehrt hungrig von der Jagd zurück und muß warten, weil die Köchin einen Streit mit dem Inspektor gehabt hat; in Dudsloch hat ein Knecht Holzdiebstähle verübt und man muß die Polizei benachrichtigen; Schwager Eggenberg hat seinen Besuch angemeldet, und im ganzen Haus riecht es nach Sauerkraut, das die Leibspeise des Majors ist; all das ist so klein, so nüchtern, so wohlbekannt, so langweilig, so häßlich. Seufzend schlief er ein.

Gegen Mittag weckte ihn Adams Pochen. Ein Brief mit Antwortbitte war da. Sylvester kannte Gabrieles große, eckige Schrift noch nicht, aber mit klopfendem Herzen entfaltete er das Papier. Sie schrieb ihm, daß sie sich für den Nachmittag frei gemacht habe und gern einen Spaziergang mit ihm unternehmen möchte; sie habe auch Frau von Rhynow dazu gebeten, die sei jedoch verhindert.

Adam starrte verwundert auf die im Zimmer herrschende Unordnung, denn Sylvester hatte schon Kleider und Wäsche aus den Behältern genommen. »Bring' nur alles wieder an seine Stelle,« befahl Sylvester kurz.


Sie gingen durch den Park von Richmond. Unter freiem Himmel haben die Menschen ein wahreres Gesicht als in Räumen. Gabriele nahm mit jedem Schritt die Natur als Geschenk hin. Sylvester mußte an Agathe denken, an Agathes Entzücken, solange sie empfänglich, an ihre Verdrossenheit, wenn sie müde war. Gabriele hatte eine sanfte, gedankenvolle Ruhe. Sie lauschte seinen Worten, als ob sie ein Wechsel von Licht und Schatten wären, nicht wie Agathe, die allzu wach das Wort wie ein lebendiges Ding ergriff und sich von ihm reizen und steigern ließ. Wie sehr liebte er die Sanftmut an den Frauen; Sanftmut trägt das Feuer innen; die Erde ist sanft mit ihrem glühenden Kern, der dunkle Nachthimmel durch sein verborgenes Licht. Schon in frühen Tagen hatte er das Bild der sanften Frau umworben, und nun wußte er erst, was ihm an Agathes Seite gefehlt, die keine Nachgiebigkeit kannte, ganz auf Wille und Tat gestellt war und sich nur in selbstsüchtiger Träumerei vergessen konnte.

Gabriele fühlte, daß eine unsichtbare Dritte mit ihnen ging. Es lag ihr nah zu fragen. Wunderliches Spiel des Einandererratens; während sie einen Weg zur Frage suchte, äußerte Sylvester, es sei ihm aufgefallen, daß sie so selten Fragen an ihn richtete. Sie lächelte und wollte wissen, ob ihm dies für einen Mangel gelte; es sei wahr, sie könne nicht fragen, sie habe es nie gelernt. »Der Mensch ist da, um zu fragen,« entgegnete er, und sein Blick bat sie um eine Frage. Sie standen unter einem riesenhaften Nußbaum; die Sonne ging unter und das Grün der Rasenflächen überzog sich mit süßen, violetten Tönen. Durch die sommerlich feuchte Luft schwangen sich Schwalben in veränderlichen Bogen. Wieder lächelte Gabriele und sie fragte also: warum er so ruhelos sei? Er schwieg. Sie lächelte zum drittenmal; sie begriff, daß die Frage zu allgemein gewesen und sammelte Mut für eine begrenztere: warum er niemals von seinem Haus, von seiner Frau, von seinem Kind spreche? Er errötete. »Davon zu sprechen bindet mich,« antwortete er mit gesenkten Lidern, »ich will aber frei sein.«

»Man ist nicht frei in einer Ehe,« sagte Gabriele sehr ernst.

»Man kann aber frei werden, oder nicht?«

»Nein. Man kann niemals frei werden,« beharrte Gabriele mit demselben Ernst; »ist eine Ehe nicht vor Gott und vor der Menschheit geschlossen?«

»Was reden Sie da, Gabriele!« rief Sylvester unmutig. »Das ist Pfaffenmoral.«

»Nein. Es ist Blutgesetz.«

»Blutgesetz? Also Leibeigenschaft?«

»Vielleicht Leibeigenschaft; so muß es vielleicht sein. Zuviel ist vom einen Teil im andern Teil, zuviel Unauslöschliches ist geschehen.«

»Aber ich liebe Agathe nicht,« wandte Sylvester beklommen ein.

»Ob Sie Agathe lieben oder nicht lieben, das ist gleich,« versetzte Gabriele, und ihre Wangen erglühten. »Die Ehe steht über der Liebe. Sie steht deswegen über der Liebe, weil sie zwei Menschen vereinigt. Aus eins kann man nicht mehr zwei machen. Und wenn Sie Agathe auch nicht lieben, sie ist in Ihnen drin, Sie können nicht leben ohne sie. Sie können ihr untreu sein, aber Sie können nicht Liebe finden ohne Agathe. Sie ist immer da, wo Sie sind, immer, immer. Wäre sie nur eine Frau, so wäre das Band zerreißbar; doch sie ist Mutter, und zwischen euch wächst ein Kind, und dem seid ihr verfallen beide.«

Es war Sylvester zumute, als habe er für ewige Zeiten seine Seligkeit verloren. Er schaute verzweifelt vor sich hin.

Da es zu dämmern begann, gingen sie zur Chaussee, wo der Phaethon wartete. Sie stiegen ein, und Gabriele schmiegte sich in die Ecke. In ihren Augen brannte noch die Flamme der Beredsamkeit; die jonisch geschwungenen Lippen hatten einen Ausdruck von beseelter Kraft. Sylvester griff nach ihrer Hand, und sie überließ ihm die Hand, befangen zwar, doch ohne Mißtrauen. Plötzlich glitt er auf die Knie nieder und drückte ihre Finger an seinen Mund. Hastig flüsternd befahl sie ihm, aufzustehen. Er gehorchte und nahm wahr, daß sie zitterte. Ihr Gesicht wurde totenbleich. Er atmete in schweren, langen Zügen und umfing sie; ihre stählerne Brust tobte gegen seine Arme; ihr wilder Blick flüchtete in die Landschaft hinaus, die wie gefärbtes Wasser vorüberrann. Auf einmal wurde alles weich an ihr, der Kopf fiel ihm zu wie geknickt, die Augen schlossen sich, die Lippen suchten seine, Schmerz und Glück waren ein einziges Gefühl, ein kurzes nur, und als sie sich aufrichtete, war dieses schon Verbot, und jener strömte aus unheilbarer Wunde. Sie saßen schweigend nebeneinander; er hielt noch ihre Hand, deren Pulsschlag sein Geschick besiegelte. Gabriele entzog sie ihm nicht, denn es war Abend geworden. Beim Abschied grüßte sie ihn nur mit einem Blick.

Als Sylvester nach Hause kam, sah er neben der Lampe das Bild Silvias stehen, ein Miniaturporträt, das er vor zwei Jahren in München nach einer Photographie hatte anfertigen lassen. Da er sich nicht erinnerte, es mitgenommen zu haben, auch während seiner Reisen es nie bemerkt hatte, fragte er Adam verwundert, wie er dazu gelangt sei, und Adam erwiderte, er habe es beim Aufräumen in einer Schatulle gefunden. Sylvester setzte sich an den Tisch; während er spürte, wie sein ganzer Körper gleichsam hinuntergerissen wurde in eine Flut der Leidenschaft, betrachtete er das Bild des schönen Wesens, und sein Auge schien ängstlich zu fragen: bin ich dir wirklich verfallen, Silvia? So übermächtig war diese Leidenschaft, daß er in geheimnisvoll verbrecherischem Trotz eher den Tod des geliebten Kindes erdenken konnte als den Verlust Gabrieles.


Es wurde Schicksal.

Sie schrieb ihm: »Wir dürfen uns nicht mehr sehen.« Am Schlusse stand aber: »Helfen Sie mir.« Da wußte er genug und küßte sein eigenes Spiegelbild wie ein Narr.

Er ging zu ihr. Sie wohnte in einem Landhaus in Twickenham. Anna Ewel führte ihn in den Garten, wo Gabriele saß, die Hände über den Knien verschränkt. Sie empfing ihn kühl. Er hatte vieles sagen wollen, nun war es schal im voraus. Ihre Härte verletzte ihn; er erhob sich, um zu gehen; da machte sie eine erschrockene Bewegung mit dem Arm, und ihr Gesicht bebte vor Bestürzung. Sie zwangen sich zu ruhigem Gespräch, aber mit jedem Wort wurde die Kette enger, die sie umschlang.

Sie trennten sich wie Fremde. Sylvester hatte nicht die Kraft, in seine Behausung zurückzukehren. An der Landstraße war ein kleines Gasthaus; er ließ sich ein Zimmer geben, warf sich dort auf das Sofa und haderte stumm. Als es Abend wurde, zündete er zwei Kerzen an, verlangte Briefpapier und schrieb an Agathe, — zum erstenmal seit zehn Monaten. »Ich bin deiner Nachsicht gewiß. Du hast Rechte auf mich, aber laß sie mich nicht fühlen. Du hast Grund, mich zu verdammen; tue es nicht. Ich möchte an dich als an eine Freundin denken. Ich möchte an dich glauben als an einen Menschen, der mich liebt, ohne meine Person als Einsatz zu fordern. Du warst mir sehr nah in den letzten Tagen. Ich suchte dich und mied dich, ich fürchtete dich und brauchte dich. Ich bin hilflos, wenn ich dich feindselig weiß, und stark, wenn du mich billigst.«

Solche Töne hat die Lüge nicht. Sylvester hatte nicht gewußt, was ihm Agathe war. Nicht an die Gattin wandte er sich, nicht an die Gefährtin, auch nicht an die Mutter seines Kindes, sondern an die Richterin über sein Leben.


Als er Gabriele im Wagen geküßt, hatte ihn noch Eitelkeit getrieben und Eroberungslust erfüllt. Es war, wie wenn der Beginn dieses Kusses noch Spiel gewesen wäre, sein Ende aber schon Unwiderruflichkeit enthalten hätte. Und nicht bloß für ihn. Gabriele war so neu, so wahr, daß jene flüchtige Berührung entscheidend für sie blieb. Sylvester erkannte es wohl; der Sammet der Frucht ist noch unversehrt, sagte er sich beglückt, ein Beweis, daß das Zarteste in der Natur auch das Stärkste ist. Aber er ahnte nicht, daß ihre äußere Kälte eine sehnsüchtige Glut verbarg, ihre Schweigsamkeit ein unbeirrbares Gefühl, ihr fliehender Blick ein für immer ergriffenes Herz.

Sylvester kannte diese Seele nicht. Er glaubte, bürgerliche Feigheit mache sie zurückhaltend. Er hatte zu viele Frauen kennen gelernt, um noch reinen Instinkt zu besitzen. Er sah das geliebte Mädchen in allen Gestalten und Verwandlungen, die sein Argwohn, seine Ungeduld, seine bösen und guten Träume heraufbeschworen. Er schlief nicht mehr. Er konnte stundenlang liegen und nur an ihre Hand denken; er hörte nur ihre Stimme, wenn Menschen sprachen; er sah nur sie gehen, wenn Menschen gingen; er spürte nur sie, wenn Gegenstände seine Haut berührten. Jeder Tag ohne sie war gespensterhaft, jeder Abend ein Leiden, jede Nacht ein Alpdruck. Er flüsterte ihren Namen in die Luft, um den Klang zu vernehmen, es gab nichts in der Welt, was er nicht in Beziehung zu ihr setzte, und wenn andere Leute von ihr redeten, zuckte er zusammen wie ein Verbrecher bei der Erwähnung seiner Übeltat. Die Leidenschaft erfüllte ihn von oben bis unten, ja sogar über dem Schatten lag sie, der ihn begleitete. Sie spannte ihn schmerzlich, sie machte ihn sich selbst verachtenswert, sich selbst wunderbar; die Wirklichkeit wurde zu einem Schemen die Zeit etwas so Wahnvolles, daß er in Stunden der Trauer zehnmal starb, in Sekunden der Freude Ewigkeiten lebte. Seine ganze Existenz war eine Mischung von Torheit, Rausch und Fieber geworden, und wenn er drei Wochen zurückdachte, so dünkte ihn die eigene Person von damals ein fremdes, scheintotes Ding.

Es geschah, daß er am Abend nach Twickenham ging, und vor Gabrieles Haus auf und ab wandelte, bis der Morgen anbrach. Gabriele erfuhr es nie. Er war bei alledem so stolz, daß er durch vergebliches Werben sich nicht erniedrigen wollte. Einmal in einer schönen Nacht trat sie in einem weißen Gewand auf den Balkon und schaute zu den Sternen empor. Da war es, daß er mit überirdischem Schauer die Größe des Weltraums begriff. Er stand verborgen an einem Zaun und blickte zur Kassiopeia so wie sie; der Erdball hatte keine Geschöpfe mehr als ihn und sie, und auf den feurigen Bahnen der Sterne begegnete er nur ihr allein.

Vergötterung ist ein schönes Wort; man muß viel von der Gottheit besitzen, um vergöttern zu können, und wenn der Vergötterte auch nicht zum Gott wird, erhoben, beschwichtigt und beseelt wird er doch. Gabriele spürte dies; es schien ihr leichter zu gehen, müheloser zu atmen, aber an andern Tagen kam dann eine Lauheit über sie, eine kraftlose Schwermut; ihre Arme wurden träg, ihre Worte unbestimmt, ihr Geist bedrückt, und Menschen, denen gegenüber sie sich bisher heiter und frei gegeben hatte, nahmen die Veränderung wahr. Frau von Rhynow trat eines Nachmittags bei Sylvester ein und sagte: »Mein lieber Sylvester, was ist mit Gabriele vorgegangen. Sie ist nicht mehr dieselbe. Ich bin besorgt um sie. Merken Sie denn nichts?« Sylvester antwortete mit einem Blick, der alles verriet. »Um Gottes willen,« begann die alte Dame zu jammern, »Sie wollen doch das Mädchen am Ende nicht zu Ihrer Geliebten machen? Das geht auf keinen Fall. Das wäre Tollheit, Schurkerei und kann nicht geduldet werden. Jetzt geht mir ein Licht auf, jetzt wird mir manches klar. Ich beschwöre Sie, teurer Freund, schlagen Sie sich das Mädchen aus dem Kopf, die ist zu gut für dergleichen.« Sylvester stand am Kamin, seine großen Zähne blitzten, und er sah vor Blässe fast grau aus. »Sie können sich auch von Agathe nicht scheiden lassen,« fuhr die Rhynow eifrig fort; »es gibt viele Frauen, bei denen ich mir vorstellen kann, daß man sich von ihnen scheiden läßt, bei Agathe nicht. Ich weiß nicht genau, warum, ich weiß nur, daß es unmöglich ist. Wer Agathe einmal gesehen hat, der weiß, daß es unmöglich ist. Und Sie wissen es auch.«

Sylvester antwortete nicht; in matter Haltung auf der Seitenlehne des Sessels sitzend, verkrampfte er die Finger ineinander. »Mein armer Freund,« sagte Frau von Rhynow, »ich verstehe alles. Wäre ich ein Mann, mir ginge es ebenso. Ich fordere nicht, daß Sie heute schon einen Entschluß fassen, aber wahren Sie Ihre Besonnenheit. Schonen Sie Gabriele.«

Die wohlmeinenden Rater nähren stets ein Feuer, das zu löschen sie gekommen sind. Nun, wo es Gefahr bedeutete und Wächteraugen zu betrügen waren, achtete Sylvester keine Schranke mehr. Er schrieb sieben Briefe an Gabriele, die er alle wieder zerriß; seine Phantasie gab dem Abenteuerlichen, dem Märchenhaften Raum, doch wenn er dann Gabriele vor sich sah, in ihrer lieblichen Unruhe, in ihrer scheuen Gespanntheit und wie sie immer wieder versuchte, sich dem finstern Element zu entziehen, dann stockte er verzweifelt und wußte keinen Weg mehr.

Er fuhr zum Rennen nach Epsom und erblickte sie auf einer Tribüne neben der Gräfin Shrewsbury. Sie hatte den Kopf zurückgewandt und sprach fröhlich mit einigen Herren, als sich ein ungewöhnlich schöner junger Mann im Reitkostüm zu der Gruppe gesellte. Sylvester kannte ihn vom Sehen, es war der Viscount Darrington, ein Jüngling von zwanzig Jahren mit einem Gesicht und einem Körper wie von Phidias gemeißelt. Sylvester stand unten im Gewühl und beobachtete jede Gebärde Gabrieles. Ihm wurde eiskalt, als sie dem jungen Menschen zulächelte, und als der Viscount, der sich am Herrenreiten beteiligte, ihre Hand beim Abschied länger als es nötig schien in der seinen behielt, legte sich ein purpurner Dunst über Sylvesters Augen. Wenige Minuten später begann das Rennen. Mit solcher Aufmerksamkeit, daß seine Lider kaum blinzelten, verfolgte Sylvester die Gestalt des jungen Edelmanns, der auf einem Grauschimmel bald unter den Vordersten über das Feld flog. Hundert Meter weiter überflügelte er den Ersten, und Sylvester war es, als sei alles für ihn verloren, wenn jener als umjubelter Sieger ans Ziel gelangte. Er wünschte nicht, er befahl, daß der Jüngling zu Fall kommen möge und in einer Art von Raserei sammelte er seine Gedanken in diesem Willen. Gleich darauf ertönte ein hundertfacher Schrei. Der Grauschimmel hatte vor dem letzten Hindernis versagt. Sylvester gewahrte wie im Schein eines Blitzes den Körper des Viscount in der Luft, dann eilten viele Menschen hinüber, um dem regungslos auf der Erde Liegenden beizustehen. Er hatte beide Arme gebrochen und aus seiner Nase rann Blut.

Das ist also möglich, fuhr es Sylvester schaudernd durch den Sinn, warum sollte es etwas Unmögliches geben? Sein schuldvoller Blick suchte Gabriele. Die Zuschauer auf den Tribünen hatten sich erhoben und plötzlich sah er, wie sich Gabriele durch die Menge drängte; hastig und beklommen trat sie zu ihm, schob ihren Arm unter den seinen und bat, er möge sie in die Stadt bringen. Kaum saßen sie im Wagen, so fing es an zu regnen und nach einer Viertelstunde Wegs wurde aus dem Regen ein Wolkenbruch. Die Pferde scheuten ein paarmal, der Kutscher mußte absteigen und sie führen.

Gabriele schaute wie geistesabwesend vor sich hin; in seiner sonderbaren Verwirrung und inneren Not glaubte Sylvester, sie denke nur an den Viscount, während ihr dies und ihr ganzes gegenwärtiges Leben nur wie Wolkenziehen vorüberging. Sie sprach aber nichts, und in ihrem Schweigen war etwas Redeverbietendes. Sylvester hatte den Kopf gesenkt und ihm schien, als ob sein Herz in einer salzigen, brennenden Lauge zersetzt würde. Weshalb ist sie mit andern liebenswürdig, ja freudig erregt, grübelte er, und mir zeigt sie ein erstorbenes, verdunkeltes Wesen? Er hätte Ehre und irdisches Heil dafür gegeben, wenn er diese Frage an sie hätte richten können und Gabriele sie beantwortet hätte. Aber es lag eine unermeßliche Entfernung zwischen ihnen. Was bedeutete jedoch der Blick, als sie ausstieg, dieser volle, tiefe, strahlende, flehende, demütige Blick? Schon war sie im Eingang des Theaters verschwunden.

Sie spielte an diesem Abend zum letztenmal in der Saison. Es wurde der Barbier von Sevilla aufgeführt, und nach den Aktschlüssen glich das Theater einem mit brüllenden Tieren gefüllten Käfig. Als die Oper zu Ende war, ging Sylvester hinter die Kulissen. Anna Ewel geleitete ihn in eine Ecke, wo sich Gabriele vor den vielen Menschen versteckt hielt, die ihre Garderobe belagerten. Sie kauerte auf einem hölzernen Karren und aß eine Birne. Über das Kostüm der Rosine hatte sie ein schwarzes Tuch geschlagen, und die weiße Haut des Nackens und der Büste leuchtete eigentümlich feucht. »Ich will nach Hause wie ich bin,« sagte sie, »wir können das Theater unbemerkt verlassen, wenn wir durch den finstern Gang dort gehen. Meinen Mantel, Anna.«

»Soll ich denn mitkommen?« fragte Sylvester. Sie nickte.

In der Villa draußen war ein Imbiß vorbereitet, aber Gabriele hatte keinen Hunger. Sie ließ Sylvester einige Zeit allein, dann kehrte sie in einem Gewand aus weichem, weißem Kaschmir zurück und setzte sich still an den Tisch. Die Fenster waren offen; schon herbsteten die Abende, und die Bäume hauchten einen zarten Modergeruch aus. Während er allein gewesen, hatte Sylvester eine Laute genommen, die an der Wand hing; er hatte sie betrachtet und es wunderbar empfunden, daß in dem Instrument unbekannte Melodien schlummerten, die er nicht hervorlocken konnte; wieviel wunderbarer dünkte ihn jetzt Gabrieles Anblick, dieser atmende Leib, aus dem die Gottheit Töne zauberte, welche die Armut der Menschen in Reichtum und ihre Nüchternheit in Überschwang verwandelten.

Seine Finger glitten zerstreut über die Saiten und erzeugten ein sanft vibrierendes Geräusch, dem einer fernen Windharfe ähnlich. Gabriele nahm ihm die Laute aus der Hand, rückte sie in vertrauter Weise zurecht, und ihre Züge hatten einen versonnenen Ausdruck, als sie einige dunkle Akkorde anschlug. Dann schüttelte sie entschlossen den Kopf und legte die Laute beiseite.

»Ich liebe dich, Sylvester,« sagte sie, »du weißt es, daß ich dich liebe. Wie es gekommen ist, das kann ich nicht erklären; wozu auch, es muß nicht erklärt sein. Ich bin nur ein Weib, nicht besser und nicht schlechter als andere, und wie soll ich's verwinden, daß du es bist, gerade du, den ich liebe. Sprich mir nicht von Glück, tröste mich nicht mit Hoffnungen, sag' nicht, daß ich vergessen soll und daß es Stunden gibt, die ausgleichen, und daß man seine Lust aneinander haben kann, wenn auch morgen die Welt untergeht. Das ist alles nicht für mich. Sieh, Liebster, du bist wie einer, von dem ich nur eine Hand halten kann, die andere ruht in der Hand einer andern. Die andere hat ihr Leben auf dich gesetzt, sie will und kann nicht von dir lassen, und könnte sie auch, bei mir würde sie erst lebendig werden für dich, und du bist der Mann nicht, der ein lebendiges Geschöpf ins Grab wirft. Ich fühle ja, wie es um dich steht, aber ich kann nicht tun, was du verlangst. Nicht Agathes, nicht des Kindes wegen; wenn du bei mir bist und ich dich sehe, ist mir, als könnt' ich darüber hinwegkommen; auch an dem, was man Ehre nennt, liegt mir dann nichts mehr. Aber ich will lieben, so wie man stirbt, ganz, ganz und ohne Rest. Und ich will geliebt sein so wie man untertaucht im Meer, tief ins Bodenlose. Wie soll ich das, Sylvester, bei dir, der ein böses Gewissen zu mir bringt? Widersprich mir nicht, sei wahr, in diesem Augenblick sei wahr gegen mich! Das böse Gewissen, es ist ja eigentlich das gute und edle Gewissen, dein Menschenherz, es würde dich immer zu mir treiben, aber nicht bei mir halten, und wir würden schlecht und müde. Und nun sag' mir, was sollen wir tun?«

Sie hatte leise gesprochen und als sie geendet hatte, schaute sie ihn voll schüchterner Erwartung an. Sylvester, ohne Schmerz noch Freude, in einem schwebenden Gefühl, erwiderte ebenso leise: »Ich habe dich gespürt, als ich noch in der Heimat war. Ich habe dich mit mir herumgetragen wie eine Schwangere den Schößling trägt, bis du wesenhaft wurdest, bis du erschienen bist. Ich habe andere genossen wie man Wurzeln verzehrt, wenn keine Speise da ist. Ja, ich will wahr sein; deine Worte sind das größte Unglück meines Lebens, denn du hast recht mit allem was du sagst. Was wir aber tun sollen, das weiß ich durchaus nicht. Nur daß ich ohne dich nicht existieren kann, weiß ich. Fliehen wir, Gabriele, geh mit mir auf ein Schiff, laß uns über den Ozean fahren, versuch' es mit mir, vielleicht zeigt es sich, daß deine Furcht unbegründet war —«

»Jetzt belügst du dich doch,« unterbrach ihn Gabriele sanft. »Es gibt keine Freiheit durch Anmaßung, es gibt kein Recht, das einer nur für sich selber schafft. Freilich, es gibt Menschen, die solches zustande bringen, aber ich bin dazu nicht robust und du, Lieber, bist nicht phantasielos genug. Wir sind Menschen und müssen tun, was menschlich ist.«

Dies sagte sie mit einer so unheimlichen Hoheit und Ruhe, daß Sylvester vor ihr erschrak.

»Es war mein Plan, morgen nach Bangor zu gehen,« fuhr sie fort; »du hast geglaubt, daß wir in Bangor beisammen sein könnten. Es darf aber nicht sein. Ich will ja nicht, daß wir uns nie wiedersehen sollen, wie könnt' ich das, aber wir müssen uns die Möglichkeit zur Besinnung geben, du mir und ich dir. Wenn dir also am Aufenthalt in Bangor etwas liegt, so werde ich anderswohin gehen. Antworte mir, Sylvester. Zürnst du? Wie schwer ist es doch, das Richtige zu tun!«

»Ich werde nicht nach Bangor gehen,« sagte Sylvester stockend. Unwillkürlich streckte Gabriele die Arme aus, und mit einem dumpfen Laut stürzte er zu ihr. In ungeheurer Bewegung ergriff sie seinen Kopf und drückte sein Gesicht in ihren Schoß. Sie beugte sich über ihn und stammelte: »Lieb' ich dich denn? Ich liebe dich ja gar nicht. Ich liebe ja einen andern, der nicht da ist und den ich nicht kenne. Jetzt mußt du gehen, Sylvester. Geh jetzt, laß mich allein, geh jetzt, leb' wohl.«

Zwei Stunden nach Mitternacht fand sich Sylvester am Tisch seines Schlafzimmers sitzend. Vor ihm lag eine Pistole, die er unverwandt betrachtete. Da war es ihm, als höre er die Türe knarren und als trete Agathe herein und als lege sie den Arm um seine Schulter und die Wange an seine Stirn und seufze tief. Sein Kopf fiel auf die Tischplatte, und er weinte wie ein Kind.


Die Oktobertage und -nächte vergingen, ohne daß Sylvester ihre Folge wahrnahm. Wie ein aus dem Schlaf häufig Erwachender lebte er sie zerstückt. Bisweilen saß er plaudernd bei Frau von Rhynow; er zeigte sich besonnen und gelassen, doch insgeheim machte er sich über jedes Wort lustig, das er gebrauchte. Eine bestimmte Behauptung aufzustellen, dünkte ihn vollkommen sinnlos, und wäre es die flachste und beweisbarste gewesen. Er ging in den Klub und redete mit dem und jenem; meistens verfuhr er so, daß er mechanisch ungefähr das Gegenteil von dem sagte, was der andere gesagt hatte. Zu seinem Erstaunen wurde ein Gespräch daraus. Er aß und trank und wunderte sich, daß ihn ein Bedürfnis trieb. Er suchte einen Schneider auf und besichtigte Stoffe für einen Anzug; während er es tat, wunderte er sich, daß er es tat. Das Leben, welches er führte, kostete viel Geld, und da er mit seinem Vorrat zu Ende war, unterschrieb er einen Wechsel, war sich aber keiner Verantwortung dabei bewußt. Seine Beobachtungsgabe war trotzdem dieselbe geblieben. So fiel es ihm auf, daß sich Adam ungewöhnlich viel mit Briefschreiben beschäftigte. Er stellte ihn zur Rede, und Adam gestand, daß er mit Anna Ewel korrespondierte. Bei der Erwähnung dieses Namens drückte Sylvester den Zeigefinger auf das rechte und den Mittelfinger auf das linke Auge und sein Gesicht bekam den Ausdruck verstörten Nachdenkens.

Adam Hund hatte zahlreiche Gelegenheiten gehabt, mit Anna Ewel zusammenzutreffen und sie die Überlegenheit fühlen zu lassen, die er sich im Weltgetriebe angeeignet. Er hatte in der schwarzen Böhmin eine gläubige Zuhörerin gefunden, und weil der Selbstliebe eines Mannes nichts so sehr schmeichelt, als wenn eine junge Dame seinen moralischen Urteilen wie auch den Erzählungen seiner Abenteuer bewundernd lauscht, so hatte sich die Abrede einer brieflichen Verbindung, die den fruchtbaren mündlichen Verkehr gedeihlich fortspinnen sollte, bald ergeben. Adam belehrte seine Schülerin vornehmlich über den Weg, den sie einschlagen müsse, um einen Gatten zu bekommen. »Zuvörderst ist es geraten, daß man sich eines möglichst geheimnisvollen Benehmens befleißige,« schrieb er; »wenn sich zum Beispiel ein Strumpfband gelockert hat und es steigen einem darüber peinliche Gedanken auf, weil man notabene in guter Gesellschaft ist und nicht wagen darf, den Fehler zu beheben, so empfiehlt es sich, eine melancholische Miene zur Schau zu tragen oder mit tiefsinnigem Schmachten von einem gereimten Gedicht zu sprechen. Es empfiehlt sich überhaupt, wenn ein Frauenzimmer von Sachen spricht, die sie nicht versteht, dann glauben die Männer, sie verstünden noch weniger davon und sagen untereinander: das Weib hat einen ungewöhnlichen Geist. Natürlich genügt solches nicht. Sie müssen auch, teure Anna, trefflich gewaschen und gekämmt sein, gewisse Lücken in der äußern Person geschickt zu stopfen wissen, Salben und Wohlgerüche ohne Zudringlichkeit anwenden, im Beisein anderer wenig essen, auch wenn Sie noch so großen Hunger haben, und ist dann der Gimpel einmal gefangen, so hat's weiter keine Not. Das ist ja das Merkwürdige, daß so selten einer loskommt, und ich will Ihnen auch den Grund mitteilen, warum es so ist. Nämlich wir Männer, wir nehmen die Weiber ernst, wir wollen ihnen etwas beweisen, wir wollen sie widerlegen, wir streiten mit ihnen wie mit unseresgleichen und das, verehrenswerte Anna, ist das Dümmste, was wir tun können. Dadurch haken sie sich an uns fest wie die Schnecke am Bein eines Ochsen, und während wir glauben, daß sie mit uns auf dem Lebenswege wandeln, tun sie nichts anderes als faul an unserem Fleisch schmarotzen.«

Bei einem sonderbaren Anlaß entdeckte Sylvester, daß Adam auch Nachrichten von Erfft erhielt. Seit kurzem kochte Adam seine Mahlzeiten selbst und tischte zuweilen seinem Herrn Klöße in saurer Brühe oder nach fränkischer Art gebratene Kartoffeln auf. Er wich nicht vom Fleck, bis Sylvester seine Kunst belobt hatte, fühlte sich dadurch ermuntert, über die englische Küche zu räsonieren und endete mit einem Preis der heimatlichen Dinge. Sogar sein böses Weib erschien ihm in freundlicherem Licht, und eines Tages verteidigte er sie gegen Sylvester mit einem Eifer, als ob dieser sie der größten Schandtaten bezichtigt hätte. »Das mit den Prinzipien und der männlichen Würde ist ja ganz schön,« redete er auf den immerfort schweigenden Sylvester ein, »aber sie weiß einen Apfelkuchen zu backen, da geht einem das Herz im Leibe auf. Neulich war der Inspektor Marquardt bei ihr und konnte sich nicht daran satt essen. Er hat mir geschrieben, daß sie in Dudsloch musterhafte Ordnung hält, während in Erfft alles drunter und drüber geht. Die gnädige Frau, die doch gewiß eine Ausnahme ihres Geschlechts ist, kümmert sich nur noch wenig um die Wirtschaft und um die Leute und läßt sieben gerade sein. Manchmal kommt der Herr Major herüber, befiehlt, daß man ihm die Haushaltungsbücher zeigt, schimpft über den Verbrauch und verhandelt dann stundenlang mit der gnädigen Frau hinter geschlossenen Türen. Es ist traurig, wenn der Herr nicht da ist.«

Adam hatte sich getäuscht, als er glaubte, mit dieser beredten und vorsichtigen Schilderung unerquicklicher Zustände auf seinen Herrn Eindruck zu machen. Sylvester antwortete nicht, und die Gleichgültigkeit seiner Miene erfüllte den diplomatischen Zwischenträger mit Besorgnis.

Ein äußerster Grad von Sehnsucht kann eine zweite Wirklichkeit erschaffen. Gefesselt in jedem Betracht, flohen Sylvesters Sinne in ein anderes Reich, das kein erträumtes, das wesensvoller für ihn war als die zu ertastende und mit leiblichen Augen zu erschauende Gegenwart. Während er apathisch und regelmäßig dem Trieb bestimmter Gewohnheiten folgte und den Stunden des Tages gab, was sie von ihm verlangten, waren sein Geist und seine Seele ausgewandert, den Körper als eine zufällig bewegte Hülle hinterlassend.

Er fühlte genau, daß in dieser Epoche seines Daseins innerer und äußerer Besitz auf dem Spiele stand: Vernunft, Behagen, Tätigkeitsfreude, Vermögen und Gesundheit, das Ererbte und das Erworbene; er wußte, was er verloren hatte und was ihm jede Minute des tödlichen Brütens raubte: seinen Stolz, sein Selbstvertrauen, die Kraft, zu wirken und dienendes Glied zu sein; er erkannte, daß er sich auf Vorrechte der Jugend nicht mehr berufen durfte, daß der Hinweis auf das Versäumnis höchsten Glückes die Verachtung der Menschenpflichten nicht entschuldigen würde, daß über dem leidenschaftlichen ein sittliches Gebot war, dennoch wühlte er sich mit Begierde immer tiefer in den Schmerz, und die Einsicht, daß seine Jugend vorüber war, endgültig für alle Zeiten vorüber, daß er zum letztenmal erglüht, zum letztenmal erwählt war, zum letztenmal die Seligkeit der Entäußerung, die Lust der Bezauberung, die Süßigkeit der Blutesnähe und den entzückenden Schauer der Wiedergeburt in einem andern Herzen gespürt, daß alles dies dahin war, für ewig dahin, wie durch Todesurteil verwirkt, eben die Einsicht verfinsterte sein Gemüt und zerstörte seinen Willen.

Er lebte zwiefach. Sein eigentliches Leben führte er im Schloß zu Bangor. Halluzinationen, die sich erneuerten und fortsetzten, machten ihm den fremden Bezirk vertraut. Er sah die alte Normannenburg mit ihren efeubewachsenen Höfen, dem stumpfen Turm und den gezackten Mauern. Er ging über die ehemalige Zugbrücke und unterhielt sich mit Sir Randolph, während er zugleich aufs Meer schaute. Einige Herren kehrten plaudernd von einer Segelfahrt heim. Die jungen Leute hatten Kricket gespielt, sie eilten mit heiterem Lachen von der Wiese herüber, und die weißen Kleider der Mädchen flatterten im Seewind. Der Gong ertönte, eine lange Frühstückstafel war gedeckt, und Silber und Porzellan auf dem Tisch hoben sich reizvoll gegen die braungetäfelten Wände ab. Zwei Hunde, ein Spitz und ein Terrier, wirbelten kläffend durch den Saal, und Lady Canning, die ihre Migräne hatte, beschwerte sich darüber beim Kastellan. Miß Holland, ein sehr mageres Mädchen mit Sommersprossen, erzählte, daß sie einen großen Brasiliendampfer gesehen habe, und Monsieur Renard behauptete, in Barrow habe man einen Walfisch gesichtet. Sylvester bestritt die Möglichkeit und Gabriele nahm seine Partei. Ein scherzhafter Wortkampf entspann sich, und Sylvesters Schlagfertigkeit erregte allgemeines Vergnügen. Monsieur Renard, verdrießlich über seine Niederlage, wurde von Mrs. Watch getröstet, die ihm ihre mit Schokolade gefüllte Bonbonniere reichte.

Sylvester ging zur Küste des Meeres hinunter und gewahrte Gabriele von ferne. Sie gab ihm kein Zeichen, obwohl sie ihn zu erwarten schien. Sie trug einen Reiseanzug und blickte gespannt auf ein Boot, das sich dem Ufer näherte. Er konnte nicht zu ihr gelangen, seine Füße verwickelten sich in Gestrüpp, er bückte sich, um sich frei zu machen, und als er sich aufrichtete, war Gabriele verschwunden und mit ihr auch das Boot. Er rief, die Brandung übertönte seine Stimme; er eilte ins Schloß zurück, suchte sie in der Kapelle und in vielen Zimmern, und es war ihm, als ob sie jeden Raum, den er betrat, kurz zuvor verlassen hätte. Dennoch hatte er beständig das Gefühl, daß sie ihn erwartete. Da wurde es Nacht. Alles schlief im Hause. Sylvester ging durch die langen, finstern Korridore und öffnete Gabrieles Schlafgemach. Es war ein sehr großes Zimmer mit drei riesigen Fenstern, über denen Vorhänge aus scharlachrotem Damast hingen. Auf einer Spiegelkonsole brannte eine Kerze, und weit davon in einer Mauervertiefung stand das Bett, in welchem Gabriele lag. Sie hatte die Türe nicht versperrt, weil sie ihn erwartete. Zugleich hatte sie um seinetwillen gehofft, daß er nicht kommen würde. Er kniete an dem Lager hin und faßte ihre Hand. Sie floh sichtlich, ihre Seele floh vor ihm; sie zitterte wie ein gefangenes Reh. Wenn er sie anschaute, schüttelte sie den Kopf, und ihre Finger preßten flehentlich die seinen. Die Nacht verwandelte sie in ein Naturwesen, doch ihr Blut, ihr Auge und ihre des Widerstandes schon müden Glieder widerstrebten ihm. Da erst empfand er ihren ganzen Wert, die ganze Unschuld ihres Herzens, das Erschütternde und zur Ehrfurcht Zwingende der nie zuvor Berührten, die dem Ansturm des Geschlechts nur im höchsten Schmerz ihrer Liebe unterliegt. Er gab ihr die Namen von Blumen, denen sie verwandt war und dachte an schöne Tiere, an die ihre Grazie erinnerte. Unüberwindliche Scheu verbot ihm, sie zu umarmen, und er liebte sie mit opfernder Inbrunst, die alle sinnlichen Empörungen erstickte. Die Nacht hindurch kauerte er an ihrem Bett, und ehe er ging, beugte sie sich zu ihm, enthüllte furchtlos die Lieblichkeit der Schultern und das edle Spiel jugendlicher Körperlinien, schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn.

Eines Nachmittags kam sie auch in sein Zimmer in London. Es war die letzte und entscheidende Begegnung in diesem seltsamen Erleben außerhalb des Wirklichen. In der Dämmerung trat sie ein. Ihr Gesicht unter dem Schleier war sehr bleich. Er wußte, was sie hergetrieben hatte, er begriff ihr Mitleid und ihr Leiden, ihre Frage und ihren Vorwurf, und nun war es beschlossen für ihn, daß er nach Hause reisen und von Agathe seine Freiheit fordern müsse. Von der Stunde an war die Schwäche und traumhafte Schwermut von ihm gewichen.

Am selben Abend schrieb er ein paar kurze Zeilen an Gabriele, worin er sie lakonisch, jedoch mit dem Ton festesten Ernstes von seinem Plan in Kenntnis setzte. Den nächsten Vormittag verwendete er mit Adams Hilfe zum Packen und um fünf Uhr saß er in der Eisenbahn, die ihn zur Hafenstation brachte. Adam summte vor Freude Kirchen- und Kneipenlieder bunt durcheinander.

Genau drei Tage später erblickte Sylvester vom Kupeefenster aus die Würzburger Marienfeste, an der noch immer gebaut wurde, seit sie, während des Mainfeldzugs vor drei Jahren, von den Preußen in Brand geschossen worden war. Novembernebel hüllte die Stadt in flaumigen Dunst, und der an den Rebenhügeln hingleitende Strom war von der untergehenden Sonne blutrot gefärbt.


Die Mühe, die sich Agathe in den ersten Monaten ihres Alleinseins gegeben hatte, Wirtschaft und Haushalt vor jener Verlotterung zu bewahren, die sich notwendig einstellen muß, wenn das anerkannte Oberhaupt fehlt, hatte sich in Teilnahmslosigkeit verkehrt, als der törichte und leichtsinnige Aufwand, den Sylvester trieb, offenbar lag. Sie liebte nicht das Geld, aber sie achtete es, weil es eine gewisse Summe von Arbeit, Überlegungen und Entbehrungen darstellte und die persönliche Unabhängigkeit sicherte. Daran gewöhnt, zu sparen und selbst bescheidene Bedürfnisse nur zu erfüllen, wenn sie unabweisbar wurden, erregte Sylvesters Verschwendung ihren Schrecken und, nachdem er das Bankdepot erhoben hatte, mit Wucherern in Beziehung getreten war, die Ernten im voraus verschleudert, Wechsel in Umlauf gesetzt, also das Gespenst der Not und der Schuldbedrängnis heraufbeschworen hatte, ihren Abscheu und ihre Verachtung.

Sie überließ dem Inspektor Marquardt die Aufsicht über beide Güter, anfangs nur der Form nach, schließlich in jeder Weise, denn um tätig zu sein, brauchte sie die Überzeugung der Förderlichkeit und des sichtbaren Gelingens, hier aber konnte sie nur im Geringfügigen nützen, indes ein unersättlicher Vampir das Lebensmark aus dem Besitze sog. Daß die bezahlten Diener den Vorteil der Herrschaft nicht über ihren eigenen stellen würden, war ihr klar, und mit dem Gedanken an Untreue, Fahrlässigkeit und schlechte Führung der Geschäfte hatte sie sich längst vertraut gemacht.

Ihre Schwester Martha, die Frau des Majors, redete ihr zu, sie solle doch mit dem Kind nach Eggenberg übersiedeln, der Major würde dann Erfft und Dudsloch von seinem Vetter verwalten lassen, der ein erfahrener Ökonom sei. Agathe weigerte sich. »Ich äße bei dir und deinem Mann doch nur das Gnadenbrot,« sagte sie, »und das paßt mir nicht. Gehen die Dinge schief, so will ich wenigstens dabei sein, obschon ich nichts ändern kann; dem Verderben zusehen ist besser, als es bloß ahnen.«

Um jene Zeit wußte der Major noch nichts von Agathes Geldsorgen, erst der schwatzhafte Inspektor verschaffte ihm Aufklärung. Am folgenden Sonntag kam er und zog Agathe in ein förmliches Kreuzverhör. Sie gab nur zu, was sie nicht leugnen konnte. Sie behauptete, Sylvester sei mit ihrem Einverständnis ins Ausland gereist, sie billige seine Lebensführung und habe zu klagen keine Ursache. »Ich glaube dir nicht,« polterte der Major; »entweder bist du blind, oder du willst mich blind machen.« — »Ich wollte, ich wäre in dem Sinne blind, den du meinst,« erwiderte Agathe mit unfreiwilliger Offenheit. Der Major brauste auf. »Schön; so werde ich deinem Herrn Gemahl schreiben,« rief er, »und wenn er noch einen Funken Ehre im Leib hat, so wird er nicht im Zweifel darüber sein, was er dir und der Familie schuldet.« Da trat Agathe ganz nahe vor ihren Schwager hin, blitzte ihn mit ihren wunderbar energischen Augen drohend an und sagte hart und bestimmt: »Du wirst ihm nicht eine Zeile schreiben, Konrad. Nicht eine Zeile, verstehst du? Weder du noch Martha. Von dem Tage an, wo dies geschähe, hättet ihr mich zur Feindin und ich kennte euch nicht mehr.« Der Major senkte betroffen den Kopf, ging zum Fenster und trommelte an die Scheiben. Agathe aber, indem ihre Stimme tiefer und ruhiger wurde, fuhr fort: »Sylvester schuldet mir nichts und schuldet der Familie nichts. Er weiß, was er tut und tut wahrscheinlich, was er muß. Daß er kein Mensch nach dem Reglement ist, habt ihr immer gewußt, nun beweist er's, und wir müssen uns damit abfinden.« Der Major zuckte die Achseln: »Wenn du dich damit abfindest, hat niemand das Recht zur Einrede,« versetzte er, »aber es freut mich doch, daß in dem Fall wieder einmal mein altes Wort zur Wahrheit wird: ein schlechter Bürger, ein schlechter Mann. Und das, meine liebe Schwägerin, das mußt du schlucken, so eifrig du ihm auch den Anwalt machst.«

Nach ein paar Tagen erschien Martha und versuchte ihre Schwester mit List zu einem entschiedenen Schritt zu bestimmen. Agathe durchschaute sie schnell und wies sie fast verächtlich ab. In nachhaltiger Verstimmung kehrte Martha nach Hause zurück und grollte der Schwester monatelang. Der Major, viel zu gutmütig, um die Erbitterung seiner Frau zu teilen, ritt jede Woche einmal nach Erfft, brachte Silvia eine Puppe oder ein Kleidchen mit und prüfte die Rechnungen, die ihm der Inspektor vorlegte. Agathe war ihm dankbar, trotzdem sie von der Vergeblichkeit solchen Beistands durchdrungen war. Daß der Major auch ein bißchen in sie verliebt sein könne, fiel ihr nicht im Traume ein.

In der Nachbarschaft und unter den Bekannten wurde über die rätselhafte Abwesenheit Sylvesters mancherlei geredet, wie sich denken läßt. Forschenden Blicken zu begegnen, Vertraulichkeiten abzuwehren und taktlose Neugier zufriedenzustellen, hatte Agathe keine Lust; nicht bloß aus diesem Grund, sondern auch, weil ihr die Menschengesichter immer weniger gefielen, mied sie Gespräche und Zusammenkünfte und verbarg sich still in ihrem Hause. Achim Ursanner, der einzige, dessen Gesellschaft ihr bisweilen erwünscht gewesen wäre, gab selten ein Lebenszeichen, und gesehen hatte sie ihn seit ihrem Besuch in Randersacker nicht mehr. Einmal hatte er ein paar Stellen aus einem Brief Sylvesters geschickt, ein anderes Mal die Abschrift einiger kraftvoller Sätze aus der Schopenhauerschen Abhandlung: Von dem, was einer vorstellt. »Die Erde ist von einem heillosen Gezücht bevölkert,« hatte er hinzugefügt, »und was mich vor der Verzweiflung, ja vor dem Selbstmord rettet, ist einerseits die Erkenntnis, daß dieses Gezücht in unermeßlicher Geistesfinsternis begraben ist (denn wir alle, Frau Agathe, wir alle unterschätzen sehr die Macht und Souveränität der Dummheit), anderseits der Trost und Zuspruch aus den Werken der wenigen großen Männer, die in diese üble Welt versprengt sind wie Goldkörner in eine Felsenwüstenei.«

An einem Nachmittag im Juni kam Frau Österlein zu Agathe und meldete, daß ein fremder Mann drunten warte. Sie konnte den Namen des Ankömmlings nur verzerrt wiedergeben, aber Agathe erriet sogleich, daß es Ursanner sei. Sie eilte hinab und begrüßte ihn. Pferd und Wägelchen, die ihn hergebracht, standen am Tor.

Er sah ziemlich vernachlässigt aus; sein Bart war gewachsen, auf der Stirn und neben den Nasenflügeln hatten sich tiefgehöhlte Furchen gebildet, und sein Blick erhob sich selten bis zu den Augen Agathes. Er hatte nervöse Gesten und oft mitten im Sprechen Sekunden der Gedankenflucht. Der Händedruck, mit dem er Agathes Gruß erwiderte, war eigentümlich klammernd. »Seien Sie mir nicht böse, daß ich Ihre Freundlichkeit so spät heimzahle,« begann er, »doch was ich wünsche und was ich darf, das ist so verschieden wie Himmel und Hölle.«

Agathe bot ihm eine Erfrischung an, er wollte nichts nehmen und verlangte nur einen Trunk Wasser. Dann fragte er nach Silvia, aber das Kind war mit Frau Marquardt zum Bad gegangen. »Schade, ich hätte das Mädchen gerne gesehen,« meinte Ursanner, und Agathe, indem ein Schatten über ihre Stirn zog, erwiderte, auch sie hätte gern erfahren, wie er über das Kind denke; »sie ist so sonderbar seit einiger Zeit, so verschlossen, so launenhaft, manchmal wird mir angst und bang.« — »Davon kann ich ebenfalls ein Lied singen,« sagte Ursanner halblaut; »an unsern Kindern merken wir immer, wie die Welt zu uns steht, und das gibt meistens ein trauriges Echo. Doch wie wär's,« fuhr er lebhafter fort, »wenn wir einen Spaziergang machten, Frau Agathe? Haben Sie Lust?«

Agathe stimmte zu. Am Mittag hatte es gewittert, jetzt war es schön geworden. Laub und Wiesen glänzten, und die Mücken, die in der Luft schwärmten, sahen aus wie Silberspäne. Agathe begehrte zu wissen, ob sich in Ursanners schlimmen Angelegenheiten etwas verändert habe. Ursanner ging eine Weile nachdenklich neben ihr her, dann sagte er: »Lassen wir das doch, Frau Agathe. Meine Sachen sind dermaßen beschaffen, daß man am besten darüber schweigt. Um mich und in mir wird's schwärzer mit jedem Tag. Letzte Nacht nun, wie ich schlaflos in meinem Bette lag, dacht' ich mir: morgen will ich einmal in ein liebes Gesicht schauen, und ich dachte an Sie dabei und nahm mir vor, zu Ihnen zu gehen. Das gab mir meine Ruhe wieder, und ich konnte einschlafen. Da bin ich also, Frau Agathe, und wenn ich eine Bitte tun darf, ist es die, daß wir nicht von meinem Elend sprechen.«

»Die Bitte muß ich Ihnen schon aus Dankbarkeit erfüllen,« antwortete Agathe, und mit einem Seufzer setzte sie hinzu: »Aber es dünkt mich, wo immer zwei Menschen beisammen sind, sprechen sie von ihrem Elend.«

»Sie trinken das Bittere, weil Süßes drauf folgt, heißt irgendein Vers,« sagte Ursanner. »Bei mir nicht. Sie, Frau Agathe, spüren das Süße schon auf der Zunge, denn Ihr Schicksal, dessen bin ich gewiß, wird sich bald zum guten wenden. Sie gehören nicht zu denen, die niedergetreten werden, dessen bin ich gewiß.«

»Sie haben recht, daß Sie meine Leiden nicht schwer nehmen,« entgegnete Agathe; »was soll's auch weiter? Man hat etwas genossen, was man dann entbehren muß. Das Herz gewöhnt sich so leicht an einen Glückszustand, daß es ihn fordern zu können glaubt und sich ganz ungebührlich benimmt, wenn es verzichten soll. Ich hoffe selbst, daß es mich nicht niederwirft.«

»So war die Meinung mit nichten,« sagte Ursanner, »aber ich sehe schon, Sie ziehen Ihr Mißverständnis meiner Zuversicht vor. Jeder liebt seinen Schmerz, und heute scheinen Sie unversöhnlicher gestimmt als damals.«

»Wissen Sie denn nicht, daß er von mir gegangen ist, ohne mir auch nur ein Wort zu sagen, weder ein gutes, noch ein böses Wort?« rief Agathe stehenbleibend; ihre Wangen entfärbten sich, und die Hände hatte sie auf die Brust gedrückt. »Er ist fort wie einer aus einem Garten schleicht, aus dem er Äpfel gestohlen hat, wie einer, der mit Falschspielern am Kartentisch gesessen ist und voll Ekel aufsteht und sich entfernt. Was kann ich aber machen? Bin ich nicht für mein Leben entwürdigt? Hat er mir nicht deutlich genug zu verstehen gegeben, daß ich nur Zeitvertreib und Füllsel für ihn war?«

»Es ist nicht so, es ist nicht so,« beschwichtigte Ursanner die leidenschaftlich Erregte. »Nicht wie ein Apfeldieb, auch nicht wie ein Spieler ist er gegangen, sondern vielleicht wie ein abergläubischer Schatzgräber; solche Leute haben oft eine geheimnisvolle Manier und sind von ihrem Trieb bis zur Sinnlosigkeit besessen. Denken Sie doch einmal mit aller Güte an ihn, deren Sie fähig sind. Erinnern Sie sich seiner besten Augenblicke, und Sie werden Mühe haben, sein Bild so finster zu sehen, wie es Ihnen Ihre beleidigte Empfindung zeigt. Ein sonst vortrefflicher Mensch, und das ist Sylvester doch, der einem teuren Wesen Schlechtes zufügt, leidet mehr als dieses Wesen selbst. Man braucht oft nur ein wenig Einbildungskraft, um dem Häßlichen einer Tat die Qual anzumerken, die sie dem Täter bereitet.«

»Nein, nein,« entgegnete Agathe, »das verwirrt mich. Wer eine einfache Pflicht erfüllt, hat niemals so feine Auslegungen nötig wie der, der sie mißachtet. Was für Geschöpfe sind doch die Männer! Wahllos in ihren Neigungen, skrupellos in ihren Gelüsten, erfinden sie eine neue Weltordnung, um der Schwäche und dem Laster einen großartigen Namen zu geben, und für ein Mysterium der Natur möchten sie gelten lassen, was nur Überdruß und Lüsternheit ist. Hab' ich nicht denselben Anspruch darauf, mein Leben auszuschöpfen? Bin ich nicht auch aus Fleisch und Blut? Ist bei mir Sünde, was bei ihm Not ist? Was ihm erlaubt ist, soll mir verwehrt sein? Warum? Maßt sich ein Weib dergleichen an, so kehrt ihm jeder Mann und jedes Weib den Rücken. Wie, wenn ich ihm eines Tages sagte: ich habe mich vergessen, nur ein einziges Mal, aber ich habe mich vergessen —? Dann wäre ich die Verräterin, und er, der mich im Tiefsten verraten hat, der Gott, der seine Ehre rächt. Ist das billig?« Sie hob einen Zweig vom Boden auf und riß mit heftigen Gebärden die Blätter herunter.

Achim Ursanner lächelte. »Sie könnten es nicht, auch wenn Sie wollten,« antwortete er, »und damit ist alles gesagt. Eine Ehe ist nur äußerlich ein Vertrag zwischen Gleichberechtigten, in Wahrheit hat sie die ganze Bosheit und Gefährlichkeit der natürlichen Einrichtungen, denen wir durch Widerstand und Kampf nichts von ihrer majestätischen Willkür abdingen können. Überall wo im Kosmos Kräfte verteilt sind, streben sie zur Harmonie, und was wir als sinnliche oder sittliche Gebote in uns spüren, sind nur Zeichen für die Elemente einer höheren und meist sehr grausamen Ordnung. Weib und Mann! Es ist, als ob man zwei Sterne im Raum durch eine Brücke verbinden wollte.«

»Ja, sind wir denn los und ledig und ist jeder nur Werkzeug? Muß man alles was geschieht, erdulden, bloß weil es geschieht?«

»Das Weib ist für die Ehe geboren, der Mann muß zu ihr entschlossen sein; das erklärt vieles, scheint mir.«

»Wohl möglich,« versetzte Agathe entmutigt. »Klüger werde ich mit diesem Lehrsatz nicht. Und wenn er dazu entschlossen ist, gewinn' ich nur, was er mir freiwillig gibt; was er mir vorenthält, darf ich ihm nicht verargen. Er besitzt mich, ich aber bin von seiner Gnade abhängig. Das wollen Sie doch sagen, nicht wahr? Sie fanden mich unversöhnlich gestimmt; und nach alledem klingt das wie Hohn. Kehrt er eines Tages zurück, so sucht er seine Bequemlichkeit bei mir, wie er sie vorher gesucht hat. Er hat mich weggeworfen, er wird mich wieder aufheben. Die Wunde, die er geschlagen hat, wird vernarben, der Mensch ist ein Ungeheuer an Vergeßlichkeit. Das Band, das er zerrissen hat, wird geflickt werden; hat der Magen nur sein Futter und der Kopf ein Dach, so kann man schon miteinander leben. Wagt' ich's, Rechenschaft zu fordern, was soll ich tun, wenn er mir antwortet: wer gibt dir das Recht dazu? In der Tat: wer gibt mir das Recht dazu? Meine Blüte ist dahin, was für Lockmittel hab' ich, was für Drohungen, wie kann ich vergelten? Also, was nennen Sie denn das Unversöhnliche an mir?«

Wieder blieb sie stehen, mitten auf dem Waldweg stand sie, aufrecht und streitbar gleich einer Walküre, und ihr italienischbraunes Gesicht mit den großen Augen machte das abendliche Zwielicht förmlich heller.

Achim Ursanner schaute sie bewundernd an, und jäh schoß ihm der Gedanke durch den Sinn: mit einem solchen Weib an der Seite hätte ich siegen können. Er senkte rasch den Blick und entgegnete: »In Ihnen ist mehr Blühen als Sie ahnen. Grübeln Sie nicht, Frau Agathe, hadern Sie nicht! Seelen wie die Ihre sollen brennen, nicht glimmen. Handeln Sie stets nach Ihrem reinen Gefühl, denn dieses ist die Stimme Ihres Schicksals. Und fragen Sie sich selbst, fragen Sie Ihr Herz fromm und ruhig nach der Zukunft, so werden Sie erfahren, daß in Ihrem eigenen Innern keine Furcht und kein Zweifel ist.«

Agathe lauschte bestürzt; das klang wie ein Abschied und wie ein Vermächtnis. Sie wußte nichts zu erwidern. Schweigend gingen sie das Waldtal hinunter und über die nassen Wiesen gegen den Gutshof. Ursanner hatte Eile; ohne vorher ins Haus zu treten, stieg er in den kleinen Wagen und trieb das alte Pferd heimwärts.


In Randersacker wartete schon seit dem Nachmittag ein Gerichtsbote auf Ursanner. Schlimmes ahnend, riß er dem Mann das Dokument aus den Händen. Es war das Urteil der letzten Instanz, gegen das es keine Berufung gab und lautete, daß Ursanner die beiden Knaben innerhalb dreier Tage von der Stunde der Rechtsgültigkeit des Verdiktes ab der Mutter auszuliefern verpflichtet sei, da er durch eine das öffentliche Ärgernis erregende Haltung als Bürger wie als Mensch seiner Ehegattin den Aufenthalt in seinem Hause unerträglich gemacht, seine Erziehungsprinzipien dem gegründetsten Mißtrauen preisgegeben und somit seine väterlichen Ansprüche verwirkt habe.

Er entließ den Boten mit einem knurrenden Laut. Die Kehle war ihm ausgedörrt, er mußte etwas Scharfes trinken und griff nach einer Flasche Kirschwasser auf dem Spind. Nachdem er die ätzende Flüssigkeit hinabgegossen, stand er wieder unbeweglich und starrte zu Boden. Auf der Landstraße drunten zog ein Haufe von Burschen johlend vorüber. Die eine der drei Doggen, das Weibchen, bellte dumpf. Vom Kirchturm schlug es zehn Uhr.

Als die Glocke die elfte Stunde ankündigte, stand er noch ebenso unbeweglich. Von Zeit zu Zeit heftete er einen finster ungläubigen Blick auf das Gerichtspapier, das auf dem großen Tisch unter der Lampe lag. Plötzlich fing er an wie rasend auf- und abzugehen. »Du Hund,« sprach er zu sich selbst, »was willst du noch dahier? Der Schinder kommt, dein Jappen hilft nichts mehr. Sie drängen dich in die Ecke und geben dir den Genickfang. Geifere nur, das rührt sie nicht, das ergötzt sie bloß, geifere nur, du einfältiges Vieh.«

So wütete er bis gegen drei Uhr nachts. Dann warf er sich bäuchlings auf das gebrechliche, rundgebogene Sofa, preßte die Fäuste in die Augenhöhlen und stürzte sich in den Schlaf wie man sich ins Wasser stürzt. Als er erwachte, war das Zimmer so voll Qualm der Lampe, die geblakt hatte, daß die Strahlen der Morgensonne ihn nicht durchdringen konnten.

Die Brust war ihm eng, er mußte ins Freie. Am Brunnentrog wusch er das Gesicht, dann stürmte er durch die Landschaft, und plötzlich entschloß er sich, in die Stadt zu gehen. Dort angelangt, frühstückte er hastig in einem Kaffeehaus an der Mainbrücke, danach suchte er den Professor Barenius auf, seinen Universitätslehrer, einen der wenigen Menschen, mit denen er noch Beziehungen unterhielt. In gepreßten Worten berichtete er über die letzte Wendung des Prozesses und fragte den greisen Juristen, ob er kein Mittel wisse, den Urteilsvollzug zu verzögern. Barenius verneinte. »Ich werde die Kinder nicht preisgeben,« erklärte Ursanner zähneknirschend. »Dann bleibt nichts andres übrig als mit ihnen zu fliehen, und zwar rasch und ohne Aufsehen,« war die Antwort. Ursanner schüttelte heftig den Kopf. »Fliehen? Das hieße ein Unrecht bekennen. Nimmermehr.« — »Ich sehe nicht ein, was Sie sonst anfangen könnten, um die Kinder zu behalten. Wollen Sie sich etwa gegen den Staat zur Wehr setzen?« — »Man wird mich zwingen,« entgegnete Ursanner wild, »ich weiß es und ich warte darauf.« — »Seien Sie klug, Achim, vertrotzen Sie sich nicht,« mahnte der Professor. — »Um des Himmels willen, begreifen Sie doch, was an mir verübt wird,« sagte Ursanner in einem Flüsterton, der schrecklich klang; »man stellt mir die Welt auf den Kopf, und alles was ich ehedem für heilig, ja nur für respektabel gehalten, erscheint mir als ein Hexentanz der Lüge. Hätte ich etwas Außerordentliches erstrebt, neue Ideale proklamiert oder einen neuen Gott gepredigt, ich wollte mich nicht wundern. Doch ich habe bloß getan, was jeder redliche Mensch von sozialem Gewissen tun müßte. So möge man mir denn zu Leibe gehen! Vielleicht ritzt mich das Schwert der geschändeten Gerechtigkeit, und ich kann mit größerem Fug als bisher Zeuge sein für die Verblendung und die moralische Verworfenheit eines Volkes, das zu lieben ich mir einst eingebildet habe.« Nach diesen Worten drehte sich Ursanner um und verließ das Zimmer.

Der Gedanke, daß man sich während seiner Abwesenheit der Kinder bemächtigt haben könne, peitschte ihn geradezu nach Hause. Schweißbedeckt langte er an und atmete erst auf, als er die Knaben hinter der Scheune spielen sah. Er befahl ihnen, in ihr Zimmer zu gehen, dann rief er seine Leute zusammen. Es befanden sich in seinem Dienst fünf Knechte, darunter der alte Schermer, der die Knaben beaufsichtigte, außerdem drei halbwüchsige Jungen, die er aus dem protestantischen Asyl zu sich genommen, und eine einzige Magd, die die Küche versorgte. Sie war ihm erst in letzter Zeit durch einen Kaufmann in Markt-Erlbach geschickt worden. Sie hatte ein heuchlerisches Wesen, und er mißtraute ihr. Einer der Knechte wollte sie im heimlichen Gespräch mit dem Fischhofbauern, dem bigottesten im ganzen Dorf, gesehen haben. Ursanner schärfte den Leuten ein, daß die Tore bei Tag und Nacht versperrt bleiben müßten, daß ohne seine ausdrückliche Bewilligung niemandem geöffnet werden, daß ebensowenig einer den Hof verlassen dürfe und daß, wer sich aus Angst oder sonstiger Ursache dem nicht fügen wolle, es jetzt gleich sagen möge; dem werde der Lohn ausbezahlt, und er könne von dannen ziehen.

Es meldete sich keiner. Ursanner bestimmte die Wachtposten, die von Stunde zu Stunde abgelöst wurden und ließ die Doggen loskoppeln.

Der Nachmittag, die Nacht und der nächste Morgen verliefen ruhig. Kurz vor zwölf Uhr schlugen die Hunde an. Auf dem Schlangenweg zeigten sich drei Männer, einer mit einem Höcker, einer mit einer großen Hornbrille und ein Gendarm. Durch das Lärmen der Tiere herausgelockt, trat Ursanner an die eichenen Latten des Hoftores. Den mit dem Höcker kannte er, es war der gegnerische Advokat; der mit der Hornbrille mochte ein Gerichtsfunktionär sein. Als die drei Personen oben waren, entwickelte sich zwischen Ursanner und dem Advokaten folgendes Gespräch: »Was wünschen Sie?« — »Ich hoffe, daß Sie von dem Zweck unseres Besuches unterrichtet sind.« — »Das bin ich.« — »Nun also. Wollen Sie uns nicht einlassen?« — »Nein.« — »Was bedeutet das?« — »Es bedeutet, daß ich das Urteil nicht anerkenne.« — »Sind Sie toll?« — »Ich weigere mich, die Kinder herzugeben.« — »Das kann Ihnen teuer zu stehen kommen.« — »Gewiß; ich bezahle die Dinge nach ihrem Wert.« Der Funktionär und der Gendarm rissen vor Erstaunen die Augen auf. In dem häßlichen Gesicht des Advokaten zeigte sich Mitleid. »Es muß Ihnen doch klar sein, daß Sie sich eines Verbrechens schuldig machen,« sagte er; »wenn ich die Anzeige erstatte, sind in einer halben Stunde zwanzig Gendarmen hier, und Sie können sich denken, daß es nicht lange dauern wird bis dem Gesetz, so oder so, Folge geleistet ist. Es läßt sich nichts dagegen einwenden, daß Sie Ihre eigene Person ins Unglück stürzen wollen, aber die armen unwissenden Menschen, deren Brotgeber Sie sind, mutwillig zugrunde zu richten, haben Sie kein Recht. Belieben Sie den Umstand zu überlegen.«

Da schwieg Ursanner. Der Vorwurf traf ihn. Er konnte sich nicht verhehlen, daß er hier eine unaustilgbare Schuld auf sich lud und nicht mehr reinen Herzens vor das Tribunal der Menschheit treten durfte. Seine erste Regung war, die Leute, auf deren Beistand er gezählt, fortzuschicken, denn der tiefere Sinn seiner Absicht war ja bloß, die Übermacht, der er weichen mußte, zu sehen und körperlich zu spüren, damit das Maß der Unbill sich fülle, ohne daß er sich schmählich unterwarf. Wenn sie einen Schuß abfeuerten und die Türen zerschmetterten, war dem genügt; zu sinnlos ungleichem Kampf brauchte es nicht zu kommen. Aber diesem Verlangen nach einer symbolischen Handlung willfahrt die Wirklichkeit nicht; ihre Entscheidungen sind von gröberer Art. Ursanner erbebte vor sich selbst. Noch einmal erhob sich der furchtbare Trotz, und mit Wollust trieb es ihn zum Untergang und zur Vernichtung; doch zugleich war ihm, als sei dazu ein Blick der Liebe nötig, irgendeine Botschaft aus den Wohnungen der Schicksalsgeister, ein pythischer Trost. Es leuchtete in seinen Augen, er schob die Brille in die Höhe, um frei in den Himmel zu schauen, nickte vor sich hin, und während er sich gegen das Haus wandte, bat er den Advokaten, er möge sich eine kleine Weile gedulden.

Er ging in das Zimmer, in dem sich die Knaben befanden. Sie saßen mit eigentümlich verbissenen Gesichtern am Fenster einander gegenüber und ließen ihre Beine pendeln. Ursanner nahm einen Stuhl und setzte sich zu ihnen. »Hört mal, Buben,« sagte er, »eure Mutter schickt nach euch.« Die vier Beine hörten auf zu pendeln, und vier Augen blickten Ursanner gespannt an. »Was meint ihr,« fuhr er scheinbar harmlos fort, »wollt ihr am Ende mit den fremden Männern zu eurer Mutter gehen?« Kein Laut, nur ein gieriges, forschendes Schielen. Das Blut rauschte Ursanner in den Ohren; mit Mühe rang er um die Sprache. »Oder wollt ihr bei mir bleiben? Redet nur frisch von der Leber weg.« Der jüngere Knabe, der den offeneren Charakter besaß, sprang empor, klatschte in die Hände und rief: »Zur Mutter, ach ja, zur Mutter! Das möchten wir, nicht wahr, Friedel?« Friedel lächelte seltsam tückisch, und sein Vater durchschaute in diesem verzweifelten Augenblick die gemütlose, verstockte und unehrliche Seele dieses Kindes. »Ihr wollt also lieber zu eurer Mutter gehen?« fragte er, ohne die Anstrengung zu verraten, die ihn diese Worte kosteten. Jetzt riefen beide Knaben: »Ja, zur Mutter,« erlöst, freudig und wie aus einem Mund.

Ursanner schaute im Zimmer umher. Er suchte den alten Knecht; als er die Tür öffnete, um zu rufen, trat Schermer auf die Schwelle. »Packen Sie die Kleider und die Spielsachen der Buben,« redete ihn Ursanner an, »in einer halben Stunde müssen sie fertig sein.« Darauf kehrte er in den Hof zurück, gebot, daß man die Hunde an die Kette lege und riegelte selbst das Tor auf. Der Advokat und seine Begleiter traten ein. Jener war fein genug, das veränderte Benehmen Ursanners mit einer stummen Verbeugung zu quittieren. Auf der Chaussee hatten sich inzwischen eine Menge Dorfbewohner versammelt, Männer und Weiber, und stierten mit bösen, hämischen Gesichtern empor. Ein alter Bauer hob drohend beide Fäuste und ein kahlköpfiger Mensch, der an Krücken ging, stieß mit krähender Stimme Flüche und Schimpfreden aus. Ursanner sah und hörte es, sah und hörte es auch nicht. Wie von einem elektrischen Schlag berührt, fuhr er zusammen, als ihm Schermer mitteilte, daß die Kinder bereit seien. Sie kamen; sie reichten ihm die Hände; sie stellten sich auf die Zehen, um seine Wange zu küssen; ihre Augen glänzten und ihre Bewegungen waren voll Lebhaftigkeit, — Ursanner sah es und sah es auch nicht. Der Advokat redete etwas, der Funktionär zog den Hut, der Gendarm salutierte, dann waren sie alle verschwunden, Schermer trug zwei Bündel hinterdrein, man sah ihn noch lange auf der Landstraße wanken; der Krüppel unten kreischte hysterisch, das Doggenweibchen fing an zu heulen, aber Achim Ursanner stand wie zu Stein geworden. Den Knechten war er unheimlich. Sie flohen seinen Anblick.

Am andern Morgen wurde ihm hinterbracht, daß es den Bauern gelungen war, die Hunde zu vergiften. Er war abermals die ganze Nacht hindurch auf dem rundgebogenen Sofa liegen geblieben. Eine Flasche Wasser, Wurst, Käse, Brot und Früchte standen neben ihm auf einem Stuhl. In der getünchten Stubendecke hatten die Sprünge und Risse auffallend interessante Figuren gebildet. Er mußte sie beständig anstarren. Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als in einer Nacht eine Weiberstimme durch das Haus gellte: »Es brennt, Herr, es brennt!« Die Magd war es, die Ursanner weckte. Die beiden Scheunen und das Waschhaus waren bereits von den Flammen ergriffen. Als Ursanner ins Freie trat, loderte auch das Dach des Wohngebäudes wie Reisig. Die Landschaft lag weithin in roter Glut. Die Kirchenglocken läuteten, das Dorf erwachte und geriet in Eifer, die Knechte hatten sich schon ans Löschen gemacht, vermochten aber dem Element nicht Einhalt zu tun; auch war zu wenig Wasser vorhanden. Die Magd, die, merkwürdig genug, ihr Sonntagskleid am Leibe hatte, kniete vor dem Zaun und betete. Gegen Morgen rückten die Löschmannschaften aus Würzburg an; die Flammen züngelten aber nur noch in vier Ruinen.

Ursanner begab sich in die Stadt und mietete sich in einem Gasthaus in der Nähe des Domes ein. In dem schmutzigen kleinen Zimmer schrieb er folgenden Brief an Agathe.

»Es ist alles vorüber. Ihnen die Vorgänge in ihrer Reihe zu berichten, dazu fehlt es mir an Mut, an Klarheit und an Worten. Die Kinder sind weg, Haus und Hof sind eingeäschert, ich selbst bin auf dem Weg nach Frankreich. Ich lasse in der Heimat nichts zurück, was mir die Trennung erschwert. Ich lösche das Gedächtnis an ein Land aus, das meine Kräfte gemordet, meine Fähigkeiten erstickt, meine Hingebung mit Verachtung bezahlt und meinem Gemüt die unheilbare Krankheit des Menschenhasses eingeimpft hat. Ich gehe nach Frankreich, um dort in den Kriegsdienst zu treten. Die Franzosen schlagen sich fortwährend in Mexiko, in Algier und in Asien. Der Marschall Montauban, bekannt oder berüchtigt durch seine Expedition in China, weiß von mir, denn er war ein Jugendfreund meiner Mutter. Leben Sie wohl, teure Frau. Ihr Bild raubt meinen letzten Erlebnissen etwas von ihrer würgenden Schmach. Schenken Sie dem armen Flüchtling bisweilen einen freundlichen Gedanken. Achim Ursanner.«


Agathe hatte die Nachricht von dem Brand in Randersacker durch die Würzburger Botenfrau erhalten, die zweimal wöchentlich nach Erfft kam. Die Zeitung brachte nur eine flüchtige Notiz. Es wurde allgemein angenommen, daß das Feuer gelegt worden sei, und nun erhoben sich Stimmen der Bevölkerung, die für Ursanner Partei ergriffen und dem Kesseltreiben gegen den unglücklichen Mann steuern wollten. Eben hatte sich Agathe entschlossen, zu Ursanner zu fahren, als sie seinen Brief bekam. Während des Lesens konnte sie sich der Tränen nicht erwehren. Da der Umschlag den Würzburger Poststempel trug, drängte es sie in die Stadt, aber bei weiterem Bedenken sah sie das Fruchtlose eines solchen Schrittes ein, da sie nicht wußte, wo er wohnte und er wahrscheinlich schon abgereist war. Im Lauf der Tage begrub sie ihre mitfühlende Trauer still in ihrer Brust, und eigene Not brachte die des Freundes in Vergessenheit.

Daran war vor allem Silvia schuld. Das Kind verlor seinen Frohsinn nach und nach gänzlich. Es liebte seine ehemaligen Spiele nicht mehr, nur selten hörte man sein unbefangenes Geplauder, und das immer blasser werdende Gesichtchen gab der Mutter Anlaß zur Sorge. Am meisten betrübte es Agathe, daß das Mädchen immer jäh die Augen senkte, wenn es ihrer ansichtig wurde, und Agathe gewann allmählich den Eindruck, daß ein bestimmter Argwohn in dem Kind wuchere. Mit Schrecken nahm sie wahr, daß Silvia ihr kein Vertrauen mehr entgegenbrachte, und um so beklommener war ihre Lage, als sie es bei sich für unmöglich erklärte, dem achtjährigen Geschöpf triftige und verständliche Aufschlüsse zu geben. Sie ahnte ja, was das forschende und gequälte Wesen Silvias zu bedeuten hatte, und obwohl sie sich sagte, daß dieser unentwickelten Seele die volle Empfindungskraft und der entschiedene Wille eines erwachsenen Weibes eigen sei, verbot ihr der verwunderte Hochmut und jene Scham, welche gewisse Mütter bei frühen Persönlichkeitsäußerungen ihrer Kinder spüren, dem armen kleinen Herzen in seiner Bedrängnis beizustehen.

Oft trat sie am Abend an das Bett Silvias, wenn diese mit offenen Augen dalag und in die Dunkelheit schaute. Einmal glaubte sie das Kind im Schlaf, da beugte sie sich und küßte es auf die Stirn. In demselben Augenblick bemerkte sie, wie Silvias beide Hände sich zu Fäusten zusammenkrampften und die zuckenden Wimpern verrieten, daß der Schlaf geheuchelt war. Agathe empfand einen heftigen Schmerz; Zentnerlast wälzte sich auf ihre Brust, und still ging sie hinaus. Eines Tages im Juli geschah es, daß ein Hagelwetter das Getreide auf den Feldern und den Wein an den Stöcken niederschlug. Die Erntehoffnungen für dieses Jahr waren vernichtet. Agathe saß im großen Wohnzimmer, den Kopf in beide Hände gestützt, und Inspektor Marquardt stand neben ihr, verlegen, finster und schweigsam. Währenddem ging die Türe auf und Silvia kam herein. Sie stellte sich zwischen den Inspektor und ihre Mutter und sah diese an, und Agathe wurde aufmerksam auf Blick und Miene des Kindes. Es war der große, kalte Blick befriedigter Rache, die grausame Miene der Genugtuung. Unwillkürlich erhob sich Agathe. »Was willst du?« herrschte sie das Kind an, »geh! Geh mir aus den Augen.« Ein Zittern überflog Silvias Glieder, und sie gehorchte. Der Inspektor schaute ihr mitleidig nach, weil er dachte, ihr sei unrecht geschehen.

Einige Wochen später war es, als Agathe den Brief Sylvesters erhielt, den er in dem kleinen Wirtshaus in Twickenham geschrieben. Mit unendlicher Bitterkeit las sie die Sätze, die ihr allzu verstiegen und allzu demütig erschienen, um ihr Gefühl aufzurühren. Doch wußte sie sogleich, was für eine Bewandtnis es mit dem Brief hatte, und daß er von verhängnisvollen Banden umstrickt sein mußte, um so vor ihr zu betteln. Sie hatte sich längst abgefunden mit ihrem Los, doch die mahnende Stunde, das unerbittlich Gegenwärtige des Bruchs und der Zerstörung wirkte auf sie, als ob man ihr die Haut vom Leibe risse. Silvia saß draußen auf einem hochbeladenen Heuwagen; sie hatte den Briefträger gesehen und konnte durch die offnen Fenster in die Stube blicken. Nun kletterte sie vom Wagen herunter und eilte ins Haus. Zögernd trat sie ein, richtete aber die Augen furchtlos gegen Agathe und fragte: »Was schreibt denn der Vater?« Agathe war betroffen von der Divination wie auch von der verstellten Ruhe in der Stimme des Kindes. Es war das erstemal, daß sich Silvia durch eine unmittelbare Frage nach ihrem Vater erkundigte, aber der mißtrauische und heimlich gereizte Ton erzürnte Agathe, und sie antwortete: »Deinem Vater geht es gut. Was dich betrifft, so nimm dich in acht, Kind, daß du mir nicht durch Dünkel und Vorwitz verhaßt wirst. Nicht was du sprichst, sondern wie du dich gibst, ist über deine Jahre und steht dir nicht an. Wenn du älter und klüger bist, wirst du einsehen, daß man mit einem so kleinen Mädchen nicht über die ernsten Dinge sprechen kann, die Vater und Mutter beschäftigen.«

Silvia lächelte. Es war ein sehr besonderes Lächeln, das ungefähr zu sagen schien: »Du weichst mir aus und du willst mich täuschen, aber ich frage ja nur, um zu ergründen, ob du mich täuschen willst.« Nicht Dünkel und Vorwitz lag in dem Lächeln, sondern eine gleichsam in Träumen gewonnene Erfahrung. Von diesem Tage an wünschte Silvia, daß sie sterben möge, denn nun wähnte sie die Gewißheit erlangt zu haben, daß der Vater niemals zur Mutter zurückkehren werde. Warum es so war und so sein mußte, begriff sie nicht; daß es so war, überhauchte ihr Wesen mit einer Schwermut, die aus der abgöttischen Liebe zum Vater stammte. Sie entbehrte ihn; sie verdorrte ohne ihn wie eine Blume ohne Regen. Sein Tod hätte sie vielleicht härter getroffen, doch hat der Tod für die Phantasie eines Kindes eine abschließende und verklärende Macht. Sie wußte, daß er lebte, irgendwo draußen in der Welt lebte und die Tatsache seines plötzlichen Verschwindens, seiner Abwesenheit, seines Fernbleibens erfüllte sie mit um so größerer Bangigkeit und Sehnsucht, als sie in sich selber die Ursache davon erblickte.

Sie bildete sich nämlich ein, daß er nur deshalb fortgegangen war, weil er sie nicht mehr hatte leiden mögen, weil er Unarten an ihr entdeckt und sie häßlich gefunden hatte und eine andere, bessere, schönere Silvia haben wollte. Sie entsann sich, wie oft sie ihn geärgert hatte durch Grimassenschneiden, Lärmen auf der Treppe, Naschhaftigkeit und Ungehorsam; sie konnte sich dies nicht verzeihen, nie, solange sie lebte, würde sie sich's verzeihen können. Nur um unter dem Gewicht der eigenen Schlechtigkeit nicht erdrückt zu werden, verfolgte sie das Tun und Treiben der Mutter mit tadelsüchtigen Augen, war fast glücklich, wenn sie einen Fehler, eine Schwäche an ihr beobachtete, und mit derselben wunderlichen Unbarmherzigkeit stand sie den Dienstleuten gegenüber und allem Mißgeschick, das dem Hause zustieß.

Bisweilen erwachte sie in der Nacht, und ihr war, als habe sie den Vater lachen gehört. Dann vermochte sie sich seine Züge so eindringlich vorzustellen, daß sie seine beim Lachen blitzenden Zähne sah und seine Augen, deren spottlustiger Glanz sie oft ergötzt hatte. Am meisten hatte sie ihn bewundert, wenn er ritt, und sie kannte kein größeres Vergnügen, als in einer dunklen Ecke zu kauern und sich zu erinnern, wie prächtig er auf dem Pferde gesessen war, und wie die Leute auf den Feldern sich von ihrer Arbeit aufgerichtet hatten, um ihm lange nachzuschauen.

Es verging kein Tag, ohne daß sie der Gefahren dachte, die ihn draußen in der unbekannten Welt bedrohten. Wilde Tiere konnten ihn überfallen; er konnte von einer Eisenbahnlokomotive ergriffen und von den Rädern zermalmt werden; er konnte in ein tiefes Wasser stürzen, sich in einem Wald verirren, in die Hände von Räubern geraten; er konnte einen Feind haben, der in einer finstern Gasse hinter ihm herschlich, um ihn zu erstechen; er konnte krank werden und kein Mensch war da, der ihn pflegte. Jede solche Möglichkeit malte sie sich aus, bis ihre Kraft zu denken vor Mitgefühl und Kummer erlosch.

Ihr dünkte, daß es gut und mutig wäre, hinauszuziehen und ihn zu suchen. Sie war davon überzeugt, daß sie ihn finden würde. Den ganzen Sommer über spielte sie mit diesem Plan, und schon mehrmals hatte sie sich aufgemacht und war ein Stück Wegs über die Chaussee marschiert, um dann furchtsam wieder umzukehren. An einem Tag im Oktober war sie weiter gelangt als vordem, da hörte sie lautes Rufen und stehenbleibend sah sie die dicke Österlein auf sich zurennen. Unter Schelten und Küssen schleppte sie den entflohenen Liebling zurück, und erst als Silvia versprach, einen derartigen Frevel nicht mehr zu begehen, gelobte sie, gegen die Mutter zu schweigen. Auf Silvia hatte das Versprechen keine andere Wirkung, als daß sie sich vornahm, beim nächstenmal pfiffiger zu sein. Ein paar Wochen lang wurde sie freilich von Frau Österlein mit Argusaugen bewacht, und Silvia grämte sich, daß die Tage immer kürzer wurden und das Wetter immer schlechter.

Es war an einem Morgen, als Agathe wegen der fälligen Zinsen der von Sylvester in Paris aufgenommenen Anleihe nach Eggenberg zu fahren beschlossen hatte. Sie wußte nicht, wie sie das Geld auftreiben sollte und sah sich gezwungen, Hilfe oder wenigstens Rat vom Major zu erbitten. Silvia schlief noch, als sie ging. Zufällig berührte sie die Stirn des Kindes und sagte zur Österlein, die Stirn scheine ihr heiß, die Frau möge acht geben und Silvia im Zimmer halten. Silvia erhob sich mit einem Frösteln aus ihrem Bette und ließ sich von der Pflegerin ankleiden, was seit Monaten nicht mehr vorgekommen war, denn sie war in solchen Dingen sehr selbständig. Darauf ging Frau Österlein ins Bügelzimmer und dachte, das Mädchen werde wohl bei seinen Schreibheften sitzen bleiben. War es nun der fieberische Zustand oder das erwünschte Alleinsein oder die zu undämmbarem Drängen gewordene Sehnsucht, genug, Silvia verließ auf einmal die Stube und das Haus, schritt, ohne gesehen zu werden, über den Parkweg an der Orangerie vorbei und durch eine kleine Gartenpforte gegen den mehrere hundert Meter weit entfernten Wald. Sie hatte weder den Mantel angezogen, noch ihre Mütze aufgesetzt, aber sie spürte den rieselnden Regen nicht und ging erst langsamer, als sie unter den Bäumen war. Wie ist das nur, überlegte sie, es geht immer weiter, da vorn geht es immer weiter, da hinten geht es immer weiter und in den Himmel hinauf geht es immer weiter: es ist komisch und langweilig. Die neblige Dunkelheit im Forst erschreckte sie, und bald fühlte sie sich äußerst müde. Sie mußte beständig zu Boden schauen; so oft sie den Blick erhob, drehte sich alles im Kreise um sie. Die Stille tat ihr weh, aber wenn das dürre Laub unter ihren Füßen raschelte, wollte ihr Herz vor Angst brechen. Zuweilen bog sich der Weg nach links oder nach rechts, dann glaubte sie, der Vater komme ihr entgegen, und sie beschleunigte ihren Schritt. Allmählich wurden jedoch die Beine gar zu schwer; und wie kalt es plötzlich war; es schüttelte sie durch und durch. Sie setzte sich auf einen Wurzelstrunk und schluchzte leise in sich hinein. Schließlich fiel sie auf die Seite und verlor die Besinnung.

Gegen Mittag kam ein Holzfäller vorüber. Erstaunt betrachtete er das bleiche, überirdisch schöne Gesicht des anscheinend schlummernden Kindes, warf seine Last zur Erde, hob das Mädchen aus dem nassen Moos und trug es über eine Stunde Wegs nach Erfft zurück, wo alles in größter Sorge und Bestürzung war. Frau Österlein, der Inspektor, der Gärtner, der Stallbursche und zwei Mägde hatten die Gegend schon nach jeder Himmelsrichtung durchstreift, nur an den Wald hatte keiner gedacht. Frau Österlein war stumm erschüttert, als sie das Kind aus den Armen des Bringers nahm. Sie trug die bewußtlose Silvia in deren Zimmer, riß ihr die Kleider vom Leib und brachte sie zu Bett. Zwei Stunden später begann die Kranke zu delirieren. Am Abend, noch ehe Agathe eingetroffen war, kam der Arzt, und als er ging, sagte er zu Frau Marquardt, die ihn in den Flur begleitete: »Ich fürchte, das Kind wird den morgigen Tag nicht mehr erleben.«


Während seiner dreitägigen Reise hatte sich Sylvester keine Rast gegönnt; jetzt unmittelbar vor dem Ziel, wäre er am liebsten wieder umgekehrt. Unter dem Vorwand, seinen Koffer erwarten zu müssen, blieb er in Würzburg. Die Frage, ob er seine Ankunft in Erfft melden oder überraschend in sein Haus treten solle, verursachte ihm eine ungebührliche Pein der Überlegung. Wenn er an die ersten Augenblicke des Wiedersehens mit Agathe dachte, entsank ihm aller Mut und er wünschte Agathe auf irgendeine Weise entfernen zu können, um Silvia für sich zu haben. Die ganze Kleinlichkeit und Engigkeit des bürgerlichen Daseins gähnte ihm wieder entgegen, die Geldsorgen, die geistlosen Geschäfte, das Übelwollen beflissener Verwandten, und alles, was in dem Verhältnis zu Agathe zum Austrag gelangen sollte. Er nahm sich vor, vierzehn Tage in Erfft zu bleiben. Bis dahin mußte die Entscheidung gefallen und der Weg in die Zukunft offen sein. Von der Seite Agathes auf einen Widerstand gefaßt, den er bei ihrer edlen und herben Natur als schwer bekämpfbar schon jetzt empfand, hatte er doch die Gründe gesammelt, die sie zur Nachgiebigkeit bewegen mußten, und so beredt, so mild und so bezwingend war er nie gewesen wie in den einsamen Stunden, in denen er sich die Gespräche mit Agathe zurechtlegte. Nach solchen stillen Exerzitien überkam ihn immer eine hoffnungsselige Laune.

Er wohnte nicht in dem Hotel, dessen Bedienstete vor einem Jahr Zeugen des Auftritts mit der schönen Rahel gewesen waren. Am dritten Morgen trieb es ihn nach dem Gäßchen, in welchem der Laden des Händlers war. Türe und Auslagefenster waren mit Rollbalken versperrt und das ganze Haus machte den Eindruck, als ob es verlassen sei. Indes Sylvester sinnend davor stand, gewahrte ihn der Portier des Gasthofs, erkannte ihn, trat mit einem halb vertraulichen, halb respektvollen Grinsen heran und erzählte, daß seit jenem Tage, der Herr Baron wisse schon, seit welchem, der Alte seine Butike nicht mehr geöffnet habe. Seine Tochter habe den Verstand verloren, sie tue nichts anderes als am Fenster sitzen und stumpfsinnig vor sich hinstarren. Sie habe bloß eine einzige Liebhaberei, man könne es ruhig eine Tollheit nennen: jede Woche einmal gebe ihr der Vater eine Uhr, eine richtige Taschenuhr, die zerstöre sie dann, ziehe die Feder und die Schräubchen heraus und sei glücklich, wenn alle Bestandteile Stück für Stück vor ihr lägen. Der Alte habe mehrere Uhren, die er dann immer wieder zusammensetzen lasse, um der Tochter von neuem eine Freude zu bereiten, denn die Uhr müsse ticken; wenn sie nicht ticke, lasse das Mädchen sie unberührt. »Finden Sie nicht, Herr Baron, daß das eine lustige Art von Verrücktheit ist?« schloß der joviale Mann seinen Bericht.

Sylvester antwortete nicht und ging weiter. In seinem Quartier angelangt, forderte er seine Rechnung und bestellte für den Nachmittag einen Wagen. Sodann verabschiedete er den getreuen Adam, der mit der Post nach Dudsloch fahren sollte. Adam Hund war aufgeregt wie ein Bräutigam am Hochzeitsmorgen und sah aus wie ein lebendiger Beweis für die Hinfälligkeit aller Theorien. Er hatte seinem Weib ein silbernes Armband, einen buntgesprenkelten Schal, ein Paar Filzschuhe und ein halbes Dutzend roter Strümpfe gekauft, und mit diesen Gegenständen in seinem Rucksack dünkte er sich gegen alle künftigen Unbilden an seinem ehelichen Himmel gefeit. Sylvester zahlte ihm den vereinbarten Lohn und schenkte ihm außerdem noch zwanzig Taler.

Um drei Uhr rumpelte die plumpe Kutsche, die ihn nach Erfft bringen sollte, über das holprige Pflaster der Stadt. Plötzlich ergriff ihn eine sonderbare Ungeduld. Auf der kotigen Straße ging es so langsam vorwärts, daß er einigemal ausstieg und mit raschen Schritten weitereilte. Es dämmerte bereits, als er die Häuser von Erfft sah. An der Landstraße befand sich eine kleine Schenke; er befahl dem Kutscher, hierzubleiben und erst in einer halben Stunde nachzufahren, dann schlug er in der beginnenden Dunkelheit einen wohlbekannten Fußpfad ein.

Der Platz vor dem Haus lag öde. In den Stuben brannte noch kein Licht, auch im Flur war es noch finster. Er stieg die Treppe empor; kein Mensch war zu sehen, kein Laut zu hören. Am Ende des Gangs war Silvias Zimmer. Der Lichtschein im Schlüsselloch glich einem Stern. Da trat aus einer Tür zur Linken eine in der Dunkelheit nur umrissene Gestalt. Sylvester blieb stehen. »Bist du es, Agathe?« fragte er leise. Agathe stieß einen Schrei aus und klammerte sich an den Pfosten, als ob sie fliehen wollte und ihr der Weg abgeschnitten wäre. Die Tür von Silvias Zimmer wurde geöffnet und auf der Schwelle erschien Frau Österlein mit warnend erhobenem Finger. Ihr zum Flüstern schon bewegter Mund erstarrte, als sie Sylvesters ansichtig wurde. In dem breit auf den Flur fließenden Lampenlicht konnten Sylvester und Agathe einander in die Augen sehen.

Er reichte ihr die Hand. Stumm und kalt lag ihre Hand in seiner. »Wie geht es dir, Agathe?« Sie antwortete nicht. Matt deutete sie gegen Silvias Zimmer. Sylvester griff sich an die Stirn; fünf Schritte, und er stand vor dem beleuchteten Gemach. Frau Österlein wollte ihm den Eintritt verwehren, er schleuderte sie beiseite. Agathe folgte mit einem dumpfen Lächeln. Als Sylvester vor Silvias Bett auf die Knie gestürzt war und verzweifelt in die vom Fieber aufgeschwemmten Züge des Kindes schaute, als er die lieben, sinnlosen Worte, das erbarmungswürdige Röcheln vernahm, dem gebrochenen, heißen, suchenden, nicht erkennenden Blick begegnete, krampfte er die Hände in das Linnen und fühlte selbst den Tod, der diese Seele seiner Seele bedrohte. Eine Klage, ein Bekenntnis, ein Gelübde, ein irres Gebet, eine Forderung an Gott, ein zerknirschtes Hinsinken, Vermessenheit, die ein Schicksal leugnet, während es sich vollzieht, wie nichtig und niedrig empfand er es selbst, wie glich es dem Zappeln eines Tieres, das zertreten wird!

Agathe legte ihm die Hand auf die Schulter. Er verstand sie, erhob sich und ging hinter ihr aus dem Zimmer. Im Flur sagte sie: »Letzte Nacht glaubten wir schon, es sei aus mit ihr, da begann sie plötzlich zu schlummern. Heute mittag ist das Fieber mit doppelter Gewalt zurückgekehrt. Vorhin war der Doktor hier. Läßt das Fieber in einer Stunde nicht nach, so ist sie verloren.«

Der Inspektor und seine Frau hatten von Sylvesters Ankunft gehört. Sie kamen die Treppe herauf und begrüßten ihn.

Anderthalb Stunden lang saß Sylvester in seinem Zimmer. Um acht Uhr trat Agathe herein und sagte: »Sie schläft.« Sylvester war es, als löse sich ein um seinen Hals geschlungener Strick. Agathe sank in einen Sessel und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Ich bin müde,« flüsterte sie nach einer Weile, »ich habe seit vorgestern kein Auge zugetan. Auch du wirst müde sein. Gute Nacht.«

In seinem ganzen Leben hatte sich Sylvester nicht so allein gefühlt wie an diesem Abend in seinem eigenen Haus.


Das menschliche Dasein setzt sich aus Tagen zusammen, die Tage haben ihre Zeiten, jede der Zeiten hat ihr Erfordernis, Schlaf die eine, Arbeit die andere, Sättigung die dritte, und wer schlafen will, dem muß das Bett gerichtet werden, und wer essen will, dem muß Speise gekocht werden, und wenn nun zwei Menschen unter demselben Dach hausen, sind sie durch kleinliche Bedürfnisse aufeinander angewiesen, und meiden sie sich auch, so sind sie durch die Dinge gebunden; die Sorge des einen lastet auf dem Genuß des andern, das Böse, das zwischen ihnen liegt, wird zerstückt, das Gute, das sie suchen, in unerwartete Bahnen gelenkt, entschiedenes Gefühl bleibt nicht bestehen, der Blick verrät die Absicht, das Wort verdunkelt sie, körperliche Nähe gibt der Atmosphäre eine Beschaffenheit, welche Einfluß auf die Gedanken und Entschlüsse nimmt, und was mutig geplant war, endet in Zweifel und feigem Aufschieben.

Sylvester erfuhr dies. Er war gekommen, um ein Band zu zerreißen; nun umschlang dieses Band in hundert und aberhundert Windungen seine Glieder, und jeder Versuch, sich der Fesseln zu entledigen, erzeugte eine Wunde. Als Silvia wieder ihre Besinnung erlangt hatte und er an ihr Lager treten durfte, nachdem sie vorbereitet worden war, als das Kind ihn wie außer sich umhalste und dabei lachte und weinte und immer wieder sehen und greifen wollte, ob er es denn wirklich sei, wissen wollte, ob er sie noch lieb habe, ob er zu Hause bleibe und vieles sonst, was sie nur stammeln und schluchzen konnte, als ihre Händchen sich stets von neuem nach ihm ausstreckten, sobald er, um ihren Zustand zu schonen, Miene machte, sich zu entfernen, da begann er die Kette und die Wunden, die sie schürfte, zu spüren, und ratlos fragte er sich, was nun geschehen solle.

Kurz darauf kam Agathe in sein Zimmer. »Ich bitte dich nur um eines, Sylvester,« sagte sie; »das Kind darf vorläufig nicht ahnen, wie es um uns steht. Ich will auch nicht, daß zwischen uns etwas besprochen wird, ehe Silvia ganz gesund ist. Wenn wir bei ihr sind, es läßt sich nicht vermeiden, daß wir manchmal alle beide bei ihr sind, müssen wir uns sorgfältig hüten, ihren Verdacht zu erregen. Es würde sie vielleicht töten.« Nach diesen Worten entfernte sich Agathe wieder. Sylvester fragte sich verwundert: »Was meint sie? Was weiß sie? Will sie mir zu verstehen geben, daß sie es aufs Äußerste ankommen lassen wird und will sie mich mürbe machen durch Ungewißheit?«

Doch erstaunte er über ihre Haltung, über ihre Würde. Sie grüßten einander am Morgen, sie sagten einander Gutenacht am Abend, sie unterhielten sich kühl und friedfertig bei Tisch, sie lächelten einander zu, wenn sie an Silvias Bett saßen und spürten, mit wie angestrengter Aufmerksamkeit Silvia sie beobachtete, sie vermochten es sogar, über die durch Sylvester heraufbeschworene Schuldenkalamität sachlich zu verhandeln, und als der Major und seine Frau herüberkamen, um der Rekonvaleszentin einen Besuch abzustatten, spielte Agathe die Komödie einer Gattin, die ihrem Mann einen Fehltritt großmütig verziehen hat und mit ihm in neuen Flitterwochen lebt. Der Major war finster und zurückhaltend; man sah es ihm an, daß er eine Auseinandersetzung wünschte und sie diesmal nur um Agathes willen vermied; Martha war voll Spott über die vermeintliche Dummheit Agathes und zeigte Sylvester eine verächtliche Kälte.

Unzählige Male sagte sich Sylvester: »Ich ertrag es nicht mehr.« Aber es war etwas in Agathe, das ihn niederzwang und gefügig machte. Oft lag ihm ein Wort auf der Zunge, das sie nötigen mußte, ihm Rede zu stehen; es gefror und wurde wesenlos, ehe er den Mund öffnete. Heimlich ging er im Haus herum; heimlich pfiff er dem Hund und wanderte in den Wald; heimlich las er ein Buch; heimlich redete er mit dem Inspektor und gab Anordnungen und Befehle. Agathes rascher, kühner Schritt verfolgte ihn; es knarrten nachts die Dielen unter ihrem Schritt, und sie schlief doch. Unerbittlich schallte ihre tiefe Stimme. Ihr Auge war klar, der Blick fest. Niemals und mit keiner Gebärde rechnete sie auf sein Wohlgefallen und mit Strenge entäußerte sie sich alles dessen, was an weibliche Schlauheit, an weibliche Schwäche und an weibliche Sehnsucht erinnern konnte.

War sie zugegen, so vermochte er den Namen Gabriele nicht einmal zu denken. Der Name enthielt das Fremdeste und zugleich das Vertrauteste, ein auf einem geheimnisvollen Eiland geführtes Märchenleben, Glück und Verzicht, Schuld und Entbehrung. Er liebte sich selbst in diesem aus Herzensangst und Süßigkeit gemischten Gefühl. Sein Geist war in einem beständigen leichten Rausch; er glaubte zu spüren, daß er begehrt wurde, daß sie, die Ferne, mit ihren Träumen an ihm hing und er liebte sich selbst in ihren Träumen. Er sah ihre herrliche Gestalt im dunklen Kleid mit sanft verhaltenen Bewegungen: das junge Mädchen. Sie trauerte. Aber schon nahm die Welt sie auf, der sie angehörte, deren Geschöpf sie war durch ihre Kunst; schon vergaß sie den Mann, der an der Grenze zweier Lebensalter stand und sie um ihre Jugend und ihre Kunst betrügen wollte, vergaß ihre Leidenschaft für ihn, wie man einen Irrtum und die seine, wie man eine schöne Abendröte vergißt. Erste Liebe wählt nicht: das junge Mädchen ist die Kreatur des Liebenden. Kunst ist ein Moloch; sie frißt Seelen und läßt ihrem Opfer nur den Schein der Selbstbestimmung: die Sängerin geht zu den Menschen wie in der Sage die Schwanenjungfrauen in mondhellen Nächten ans Gestade gehen und verdammt und ausgestoßen werden, wenn man ihnen das Zauberkleid raubt.

Sylvester fing an, vieles als Gesetz und Notwendigkeit zu begreifen, was er kurzsichtig als Mißgunst des Geschicks beklagt hatte, und voll Resignation folgerte er, daß sein Leben nutzlos, überflüssig und verbraucht sei.

Eines Abends, es war ungefähr eine Woche nach seiner Heimkunft, saß er mit Agathe beim Nachtessen. Sie waren zum erstenmal allein bei Tisch; bisher hatte Agathe immer den Inspektor und dessen Frau eingeladen. Sylvester aß lustlos und in kleinen Bissen und fand das Beisammensein beklemmend. »Marquardt hat gestern eine Andeutung fallen lassen, daß Achim Ursanner nicht mehr in der Gegend weilt,« sagte er endlich; »das ist mir neu. Ich habe vergessen, den Inspektor deswegen zu fragen. Weißt du etwas Näheres?«

Agathe erzählte, wie sie vor einem Jahr Achim Ursanner besucht habe, wie sich aus einem Gespräch ein Freundschaftsverhältnis zwischen ihnen entwickelt, und wie er einmal im Sommer in Erfft gewesen; wenige Tage später sei das Anwesen in Randersacker abgebrannt und er habe ihr geschrieben. Den Brief wußte sie beinahe Wort für Wort auswendig.

Sylvester runzelte die Stirn. Es war der blanke Widerspruchsgeist, der ihn zu der Bemerkung veranlaßte: »Es scheint mir aber doch, daß der gute Achim ein wenig wie ein Schwärmer und Starrkopf gehandelt hat. Um mit den Menschen zu leben, muß man sich ihrer zu bedienen wissen, nicht aber sie durch kindischen Trotz in Teufel verwandeln.«

»Findest du?« antwortete Agathe ruhig. »Ich dagegen finde, daß er wie ein Mann gehandelt hat.«

Sylvester blickte jäh in ihr Gesicht. Das hatte messerscharf geklungen. »Es gibt vielerlei Arten, wie ein Mann zu handeln,« versetzte er abweisend.

»Nein; es gibt nur eine einzige.«

»Und die wäre?«

»Die ist: durch die Tat bekräftigen, daß außerhalb des egoistischen Wohlbefindens noch etwas anderes, etwas Höheres existiert.«

Sylvester zuckte die Achseln. Nach ein paar Minuten stand er auf, verbeugte sich höflich und ging in die Bibliothek. Er warf sich in den breiten Polsterstuhl und dachte über Agathes Worte nach. Er haßte sie, weil sie den Mut besaß, ihm dergleichen zu sagen; er haßte sie, weil diese ihre Äußerung einen so tiefen Eindruck auf ihn übte; er wäre gern zurückgegangen, um ihr zuzurufen: »Ich hasse dich,« wenn er nicht neben dem Haß etwas empfunden hätte, das ihn klein und befangen machte. Regungslos kauerte er einige Stunden hindurch. Plötzlich richtete er sich empor und rief laut: »Es muß noch heute geschehen. Für uns beide ist kein Raum in demselben Haus.«

Im Speisezimmer war es längst finster. Er hatte der Zeit nicht geachtet und wunderte sich, als er wahrnahm, daß die Mitternacht vorüber war. Da er aber den Augenblick benutzen wollte, der seinem Vorsatz den höchsten Schwung verliehen hatte, betrat er Agathes Schlafgemach, entschlossen, sie zu wecken. Er hatte eine Kerze angezündet und trug sie in der Hand. Als er die Türe geöffnet hatte, war er erstaunt, zu sehen, daß mitten im Zimmer ein gepackter Koffer stand. Agathe schlief fest. Ihr Gesicht war blaß, um die Lider war ein Zug von Müdigkeit. Sylvester zauderte. Er hatte stets Ehrfurcht vor dem Schlaf empfunden. Während er noch überlegte, fiel sein Blick auf den kleinen Schreibtisch und auf einen Brief, der, sicherlich kurz vorher geschrieben, noch offen dort lag. Er setzte sich hin und las: »Das Kind ist Gott sei Dank so weit, daß ich für mehrere Wochen zu Martha fahren kann. Bleibe so lange bei ihm, bis du selber Erfft wieder verlässest. Ich gebe dir die Freiheit. Ich hindere dich nicht, dir ein neues Leben zu schaffen, das deinen Hoffnungen entspricht. Ich sehe ein, daß ich dir nicht mehr genügen kann, und du mußt wissen, daß ich dir die Achtung nicht mehr entgegenzubringen vermag, ohne die eine Ehe zur Hölle wird. Laß dich nicht durch die Sorge um mein ferneres Glück oder Unglück beirren. Ich bin gesund und kräftig, und ein Ereignis, auf das ich solange vorbereitet war, kann mich nicht zerschmettern. Gehorche der Stimme deines Herzens. Möge es zum Segen für dich sein. Die innerlich vollzogene Trennung auch äußerlich in aller Form und tunlichst rasch durchzuführen, darf ich dich wohl bitten. Agathe.«

Sylvester las den Brief dreimal. Da hörte er ein Geräusch und wandte sich um. Agathe war erwacht und hatte sich, den Kopf auf die Hand gestützt, halb aufgerichtet. Schweigend blickte sie herüber; schweigend erwiderte er den Blick. Mit einer unwillkürlichen Bewegung zog Agathe die Bettdecke bis an das Kinn. Kein Vorspiel eines Lächelns war in ihrem Gesicht, aber auch kein Unwillen, kein Befremden, keine Frage, nichts als eine unbeschreibliche Ruhe. Sylvester stand auf, nahm die Kerze und sagte: »Gute Nacht, Agathe.« In ihm tobten die seltsamsten, einander feindseligen Gefühle, aber wenn man ihn auf die Folterbank gelegt hätte, um ihm ein Wort zu entpressen, er hätte nichts anderes hervorbringen können als dieses: »Gute Nacht, Agathe.«

In der Bibliothek griff er blind nach einem Buch. Es war die Bibel. Er schlug eine Seite auf und las unter den Sprüchen Salomonis: Bewahre dein Herz, denn aus demselben quillt das Leben.


Agathe war fort. Wenn Silvia sich nach ihrer Mutter erkundigte, wußte Sylvester nicht, was er sagen sollte, denn das Kind hatte ein Auge, vor dem sich schwer lügen ließ. Oft betrachtete sie den Vater so forschend, als sei sie von der Sicherheit der gegenwärtigen Umstände keineswegs überzeugt. Sie durfte schon aufstehen, mußte jedoch, des harten Winters wegen, das Zimmer hüten. Beim Erwachen war ihr erstes Wort der Vater, ihr letztes Lächeln am Abend war für ihn. Er spielte Kugel- oder Lottospiele mit ihr, oder er setzte sie auf sein Knie und erzählte ihr Geschichten, in denen zumeist von Piraten und Gespensterschiffen die Rede war. Sie hing an seinem Mund mit einem Entzücken, das nicht bloß der Geschichte galt; sie bewunderte seine Stimme, seine Art zu sprechen, seinen Blick und die Bewegungen seiner Brauen. Zartfühlend erriet sie auch jede Stimmung, in der sie ihm zur Last fiel; dann beschäftigte sie sich auf eigene Faust.

So verflossen anderthalb Wochen. Sylvester hatte während dieser Zeit viele Schreibereien, da er jetzt erst die Unordnung überblicken konnte, in die er die Wirtschaft gestürzt hatte. Er korrespondierte mit Agenten, mit Privatbanken, und mit einem reichen alten Onkel, der im Westfälischen lebte und war ernstlich bemüht, seine Torheiten wieder gutzumachen. Bei alledem war seine Lage so sonderbar, daß er immer die Empfindung hatte, er tue etwas ganz anderes als was er hätte tun sollen. Wartete Agathe nicht darauf, daß er fortging? War sie nicht seinem verwegensten Wunsch zuvorgekommen, indem sie ihm schenkte, was er ihr hatte abkämpfen wollen? Wie kam es, daß er blieb? Er begriff sich selber nicht. Zwang er sich zum Nachdenken, so fand er nur Ausflüchte. Eine solche Ausflucht war es, als er sich eines Tages sagte, es bedürfe, um dem unnatürlichen Schwanken ein Ende zu machen, noch einer Unterredung mit Agathe. Er schickte ihr durch den Gärtnerburschen einen Brief, welcher lautete: »Liebe Agathe! Morgen werde ich vierzig Jahre alt. Vielleicht ist dies der Grund eines Zögerns, das dir unerklärlich erscheinen mag. Der Kreuzweg, an dem ich im Solstitium meines Lebens stehe, stimmt mich wider meinen Willen feierlich. Ich kann deinen nächtlichen Brief nicht als einen Abschluß betrachten. Gib mir Gelegenheit, dich noch einmal zu sehen. Wir müssen als Freunde voneinander scheiden. Eine Existenz im Paradies wäre mir vergällt, wenn ich dich entfremdet wüßte. Ich schlage dir vor, daß wir uns morgen nachmittag in Dudsloch treffen, es ist ein neutraler Ort zwischen den feindlichen Lagern. Benachrichtige mich, ob du kommen wirst.«

Agathe trug dem Boten mündlich ihr Einverständnis auf.

Dudsloch war vier Kilometer von Eggenberg und sechs von Erfft entfernt. Es lag in ziemlich ebener Landschaft und war auf drei Seiten von Wäldern umgeben; im Südosten war das Maintal. Mehr eine Meierei als ein Gutshof zu heißen, bestand es nur aus einem einfachen Bauernhaus und einigen Stallgebäuden. Sylvester ritt nach dem Mittagessen hinüber und wurde von Adam Hund mit schwermütiger Herzlichkeit, von Frau Brigitte Hund mit einem mißlungenen Hofknicks empfangen. Frau Brigitte legte Gewicht auf repräsentative Manieren. Daß sie eine Megäre war, erkannte man an ihrer hohen Stimme und an ihrem sauersüßen Lächeln, von dem sie sich einbildete, es sei gewinnend. Adam sah herabgekommen aus; die große Welt, in der er verkehrt hatte, haftete noch an ihm wie, um in seiner eigenen bildhaften Sprache zu bleiben, ein Rosenblatt an einer Mistgabel. Während auf dem beschneiten Weg, der vom Strom heraufführte, Agathe sichtbar wurde, fragte Sylvester, ob die oberen Zimmer ordentlich durchheizt seien; er hatte am Morgen den Stallknecht eigens deshalb nach Dudsloch geschickt. Adam bejahte; man habe auch gründlich lüften müssen, denn die Räume seien so lange versperrt gewesen, daß die Atmosphäre dick und muffig geworden sei.

Davon war noch etwas zu spüren, als Sylvester und Agathe eintraten. Es waren zwei Zimmer, schmal und niedrig wie Käfige, mit gelbgetünchten Wänden und altväterischen Möbeln. Hier hatten sie, weil damals das Erffter Haus umgebaut worden war, die ersten Wochen ihrer Ehe verlebt. Alle beide schienen diese Erinnerung in ihrem Gesicht auszulöschen, als sich ihre Blicke begegneten.

Agathe legte Pelzmantel und Pelzhaube ab, strich ihre Frisur glatt, rückte einen der winzigen Lehnstühle zum Ofen und ließ sich darauf nieder. »Was willst du mir also sagen?« begann sie trocken.

Sylvesters Stirn verfinsterte sich. »Das ist eine ihrer Anwandlungen von hölzerner Verstocktheit,« dachte er ärgerlich. Nach einem Stillschweigen versetzte er, indem er ihr gegenüber Platz nahm: »Ich will dir sagen, daß ich … daß ich keine Freude an mir habe.«

»Warum nicht? Ist denn nicht alles in Erfüllung gegangen, was du begehrt hast?«

»Es ist nichts davon in Erfüllung gegangen.«

»Das tut mir leid. Jedenfalls liegt es nicht an mir, wenn deine Pläne fehlgeschlagen sind.«

»Doch, Agathe, an dir, nur an dir.«

»Ich verstehe dich nicht, Sylvester. Was für Opfer soll ich noch bringen?«

»Du willst mich nicht verstehen, Agathe. Ich habe dir ja geschrieben —«

»Du hast mir geschrieben, es sei dir unmöglich, im Bösen von mir zu scheiden. Du legst Wert darauf, daß wir Freunde bleiben. Was soll ich dazu sagen? Ich finde, daß du einen Luxus treibst, der etwas Imponierendes hat. Es genügt dir nicht, für die Befriedigung einer Laune den höchsten Preis zu zahlen, der bezahlt werden kann, du forderst auch, daß diejenige, die hauptsächlich die Kosten zu tragen hat, versichert, es sei nur eine Kleinigkeit, und man sei entzückt. Bin ich wie eine Kuh, die man melkt und auf die Weide treibt und wieder melkt und so fort, bis ans selige Ende?«

Sylvester verfärbte sich. »Jedes Wort, Agathe,« erwiderte er gepreßt, »jedes Wort ist Mißverständnis und Entstellung. Ich befriedige nicht eine Laune, ich habe das Unglück gehabt, eine Katastrophe zu erleben; ich wage kaum, darüber zu sprechen. Meine Stimme versündigt sich an meinem Gefühl. Ich habe nichts zu beichten. Ich liebte ein wundersames Menschenwesen; ich liebte und wurde geliebt. Es war Verkettung von Anfang der Welt her. Hättest du mich in einen steinernen Sarg gemauert, ich hätte ihn zerbrochen und sie gefunden. Ich fand sie, und als ich sie gefunden hatte, verlor ich sie. Ich konnte dich nicht vergessen, Agathe. Wir beide konnten dich nicht vergessen. Was zwischen ihr und mir vorgefallen ist, dürfte ich meiner Tochter erzählen. Du warst so gegenwärtig, wie du es jetzt nicht einmal bist, so mächtig, daß ich vor dir zitterte und wenn wir beieinandersaßen, dachten wir an dich, und unsere Liebe wurde zum Raub an dir. An einem solchen Tag ging sie, und ich habe sie nicht wieder gesehen.«

Agathe senkte den Blick und antwortete lange nicht. »Ich wußte es,« sagte sie endlich wie zu sich selbst, »es ist so, es ist genau wie du es schilderst. Aber was war vorher, Sylvester, ehe du zu ihr kamst? Vorher hast du doch mich und dich, und dein Kind und auch sie, die Geahnte, an alles Niedrigste der Welt verraten? Hab' ich unrecht?«

Sylvester zuckte zusammen. »Ja, es war so,« gestand er zögernd, »ich will es nicht leugnen. Aber wozu die dunklen Labyrinthe aufdecken, in denen die Tiernatur ihre Feste feiert? Ich verteidige mich nicht, Agathe. Wenn du mich anklagst, hast du mich schon gerichtet.«

»Ach, Sylvester, Mann, Mensch,« rief Agathe bewegt, »das wollte mich alles nicht so kränken, wenn du nur offen gewesen wärest, nicht so schief, so verhehlt. Hatte ich mir nicht wenigstens deine Offenheit verdient?«

»Es war nicht Unoffenheit, Agathe. Ich wollte dich nicht hinunterziehen in die — Labyrinthe. Und dann, du warst mir plötzlich so fremd geworden als Weib und zu vertraut als Mensch. Ich war in Gefahr, dich auf andere Weise zu verlieren, wenn ich nicht die Flucht ergriffen hätte. Was man auch Tiefsinniges über die Ehe sagen mag, zuletzt ist sie eine Angelegenheit der Nerven. Das Beste was sie sein kann, ist eine schicksalsvolle Freundschaft zwischen Menschen, die einander nicht stören. Wer mehr von ihr erwartet, belügt sich und wird grausam enttäuscht.«

»Die bunten Gläser, durch die ich einst unser Leben betrachtet habe, sind mir schon lange aus der Hand geschlagen worden,« sagte Agathe bitter.

»Das Unheil der Ehe besteht darin, daß sie vieles zur Pflicht macht, was freie Gabe sein soll,« erwiderte Sylvester. »Wird dadurch nicht jede Gabe verdächtigt, jede Pflicht in Fron verwandelt? Der Anspruch auf Beständigkeit erzeugt Abtrünnigkeit, der Anspruch auf Treue Untreue. Sie legt dem stolzen Mann Fallen, die ihn erniedrigen, und wie soll er aufrichtig sein, wenn er fürchten muß, daß Aufrichtigkeit ein Verhältnis zerstört, das ihm trotz alledem unentbehrlich ist? Denn hier ist etwas Mysteriöses, wovor meine ganze Weisheit verstummt,« fuhr er grüblerisch fort; »ich hatte geglaubt, ich sei nur deshalb zurückgekommen, um mit deiner Einwilligung von dir wegzugehen. Ich kann aber nicht von dir weg, Agathe. Das ist es eigentlich, was ich dir sagen wollte.«

In Agathes Gesicht zeigte sich eine kaum merkbare Erhellung, als ob ein feiner Schleier abgerissen würde. »Wie kannst du denn bei mir bleiben mit der andern im Herzen?« entgegnete sie. »Sie würde dir immer engelhafter und ich immer unzulänglicher erscheinen. Eine solche Rivalität zu ertragen, ist keine Frau fähig. Ich denke, du bist jetzt nicht stark und ehrlich, sondern schwach und gutmütig. So schön eine Brücke ist, so schauderhaft sind mir Notbrücken, besonders wenn sie über stürmisches Wasser führen. Nein, nein, Sylvester, geh du nur hinüber ans andere Ufer; ich bleibe hier, wir wohnen ja doch nicht mehr im selben Land.« Sie zog ihr Taschentuch, um es an die feuchten Augen zu bringen, besann sich aber in einer Regung des Trotzes und drückte es auf den Mund.

»Dann habe ich mich allerdings furchtbar geirrt,« sagte Sylvester. Von allem, was ihm hätte widerfahren können, war ihm das standhafte Sträuben Agathes, das er anfangs dem Gefühl verletzter Würde zugeschrieben, das Unerwartetste. Daß sie ihn liebte, ihn allein, bedingungslos und ohne die Denkbarkeit eines Aufhörens, daran hatte er nicht im mindesten gezweifelt. Ihre Liebe war ihm so selbstverständlich gewesen wie die Luft, die er atmete; er hatte niemals die Möglichkeit erwogen, daß dieser Schatz an Liebe, den er in seltsam gleichgültiger Gewißheit für unerschöpflich gehalten, vergeudet werden könne; wie ein gesunder Körper seine inneren Organe nicht spürt, so hatte er die Kraft und Ausdauer dieser Liebe als etwas Gesetzmäßiges und ein für allemal Geregeltes hingenommen. Die Einsicht, daß dem nicht so war, weckte ihn förmlich auf; er begann anders zu sehen und zu hören; plötzlich erblickte er in Agathe ein Weib, das sich ihm versagte. »Was soll nun werden?« fragte er stockend, »willst du es nicht mehr mit mir versuchen?«

»Du bist Herr in deinem Haus, und ich kann unser Kind nicht im Stich lassen, also muß ich mich deinem Beschluß fügen,« antwortete Agathe hart, und ohne auf Sylvesters beschwörende Gebärde zu achten, sprach sie weiter: »Versuchen? Was heißt das? Du traust mir eine Überlegenheit zu, die ich nicht besitze. Ich bin nicht rachsüchtig, aber ich kann nicht hindern, daß das Erlittene auf mein Gemüt wirkt. Ich glaube nicht mehr an dich, Sylvester. Liegt dir an Verzeihung? Gibst du mir ein Recht, gibt es überhaupt ein Recht zu verzeihen? Dann habe ich dir verziehen seit dem Tag, an dem du kamst. Aber ich glaube nicht mehr an dich. Gern will ich zugeben, daß es von tiefer Bedeutung für dich war, was du erlebt hast. Aber gerade daß du es erlebt hast und daß es eines solchen Erlebnisses bedurfte, um dich zu beflügeln und deiner Seele Schwung zu geben, das macht dich klein in meinen Augen, weil etwas so Unreifes, etwas so Spielerisches und etwas so Zuchtloses darin liegt. Wenn ich dir weh' tue, so vergib; ich mußte es sagen, und ich bin froh, daß es nun gesagt ist.«

»Was aber müßte geschehen, damit du den Glauben an mich wieder gewinnst?« fragte Sylvester tonlos.

»Was geschehen müßte? Ich weiß es nicht. Oder vielleicht doch. Vielleicht müßtest du — es ist schwer, das auszudrücken; ob du mich nur recht verstehst — vielleicht müßtest du Achim Ursanners würdig werden.«

»Achim Ursanners würdig? Wie meinst du das?«

»Es ist mein Gefühl so. Ich finde kein anderes Wort dafür.«

Sylvester erhob sich und ging im Zimmer umher. Es dämmerte schon, und das blaue Schneelicht wurde violett. Die Stille war so groß, daß das Knistern der draußen von den Zweigen fallenden Flocken hörbar war.

»Willst du nicht gleich jetzt mit mir nach Erfft gehen?« wandte sich Sylvester an Agathe. »Martha kann ja deine Sachen morgen hinüberschicken, und Silvia freut sich, wenn du kommst.« Er war bemüht, seiner Haltung und seiner Stimme Ungezwungenheit zu verleihen, jedoch es gelang ihm nicht. Agathe stand ebenfalls auf, sah ihn forschend an und nickte.

Sylvester verabschiedete sich vom Ehepaar Hund. Sein Reitpferd ließ er in Dudsloch und sagte, er werde es am nächsten Tag holen lassen. Dann folgte er Agathe, die vorausgegangen war.

In einem ununterbrochenen Schweigen wanderten sie durch den Winterabend nach Hause.


Mit Hilfe eines mäßig zu verzinsenden Darlehens, das der Major gab, und der Summe von zwanzigtausend Talern, die der westfälische Onkel vorstreckte, brachte Sylvester seine zerrütteten Finanzen einstweilen in Ordnung. Er hatte mancherlei Pläne im Kopf, wollte eine Winzerschule gründen, Dudsloch in eine Zuchtanstalt für Mustervieh umwandeln, studierte die Fachzeitschriften wegen Ankaufs neuer landwirtschaftlicher Maschinen und beschäftigte sich nebenbei wieder mit seiner Liebhaberei für die Gartenkunst. Er war sechs bis acht Stunden während des Tags im Freien, und sein Trachten war, am Abend so müde zu sein, daß er nicht mehr denken konnte.

Wie vor der Unterredung in Dudsloch sah er Agathe nur bei den Mahlzeiten. Sie war freundlich, oft sogar gütig, er hingegen wortkarg und unstet. Wenn Agathe vom Tisch aufstand, blickte er ihr bisweilen wunderlich bittend nach. Es kam vor, daß sie allein in den Wald spazieren ging; beunruhigt folgte er ihr von weitem, versteckte sich hinter Buschwerk, wenn sie umkehrte und war erst zufrieden, wenn er sie wieder in der Nähe der bewohnten Stätten wußte. Einmal blieb sie auf einer Lichtung stehen, schaute zurück und sah ihn, der eben in die Lichtung hinaustrat. Sie wartete, bis er herangekommen war und fragte, ob er zufällig denselben Weg gegangen sei. Er bejahte.

Es war Ende Februar, einer jener milden und tückischen Tage, an denen die ganze Natur um den Frühling zu ringen scheint. Da war es Sylvester, als müsse er von Gabriele sprechen, und er erzählte der stumm lauschenden Frau die Geschichte seiner Liebe mit allen Einzelheiten. Nachdem er dies getan hatte, setzte er sich auf einen Baumstumpf und bat Agathe, sie möge allein nach Hause gehen. »Ach du,« murmelte er verstört, als sie fort war, »du Hochmütige, du Selbstgewisse, du Quälerin, du Zuschauerin. Ließest mich erzählen, zu Ende erzählen, damit es auch wirklich zu Ende sei. Nun ist es zu Ende.« Er blieb sitzen, bis die Nacht anbrach.

Hypochondrie trat in seinem Wesen immer stärker hervor.

Sylvester gehörte zu jenen Männern, die mit zunehmenden Jahren vereinsamen. Er war der Freundschaft fähig gewesen wie wenige, und er hatte seine Freunde einen nach dem andern verloren. In jede solche Beziehung hatte er Ideen und Ideale getragen, und jede war eben daran gescheitert. Er setzte seine Person zum Pfand und wurde mit Almosen abgespeist. Mit der Zeit begriff er, daß nichts in der Welt ärmer macht als Freundschaft zu suchen. Er brauchte geistige Zärtlichkeit, brüderliche Übereinstimmung, und da er zu viel Scharfblick und Menschenkenntnis hatte, um sich mit Surrogaten zu begnügen, wirkte er herrschsüchtig und launenhaft, wo er in seinen Erwartungen enttäuscht wurde. Sinnliche Naturen geraten leicht in einen Zustand der Unbefriedigung, auch der Gesellschaft gegenüber, und die Sylvester eigene Empfindlichkeit war die Ursache, daß er die Menschen gerade dann am meisten abstieß, wenn ihn der Menschenhunger zu ihnen trieb. Er erkannte zu spät, daß er unter einem Geschlecht lebte, welches sich vor der Hingebung fürchtete und dem der Adel des Herzens fehlte. Er fand fast alle Männer nüchtern, leer, gemütsroh und hoffnungslos banal; so hatte er sich an die Frauen gewandt, als ob die Frauen einen glücklicheren Kontinent des Lebens bewohnten; hier halfen ihm Phantasiespiele, und während er eroberte, hatte er die Illusion, zu besitzen. Auch dies war nun vorüber, denn sein Haar zeigte graue Fäden.

Im Lauf des Frühjahrs machte er häufig Besuche in der Nachbarschaft. Er langweilte sich tödlich und kam jedesmal verstimmt nach Hause. Agathe billigte die Urteile nicht, die er über die Leute fällte; sie erinnerte sich des einen als eines anständigen Kaufmanns, des andern als eines verdienten Beamten, des dritten als eines opferwilligen Familienvaters, und die Erbarmungslosigkeit, mit der er Gericht hielt, verletzte sie. Ihm war jeder fremde Mensch ein Feind, ihr war jeder Mensch ein Mensch.

Sie gab Sylvester verloren. Sie sah keinen Weg, wie er sich retten könne. Sie hütete sich aber, ihm ihre Verzweiflung zu zeigen. Oft war ihr zumute, als hielte sie den Mann mit äußerster Anstrengung ihrer Kraft und als müsse er fallen, wenn sie nur mit einem einzigen Gedanken von ihm abließ. Was sie von ihm erwartete, darüber hatte sie nicht die geringste Klarheit, dennoch wußte sie, daß die Glut, mit der sie eine geheimnisvolle Forderung an ihn stellte, nur durch die Erfüllung gelöscht werden konnte. Eher hätte sie ihren Leib hinsiechen lassen, als daß sie einem Anruf der Sinne nachgegeben hätte, um in den schwächlichen, unreinen und ungesicherten Zustand eines Scheinglücks zurückzukehren. Kein körperliches Leiden, seines nicht, das ihn heftig, finster und reizbar machte, und ihres nicht, das hinter einer Schutzwehr von instinkt- und charaktervoller Kälte verborgen war, konnte sie beirren.

Eines Morgens, als Sylvester bei Silvia im Zimmer saß und sie in französischer Grammatik unterrichtete, wurde ihm ein Brief überbracht. Beim Anblick der Schriftzüge auf der Adresse verfärbte er sich, erhob sich sogleich und ging in die Bibliothek. Bebend öffnete er den Umschlag und las:

»Mein teurer Freund! Ich vermute Sie bei den Ihren zu Hause und hoffe, daß dieser Gruß aus weiter Ferne Sie erreicht. Seit sieben Wochen fahre ich hier in Amerika von Stadt zu Stadt, und es ist mir alles so fremdartig, als sei ich nicht ich selbst, und was ich mit den Menschen spreche und wie ich lebe erscheint mir wie etwas Ausgedachtes und Unnatürliches. Bevor ich von England abgereist bin, habe ich mich mit dem Viscount Horace Darrington versprochen, aber wir werden erst heiraten, wenn er von Indien zurückkommt, und das dauert zwei Jahre. Nach diesen zwei Jahren werde ich aufhören zu singen. Ich bin nicht gerade müde; freilich, des Beifalls bin ich müde, der Zudringlichkeit und der Neugier auch, und bange wird mir manchmal bei dem Gedanken, daß ich jeden Abend in ein anderes Bett mich legen soll. Aber es ist nicht das, was meinen Vorsatz, der Öffentlichkeit Adieu zu sagen, erzeugt hat und immer stärker werden läßt; es ist das Gefühl, daß ich gegeben habe, was ich zu geben vermochte und daß alles übrige nur Fertigkeit und höchstens Kunst ist. Heute noch treibt mich eine unbekannte Gewalt, es ist als ob ich etwas verkündigen sollte, morgen vielleicht ist es kein Befehl mehr, sondern bloß Gewohnheit, und das Heilige wird zum Hokuspokus. Heute noch beten und morgen leiern? Das ist meine Sache nicht; wenn mich nicht mehr die Andacht erfüllt, bin ich ein verlorenes Wesen, ein heimatloses Weib und muß vom Leben erbetteln, was die Kunst einem Weib nie und nimmer gewähren kann. Nun weiß ich ein Haus für mich und einen Hüter darin, und was gewesen ist, bleibt in seiner Schönheit bestehen. Ich habe das empfunden, als wir noch beisammen waren; ohne Sie wäre ich blind hingegangen zu der Grenze; in dieser Minute träumend, in der nächsten schon erwacht, hätte ich keinen Weg mehr gesehen und unbefriedigt, mich selbst verkennend, immer wieder zum Traum zurückgewollt. Was könnte ich Ihnen außerdem noch sagen in den armseligen Worten, die ich habe? Vergessen kann ich nicht und wünsche auch nicht, daß irgend etwas hätte anders geschehen sollen. Ich möchte Sie leicht und Ihr Auge hell und Ihr Herz klingend machen, und mir ist, als könnte ich nur glücklich werden, wenn Sie es sind. Man braucht Kraft und Reinheit, um glücklich zu sein, um eins mit sich selbst zu sein. Meine Seele ist voll von Dank für Sie, und ich möchte für das Wort Freund ein noch nie gehörtes Wort finden, damit Sie spüren, wie Sie in und mit mir leben. Schreiben Sie mir nicht, antworten Sie nicht. Es wäre zu früh, es wäre zu wenig Fügung, zu viel Mahnung.

Ihre Gabriele.«

Nachdem Sylvester den Brief gelesen, verließ er das Haus und kehrte erst spät in der Nacht wieder heim.

Sein Dasein erschien ihm nun noch weit zerstückter, und er warf einen Tag um den andern gleichsam weg und zum voraus weg. Ein Aufruf der liberalen Partei erregte flüchtig sein Interesse, er besuchte auch eine Versammlung in Würzburg, aber dann sagte er zu Agathe, die auf dieses Emporraffen in ihm einige Hoffnung gesetzt hatte und nun ihre Enttäuschung kaum verbergen konnte, die Leute seien ohne politische Disziplin, hätten keinen Begriff davon, was dem Lande wirklich nützen könne, und ihr Treiben ekle ihn an.

Bei alledem fühlte er doch, eben was das nationale Leben betraf, eine eigentümliche Spannung in der Luft. Man atmete wie in einem abgeschlossenen schwülen Zimmer, wo man unwillkürlich auf Dinge lauscht, die draußen vorgehen und unwillkürlich Furcht empfindet bei jedem Tritt und jedem Flüstern. Gerüchte schwirrten auf und wurden wieder erstickt. Die einen wollten nicht glauben, die andern hielten sich die Ohren zu. Handel und Gewerbe stockten, und die Börsenkurse zeigten beunruhigende Schwankungen. Männer, die sonst den öffentlichen Angelegenheiten ohne Teilnahme gegenüberstanden, richteten den Blick besorgt auf die Geschehnisse, deren Entwicklung noch ganz im Dunkel verborgen war. Auch Sylvester ertappte sich bisweilen in der Ungeduld eines Zuschauers, der im Theater vergebens darauf warten muß, daß der Vorhang hochgezogen wird.

So kam der Sommer. Eines Tages war der Major zu Tisch in Erfft; nach dem Essen, man hatte über allerlei geredet, sagte er zu Sylvester: »Mein lieber Schwager, wir müssen auf große Dinge gefaßt sein. Es gibt Krieg.«

Sylvester lächelte spöttisch. »Du bist ein so unverbesserlicher Patriot, daß dir ein Zeitungsgeschwätz schon wie Kanonendonner klingt,« antwortete er.

»Na, wir werden sehen,« meinte der Major, »wir werden ja sehen. Übrigens steht in den Zeitungen gar nichts, ich habe nur so meine privaten Nachrichten. Der preußische Gesandte in Paris hat schon vor acht Monaten nach Berlin geschrieben: die Luft riecht nach Pulver. Ich habe viel gegen Bismarck einzuwenden, aber das muß man schon sagen, der Mann versteht seinen Kopf aufzusetzen und wird sich nichts gefallen lassen. Die Franzosen sind teuflisch übermütig geworden und der Kaiser Napoleon sitzt auf einem wackligen Thron, deshalb will er seine Untertanen beschäftigen.«

»Geh mir doch, mein Lieber,« erwiderte Sylvester, »deine Politik schmeckt nach der Stammtischkneipe.«

»Und wenn auch Krieg entstünde,« warf Agathe mit ernster Miene ein, »wie kann man sich über ein so ungeheures Unglück freuen?«

»Verstehst du nicht, warum ich mich freue, Schwägerin?« rief der Major mit einer jungenhaften Begeisterung; »wir werden sie verhauen, die Kerle, wir werden sie windelweich verhauen.«

»Aber du doch nicht,« sagte Agathe lächelnd.

»Nein, ich nicht,« seufzte der Major, »für mich alten Krüppel ist an so was nicht zu denken. Sylvester hingegen, der kann noch seinen Mann stehen.«

Agathe heftete die Augen erschrocken auf ihren Gatten. Sylvester runzelte die Stirn. »Ich befinde mich nicht mehr im Dienstverhältnis zur Armee,« bemerkte er kühl, »und dann würde sich's ja wahrscheinlich um einen Krieg gegen Preußen handeln.«

»Preußen?« fuhr der Major auf, »Himmel und Wetter, mir scheint, er weiß nicht einmal etwas von einem Schutz- und Trutzbündnis. Wenn es losgeht, geht's gegen uns alle, darauf kannst du dich verlassen, und alle werden zusammenhalten, darauf verlaß dich ebenfalls. Wen's juckt in der Faust, der schlägt zu. Den Ofenhockern, na, denen wird eingeheizt.« Er lachte mokant und zündete mit zitternden Fingern seine Pfeife an.

Agathe hielt es für geboten, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

Drei Wochen später, an einem schwülen Julinachmittag, kam der Inspektor Marquardt in großer Erregung aus Würzburg zurück. Er brachte die Extraausgabe einer Zeitung mit, welche die Kriegserklärung enthielt. Das Blatt ging durch alle Hände, und bald standen Männer und Weiber im Hof und disputierten mit bestürzten und feierlichen Gesichtern. Silvia hatte sich in der Wohnung der Inspektorin befunden. Sie lief zu ihrer Mutter ins Haus. Agathe saß am Klavier. »Mutter, die Franzosen kommen,« schrie das Kind mit aufgerissenen Augen. Agathe stand auf, schaute Silvia erstaunt an und trat ans Fenster. Der Inspektor gewahrte sie. Seine Mütze war in den Nacken gerutscht, die schweißtriefenden Haare hingen ihm in die Stirn. »Gnädige Frau,« rief er, »es wird Krieg! Hurra! Es lebe der König!« Ohne besondere Überschwenglichkeit stimmten einige Knechte in das Hoch mit ein. Nur der rothaarige Gärtnerbursche, der unlängst rekrutiert worden war, tanzte wie ein Indianer und klatschte in die Hände.

Sylvester war nach Kitzingen geritten. Abends um sieben Uhr kam er. Er wußte die Neuigkeit schon. »Überall herrscht großes Entzücken, auch bei den Bauern,« sagte er zu Agathe. »Das Volk ist wie toll. Es überrascht einen doch, so viel überschüssige Lebenskraft wahrzunehmen. Ich hätte es nicht gedacht.« Während der Mahlzeit blieb er einsilbig, und als die Lampe gebracht wurde, las er einen Roman von Balzac. Agathe saß am Fenster. Sie war tief in Gedanken versunken.

»Glaubst du, daß Achim Ursanner im französischen Heer weiterdienen wird?« fragte sie plötzlich.

Sylvester schaute zerstreut empor. »Es ist wohl möglich,« gab er zur Antwort.

»Er, der deutscheste Deutsche!« flüsterte Agathe beklommen.

Der Ausdruck in Sylvesters Zügen wurde gesammelter. Wachsende Unruhe umflorte seinen Blick. »Ja, hier hat das Fatum einen unentwirrbaren Knoten geschürzt,« entgegnete er, fühlte aber, wie matt und künstlich die Floskel klang.

Agathe schwieg.

Die Nacht war so heiß, daß Sylvester, im Bette liegend, nicht einschlafen konnte. Die Uhr in der Bibliothek schlug zweimal, als er sich erhob und seine Kleider anzog, um in den Garten zu gehen. Der Himmel war prachtvoll bestirnt, und auf dem Rasen glänzte der Tau. Die andächtige Stille der Natur berührte ihn schmerzlich, wenn er des Schlachtens gedachte, das morgen, übermorgen beginnen und, wer konnte es wissen, vielleicht auch das friedliche Gefild um ihn her mit Blut düngen würde. Ihn schauderte.

Doch wie er so vor sich hinging, wollte es ihm scheinen, als ob jetzt nicht die Zeit für wehleidige Betrachtungen sei. Es wollte ihm scheinen, daß hier eine große Fügung auf große Empfindungen rechne. Es wollte ihm scheinen, daß dabei die gegründetste Überlegenheit des einzelnen verklauselte Flucht, daß jedes Messen und Erwägen zum Laster der Trägheit wurde. Die Ruhe der Nacht versetzte seinen Geist in eine wunderbare Schwingung. Er spürte den Enthusiasmus so vieler Millionen, spürte, daß sich sein Gemüt der Absonderung begab, um an der allgemeinen Entflammung teilzunehmen. Er hatte kein Recht mehr für sich allein, er hatte nur noch das Recht aller. Seine Augen begannen in der Dunkelheit zu leuchten. Seit langem war ihm nicht mehr so wohl ums Herz gewesen.

Im Bogen um das Orangeriegebäude schreitend, sah er eine weiße Gestalt auf einer Bank sitzen. Es war Agathe. Sie blickte kaum auf, als er sich näherte. Er setzte sich neben sie. »Hat es dich auch herausgetrieben?« fragte er.

Sie seufzte bloß.

»Hör' zu, Agathe,« fuhr er fort, »ich werde morgen nach Erlangen fahren.«

»Nach Erlangen? Aus welchem Grund?«

»Um mich bei meinem Bataillon zu stellen.«

»Du willst —? Sylvester!« Es war ein halb klagender, halb jubelnder Aufschrei. Sie preßte das Gesicht schluchzend in die rechte Hand, die bebende Linke reichte sie ihm. Als sie sich ausgeweint hatte, gingen sie Hand in Hand ins Haus.


Am andern Morgen hatte Sylvester noch vielerlei zu erledigen. Er schrieb sein Testament und traf umsichtige Vorkehrungen wegen der Wirtschaftsleitung. Um elf Uhr kam der Major und war sehr ergriffen, als er hörte, daß Sylvester ins Feld zog. »Es rinnt eben doch ein guter Saft in seinen Adern,« sagte er zu Agathe, die still und bleich dastand; »sein Großvater ist Anno dreizehn bei Leipzig gefallen. So etwas hält nach.«

Der Wagen, der ihn zum Bahnhof bringen sollte, war schon vorgefahren. »Wo ist Silvia?« erkundigte sich Sylvester. Da erschien das Kind mit einer Rose, die sie dem Vater gab. Die hellen Tränen liefen über ihre Backen, aber beim Abschied nahm sie sich heldenmütig zusammen. Agathe wurde immer bleicher. Sylvester umarmte sie, dann fiel sie dem Major ohnmächtig an die Brust. Die Leute vom Gut grüßten ihren Herrn schweigend und voll Ehrerbietung. »Ich weiß gewiß, daß der Vater wieder kommen wird,« sagte Silvia mit gefalteten Händen. Als die Kutsche sich in Bewegung gesetzt hatte, schaute Sylvester noch einmal aus dem Schlag.

Die Züge hatten große Verspätungen, und so langte Sylvester erst am Abend in der Garnison an. Nur mit Mühe fand er in einem Weinwirtshaus Unterkunft. Es war ein Treiben in dem Städtchen, als ob Jahrmarkt wäre. Allenthalben war Musik und Gesang, doch sah man nirgends einen betrunkenen Menschen.

Um sechs Uhr morgens ging er zur Kommandantur und dann auf die Kanzlei des Jägerbataillons. Er war als Sekondeleutnant aus dem aktiven Dienst getreten und wurde in dieser Charge wieder eingereiht. Die Kerntruppe war schon ins Feld gerückt und alle Räume der Kaserne waren voll von Rekruten und Freiwilligen. Beim Exerzieren merkte Sylvester zu seinem Schrecken, wie steif seine Glieder und wie verrostet seine Gelenke waren. Der nächste Truppenabmarsch sollte erst in zehn Tagen stattfinden; bis dahin mußten die jungen Mannschaften eingeschult sein, und die Übungen erschöpften den verweichlichten Körper Sylvesters so sehr, daß er seine ganze Willenskraft nötig hatte, um sich aufrecht zu erhalten. Nicht geringere Überwindung kostete es ihn, den schlechten Geruch in den Stuben, den beständigen Lärm und die beständige Nähe vieler Menschen ertragen zu lernen.

Am fünften Tag schickte ihm Agathe mit einem ihrer Briefe ein Schreiben Adam Hunds. Adam gab darin seinen Vorsatz bekannt, daß er dem Beispiel seines Herrn folgen wolle. »Wo der Herr Baron stirbt, will ich auch sterben,« schrieb er; »ich habe bei den sechsten Jägern gedient wie der Herr Baron. Man wird einen alten Landwehrmann nicht abweisen. Der Krieg ist meine einzige Hoffnung. Wenn mich keine Kugel trifft, bleibe ich Soldat. Denn zwischen mir und meinem Weib steht es dermaßen übel, daß ich keinen Spaß mehr an diesem Leben finde. Ich bin ziemlich sicher, daß mich die elende Kreatur betrügt. Sie hat es mit dem Sohn eines Großbauern. Ich möchte wissen, was dem dummen Teufel an ihr gefällt. Mein Gott, zu all dem Jammer noch die Schande! Da kann nur das Vaterland helfen. Des Himmels Strafe über sie. Ich ziehe von dannen. Bin ich ein gehörnter Ehemann, schön, so werde ich ein um so besserer Schütze sein.«

Wenige Stunden später begegnete ihm Sylvester in der Kantine. Er war schon eingekleidet und sang mit den andern, wennschon nicht ohne Gravität, kampflustige Lieder. Sylvester drückte ihm lächelnd die Hand.

An dem Morgen, an dem die Abteilungen endlich zum Bahnhof marschierten, verbreitete sich die Nachricht von einem großen Sieg der deutschen Armee. Der Eisenbahnzug, der von Nürnberg kam und über Würzburg nach der Pfalz fahren sollte, war mit Infanterie besetzt. Sylvester überlegte, ob er an Agathe telegraphieren solle, damit er sie in Würzburg sehen könne; er unterließ es jedoch, um nicht abermals Trennungsweh hervorrufen und empfinden zu müssen.

Auf den Stationen wurden Einzelheiten über die stattgefundene Schlacht erzählt. Es wurde von zehntausend Toten gesprochen. Sylvester stellte sich diese Zehntausend vor, wie sie in unabsehbarer Kette dalagen. Er vermochte nicht zu glauben, daß nur seine Phantasie allein so tätig war; er zweifelte an der Ehrlichkeit einer Kampfbegier, die den Tod so nahe fühlen mußte. Er hielt es nicht für Mut, die Augen zu schließen und die bangen Fragen der Seele durch Liederbrüllen zu betäuben; er hielt es für Mut, zu wissen und zu zittern und des Wissens und Zitterns Herr zu werden. Unter den Offizieren gewahrte er viele sinnende und ernste Gesichter. Manche hatten die Lippen in einer Weise geschlossen, als seien sie nicht darüber im unklaren, was es heißen wollte, jung zu sterben. Zu ihnen fühlte sich Sylvester am meisten hingezogen. Aber auch unter den Mannschaften erregten viele seine Sympathie, die bei aller Tapferkeit der Haltung sich mit innerlichem Grauen von der Sonne bescheinen ließen.

Auf der letzten Pfälzer Bahnstation wurden die Truppen auswaggoniert. Einige Abteilungen, die gegen Metz ziehen sollten, setzten sich gleich in Marsch. Die Jäger mußten stundenlang warten, bis der führende Hauptmann genaue Ordre erhalten hatte. Das Bataillon befand sich bei der Maaßarmee. Es war schon gegen Abend, als die Kolonne den freundlichen Ort verließ. In einem Dorf mit vielen verbrannten Häusern war Nachtrast.

Während der folgenden Tage regnete es unaufhörlich. Am Rand eines Waldes sah Sylvester den ersten Toten. Es war ein französischer Franktireur. Die Kleider über der Brust waren offen; er trug feine Wäsche. Er lag in einem Reisighaufen und hatte ein Stückchen Schokolade in der blutigen, starren Hand. Ferner Geschützdonner war vernehmbar. Die Atmosphäre war eigentümlich rauchig. Auf einem Wiesenhang wurde eine Viehherde von preußischen Musketieren geweidet. Ein bebrillter Unteroffizier, der vielleicht unlängst auf einem Katheder gestanden, hatte die Aufsicht. Im Graben an der Chaussee lag mit gläsernen Augen ein erschossenes Pferd. Eine Eskadron Kavallerie sprengte vorüber. Im nächsten Quartier erhielten sie Nachrichten von der furchtbaren Schlacht bei Mars-la-Tour. Da wurde manchem das Herz enger. Sylvester überraschte einen Jäger, wie er ein Amulett, das er auf der Brust trug, hervorgezogen hatte und betrachtete.

Je weiter sie ins feindliche Land kamen, je widerspenstiger und gehässiger wurden die Bewohner. Das Requirieren der Nahrungsmittel erwies sich als schwierig, und der Hunger zwang die Soldaten oft zur Grausamkeit. Sie erbrachen die Weinkeller, drangen in alle Winkel der Häuser und rissen Kranke aus ihren Betten, um die Strohsäcke und Matratzen zu durchsuchen, in denen die Bauern bisweilen Brot und Fleisch verbargen. Beim Aufspüren der Verstecke zeigte sich Adam Hund am findigsten. Er gelangte auch wegen der hohen Vollendung seiner Kochkunst und durch die Gabe, spannende Geschichten zu erzählen, zu Ansehen. Selbst die Offiziere verschmähten es nicht, ihm zu lauschen, wenn er seine Anekdoten zum besten gab, von denen er jede mit einer moralischen Nutzanwendung schloß.

Seltsam war es für Sylvester, den guten Adam so zu erblicken, unter den wettergebräunten, bärtigen Leuten, am Herdfeuer stehend und mit philosophischer Ruhe Pfannkuchen backend. Weit entfernt waren anders gelebte Tage, Bilder des Glanzes, Stunden, deren Schmerz sogar wie rührende Musik nachhallte, Erregungen, deren Grund er kaum mehr faßte. Nun war alles so wild, so schwarz, so naß, so fiebergleich, die Geschehnisse so groß und ohne sein Zutun wachsend, die Dinge so wahr! Ohne sein Zutun, und doch war alles Tat, ganz anders als vordem, wo mit seinem Zutun fast alles nur Erleiden gewesen war.

Eines Tages, als er seine wundgelaufenen Füße verband, brachte ihm ein altes Mütterchen eine Salbe, die sie für ihre beiden Söhne gemischt hatte, welche beide vor St. Privat gefallen waren. Ihre Freundlichkeit erschütterte ihn tiefer als alles gesehene Elend, und die Worte Krieg und Feind klangen sinnlos. Und als sie in ein Dorf kamen und vor der Tür einer Schenke ein junges Mädchen stand, in einer koketten roten Jacke, einen blumengeschmückten Hut auf dem reizenden Kopf, trat er zu ihr und unterhielt sie, indem er ihr von der Kaiserin Eugenie erzählte und deren Schönheit rühmte. Da fragte sie zutraulich, ob es wahr sei, daß Frankreich bisher alle Schlachten verloren habe. Er bejahte, worauf sie den Kopf senkte und bitterlich weinte. O, Menschheit, dachte Sylvester, und ihm dünkte, als stehe er hilflos auf einer Planke im Ozean.

Sie rasteten in einem von Franzosen verlassenen Biwak. Zeitungspapier, Proviantreste, Waffen, Kleidungsstücke und zersplitterte Granaten lagen umher. Sylvester schrieb auf der Trommel des Tambours einen Brief an Agathe. Dann bereitete er sich unter einem Birnbaum ein Bett aus Zeltdecken. Der Regen durchnäßte ihn bis auf die Haut, und er konnte nicht schlafen. Im Norden war der Horizont gerötet. Um ein Uhr nachts wurde alarmiert. Sie zogen weiter. Flammengarben sprühten über den Himmel. Von allen Seiten marschierten Truppen heran. Die von der fortwährenden Spannung und Erwartung mehr als von den Strapazen ermüdeten Soldaten fühlten, daß die Stunde der Entscheidung angebrochen sei. In der Nähe des Dorfes Buzancy stießen sie zu ihrem Bataillon. Einige Jäger warfen heimlich die Spielkarten fort, mit denen sie sich in den Quartieren die Zeit vertrieben hatten. Sylvester verspürte ein kaltes Rieseln längs der Rückenrinne, aber sein Herz blieb ruhig und sein Auge klar. Er hatte nur den Wunsch, möglichst bald ins Treffen zu kommen; hinter den Linien zu stehen, war so qualvoll, wie einen Mörder im Nebenzimmer zu hören.


Unbestimmbare drohende Geräusche drangen von weit- und nahher durch die außerordentlich finstere Nacht. Den Mannschaften wurde die größte Stille befohlen. Ein Ordonnanzoffizier sauste auf seinem Pferd von Sommerance herüber. Sylvester kannte ihn. »Gibt's was Neues?« — »Wir greifen an.« — »Bald?« — »Wahrscheinlich.« Er sprengte davon.

Gegen die über den Strom geschlagene Schiffsbrücke ritt in langsamem Trabe ein preußisches Dragonerregiment. Dann jagte eine Batterie quer über das Feld. Sie protzten ab, schossen jedoch nicht. Jetzt stieg hinter den Hügeln, gegen Sedan zu, ein gewaltiger Feuerschein auf.

Der Unterjäger, der hinter Sylvester stand, fluchte, weil ihm sein Hosengürtel gerissen war. Ein Mann aus der Korporalschaft bot ihm den seinen an. Es war ein kleiner dicker Mensch, im bürgerlichen Beruf Flötenspieler an einem Theater; er hatte sich immer durch Munterkeit ausgezeichnet, war jedoch seit einigen Stunden auffallend schweigsam. »Und du? Was wirst du machen?« fragte der Unterjäger erstaunt. »Ach ich, ich werde ja doch heute totgeschossen,« erwiderte der andere mit vollkommener Ruhe und schnallte seinen Gürtel ab. Sylvester drehte sich nach dem Manne um. Weder Prahlerei noch Angst war in dem pausbäckigen Gesicht zu bemerken, nur stumme, selbstverständliche Ergebung. Der Premierleutnant hatte ebenfalls die Worte des Soldaten gehört und wandte ihm sein hageres, in der Brandglut doppelt unheimliches Gesicht zu. Mit ihm hatte es eine eigene Bewandtnis; er hatte vor fünf Jahren wegen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten den Dienst quittieren müssen. Als der Krieg ausgebrochen war, hatte er sich gemeldet, und man brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, daß er fest entschlossen war, den Tod in der Schlacht zu sterben und damit seinen Makel auszulöschen.

Der Feuerschein verlohte. Es wurde wieder finster. In einem Gehöft krähte mit durchdringender Stimme ein Hahn. Die Soldaten lachten. »Dem ist ein zu großes Gedränge dahier,« witzelte einer. »Ruhe!« schrie der Hauptmann wütend. Plötzlich krachte es rechts vorn. Ein Adjutant brachte den Befehl, das Bataillon solle über den Bahndamm marschieren und gegen das Dorf Bazeilles vorrücken. Die Abteilung setzte sich in Bewegung, erstieg den Damm und überschritt den Strom auf der Eisenbahnbrücke. Sylvester konnte das von dichtem Nebel bedeckte Gelände überschauen. Wenn aus fernen Geschützen die Blitze auffuhren, sah der Nebel wie brennende Baumwolle aus. Ein zweiter Befehl traf ein: das Bataillon habe vorläufig noch in Reserve zu bleiben. »Hinter den Damm zurück und niederlegen!« hieß es. Mit klopfenden Herzen warfen sich alle ins feuchte Gras.

Auf einmal erschallte ein heftiges Kleingewehrfeuer. Das war in Bazeilles. Ein Generalstäbler berichtete, das Dorf sei von vier Regimentern französischer Marine-Infanterie und einem Teil des Korps Lebrun besetzt; es habe feste steinerne Häuser und der Angriff sei erschwert dadurch, daß die Einwohner im Bunde mit den Soldaten schössen und die Straßen durch Barrikaden versperrt seien.

Sylvester und der Premierleutnant begaben sich auf den Damm. Die meisten Häuser von Bazeilles brannten schon. Die wachsenden Flammen erstickten förmlich den aufdämmernden Tag. Rings um das ungeheure Schlachtfeld donnerten die Kanonen. Die Erschütterung des Luftkreises vertrieb den Nebel, dafür wallten die weißlichen Dampfmassen aus den Schlünden der Geschütze und der schwarze, wurmartig gekrümmte Rauch von den brennenden Häusern empor. Chassepotkugeln zischten durch die Luft, und Sylvester und sein Begleiter wollten sich eben wieder in die Deckung begeben, als das Kommando: »Vorwärts! Ausschwärmen!« ertönte.

Den Degen in der Faust, marschierte Sylvester vor der Schwärmerkette über den Damm und jenseits herab. Er wunderte sich dumpf, als ein Stück Himmel über ihm herrlich blau erstrahlte. Weit drüben im Gelände erblickte er ein ameisenhaftes Gewimmel rothosiger Soldaten. Sie sahen aus wie die Mohnblumen in einem Kornfeld. Auf allen Höhen, stundenweit im Umkreis, siedete der sonnenbeleuchtete Dampf. Das Donnern, Knattern, Sausen und Zischen hatte etwas Unwirkliches wie im Traum. Verwundete wurden vorübergetragen; ihr Stöhnen und Wimmern verlor sich im allgemeinen Getöse. In einer Ackerfurche lag ein menschlicher Arm. Sylvester hatte die Empfindung, er komme nicht vom Fleck, trotzdem er und seine Leute schnell gingen. Das gespenstische Knarren einer Mitrailleuse ließ ihn neugierig herumschauen; es war wie ein tierischer Laut und durchschnitt das Herz. Der kleine Flötenspieler machte plötzlich einen Sprung und stürzte auf das Gesicht. Wie kann man nur so ungeschickt sein, dachte Sylvester und rief ihm zu, er solle aufstehen. Ein Kamerad beugte sich über ihn. »Er ist tot,« sagte er. Im selben Moment fiel auch dieser, in den Kopf getroffen, wie ein Stück Holz. Warum der und warum nicht ich? dachte Sylvester verwundert.

Dicht vor Bazeilles lag das alte Schloß Dorival. Verwitterte Amoretten blickten aus dem Gesträuch. Im Vorbeiziehen hatte Sylvester das nämliche Gefühl, das er als Knabe gehabt, wenn er zur Schule hatte gehen müssen und auf dem Weg eine Spielverlockung an ihn herangetreten war.

Da platzte zwei Schritte neben ihm eine Granate; einem Mann an seiner Seite wurde wie durch ein unsichtbares Beil der Kopf vom Rumpfe gerissen; er ging noch einen Schritt und brach zusammen wie Asche. Am Eingang des Dorfes lagen die Toten zu dreien und vieren übereinander. Der Erdboden war mit Blut begossen. In einer Rinne rann das Blut, wie sonst das Regenwasser nach dem Regen. Obwohl am Himmel die Sonne schien, war es in den Gassen düster wie am Abend. Aus allen Fenstern starrten Gewehrläufe, auch aus den Fenstern der brennenden Häuser. Aus mancher Kellerluke krachte ein halbes Dutzend Schüsse auf einmal. Jede Barrikade war mit Hunderten von Leichen gepflastert. Viele lagen mit friedlichen Gesichtern da, als ob sie schliefen, andere wieder zeigten einen Ausdruck grimmigster Qual. Immer neue Abteilungen rückten vor, frenetisch jubelnd stürmten sie in die Hauptgasse, und nach einigen Minuten waren sie hingemäht. Jedes einzelne Gebäude mußte wie eine Festung erobert werden. Aus den brennenden Räumen drang das Geschrei der Weiber und Kinder in den Höllenlärm. Von dem einstürzenden Gebälk der Dächer prasselten ununterbrochen Funken herab. Auf einer Brunnenstufe gewahrte Sylvester einen schwerverwundeten Jäger des dritten Bataillons. Dem Mann war die Hüfte zerschossen, und er schien Durst zu leiden. Sylvester gebot einem Soldaten, ihm Wasser zu reichen, aber der Verwundete bat um eine Zigarre. Der Soldat griff in die Tasche, gab ihm die Zigarre und zündete sie auch an, während um ihn her die Kugeln wie Hagelschloßen fielen. Nachdem jener die ersten Züge geraucht hatte, starb er. Sylvester ging weiter und sah seinen Premierleutnant tot auf einem Haufen anderer Toten liegen, rosigen Schaum über den Lippen.

Die dritte Kompagnie unternahm einen Sturm gegen ein Gebäude, das etwas außerhalb des Dorfes lag und von den Franzosen mit wildester Wut verteidigt wurde. Die Mauern des Hauses waren schwarz vor Alter; es hatte zwei Erker, und die Fenster waren vergittert. Jedes der beiden Stockwerke hatte sechs Fenster, an jedem Fenster standen die Soldaten enggedrängt, und die Erschossenen wurden sogleich wieder durch andere ersetzt. Die Granaten hatten das Dach eingeschlagen, aber bis jetzt hatte noch keine gezündet. Auch aus dem Sparrenwerk des Daches schossen die Feinde herab, und wie alle früheren Angriffe, wurde jetzt der Angriff der dritten Kompagnie zurückgeschlagen. »Folgt mir, Jäger!« rief Sylvester und verließ mit seinem Zug die Deckung einer Hofmauer. Die Leute waren sämtlich sehr blaß, gehorchten jedoch dem Befehl mit einem rachsüchtigen Hurrageschrei. Viele drückten die Augen zu, während sie liefen. Die vierte Kompagnie, deren Hauptmann gefallen war, vereinigte sich mit Sylvesters Abteilung. Einer um den anderen stürzte. Sylvester vernahm den süßlichen U—i-Laut, mit dem die Kugeln an seinem Ohr vorüberpfiffen. Auf einmal taumelte er und hatte ein Gefühl, als sei der linke Arm von einem fürchterlichen Keulenschlag getroffen worden. Einen Augenblick verweilend, bemerkte er, daß das Blut aus dem Rockärmel floß. Zugleich sah er mit einer Kampfesaufregung, die ihm Schwindel verursachte und ihm in einem tiefen, ganz stillen und sonderbar wachsamen Winkel seiner Seele kaum verständlich dünkte, daß seine Jäger endlich bis an die Mauer jenes Hauses vorgedrungen waren, wo die Leichen in Hügeln lagen. Sie hatten die Gewehre umgedreht und schlugen, zwanzig zu gleicher Zeit, mit den Kolben wie mit Hämmern gegen das massive Tor. Angeln und Schloß gaben nach, auch die Fassung zersplitterte, das Haus war geöffnet, und die Tapferen erstiegen die drei Stufen; mit gefällten Bajonetten stürzten sie in den Flur. Eine Salve empfing sie, mehr als dreißig verhauchten ihr Leben, doch für die übrigen war kein Aufhalten mehr. Sylvester drängte sich eben durch sie hindurch in den Flur, als er, wie zu einer Bildsäule verwandelt, stehen blieb.

Der Feldwebel der vierten Kompagnie hatte die Verteidiger aufgefordert, sich zu ergeben. Einige der französischen Soldaten hatten unwillkürlich die Gewehre gesenkt. Darauf trat ihr Leutnant vor und rief dreimal mit starker Stimme und in einem Ton von äußerster, ja unbegreiflicher Verzweiflung: »Jamais! Jamais! Jamais!« Zugleich riß er einem seiner Leute das Gewehr aus den Händen und legte es an.

Diesen Mann gewahrte Sylvester jetzt. Er gewahrte ihn während des kurzen Zeitabschnittes, in welchem sich der Offizier des Gewehrs seines Untergebenen bemächtigte und es an seine Schulter preßte. Er sah den festen, eigentümlich gelben und in seiner Gelbheit und vernunftlosen Raserei geradezu tigerhaften Blick, — da erkannte er das Gesicht noch nicht. Eine Sekunde später erkannte er es. Die Geschehnisse gingen in so rascher Folge vor sich, daß der Geist mit einer erstaunlichen Schnelligkeit auffaßte und arbeitete. Von dem Moment des Anlegens der Waffe, der auf ihn gerichteten Waffe, bis zum Abfeuern des Schusses erkannte Sylvester nicht nur dieses Gesicht, erinnerte sich nicht nur aller früheren Begegnungen mit dem Manne, alles dessen, was zwischen ihnen lag, kombinierte er nicht nur die Art des jetzigen Zusammentreffens, wunderte sich nicht nur über die schmerzliche Fügung, sondern empfand auch eine höchst gesteigerte liebende Teilnahme. Zu spät rang sich ein Schrei aus seinem Mund. »Achim!« Der Hahn des Gewehrs war schon abgedrückt. Sylvester brach in die Knie.

Kaum hatte Achim Ursanner den Schrei vernommen, als er hinzueilte. »Sylvester,« röchelte er, erhob die Augen und umkrallte mit den Fingern den Hals. Ein Unterjäger, vermeinend, daß der feindliche Leutnant seinem verwundeten Offizier noch zu Leibe wolle, hatte sich mit dem Gewehre in Positur gesetzt und stieß dem nahenden Ursanner das Bajonett mitten durchs Herz. Nun kamen die französischen Soldaten vom ersten Stock und vom Dachboden herunter und begannen neuerdings zu feuern. Der Feldwebel packte den starren Körper Sylvesters und zog ihn über die Stufen auf die Straße, wo er unter grauenvoll verrenkten und verkrampften Toten liegen blieb. Unterdessen stürmte die erste Jägerkompagnie unwiderstehlich an, und nach einer Viertelstunde war das schreckliche Haus in ihrem Besitz.

Sylvester war nicht völlig ohne Besinnung. Er wußte, daß er verwundet, schwer verwundet war und daß er wahrscheinlich verbluten würde, wenn keine Hilfe kam. Desungeachtet fühlte er keinen Schmerz; auch Todesfurcht spürte er nicht, ganz im Gegenteil schienen ihm seine Gedanken durch eine ungewöhnliche prickelnde Leichtigkeit ausgezeichnet. Er bildete sich ein, am Meeresstrand zu liegen. Die Wellen benetzten seine Kleider, und es war eine angenehme Empfindung von Gefahr, wie sie immer näher an seinen Körper rückten. Zuerst glaubte er, daß er sich in Bangor befinde; er glaubte es deshalb, weil Anna Ewel unweit von ihm eine Schürze wusch und sie an der Tür einer Badehütte aufhing. Dann aber sagte er sich, es sei Unsinn, Bangor habe gar keinen Strand, auch sei dort der Ozean nicht so blau. Wo bin ich denn? Wo bin ich denn eigentlich? quälte er sich. Da fiel ihm ein, daß das Gestade zwischen Amalfi und Salerno ebenso sanft und lieblich war wie hier; er gewahrte auch die olivenumwachsenen Hänge. Wie oft hatte er sie auf der Jagd nach Eidechsen durchstreift! Damals hatte er Eidechsen gefangen, denn er hatte eine Römerin geliebt, die viele Eidechsen in einem Glashaus hielt und fütterte. Nun kam sie selbst; er hatte ihren Namen vergessen. »Tut nichts,« lachte ein Fischer, der eben seine Netze aus dem Boot zog, »wir heißen sie Angiolina.« Der Klang dieses Wortes berauschte ihn. Auf einmal trabten zwei ungemein zierliche Esel vorbei, und als er sie neugierig betrachtete, sah er, daß das Sattelzeug aus zusammengesetzten Spielkarten bestand. Das ist ein Racheakt von Lord Albany, dachte er und ballte die Faust. Es wurde Nacht, und eine Person mit einer unvergleichlich schönen Stirn kniete neben ihm. »Bist du es wirklich, Gabriele?« fragte er leise. Sie ergriff seine Hände und während mit erbitterten Mienen Tausende von Menschen auftauchten, begann sie zu singen. Da hatte er den herzzerreißenden Argwohn, daß sie ihn verachte, ihn zum besten halte, daß sie falsch, listig und selbstsüchtig sei. Sein Vater und seine Mutter kamen und zwischen ihnen Silvia. Silvia trug einen Veilchenkranz im Haar. Als er sie erblickte, fühlte er sich plötzlich aufgehoben und fortgetragen …

Der ihn aufhob und forttrug war Adam Hund. Seine Kompagnie hatte jenen letzten Angriff auf das Haus unternommen. Durch einen Kolbenhieb am Kopf verletzt, war er niedergefallen und hatte dabei das bleiche, leblose Gesicht Sylvesters gesehen. Dies gab ihm seine Kräfte wieder. Er warf sich mit dem Gesicht auf die Brust Sylvesters und lauschte, ob das Herz noch schlug. So an der Brust seines Herrn ruhend, bezwang er zunächst sein Schwindelgefühl, dann, von der Hoffnung beseelt, daß noch Leben in dem Körper sei, raffte er sich auf, hob den Bewußtlosen empor und nahm ihn auf seinen Rücken, um ihn nach einem Verbandplatz zu schaffen. Die Schlacht wütete mit unverminderter Heftigkeit. Das Stück Feld, das Adam mit seiner Last überqueren mußte, war so vom feindlichen Feuer bestrichen, daß die Soldaten des elften Regiments, die jetzt zum Kampf rückten, sich nur kriechend vorwärts bewegten, und obwohl dreimal in seiner unmittelbaren Nähe Granaten krepierten, kümmerte sich Adam darum nicht. Ein Geschoß zerschmetterte ihm die rechte Hand. Er fluchte wie ein Fuhrknecht, trabte aber unverdrossen weiter, bis er zwei Sanitätsleute gewahrte, denen er zuwinkte. Da verließ ihn das Bewußtsein.

Diese Heldentat eines getreuen Dieners gehört, obwohl sie in bescheidenes Dunkel gehüllt blieb, zu den wunderbarsten eines an rühmlichen und berühmten Heldentaten reichen Tages.


Das Schloß Dorival war in ein Lazarett verwandelt worden, und hier fand Sylvester Unterkunft. Seine Heilung machte anfangs nur langsame Fortschritte, denn die Verletzung war lebensgefährlich und die Pflege bei der großen Anzahl von Verwundeten nicht ausreichend. In den Zimmern, auf den Korridoren, sogar in den Kellern lagen die Soldaten in langen Reihen und der Anblick des Blutes und der furchtbaren Wunden, das markerschütternde Geschrei der Leute, denen Gliedmaßen abgesägt oder Geschosse aus dem Fleisch geschnitten wurden, bedrückte Sylvesters Gemüt und machte seinen Lebenswillen stumpf.

Aber nach einer Woche, als es in den schönen alten Gemächern des Schlosses etwas ruhiger geworden war, kam Agathe, und unter ihren sorgsamen Händen nahm die Wiederherstellung Sylvesters einen rascheren Verlauf. In den ersten beiden Nächten hatte sie in ihren Kleidern neben dem Lager des Gatten ruhen müssen, später verschaffte ihr der Oberarzt in der Wohnung des Kastellans ein notdürftiges Quartier. Ihre Umsicht, Entschlossenheit und Unermüdlichkeit gereichten nicht nur Sylvester, sondern auch vielen seiner Leidensgefährten zum Segen. Sie schrieb Briefe für die Verwundeten, brachte ihnen Erfrischungen, half beim Verbinden, und ein bloßes Wort von ihr wirkte manchmal Wunder, ein Blick flößte Zuversicht ein, eine Berührung zauberte die Hoffnung in verfinsterte Augen. Es schien eine neue Kraft über sie gekommen, eine neue Seele, eine neue Jugend. Ihr Schritt war elastisch, ihre Stimme sonor wie ein Cello und von jener besonderen Resonanz, die nur die innere Freude gibt. Die ruhige Heiterkeit ihres Lächelns erregte Sylvester oft, wie einen Gefangenen der Gedanke an die Freiheit erregt. War sie ihm bisweilen fremd wie ein Bild, so war sie ihm zu andern Stunden vertraut wie eine Schwester; spürte er gleich für sie nicht das, was er Leidenschaft nannte, so stillte doch das Gefühl ihrer Gegenwart alle Unzufriedenheit in ihm.

Eine rätselhafte Scheu verhinderte ihn lange, ihr von der Begegnung mit Achim Ursanner zu erzählen. Als er es endlich tat, war er nicht wenig betroffen von der Art, wie sie es aufnahm, ohne Staunen, ohne ein sichtbares Zeichen der Ergriffenheit. Offenbar dünkte ihr die Fügung so schicksalsvoll und so mit dem innersten Sinn ihres Daseins, ihrer Zukunft verwebt, daß sie ihm während seiner Erzählung den Eindruck eines Menschen machte, dem man ein Ereignis berichtet, dessen Zeuge er gewesen ist. Da erkannte er, wieviel Märchenhaftes, Wunsch- und Wahnversponnenes selbst in einer Frau wie Agathe verborgen war, die mit ihren beiden Füßen fest auf der wirklichen Erde stand. Was aber dabei in ihr vorging und wie sie das Geschehene in ihrem Geist ordnete, vermochte er nicht zu ergründen, wollte es auch nicht ergründen. Ihm schien, daß dieses Geheimnis sie reicher und reiner mache. Einige Tage später sagte sie zu ihm, der Gedanke schmerze sie, daß Achim Ursanner in einem Massengrab vermodern solle, und Sylvester versprach, dafür Sorge zu tragen, daß der Leib des unglücklichen Freundes eine würdige Ruhestätte erhalte. Er bedachte aber die Schwierigkeiten nicht, die der Erfüllung eines solchen Versprechens begegneten. Es war unmöglich, den Leichnam unter den Tausenden von Toten aufzufinden oder zu erfahren, in welche Grube er eingescharrt worden war.

Obwohl Sylvesters völlige Genesung noch mehrere Monate dauern mußte, erlaubten die Ärzte nach drei Wochen den Transport in die Heimat. Dieser wurde auch mit schicklicher Vorsicht und ohne üble Folgen durchgeführt. Adam Hund begleitete Sylvester und Agathe. Er hatte den Arm in der Binde, und es war ziemlich sicher, daß seine Hand lahm bleiben und nie wieder erquickende und nützliche Sentenzen auf allerlei Briefpapier verewigen würde, es sei denn, sie übertrug dieses Amt an ihre Gefährtin zur Linken. Doch war Adam Hund deswegen nicht verhindert, in seinem Umgang mit gewöhnlichen Sterblichen ein majestätisches Benehmen für angebracht zu halten, und trotzdem ihm Frau Brigitte Hund nicht den Gefallen erwiesen hatte, mit ihrem Galan das Weite zu suchen, oder nur in angreifbarer Form sich bloßzustellen, trotzdem sie ihm nach wie vor die Suppe versalzte und den Brotkorb hoch hing, raubte ihm die Beimischung von Ehebitternis nichts von seiner innerlichen Glorie, ja sie war vielleicht ersprießlich, damit sein Selbstgefühl nicht zu einer Art von Trunkenheit wurde. Die Ursache des eitlen und verstiegenen Wesens war, daß er sich während des Krieges einen Vollbart hatte wachsen lassen und im Bewußtsein dieses männlichen Schmuckes, dessen ungeahnte Glücksquellen er nie zuvor ermessen hatte, von einer Begeisterung für seine eigene Stattlichkeit durchdrungen war, die viele Menschen unwillkürlich nötigte, ein so echtes und überzeugendes Gefühl zu teilen. Es heißt, daß sogar Frau Brigitte gegenüber dieser unwiderstehlichen Kriegstrophäe Regungen von Zärtlichkeit an den Tag gelegt haben soll.

Schon im Frühjahr konnte Sylvester, von Agathe und Silvia begleitet, kleine Spaziergänge unternehmen. Als der Friede geschlossen wurde, hatte er seine Gesundheit und Kraft zurückgewonnen. Aus Dämmerung und Dunkelheit, aus Zerrüttung und Verwirrung stieg sein Genius wieder ans Licht empor und war es Notwendigkeit, daß er sich begnügte, so war es Verdienst, daß er sich bezwingen lernte. Es war schön zu sein, noch schöner zu wirken, und was an unfrohen Trieben keimte und wucherte, wurde durch die vielfältige Mühsal des Tages um so leichter beschwichtigt, als ja ein Mann von vierzig Jahren, wenn die Lebensuhr nicht stille steht, mit der Zeit ein Mann von fünfzig Jahren wird.

Ende

Wassermann, Jakob : Der Mann von vierzig Jahren, Der Moloch, Der Wendekreis - Erste Folge, Der Wendekreis - Zweite Folge, Deutsche Charaktere und Begebenheiten, Mein Weg als Deutscher und Jude, Melusine,

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