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HAMBURGISCHE DRAMATURGIE

von GOTTHOLD EPHRAIM LESSING

Inhalt:

Ankuendigung
Erster Band
Zweiter Band
Verzeichnis der Theaterstuecke, nach Autorennamen geordnet
Verzeichnis der Theaterstuecke, nach Titeln geordnet

Ankuendigung

Es wird sich leicht erraten lassen, dass die neue Verwaltung des hiesigen
Theaters die Veranlassung des gegenwaertigen Blattes ist.

Der Endzweck desselben soll den guten Absichten entsprechen, welche man den Maennern, die sich dieser Verwaltung unterziehen wollen, nicht anders als beimessen kann. Sie haben sich selbst hinlaenglich darueber erklaert, und ihre Aeusserungen sind, sowohl hier, als auswaerts, von dem feinern Teile des Publikums mit dem Beifalle aufgenommen worden, den jede freiwillige Befoerderung des allgemeinen Besten verdienet und zu unsern Zeiten sich versprechen darf.

Freilich gibt es immer und ueberall Leute, die, weil sie sich selbst am besten kennen, bei jedem guten Unternehmen nichts als Nebenabsichten erblicken. Man koennte ihnen diese Beruhigung ihrer selbst gern goennen; aber, wenn die vermeinten Nebenabsichten sie wider die Sache selbst aufbringen; wenn ihr haemischer Neid, um jene zu vereiteln, auch diese scheitern zu lassen bemueht ist: so muessen sie wissen, dass sie die verachtungswuerdigsten Glieder der menschlichen Gesellschaft sind.

Gluecklich der Ort, wo diese Elenden den Ton nicht angeben; wo die groessere Anzahl wohlgesinnter Buerger sie in den Schranken der Ehrerbietung haelt und nicht verstattet, dass das Bessere des Ganzen ein Raub ihrer Kabalen, und patriotische Absichten ein Vorwurf ihres spoettischen Aberwitzes werden!

So gluecklich sei Hamburg in allem, woran seinem Woh1stande und seiner
Freiheit gelegen: denn es verdienet, so gluecklich zu sein!

Als Schlegel, zur Aufnahme des daenischen Theaters,—(ein deutscher Dichter des daenischen Theaters!)—Vorschlaege tat, von welchen es Deutschland noch lange zum Vorwurfe gereichen wird, dass ihm keine Gelegenheit gemacht worden, sie zur Aufnahme des unsrigen zu tun: war dieses der erste und vornehmste, "dass man den Schauspielern selbst die Sorge nicht ueberlassen muesse, fuer ihren Verlust und Gewinst zu arbeiten".[1] Die Prinzipalschaft unter ihnen hat eine freie Kunst zu einem Handwerke herabgesetzt, welches der Meister mehrenteils desto nachlaessiger und eigennuetziger treiben laesst, je gewissere Kunden, je mehrere Abnehmer ihm Notdurft oder Luxus versprechen.

Wenn hier also bis itzt auch weiter noch nichts geschehen waere, als dass eine Gesellschaft von Freunden der Buehne Hand an das Werk gelegt und, nach einem gemeinnuetzigen Plane arbeiten zu lassen, sich verbunden haette: so waere dennoch, bloss dadurch, schon viel gewonnen. Denn aus dieser ersten Veraenderung koennen, auch bei einer nur maessigen Beguenstigung des Publikums, leicht und geschwind alle andere Verbesserungen erwachsen, deren unser Theater bedarf.

An Fleiss und Kosten wird sicherlich nichts gesparet werden: ob es an Geschmack und Einsicht fehlen duerfte, muss die Zeit lehren. Und hat es nicht das Publikum in seiner Gewalt, was es hierin mangelhaft finden sollte, abstellen und verbessern zu lassen? Es komme nur, und sehe und hoere, und pruefe und richte. Seine Stimme soll nie geringschaetzig verhoeret, sein Urteil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden!

Nur dass sich nicht jeder kleine Kritikaster fuer das Publikum halte, und derjenige, dessen Erwartungen getaeuscht werden, auch ein wenig mit sich selbst zu Rate gehe, von welcher Art seine Erwartungen gewesen. Nicht jeder Liebhaber ist Kenner; nicht jeder, der die Schoenheiten eines Stuecks, das richtige Spiel eines Akteurs empfindet, kann darum auch den Wert aller andern schaetzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich ueber Schoenheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnuegen und Entzuecken erwartet, als sie nach ihrer Art gewaehren kann.

Der Stufen sind viel, die eine werdende Buehne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Buehne ist von dieser Hoehe, natuerlicherweise, noch weiter entfernt: und ich fuerchte sehr, dass die deutsche mehr dieses als jenes ist.

Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer geschwinder, als der ohne Ziel herumirret.

Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen aufzufuehrenden Stuecken halten und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird. Die Wahl der Stuecke ist keine Kleinigkeit: aber Wahl setzt Menge voraus; und wenn nicht immer Meisterstuecke aufgefuehret werden sollten, so sieht man wohl, woran die Schuld liegt. Indes ist es gut, wenn das Mittelmaessige fuer nichts mehr ausgegeben wird, als es ist; und der unbefriedigte Zuschauer wenigstens daran urteilen lernt. Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinanderzusetzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmaessige Stuecke muessen auch schon darum beibehalten werden, weil sie gewisse vorzuegliche Rollen haben, in welchen der oder jener Akteur seine ganze Staerke zeigen kann. So verwirft man nicht gleich eine musikalische Komposition, weil der Text dazu elend ist.

Die groesste Feinheit eines dramatischen Richters zeiget sich darin, wenn er in jedem Falle des Vergnuegens und Missvergnuegens unfehlbar zu unterscheiden weiss, was und wieviel davon auf die Rechnung des Dichters, oder des Schauspielers, zu setzen sei. Den einen um etwas tadeln, was der andere versehen hat, heisst beide verderben. Jenem wird der Mut benommen, und dieser wird sicher gemacht.

Besonders darf es der Schauspieler verlangen, dass man hierin die groesste Strenge und Unparteilichkeit beobachte. Die Rechtfertigung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat.

Eine schoene Figur, eine bezaubernde Miene, ein sprechendes Auge, ein reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge, die sich nicht wohl mit Worten ausdruecken lassen. Doch sind es auch weder die einzigen noch groessten Vollkommenheiten des Schauspielers. Schaetzbare Gaben der Natur, zu seinem Berufe sehr noetig, aber noch lange nicht seinen Beruf erfuellend! Er muss ueberall mit dem Dichter denken; er muss da, wo dem Dichter etwas Menschliches widerfahren ist, fuer ihn denken.

Man hat allen Grund, haeufige Beispiele hiervon sich von unsern Schauspielern zu versprechen.—Doch ich will die Erwartung des Publikums nicht hoeher stimmen. Beide schaden sich selbst: der zu viel verspricht, und der zu viel erwartet.

Heute geschieht die Eroeffnung der Buehne. Sie wird viel entscheiden; sie muss aber nicht alles entscheiden sollen. In den ersten Tagen werden sich die Urteile ziemlich durchkreuzen. Es wuerde Muehe kosten, ein ruhiges Gehoer zu erlangen.—Das erste Blatt dieser Schrift soll daher nicht eher als mit dem Anfange des kuenftigen Monats erscheinen.

Hamburg, den 22. April 1767.

——Fussnote

[1] "Werke", dritter Teil, S. 252."

——Fussnote

Erster Band

Erstes Stueck
Den 1. Mai 1767

Das Theater ist den 22. vorigen Monats mit dem Trauerspiele: "Olint und Sophronia" gluecklich eroeffnet worden. Ohne Zweifel wollte man gern mit einem deutschen Originale anfangen, welches hier noch den Reiz der Neuheit habe. Der innere Wert dieses Stueckes konnte auf eine solche Ehre keinen Anspruch machen. Die Wahl waere zu tadeln, wenn sich zeigen liesse, dass man eine viel bessere haette treffen koennen.

"Olint und Sophronia" ist das Werk eines jungen Dichters, und sein unvollendet hinterlassenes Werk. Cronegk starb allerdings fuer unsere Buehne zu frueh; aber eigentlich gruendet sich sein Ruhm mehr auf das was er, nach dem Urteile seiner Freunde, fuer dieselbe noch haette leisten koennen, als was er wirklich geleistet hat. Und welcher dramatische Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, haette in seinem sechsundzwanzigsten Jahre sterben koennen, ohne die Kritik ueber seine wahren Talente nicht ebenso zweifelhaft zu lassen?

Der Stoff ist die bekannte Episode beim Tasso. Eine kleine ruehrende Erzaehlung in ein ruehrendes Drama umzuschaffen, ist so leicht nicht. Zwar kostet es wenig Muehe, neue Verwickelungen zu erdenken und einzelne Empfindungen in Szenen auszudehnen. Aber zu verhueten wissen, dass diese neue Verwickelungen weder das Interesse schwaechen, noch der Wahrscheinlichkeit Eintrag tun; sich aus dem Gesichtspunkte des Erzaehlers in den wahren Standort einer jeden Person versetzen koennen; die Leidenschaften nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers entstehen und ohne Sprung in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu lassen, dass dieser sympathisieren muss, er mag wollen oder nicht: das ist es, was dazu noetig ist; was das Genie, ohne es zu wissen, ohne es sich langweilig zu erklaeren, tut, und was der bloss witzige Kopf nachzumachen, vergebens sich martert.

Tasso scheinet in seinem Olint und Sophronia den Virgil in seinem Nisus und Euryalus vor Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in diesen die Staerke der Freundschaft geschildert hatte, wollte Tasso in jenen die Staerke der Liebe schildern. Dort war es heldenmuetiger Diensteifer, der die Probe der Freundschaft veranlasste: hier ist es die Religion, welche der Liebe Gelegenheit gibt, sich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die Religion, welche bei dem Tasso nur das Mittel ist, wodurch er die Liebe so wirksam zeiget, ist in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden. Er wollte den Triumph dieser in den Triumph jener veredeln. Gewiss, eine fromme Verbesserung—weiter aber auch nichts, als fromm! Denn sie hat ihn verleitet, was bei dem Tasso so simpel und natuerlich, so wahr und menschlich ist, so verwickelt und romanenhaft, so wunderbar und himmlisch zu machen, dass nichts darueber!

Beim Tasso ist es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Christ noch Mahomedaner ist, sondern sich aus beiden Religionen einen eigenen Aberglauben zusammengesponnen hat, welcher dem Aladin den Rat gibt, das wundertaetige Marienbild aus dem Tempel in die Moschee zu bringen. Warum machte Cronegk aus diesem Zauberer einen mahomedanischen Priester? Wenn dieser Priester in seiner Religion nicht ebenso unwissend war, als es der Dichter zu sein scheinet, so konnte er einen solchen Rat unmoeglich geben. Sie duldet durchaus keine Bilder in ihren Moscheen. Cronegk verraet sich in mehrern Stuecken, dass ihm eine sehr unrichtige Vorstellung von dem mahomedanischen Glauben beigewohnet. Der groebste Fehler aber ist, dass er eine Religion ueberall des Polytheismus schuldig macht, die fast mehr als jede andere auf die Einheit Gottes dringet. Die Moschee heisst ihm "ein Sitz der falschen Goetter", und den Priester selbst laesst er ausrufen:

"So wollt ihr euch noch nicht mit Rach' und Strafe ruesten, Ihr Goetter?
Blitzt, vertilgt das freche Volk der Christen!"

Der sorgsame Schauspieler hat in seiner Tracht das Kostuem, vom Scheitel bis zur Zehe, genau zu beobachten gesucht; und er muss solche Ungereimtheiten sagen!

Beim Tasso koemmt das Marienbild aus der Moschee weg, ohne dass man eigentlich weiss, ob es von Menschenhaenden entwendet worden, oder ob eine hoehere Macht dabei im Spiele gewesen. Cronegk macht den Olint zum Taeter. Zwar verwandelt er das Marienbild in "ein Bild des Herrn am Kreuz"; aber Bild ist Bild, und dieser armselige Aberglaube gibt dem Olint eine sehr veraechtliche Seite. Man kann ihm unmoeglich wieder gut werden, dass er es wagen koennen, durch eine so kleine Tat sein Volk an den Rand des Verderbens zu stellen. Wenn er sich hernach freiwillig dazu bekennet: so ist es nichts mehr als Schuldigkeit, und keine Grossmut. Beim Tasso laesst ihn bloss die Liebe diesen Schritt tun; er will Sophronien retten, oder mit ihr sterben; mit ihr sterben, bloss um mit ihr zu sterben; kann er mit ihr nicht ein Bette besteigen, so sei es ein Scheiterhaufen; an ihrer Seite, an den naemlichen Pfahl gebunden, bestimmt, von dem naemlichen Feuer verzehret zu werden, empfindet er bloss das Glueck einer so suessen Nachbarschaft, denket an nichts, was er jenseit dem Grabe zu hoffen habe, und wuenschet nichts, als dass diese Nachbarschaft noch enger und vertrauter sein moege, dass er Brust gegen Brust druecken und auf ihren Lippen seinen Geist verhauchen duerfe.

Dieser vortreffliche Kontrast zwischen einer lieben, ruhigen, ganz geistigen Schwaermerin und einem hitzigen, begierigen Juenglinge ist beim Cronegk voellig verloren. Sie sind beide von der kaeltesten Einfoermigkeit; beide haben nichts als das Maertertum im Kopfe; und nicht genug, dass er, dass sie fuer die Religion sterben wollen; auch Evander wollte, auch Serena haette nicht uebel Lust dazu.

Ich will hier eine doppelte Anmerkung machen, welche, wohl behalten, einen angehenden tragischen Dichter vor grossen Fehltritten bewahren kann. Die eine betrifft das Trauerspiel ueberhaupt. Wenn heldenmuetige Gesinnungen Bewunderung erregen sollen: so muss der Dichter nicht zu verschwenderisch damit umgehen; denn was man oefters, was man an mehrern sieht, hoeret man auf zu bewundern. Hierwider hatte sich Cronegk schon in seinem "Kodrus" sehr versuendiget. Die Liebe des Vaterlandes, bis zum freiwilligen Tode fuer dasselbe, haette den Kodrus allein auszeichnen sollen: er haette als ein einzelnes Wesen einer ganz besondern Art dastehen muessen, um den Eindruck zu machen, welchen der Dichter mit ihm im Sinne hatte. Aber Elesinde und Philaide, und Medon, und wer nicht? sind alle gleich bereit, ihr Leben dem Vaterlande aufzuopfern; unsere Bewunderung wird geteilt, und Kodrus verlieret sich unter der Menge. So auch hier. Was in "Olint und Sophronia" Christ ist, das alles haelt gemartert werden und sterben fuer ein Glas Wasser trinken. Wir hoeren diese frommen Bravaden so oft, aus so verschiedenem Munde, dass sie alle Wirkung verlieren.

Die zweite Anmerkung betrifft das christliche Trauerspiel insbesondere. Die Helden desselben sind mehrenteils Maertyrer. Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der gesunden Vernunft zu laut erschallet, als dass jeder Rasender, der sich mutwillig, ohne alle Not, mit Verachtung aller seiner buergerlichen Obliegenheiten in den Tod stuerzet, den Titel eines Maertyrers sich anmassen duerfte. Wir wissen itzt zu wohl die falschen Maertyrer von den wahren zu unterscheiden; wir verachten jene ebensosehr, als wir diese verehren, und hoechstens koennen sie uns eine melancholische Traene ueber die Blindheit und den Unsinn auspressen, deren wir die Menschheit ueberhaupt in ihnen faehig erblicken. Doch diese Traene ist keine von den angenehmen, die das Trauerspiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen Maertyrer zu seinem Helden waehlet: dass er ihm ja die lautersten und triftigsten Bewegungsgruende gebe! dass er ihn ja in die unumgaengliche Notwendigkeit setze, den Schritt zu tun, durch den er sich der Gefahr blossstellet! dass er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen, nicht hoehnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein frommer Held zum Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter leiden. Ich habe schon beruehret, dass es nur ein ebenso nichtswuerdiger Aberglaube sein konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verachten, welcher den Olint antrieb, das Bild aus der Moschee wieder zu entwenden. Es entschuldiget den Dichter nicht, dass es Zeiten gegeben, wo ein solcher Aberglaube allgemein war und bei vielen guten Eigenschaften bestehen konnte; dass es noch Laender gibt, wo er der frommen Einfalt nichts Befremdendes haben wuerde. Denn er schrieb sein Trauerspiel ebensowenig fuer jene Zeiten, als er es bestimmte, in Boehmen oder Spanien gespielt zu werden. Der gute Schriftsteller, er sei von welcher Gattung er wolle, wenn er nicht bloss schreibet, seinen Witz, seine Gelehrsamkeit zu zeigen, hat immer die Erleuchtesten und Besten seiner Zeit und seines Landes in Augen, und nur was diesen gefallen, was diese ruehren kann, wuerdiget er zu schreiben. Selbst der dramatische, wenn er sich zu dem Poebel herablaesst, laesst sich nur darum zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu bessern; nicht aber ihn in seinen Vorurteilen, ihn in seiner unedeln Denkungsart zu bestaerken.

Zweites Stueck
Den 5. Mai 1767

Noch eine Anmerkung, gleichfalls das christliche Trauerspiel betreffend, wuerde ueber die Bekehrung der Clorinde zu machen sein. So ueberzeugt wir auch immer von den unmittelbaren Wirkungen der Gnade sein moegen, so wenig koennen sie uns doch auf dem Theater gefallen, wo alles, was zu dem Charakter der Personen gehoeret, aus den natuerlichsten Ursachen entspringen muss. Wunder dulden wir da nur in der physikalischen Welt; in der moralischen muss alles seinen ordentlichen Lauf behalten, weil das Theater die Schule der moralischen Welt sein soll. Die Bewegungsgruende zu jedem Entschlusse, zu jeder Aenderung der geringsten Gedanken und Meinungen, muessen, nach Massgebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegeneinander abgewogen sein, und jene muessen nie mehr hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervorbringen koennen. Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch Schoenheiten des Detail, ueber Missverhaeltnisse dieser Art zu taeuschen; aber er taeuscht uns nur einmal, und sobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beifall, den er uns abgetaeuschet hat, zurueck. Dieses auf die vierte Szene des dritten Akts angewendet, wird man finden, dass die Reden und das Betragen der Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden haetten bewegen koennen, aber viel zu unvermoegend sind, Bekehrung an einer Person zu wirken, die gar keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Beim Tasso nimmt Clorinde auch das Christentum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erst, nachdem sie kurz zuvor erfahren, dass ihre Eltern diesem Glauben zugetan gewesen: feine, erhebliche Umstaende, durch welche die Wirkung einer hoehern Macht in die Reihe natuerlicher Begebenheiten gleichsam mit eingeflochten wird. Niemand hat es besser verstanden, wie weit man in diesem Stuecke auf dem Theater gehen duerfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des Zamor, durch Beispiel und Bitten, durch Grossmut und Ermahnungen bestuermet und bis in das Innerste erschuettert worden, laesst er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren Bekennern er so viel Grosses sieht, mehr vermuten, als glauben. Und vielleicht wuerde Voltaire auch diese Vermutung unterdrueckt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zuschauers etwas haette geschehen muessen.

Selbst der "Polyeukt" des Corneille ist, in Absicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es seine Nachahmungen immer mehr geworden sind, so duerfte die erste Tragoedie, die den Namen einer christlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten sein. Ich meine ein Stueck, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessierst.—Ist ein solches Stueck aber auch wohl moeglich? Ist der Charakter des wahren Christen nicht etwa ganz untheatralisch? Streiten nicht etwa die stille Gelassenheit, die unveraenderliche Sanftmut, die seine wesentlichsten Zuege sind, mit dem ganzen Geschaefte der Tragoedie, welches Leidenschaften durch Leidenschaften zu reinigen sucht? Widerspricht nicht etwa seine Erwartung einer belohnenden Glueckseligkeit nach diesem Leben der Uneigennuetzigkeit, mit welcher wir alle grosse und gute Handlungen auf der Buehne unternommen und vollzogen zu sehen wuenschen?

Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann, wieviel Schwierigkeiten es zu uebersteigen vermag, diese Bedenklichkeiten unwidersprechlich widerlegt, waere also mein Rat:—man liesse alle bisherige christliche Trauerspiele unaufgefuehret. Dieser Rat, welcher aus den Beduerfnissen der Kunst hergenommen ist, welcher uns um weiter nichts als sehr mittelmaessige Stuecke bringen kann, ist darum nichts schlechter, weil er den schwaechern Gemuetern zustatten koemmt, die, ich weiss nicht welchen Schauder empfinden, wenn sie Gesinnungen, auf die sie sich nur an einer heiligern Staette gefasst machen, im Theater zu hoeren bekommen. Das Theater soll niemanden, wer es auch sei, Anstoss geben; und ich wuenschte, dass es auch allem genommenen Anstosse vorbeugen koennte und wollte.

Cronegk hatte sein Stueck nur bis gegen das Ende des vierten Aufzuges gebracht. Das uebrige hat eine Feder in Wien dazugefueget; eine Feder —denn die Arbeit eines Kopfes ist dabei nicht sehr sichtbar. Der Ergaenzer hat, allem Ansehen nach, die Geschichte ganz anders geendet, als sie Cronegk zu enden willens gewesen. Der Tod loeset alle Verwirrungen am besten; darum laesst er beide sterben, den Olint und die Sophronia. Beim Tasso kommen sie beide davon; denn Clorinde nimmt sich mit der uneigennuetzigsten Grossmut ihrer an. Cronegk aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da war es freilich schwer zu erraten, wie er zwei Nebenbuhlerinnen auseinander setzen wollen, ohne den Tod zu Hilfe zu rufen. In einem andern noch schlechtern Trauerspiele, wo eine von den Hauptpersonen ganz aus heiler Haut starb, fragte ein Zuschauer seinen Nachbar: "Aber woran stirbt sie denn?"—"Woran? am fuenften Akte!" antwortete dieser. In Wahrheit; der fuenfte Akt ist eine garstige boese Staupe, die manchen hinreisst, dem die ersten vier Akte ein weit laengeres Leben versprachen.—

Doch ich will mich in die Kritik des Stueckes nicht tiefer einlassen. So mittelmaessig es ist, so ausnehmend ist es vorgestellet worden. Ich schweige von der aeusseren Pracht; denn diese Verbesserung unsers Theaters erfordert nichts als Geld. Die Kuenste, deren Hilfe dazu noetig ist, sind bei uns in eben der Vollkommenheit als in jedem andern Lande; nur die Kuenstler wollen ebenso bezahlt sein, wie in jedem andern Lande.

Man muss mit der Vorstellung eines Stueckes zufrieden sein, wenn unter vier, fuenf Personen einige vortrefflich und die andern gut gespielet haben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfaenger oder sonst ein Notnagel so sehr beleidiget, dass er ueber das Ganze die Nase ruempft, der reise nach Utopien und besuche da die vollkommenen Theater, wo auch der Lichtputzer ein Garrick ist.

Herr Ekhof war Evander; Evander ist zwar der Vater des Olints, aber im Grunde doch nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indes mag dieser Mann eine Rolle machen, welche er will; man erkennet ihn in der kleinsten noch immer fuer den ersten Akteur und bedauert, auch nicht zugleich alle uebrige Rollen von ihm sehen zu koennen. Ein ihm ganz eigenes Talent ist dieses, dass er Sittensprueche und allgemeine Betrachtungen, diese langweiligen Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einem Anstande, mit einer Innigkeit zu sagen weiss, dass das Trivia1ste von dieser Art in seinem Munde Neuheit und Wuerde, das Frostigste Feuer und Leben erhaelt.

Die eingestreuten Moralen sind Cronegks beste Seite. Er hat, in seinem "Kodrus" und hier, so manche in einer so schoenen nachdruecklichen Kuerze ausgedrueckt, dass viele von seinen Versen als Sentenzen behalten und von dem Volke unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit aufgenommen zu werden verdienen. Leider sucht er uns nur auch oefters gefaerbtes Glas fuer Ede1steine, und witzige Antithesen fuer gesunden Verstand einzuschwatzen. Zwei dergleichen Zeilen, in dem ersten Akte, hatten eine besondere Wirkung auf mich. Die eine,

"Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht."

Die andere,

"Wer schlimm von andern denkt, ist selbst ein Boesewicht."

Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allgemeine Bewegung, und dasjenige Gemurmel zu bemerken, durch welches sich der Beifall ausdrueckt, wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gaenzlich ausbrechen laesst. Teils dachte ich: Vortrefflich! man liebt hier die Moral; dieses Parterre findet Geschmack an Maximen; auf dieser Buehne koennte sich ein Euripides Ruhm erwerben, und ein Sokrates wuerde sie gern besuchen. Teils fiel es mir zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch, wie anstoessig diese vermeinten Maximen waeren, und ich wuenschte sehr, dass die Missbilligung an jenem Gemurmle den meisten Anteil moege gehabt haben. Es ist nur ein Athen gewesen, es wird nur ein Athen bleiben, wo auch bei dem Poebel das sittliche Gefuehl so fein, so zaertlich war, dass einer unlautern Moral wegen Schauspieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater herabgestuermet zu werden! Ich weiss wohl, die Gesinnungen muessen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Person, welche sie aeussert, entsprechen; sie koennen also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen muessen, dass dieser Charakter, in dieser Situation, bei dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urteilen koennen. Aber auch diese poetische Wahrheit muss sich, auf einer andern Seite, der absoluten wiederum naehern, und der Dichter muss nie so unphilosophisch denken, dass er annimmt, ein Mensch koenne das Boese, um des Boesen wegen, wollen, er koenne nach lasterhaften Grundsaetzen handeln, das Lasterhafte derselben erkennen und doch gegen sich und andere damit prahlen. Ein solcher Mensch ist ein Unding, so graesslich als ununterrichtend, und nichts als die armselige Zuflucht eines schalen Kopfes, der schimmernde Tiraden fuer die hoechste Schoenheit des Trauerspieles haelt. Wenn Ismenor ein grausamer Priester ist, sind darum alle Priester Ismenors? Man wende nicht ein, dass von Priestern einer falschen Religion die Rede sei. So falsch war noch keine in der Welt, dass ihre Lehrer notwendig Unmenschen sein muessen. Priester haben in den falschen Religionen, so wie in der wahren, Unheil gestiftet, aber nicht weil sie Priester, sondern weil sie Boesewichter waren, die, zum Behuf ihrer schlimmen Neigungen, die Vorrechte auch eines jeden andern Standes gemissbraucht haetten.

Wenn die Buehne so unbesonnene Urteile ueber die Priester ueberhaupt ertoenen laesst, was Wunder, wenn sich auch unter diesen Unbesonnene finden, die sie als die grade Heerstrasse zur Hoelle ausschreien?

Aber ich verfalle wiederum in die Kritik des Stueckes, und ich wollte von dem Schauspieler sprechen.

Drittes Stueck
Den 8. Mai 1767

Und wodurch bewirkt dieser Schauspieler (Hr. Ekhof), dass wir auch die gemeinste Moral so gern von ihm hoeren? Was ist es eigentlich, was ein anderer von ihm zu lernen hat, wenn wir ihn in solchem Falle ebenso unterhaltend finden sollen?

Alle Moral muss aus der Fuelle des Herzens kommen, von der der Mund uebergehet; man muss ebensowenig lange darauf zu denken, als damit zu prahlen scheinen.

Es verstehst sich also von selbst, dass die moralischen Stellen vorzueglich wohl gelernet sein wollen. Sie muessen ohne Stocken, ohne den geringsten Anstoss, in einem ununterbrochenen Flusse der Worte, mit einer Leichtigkeit gesprochen werden, dass sie keine muehsame Auskramungen des Gedaechtnisses, sondern unmittelbare Eingebungen der gegenwaertigen Lage der Sachen scheinen.

Ebenso ausgemacht ist es, dass kein falscher Akzent uns muss argwoehnen lassen, der Akteur plaudere, was er nicht verstehe. Er muss uns durch den richtigsten, sichersten Ton ueberzeugen, dass er den ganzen Sinn seiner Worte durchdrungen habe.

Aber die richtige Akzentuation ist zur Not auch einem Papagei beizubringen. Wie weit ist der Akteur, der eine Stelle nur versteht, noch von dem entfernt, der sie auch zugleich empfindet! Worte, deren Sinn man einmal gefasst, die man sich einmal ins Gedaechtnis gepraeget hat, lassen sich sehr richtig hersagen, auch indem sich die Seele mit ganz andern Dingen beschaeftiget; aber alsdann ist keine Empfindung moeglich. Die Seele muss ganz gegenwaertig sein; sie muss ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf ihre Reden richten, und nur alsdann—

Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich viel Empfindung haben und doch keine zu haben scheinen. Die Empfindung ist ueberhaupt immer das streitigste unter den Talenten eines Schauspielers. Sie kann sein, wo man sie nicht erkennet; und man kann sie zu erkennen glauben, wo sie nicht ist. Denn die Empfindung ist etwas Inneres, von dem wir nur nach seinen aeussern Merkmalen urteilen koennen. Nun ist es moeglich, dass gewisse Dinge in dem Baue des Koerpers diese Merkmale entweder gar nicht verstatten, oder doch schwaechen und zweideutig machen. Der Akteur kann eine gewisse Bildung des Gesichts, gewisse Mienen, einen gewissen Ton haben, mit denen wir ganz andere Faehigkeiten, ganz andere Leidenschaften, ganz andere Gesinnungen zu verbinden gewohnt sind, als er gegenwaertig aeussern und ausdruecken soll. Ist dieses, so mag er noch so viel empfinden, wir glauben ihm nicht: denn er ist mit sich selbst im Widerspruche. Gegenteils kann ein anderer so gluecklich gebauet sein; er kann so entscheidende Zuege besitzen; alle seine Muskeln koennen ihm so leicht, so geschwind zu Gebote stehen; er kann so feine, so vielfaeltige Abaenderungen der Stimme in seiner Gewalt haben; kurz, er kann mit allen zur Pantomime erforderlichen Gaben in einem so hohen Grade beglueckt sein, dass er uns in denjenigen Rollen, die er nicht urspruenglich, sondern nach irgendeinem guten Vorbilde spielet, von der innigsten Empfindung beseelet scheinen wird, da doch alles, was er sagt und tut, nichts als mechanische Nachaeffung ist.

Ohne Zweifel ist dieser, ungeachtet seiner Gleichgueltigkeit und Kaelte, dennoch auf dem Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er lange genug nichts als nachgeaeffet hat, haben sich endlich eine Menge kleiner Regeln bei ihm gesammelt, nach denen er selbst zu handeln anfaengt, und durch deren Beobachtung (zufolge dem Gesetze, dass eben die Modifikationen der Seele, welche gewisse Veraenderungen des Koerpers hervorbringen, hinwiederum durch diese koerperliche Veraenderungen bewirket werden) er zu einer Art von Empfindung gelangt, die zwar die Dauer, das Feuer derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber doch in dem Augenblicke der Vorstellung kraeftig genug ist, etwas von den nicht freiwilligen Veraenderungen des Koerpers hervorzubringen, aus deren Dasein wir fast allein auf das innere Gefuehl zuverlaessig schliessen zu koennen glauben. Ein solcher Akteur soll z.E. die aeusserste Wut des Zornes ausdruecken; ich nehme an, dass er seine Rolle nicht einmal recht verstehet, dass er die Gruende dieses Zornes weder hinlaenglich zu fassen, noch lebhaft genug sich vorzustellen vermag, um seine Seele selbst in Zorn zu setzen. Und ich sage; wenn er nur die allergroebsten Aeusserungen des Zornes einem Akteur von urspruenglicher Empfindung abgelernet hat und getreu nachzumachen weiss—den hastigen Gang, den stampfenden Fuss, den rauhen, bald kreischenden bald verbissenen Ton, das Spiel der Augenbraunen, die zitternde Lippe, das Knirschen der Zaehne usw.—wenn er, sage ich, nur diese Dinge, die sich nachmachen lassen, sobald man will, gut nachmacht: so wird dadurch unfehlbar seine Seele ein dunkles Gefuehl von Zorn befallen, welches wiederum in den Koerper zurueckwirkt, und da auch diejenigen Veraenderungen hervorbringt, die nicht bloss von unserm Willen abhangen; sein Gesicht wird gluehen, seine Augen werden blitzen, seine Muskeln werden schwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu sein scheinen, ohne es zu sein, ohne im geringsten zu begreifen, warum er es sein sollte.

Nach diesen Grundsaetzen von der Empfindung ueberhaupt habe ich mir zu bestimmen gesucht, welche aeusserliche Merkmale diejenige Empfindung begleiten, mit der moralische Betrachtungen wollen gesprochen sein, und welche von diesen Merkmalen in unserer Gewalt sind, so dass sie jeder Akteur, er mag die Empfindung selbst haben, oder nicht, darstellen kann. Mich duenkt folgendes.

Jede Moral ist ein allgemeiner Satz, der als solcher einen Grad von
Sammlung der Seele und ruhiger Ueberlegung verlangt. Er will also mit
Gelassenheit und einer gewissen Kaelte gesagt sein.

Allein dieser allgemeine Satz ist zugleich das Resultat von Eindruecken, welche individuelle Umstaende auf die handelnden Personen machen; er ist kein blosser symbolischer Schluss; er ist eine generalisierte Empfindung, und als diese will er mit Feuer und einer gewissen Begeisterung gesprochen sein.

Folglich mit Begeisterung und Gelassenheit, mit Feuer und Kaelte?—

Nicht anders; mit einer Mischung von beiden, in der aber, nach
Beschaffenheit der Situation, bald dieses, bald jenes hervorsticht.

Ist die Situation ruhig, so muss sich die Seele durch die Moral gleichsam einen neuen Schwung geben wollen; sie muss ueber ihr Glueck oder ihre Pflichten bloss darum allgemeine Betrachtungen zu machen scheinen, um durch diese Allgemeinheit selbst, jenes desto lebhafter zu geniessen, diese desto williger und mutiger zu beobachten.

Ist die Situation hingegen heftig, so muss sich die Seele durch die Moral (unter welchem Worte ich jede allgemeine Betrachtung verstehe) gleichsam von ihrem Fluge zurueckholen; sie muss ihren Leidenschaften das Ansehen der Vernunft, stuermischen Ausbruechen den Schein vorbedaechtlicher Entschliessungen geben zu wollen scheinen.

Jenes erfodert einen erhabnen und begeisterten Ton; dieses einen gemaessigten und feierlichen. Denn dort muss das Raisonnement in Affekt entbrennen, und hier der Affekt in Raisonnement sich auskuehlen.

Die meisten Schauspieler kehren es gerade um. Sie poltern in heftigen Situationen die allgemeinen Betrachtungen ebenso stuermisch heraus, als das uebrige; und in ruhigen beten sie dieselben ebenso gelassen her, als das uebrige. Daher geschieht es denn aber auch, dass sich die Moral weder in den einen, noch in den andern bei ihnen ausnimmt; und dass wir sie in jenen ebenso unnatuerlich, als in diesen langweilig und kalt finden. Sie ueberlegten nie, dass die Stickerei von dem Grunde abstechen muss, und Gold auf Gold brodieren ein elender Geschmack ist.

Durch ihre Gestus verderben sie vollends alles. Sie wissen weder, wenn sie deren dabei machen sollen, noch was fuer welche. Sie machen gemeiniglich zu viele und zu unbedeutende.

Wenn in einer heftigen Situation die Seele sich auf einmal zu sammeln scheinet, um einen ueberlegenden Blick auf sich oder auf das, was sie umgibt, zu werfen; so ist es natuerlich, dass sie allen Bewegungen des Koerpers, die von ihrem blossen Willen abhangen, gebieten wird. Nicht die Stimme allein wird gelassener; die Glieder alle geraten in einen Stand der Ruhe, um die innere Ruhe auszudruecken, ohne die das Auge der Vernunft nicht wohl um sich schauen kann. Mit eins tritt der fortschreitende Fuss fest auf, die Arme sinken, der ganze Koerper zieht sich in den wagrechten Stand; eine Pause—und dann die Reflexion. Der Mann steht da, in einer feierlichen Stille, als ob er sich nicht stoeren wollte, sich selbst zu hoeren. Die Reflexion ist aus,—wieder eine Pause—und so wie die Reflexion abgezielet, seine Leidenschaft entweder zu maessigen, oder zu befeuern, bricht er entweder auf einmal wieder los oder setzet allmaehlich das Spiel seiner Glieder wieder in Gang. Nur auf dem Gesichte bleiben, waehrend der Reflexion, die Spuren des Affekts; Miene und Auge sind noch in Bewegung und Feuer; denn wir haben Miene und Auge nicht so urploetzlich in unserer Gewalt, als Fuss und Hand. Und hierin dann, in diesen ausdrueckenden Mienen, in diesem entbrannten Auge und in dem Ruhestande des ganzen uebrigen Koerpers, bestehet die Mischung von Feuer und Kaelte, mit welcher ich glaube, dass die Moral in heftigen Situationen gesprochen sein will.

Mit ebendieser Mischung will sie auch in ruhigen Situationen gesagt sein; nur mit dem Unterschiede, dass der Teil der Aktion, welcher dort der feurige war, hier der kaeltere, und welcher dort der kaeltere war, hier der feurige sein muss. Naemlich: da die Seele, wenn sie nichts als sanfte Empfindungen hat, durch allgemeine Betrachtungen diesen sanften Empfindungen einen hoehern Grad von Lebhaftigkeit zu geben sucht, so wird sie auch die Glieder des Koerpers, die ihr unmittelbar zu Gebote stehen, dazu beitragen lassen; die Haende werden in voller Bewegung sein; nur der Ausdruck des Gesichts kann so geschwind nicht nach, und in Miene und Auge wird noch die Ruhe herrschen, aus der sie der uebrige Koerper gern herausarbeiten moechte.

Viertes Stueck
Den 12. Mai 1767

Aber von was fuer Art sind die Bewegungen der Haende, mit welchen, in ruhigen Situationen, die Moral gesprochen zu sein liebet?

Von der Chironomie der Alten, das ist, von dem Inbegriffe der Regeln, welche die Alten den Bewegungen der Haende vorgeschrieben hatten, wissen wir nur sehr wenig; aber dieses wissen wir, dass sie die Haendesprache zu einer Vollkommenheit gebracht, von der sich aus dem, was unsere Redner darin zu leisten imstande sind, kaum die Moeglichkeit sollte begreifen lassen. Wir scheinen von dieser ganzen Sprache nichts als ein unartikuliertes Geschrei behalten zu haben; nichts als das Vermoegen, Bewegungen zu machen, ohne zu wissen, wie diesen Bewegungen eine fixierte Bedeutung zu geben, und wie sie untereinander zu verbinden, dass sie nicht bloss eines einzeln Sinnes, sondern eines zusammenhangenden Verstandes faehig werden.

Ich bescheide mich gern, dass man, bei den Alten, den Pantomimen nicht mit dem Schauspieler vermengen muss. Die Haende des Schauspielers waren bei weitem so geschwaetzig nicht, als die Haende des Pantomimens. Bei diesem vertraten sie die Stelle der Sprache; bei jenem sollten sie nur den Nachdruck derselben vermehren und durch ihre Bewegungen, als natuerliche Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme Wahrheit und Leben verschaffen helfen. Bei dem Pantomimen waren die Bewegungen der Haende nicht bloss natuerliche Zeichen; viele derselben hatten eine konventionelle Bedeutung, und dieser musste sich der Schauspieler gaenzlich enthalten.

Er gebrauchte sich also seiner Haende sparsamer, als der Pantomime, aber ebensowenig vergebens, als dieser. Er ruehrte keine Hand, wenn er nichts damit bedeuten oder verstaerken konnte. Er wusste nichts von den gleichgueltigen Bewegungen, durch deren bestaendigen einfoermigen Gebrauch ein so grosser Teil von Schauspielern, besonders das Frauenzimmer, sich das vollkommene Ansehen von Drahtpuppen gibt. Bald mit der rechten, bald mit der linken Hand die Haelfte einer krieplichten Achte, abwaerts vom Koerper, beschreiben, oder mit beiden Haenden zugleich die Luft von sich wegrudern, heisst ihnen, Aktion haben; und wer es mit einer gewissen Tanzmeistergrazie zu tun geuebt ist, oh! der glaubt, uns bezaubern zu koennen.

Ich weiss wohl, dass selbst Hogarth den Schauspielern befiehlt, ihre Hand in schoenen Schlangenlinien bewegen zu lernen; aber nach allen Seiten, mit allen moeglichen Abaenderungen, deren diese Linien, in Ansehung ihres Schwunges, ihrer Groesse und Dauer, faehig sind. Und endlich befiehlt er es ihnen nur zur Uebung, um sich zum Agieren dadurch geschickt zu machen, um den Armen die Biegungen des Reizes gelaeufig zu machen; nicht aber in der Meinung, dass das Agieren selbst in weiter nichts, als in der Beschreibung solcher schoenen Linien, immer nach der naemlichen Direktion, bestehe.

Weg also mit diesem unbedeutenden Portebras, vornehmlich bei moralischen Stellen weg mit ihm! Reiz am unrechten Orte ist Affektation und Grimasse; und ebenderselbe Reiz, zu oft hintereinander wiederholt, wird kalt und endlich ekel. Ich sehe einen Schulknaben sein Spruechelchen aufsagen, wenn der Schauspieler allgemeine Betrachtungen mit der Bewegung, mit welcher man in der Menuet die Hand gibt, mir zureicht, oder seine Moral gleichsam vom Rocken spinnet.

Jede Bewegung, welche die Hand bei moralischen Stellen macht, muss bedeutend sein. Oft kann man bis in das Malerische damit gehen; wenn man nur das Pantomimische vermeidet. Es wird sich vielleicht ein andermal Gelegenheit finden, diese Gradation von bedeutenden zu malerischen, von malerischen zu pantomimischen Gesten, ihren Unterschied und ihren Gebrauch, in Beispielen zu erlaeutern. Itzt wuerde mich dieses zu weit fuehren, und ich merke nur an, dass es unter den bedeutenden Gesten eine Art gibt, die der Schauspieler vor allen Dingen wohl zu beobachten hat, und mit denen er allein der Moral Licht und Leben erteilen kann. Es sind dieses, mit einem Worte, die individualisierenden Gestus. Die Moral ist ein allgemeiner Satz, aus den besondern Umstaenden der handelnden Personen gezogen; durch seine Allgemeinheit wird er gewissermassen der Sache fremd, er wird eine Ausschweifung, deren Beziehung auf das Gegenwaertige von dem weniger aufmerksamen oder weniger scharfsinnigen Zuhoerer nicht bemerkt oder nicht begriffen wird. Wann es daher ein Mittel gibt, diese Beziehung sinnlich zu machen, das Symbolische der Moral wiederum auf das Anschauende zurueckzubringen, und wann dieses Mittel gewisse Gestus sein koennen, so muss sie der Schauspieler ja nicht zu machen versaeumen.

Man wird mich aus einem Exempel am besten verstehen. Ich nehme es, wie mir es itzt beifaellt; der Schauspieler wird sich ohne Muehe auf noch weit einleuchtendere besinnen.—Wenn Olint sich mit der Hoffnung schmeichelt, Gott werde das Herz des Aladin bewegen, dass er so grausam mit den Christen nicht verfahre, als er ihnen gedrohet: so kann Evander, als ein alter Mann, nicht wohl anders, als ihm die Betrueglichkeit unsrer Hoffnungen zu Gemuete fuehren.

"Vertraue nicht, mein Sohn, Hoffnungen, die betriegen!"

Sein Sohn ist ein feuriger Juengling, und in der Jugend ist man vorzueglich geneigt, sich von der Zukunft nur das Beste zu versprechen.

"Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend oft."

Doch indem besinnt er sich, dass das Alter zu dem entgegengesetzten Fehler nicht weniger geneigt ist; er will den unverzagten Juengling nicht ganz niederschlagen und faehret fort:

"Das Alter quaelt sich selbst, weil es zu wenig hofft."

Diese Sentenzen mit einer gleichgueltigen Aktion, mit einer nichts als schoenen Bewegung des Armes begleiten, wuerde weit schlimmer sein, als sie ganz ohne Aktion hersagen. Die einzige ihnen angemessene Aktion ist die, welche ihre Allgemeinheit wieder auf das Besondere einschraenkt. Die Zeile,

"Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend oft"

muss in dem Tone, mit dem Gestu der vaeterlichen Warnung, an und gegen den Olint gesprochen werden, weil Olint es ist, dessen unerfahrne leichtglaeubige Jugend bei dem sorgsamen Alten diese Betrachtung veranlasst. Die Zeile hingegen,

"Das Alter quaelt sich selbst, weil es zu wenig hofft"

erfordert den Ton, das Achselzucken, mit dem wir unsere eigene Schwachheiten zu gestehen pflegen, und die Haende muessen sich notwendig gegen die Brust ziehen, um zu bemerken, dass Evander diesen Satz aus eigener Erfahrung habe, dass er selbst der Alte sei, von dem er gelte.

Es ist Zeit, dass ich von dieser Ausschweifung ueber den Vortrag der moralischen Stellen wieder zurueckkomme. Was man Lehrreiches darin findet, hat man lediglich den Beispielen des Herrn Ekhof zu danken; ich habe nichts als von ihnen richtig zu abstrahieren gesucht. Wie leicht, wie angenehm ist es, einem Kuenstler nachzuforschen, dem das Gute nicht bloss gelingt, sondern der es macht!

Die Rolle der Clorinde ward von Madame Henseln gespielt, die ohnstreitig eine von den besten Aktricen ist, welche das deutsche Theater jemals gehabt hat. Ihr besonderer Vorzug ist eine sehr richtige Deklamation; ein falscher Akzent wird ihr schwerlich entwischen; sie weiss den verworrensten, holprigsten, dunke1sten Vers mit einer Leichtigkeit, mit einer Praezision zu sagen, dass er durch ihre Stimme die deutlichste Erklaerung, den vol1staendigsten Kommentar erhaelt. Sie verbindet damit nicht selten ein Raffinement, welches entweder von einer sehr gluecklichen Empfindung, oder von einer sehr richtigen Beurteilung zeuget. Ich glaube die Liebeserklaerung, welche sie dem Olint tut, noch zu hoeren:

    "—Erkenne mich! Ich kann nicht laenger schweigen;
    Verstellung oder Stolz sei niedern Seelen eigen.
    Olint ist in Gefahr, und ich bin ausser mir—
    Bewundernd sah ich oft im Krieg und Schlacht nach dir;
    Mein Herz, das vor sich selbst sich zu entdecken scheute,
    War wider meinen Ruhm und meinen Stolz im Streite.
    Dein Unglueck aber reisst die ganze Seele hin,
    Und itzt erkenn' ich erst, wie klein, wie schwach ich bin.
    Itzt, da dich alle die, die dich verehrten, hassen,
    Da du zur Pein bestimmt, von jedermann verlassen,
    Verbrechern gleichgestellt, ungluecklich und ein Christ,
    Dem furchtbarn Tode nah, im Tod noch elend bist:
    Itzt wag' ich's zu gestehn: itzt kenne meine Triebe!"

Wie frei, wie edel war dieser Ausbruch! Welches Feuer, welche Inbrunst beseelten jeden Ton! Mit welcher Zudringlichkeit, mit welcher Ueberstroemung des Herzens sprach ihr Mitleid! Mit welcher Entschlossenheit ging sie auf das Bekenntnis ihrer Liebe los! Aber wie unerwartet, wie ueberraschend brach sie auf einmal ab und veraenderte auf einmal Stimme und Blick und die ganze Haltung des Koerpers, da es nun darauf ankam, die duerren Worte ihres Bekenntnisses zu sprechen. Die Augen zur Erde geschlagen, nach einem langsamen Seufzer, in dem furchtsamen gezogenen Tone der Verwirrung, kam endlich

"Ich liebe dich, Olint,—"

heraus, und mit einer Wahrheit! Auch der, der nicht weiss, ob die Liebe sich so erklaert, empfand, dass sie sich so erklaeren sollte. Sie entschloss sich als Heldin, ihre Liebe zu gestehen, und gestand sie als ein zaertliches, schamhaftes Weib. So Kriegerin als sie war, so gewoehnt sonst in allem zu maennlichen Sitten: behielt das Weibliche doch hier die Oberhand. Kaum aber waren sie hervor, diese der Sittsamkeit so schwere Worte, und mit eins war auch jener Ton der Freimuetigkeit wieder da. Sie fuhr mit der sorglosesten Lebhaftigkeit, in aller der unbekuemmerten Hitze des Affekts fort:

    "—Und stolz auf meine Liebe,
    Stolz, dass dir meine Macht dein Leben retten kann,
    Biet' ich dir Hand und Herz, und Kron' und Purpur an."

Denn die Liebe aeussert sich nun als grossmuetige Freundschaft: und die
Freundschaft spricht ebenso dreist, als schuechtern die Liebe.

Fuenftes Stueck
Den 15. Mai 1767

Es ist unstreitig, dass die Schauspielerin durch diese meisterhafte
Absetzung der Worte

"Ich liebe dich, Olint,—"

der Stelle eine Schoenheit gab, von der sich der Dichter, bei dem alles in dem naemlichen Flusse von Worten daherrauscht, nicht das geringste Verdienst beimessen kann. Aber wenn es ihr doch gefallen haette, in diesen Verfeinerungen ihrer Rolle fortzufahren! Vielleicht besorgte sie, den Geist des Dichters ganz zu verfehlen; oder vielleicht scheute sie den Vorwurf, nicht das, was der Dichter sagt, sondern was er haette sagen sollen, gespielt zu haben. Aber welches Lob koennte groesser sein, als so ein Vorwurf? Freilich muss sich nicht jeder Schauspieler einbilden, dieses Lob verdienen zu koennen. Denn sonst moechte es mit den armen Dichtern uebel aussehen.

Cronegk hat wahrlich aus seiner Clorinde ein sehr abgeschmacktes, widerwaertiges, haessliches Ding gemacht. Und demohngeachtet ist sie noch der einzige Charakter, der uns bei ihm interessierst. So sehr er die schoene Natur in ihr verfehlt, so tut doch noch die plumpe, ungeschlachte Natur einige Wirkung. Das macht, weil die uebrigen Charaktere ganz ausser aller Natur sind, und wir doch noch leichter mit einem Dragoner von Weibe, als mit himmelbruetenden Schwaermern sympathisieren. Nur gegen das Ende, wo sie mit in den begeisterten Ton faellt, wird sie uns ebenso gleichgueltig und ekel. Alles ist Widerspruch in ihr, und immer springt sie von einem Aeussersten auf das andere. Kaum hat sie ihre Liebe erklaert, so fuegt sie hinzu:

"Wirst du mein Herz verschmaehn? Du schweigst?—Entschliesse dich; Und wenn du zweifeln kannst—so zittre!—

So zittre? Olint soll zittern? er, den sie oft in dem Tumulte der Schlacht unerschrocken unter den Streichen des Todes gesehen? Und soll vor ihr zittern? Was will sie denn? Will sie ihm die Augen auskratzen? —O wenn es der Schauspielerin eingefallen waere, fuer diese ungezogene weibliche Gasconade "so zittre!" zu sagen: "ich zittre!" Sie konnte zittern, soviel sie wollte, ihre Liebe verschmaeht, ihren Stolz beleidiget zu finden. Das waere sehr natuerlich gewesen. Aber es von dem Olint verlangen, Gegenliebe von ihm, mit dem Messer an der Gurgel, fordern, das ist so unartig als laecherlich.

Doch was haette es geholfen, den Dichter einen Augenblick laenger in den
Schranken des Woh1standes und der Maessigung zu erhalten? Er faehrt fort,
Clorinden in dem wahren Tone einer besoffenen Marketenderin rasen zu
lassen; und da findet keine Linderung, keine Bemaentelung mehr statt.

Das einzige, was die Schauspielerin zu seinem Besten noch tun koennte, waere vielleicht dieses, wenn sie sich von seinem wilden Feuer nicht so ganz hinreissen liesse, wenn sie ein wenig an sich hielte, wenn sie die aeusserste Wut nicht mit der aeussersten Anstrengung der Stimme, nicht mit den gewaltsamsten Gebaerden ausdrueckte.

Wenn Shakespeare nicht ein ebenso grosser Schauspieler in der Ausuebung gewesen ist, als er ein dramatischer Dichter war, so hat er doch wenigstens ebenso gut gewusst, was zu der Kunst des einen, als was zu der Kunst des andern gehoeret. Ja vielleicht hatte er ueber die Kunst des erstern um so viel tiefer nachgedacht, weil er so viel weniger Genie dazu hatte. Wenigstens ist jedes Wort, das er dem Hamlet, wenn er die Komoedianten abrichtet, in den Mund legt, eine goldene Regel fuer alle Schauspieler, denen an einem vernuenftigen Beifalle gelegen ist. "Ich bitte euch", laesst er ihn unter andern zu den Komoedianten sagen, "sprecht die Rede so, wie ich sie euch vorsagte; die Zunge muss nur eben darueber hinlaufen. Aber wenn ihr mir sie so heraushalset, wie es manche von unsern Schauspielern tun: seht, so waere mir es ebenso lieb gewesen, wenn der Stadtschreier meine Verse gesagt haette. Auch durchsaegt mir mit eurer Hand nicht so sehr die Luft, sondern macht alles huebsch artig; denn mitten in dem Strome, mitten in dem Sturme, mitten, so zu reden, in dem Wirbelwinde der Leidenschaften, muesst ihr noch einen Grad von Maessigung beobachten, der ihnen das Glatte und Geschmeidige gibt."

Man spricht so viel von dem Feuer des Schauspielers; man zerstreitet sich so sehr, ob ein Schauspieler zu viel Feuer haben koenne. Wenn die, welche es behaupten, zum Beweise anfuehren, dass ein Schauspieler ja wohl am unrechten Orte heftig, oder wenigstens heftiger sein koenne, als es die Umstaende erfodern: so haben die, welche es leugnen, recht zu sagen, dass in solchem Falle der Schauspieler nicht zu viel Feuer, sondern zu wenig Verstand zeige. Ueberhaupt koemmt es aber wohl darauf an, was wir unter dem Worte Feuer verstehen. Wenn Geschrei und Kontorsionen Feuer sind, so ist es wohl unstreitig, dass der Akteur darin zu weit gehen kann. Besteht aber das Feuer in der Geschwindigkeit und Lebhaftigkeit, mit welcher alle Stuecke, die den Akteur ausmachen, das ihrige dazu beitragen, um seinem Spiele den Schein der Wahrheit zu geben: so muessten wir diesen Schein der Wahrheit nicht bis zur aeussersten Illusion getrieben zu sehen wuenschen, wenn es moeglich waere, dass der Schauspieler allzuviel Feuer in diesem Verstande anwenden koennte. Es kann also auch nicht dieses Feuer sein, dessen Maessigung Shakespeare selbst in dem Strome, in dem Sturme, in dem Wirbelwinde der Leidenschaft verlangt: er muss bloss jene Heftigkeit der Stimme und der Bewegungen meinen; und der Grund ist leicht zu finden, warum auch da, wo der Dichter nicht die geringste Maessigung beobachtet hat, dennoch der Schauspieler sich in beiden Stuecken maessigen muesse. Es gibt wenig Stimmen, die in ihrer aeussersten Anstrengung nicht widerwaertig wuerden; und allzu schnelle, allzu stuermische Bewegungen werden selten edel sein. Gleichwohl sollen weder unsere Augen noch unsere Ohren beleidiget werden; und nur alsdenn, wenn man bei Aeusserung der heftigen Leidenschaften alles vermeidet, was diesen oder jenen unangenehm sein koennte, haben sie das Glatte und Geschmeidige, welches ein Hamlet auch noch da von ihnen verlangt, wenn sie den hoechsten Eindruck machen und ihm das Gewissen verstockter Frevler aus dem Schlafe schrecken sollen.

Die Kunst des Schauspielers stehet hier zwischen den bildenden Kuensten und der Poesie mitten inne. Als sichtbare Malerei muss zwar die Schoenheit ihr hoechstes Gesetz sein; doch als transitorische Malerei braucht sie ihren Stellungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche die alten Kunstwerke so imponierend macht. Sie darf sich, sie muss sich das Wilde eines Tempesta, das Freche eines Bernini oefters erlauben; es hat bei ihr alle das Ausdrueckende, welches ihm eigentuemlich ist, ohne das Beleidigende zu haben, das es in den bildenden Kuensten durch den permanenten Stand erhaelt. Nur muss sie nicht allzu lang darin verweilen; nur muss sie es durch die vorhergehenden Bewegungen allmaehlich vorbereiten und durch die darauf folgenden wiederum in den allgemeinen Ton des Wohlanstaendigen aufloesen; nur muss sie ihm nie alle die Staerke geben, zu der sie der Dichter in seiner Bearbeitung treiben kann. Denn sie ist zwar eine stumme Poesie, aber die sich unmittelbar unsern Augen verstaendlich machen will; und jeder Sinn will geschmeichelt sein, wenn er die Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen gibet, unverfaelscht ueberliefern soll.

Es koennte leicht sein, dass sich unsere Schauspieler bei der Maessigung, zu der sie die Kunst auch in den heftigsten Leidenschaften verbindet, in Ansehung des Beifalles nicht allzuwohl befinden duerften.—Aber welches Beifalles?—Die Galerie ist freilich ein grosser Liebhaber des Laermenden und Tobenden, und selten wird sie ermangeln, eine gute Lunge mit lauten Haenden zu erwidern. Auch das deutsche Parterre ist noch ziemlich von diesem Geschmacke, und es gibt Akteurs, die schlau genug von diesem Geschmacke Vorteil zu ziehen wissen. Der Schlaefrigste rafft sich, gegen das Ende der Szene, wenn er abgehen soll, zusammen, erhebet auf einmal die Stimme und ueberladet die Aktion, ohne zu ueberlegen, ob der Sinn seiner Rede diese hoehere Anstrengung auch erfodere. Nicht selten widerspricht sie sogar der Verfassung, mit der er abgehen soll; aber was tut das ihm? Genug, dass er das Parterre dadurch erinnert hat, aufmerksam auf ihn zu sein, und wenn es die Guete haben will, ihm nachzuklatschen. Nachzischen sollte es ihm! Doch leider ist es teils nicht Kenner genug, teils zu gutherzig, und nimmt die Begierde, ihm gefallen zu wollen, fuer die Tat.

Ich getraue mich nicht, von der Aktion der uebrigen Schauspieler in diesem Stuecke etwas zu sagen. Wenn sie nur immer bemueht sein muessen, Fehler zu bemaenteln, und das Mittelmaessige geltend zu machen: so kann auch der Beste nicht anders, als in einem sehr zweideutigen Lichte erscheinen. Wenn wir ihn auch den Verdruss, den uns der Dichter verursacht, nicht mit entgelten lassen, so sind wir doch nicht aufgeraeumt genug, ihm alle die Gerechtigkeit zu erweisen, die er verdienet.

Den Beschluss des ersten Abends machte "Der Triumph der vergangenen Zeit", ein Lustspiel in einem Aufzuge, nach dem Franzoesischen des Le Grand. Es ist eines von den drei kleinen Stuecken, welche Le Grand unter dem allgemeinen Titel "Der Triumph der Zeit" im Jahr 1724 auf die franzoesische Buehne brachte, nachdem er den Stoff desselben, bereits einige Jahre vorher, unter der Aufschrift "Die laecherlichen Verliebten", behandelt, aber wenig Beifall damit erhalten hatte. Der Einfall, der dabei zum Grunde liegt, ist drollig genug, und einige Situationen sind sehr laecherlich. Nur ist das Laecherliche von der Art, wie es sich mehr fuer eine satirische Erzaehlung, als auf die Buehne schickt. Der Sieg der Zeit ueber Schoenheit und Jugend macht eine traurige Idee; die Einbildung eines sechzigjaehrigen Gecks und einer ebenso alten Naerrin, dass die Zeit nur ueber ihre Reize keine Gewalt sollte gehabt haben, ist zwar laecherlich; aber diesen Geck und diese Naerrin selbst zu sehen, ist ekelhafter, als laecherlich.

Sechstes Stueck
Den 19. Mai 1767

Noch habe ich der Anreden an die Zuschauer, vor und nach dem grossen
Stuecke des ersten Abends, nicht gedacht. Sie schreiben sich von einem
Dichter her, der es mehr als irgendein anderer versteht, tiefsinnigen
Verstand mit Witz aufzuheitern, und nachdenklichem Ernste die gefaellige
Miene des Scherzes zu geben. Womit koennte ich diese Blaetter besser
auszieren, als wenn ich sie meinen Lesern ganz mitteile? Hier sind sie.
Sie beduerfen keines Kommentars. Ich wuensche nur, dass manches darin nicht
in den Wind gesagt sei!

Sie wurden beide ungemein wohl, die erstere mit alle dem Anstande und der
Wuerde, und die andere mit alle der Waerme und Feinheit und einschmeichelnden
Verbindlichkeit gesprochen, die der besondere Inhalt einer jeden erfoderte.

Prolog
(Gesprochen von Madame Loewen)

    Ihr Freunde, denen hier das mannigfache Spiel
    Des Menschen in der Kunst der Nachahmung gefiel:
    Ihr, die ihr gerne weint, ihr weichen, bessern Seelen,
    Wie schoen, wie edel ist die Lust, sich so zu quaelen;
    Wenn bald die suesse Traen', indem das Herz erweicht,
    In Zaertlichkeit zerschmilzt, still von den Wangen schleicht,
    Bald die bestuermte Seel', in jeder Nerv' erschuettert,
    Im Leiden Wollust fuehlt und mit Vergnuegen zittert!
    O sagt, ist diese Kunst, die so eur Herz zerschmelzt,
    Der Leidenschaften Strom so durch eur Inners waelzt,
    Vergnuegend, wenn sie ruehrt, entzueckend, wenn sie schrecket,
    Zu Mitleid, Menschenlieb' und Edelmut erwecket,
    Die Sittenbilderin, die jede Tugend lehrt,
    Ist die nicht eurer Gunst und eurer Pflege wert?
    Die Fuersicht sendet sie mitleidig auf die Erde,
    Zum Besten des Barbars, damit er menschlich werde;
    Weiht sie, die Lehrerin der Koenige zu sein,
    Mit Wuerde, mit Genie, mit Feur vom Himmel ein;
    Heisst sie, mit ihrer Macht, durch Traenen zu ergoetzen,
    Das stumpfeste Gefuehl der Menschenliebe wetzen;
    Durch suesse Herzensangst, und angenehmes Graun
    Die Bosheit baendigen und an den Seelen baun;
    Wohltaetig fuer den Staat, den Wuetenden, den Wilden
    Zum Menschen, Buerger, Freund und Patrioten bilden.
    Gesetze staerken zwar der Staaten Sicherheit
    Als Ketten an der Hand der Ungerechtigkeit;
    Doch deckt noch immer List den Boesen vor dem Richter,
    Und Macht wird oft der Schutz erhabner Boesewichter.
    Wer raecht die Unschuld dann? Weh dem gedrueckten Staat,
    Der, statt der Tugend, nichts als ein Gesetzbuch hat!
    Gesetze, nur ein Zaum der offenen Verbrechen,
    Gesetze, die man lehrt des Hasses Urteil sprechen,
    Wenn ihnen Eigennutz, Stolz und Parteilichkeit
    Fuer eines Solons Geist den Geist der Drueckung leiht!
    Da lernt Bestechung bald, um Strafen zu entgehen,
    Das Schwert der Majestaet aus ihren Haenden drehen:
    Da pflanzet Herrschbegier, sich freuend des Verfalls
    Der Redlichkeit, den Fuss der Freiheit auf den Hals.
    Laesst den, der sie vertritt, in Schimpf und Banden schmachten,
    Und das blutschuld'ge Beil der Themis Unschuld schlachten!
    Wenn der, den kein Gesetz straft oder strafen kann,
    Der schlaue Boesewicht, der blutige Tyrann,
    Wenn der die Unschuld drueckt, wer wagt es, sie zu decken?
    Den sichert tiefe List, und diesen waffnet Schrecken.
    Wer ist ihr Genius, der sich entgegenlegt?—
    Wer? Sie, die itzt den Dolch, und itzt die Geissel traegt,
    Die unerschrockne Kunst, die allen Missgestalten
    Strafloser Torheit wagt den Spiegel vorzuhalten;
    Die das Geweb' enthuellt, worin sich List verspinnt,
    Und den Tyrannen sagt, dass sie Tyrannen sind;
    Die, ohne Menschenfurcht, vor Thronen nicht erbloedet,
    Und mit des Donners Stimm' ans Herz der Fuersten redet;
    Gekroente Moerder schreckt, den Ehrgeiz nuechtern macht,
    Den Heuchler zuechtiget und Toren klueger lacht;
    Sie, die zum Unterricht die Toten laesst erscheinen,
    Die grosse Kunst, mit der wir lachen, oder weinen.
    Sie fand in Griechenland Schutz, Lieb' und Lehrbegier;
    In Rom, in Gallien, in Albion, und—hier.
    Ihr, Freunde, habt hier oft, wenn ihre Traenen flossen,
    Mit edler Weichlichkeit die euren mit vergossen;
    Habt redlich euren Schmerz mit ihrem Schmerz vereint
    Und ihr aus voller Brust den Beifall zugeweint:
    Wie sie gehasst, geliebt, gehoffet und gescheuet
    Und eurer Menschlichkeit im Leiden euch erfreuet.
    Lang hat sie sich umsonst nach Buehnen umgesehn:
    In Hamburg fand sie Schutz: hier sei denn ihr Athen!
    Hier, in dem Schoss der Ruh', im Schutze weiser Goenner,
    Gemutiget durch Lob, vollendet durch den Kenner;
    Hier reifet—ja ich wuensch', ich hoff', ich weissag' es!—
    Ein zweiter Roscius, ein zweiter Sophokles,
    Der Graeciens Kothurn Germanien erneute:
    Und ein Teil dieses Ruhms, ihr Goenner, wird der eure.
    O seid desselben wert! Bleibt eurer Guete gleich,
    Und denkt, o denkt daran, ganz Deutschland sieht auf euch!

Epilog
(Gesprochen von Madame Hensel)

    Seht hier! so standhaft stirbt der ueberzeugte Christ!
    So lieblos hasset der, dem Irrtum nuetzlich ist,
    Der Barbarei bedarf, damit er seine Sache,
    Sein Ansehn, seinen Traum zu Lehren Gottes mache.
    Der Geist des Irrtums war Verfolgung und Gewalt,
    Wo Blindheit fuer Verdienst, und Furcht fuer Andacht galt.
    So konnt' er sein Gespinst von Luegen mit den Blitzen
    Der Majestaet, mit Gift, mit Meuchelmord beschuetzen.
    Wo Ueberzeugung fehlt, macht Furcht den Mangel gut:
    Die Wahrheit ueberfuehrt, der Irrtum fodert Blut.
    Verfolgen muss man die und mit dem Schwert bekehren,
    Die anders Glaubens sind, als die Ismenors lehren.
    Und mancher Aladin sieht staatsklug oder schwach
    Dem schwarzen Blutgericht der heil'gen Moerder nach
    Und muss mit seinem Schwert den, welchen Traeumer hassen,
    Den Freund, den Maertyrer der Wahrheit wuergen lassen.
    Abscheulichs Meisterstueck der Herrschsucht und der List,
    Wofuer kein Name hart, kein Schimpfwort lieblos ist!
    O Lehre, die erlaubt, die Gottheit selbst missbrauchen,
    In ein unschuldig Herz des Hasses Dolch zu tauchen,
    Dich, die ihr Blutpanier oft ueber Leichen trug,
    Dich, Greuel, zu verschmaehn, wer leiht mir einen Fluch!
    Ihr Freund', in deren Brust der Menschheit edle Stimme
    Laut fuer die Heldin sprach, als sie dem Priestergrimme
    Ein schuldlos Opfer ward und fuer die Wahrheit sank:
    Habt Dank fuer dies Gefuehl, fuer jede Traene Dank!
    Wer irrt, verdient nicht Zucht des Hasses oder Spottes:
    Was Menschen hassen lehrt, ist keine Lehre Gottes!
    Ach! liebt die Irrenden, die ohne Bosheit blind,
    Zwar schwaechere vielleicht, doch immer Menschen sind.
    Belehret, duldet sie; und zwingt nicht die zu Traenen,
    Die sonst kein Vorwurf trifft, als dass sie anders waehnen!
    Rechtschaffen ist der Mann, den, seinem Glauben treu,
    Nichts zur Verstellung zwingt, zu boeser Heuchelei;
    Der fuer die Wahrheit glueht und, nie durch Furcht gezuegelt,
    Sie freudig, wie Olint, mit seinem Blut versiegelt.
    Solch Beispiel, edle Freund', ist eures Beifalls wert:
    O wohl uns! haetten wir, was Cronegk schoen gelehrt,
    Gedanken, die ihn selbst so sehr veredelt haben,
    Durch unsre Vorstellung tief in eur Herz gegraben!
    Des Dichters Leben war schoen, wie sein Nachruhm ist;
    Er war, und—o verzeiht die Traen'!—und starb, ein Christ.
    Liess sein vortrefflich Herz der Nachwelt in Gedichten,
    Um sie—was kann man mehr?—noch tot zu unterrichten.
    Versaget, hat euch itzt Sophronia geruehrt,
    Denn seiner Asche nicht, was ihr mit Recht gebuehrt,
    Den Seufzer, dass er starb, den Dank fuer seine Lehre,
    Und—ach! den traurigen Tribut von einer Zaehre.
    Uns aber, edle Freund', ermuntre Guetigkeit;
    Und haetten wir gefehlt, so tadelt; doch verzeiht.
    Verzeihung mutiget zu edelerm Erkuehnen,
    Und feiner Tadel lehrt das hoechste Lob verdienen.
    Bedenkt, dass unter uns die Kunst nur kaum beginnt,
    In welcher tausend Quins fuer einen Garrick sind;
    Erwartet nicht zu viel, damit wir immer steigen,
    Und—doch nur euch gebuehrt zu richten, uns zu schweigen.

Siebentes Stueck
Den 22. Mai 1767

Der Prolog zeiget das Schauspiel in seiner hoechsten Wuerde, indem er es als das Supplement der Gesetze betrachten laesst. Es gibt Dinge in dem sittlichen Betragen des Menschen, welche, in Ansehung ihres unmittelbaren Einflusses auf das Wohl der Gesellschaft, zu unbetraechtlich und in sich selbst zu veraenderlich sind, als dass sie wert oder faehig waeren, unter der eigentlichen Aufsicht des Gesetzes zu stehen. Es gibt wiederum andere, gegen die alle Kraft der Legislation zu kurz faellt; die in ihren Triebfedern so unbegreiflich, in sich selbst so ungeheuer, in ihren Folgen so unermesslich sind, dass sie entweder der Ahndung der Gesetze ganz entgehen oder doch unmoeglich nach Verdienst geahndet werden koennen. Ich will es nicht unternehmen, auf die erstern, als auf Gattungen des Laecherlichen, die Komoedie; und auf die andern, als auf ausserordentliche Erscheinungen in dem Reiche der Sitten, welche die Vernunft in Erstaunen und das Herz in Tumult setzen, die Tragoedie einzuschraenken. Das Genie lacht ueber alle die Grenzscheidungen der Kritik. Aber so viel ist doch unstreitig, dass das Schauspiel ueberhaupt seinen Vorwurf entweder diesseits oder jenseits der Grenzen des Gesetzes waehlet und die eigentlichen Gegenstaende desselben nur insofern behandelt, als sie sich entweder in das Laecherliche verlieren, oder bis in das Abscheuliche verbreiten.

Der Epilog verweilet bei einer von den Hauptlehren, auf welche ein Teil der Fabel und Charaktere des Trauerspiels mit abzwecken. Es war zwar von dem Hrn. von Cronegk ein wenig unueberlegt, in einem Stuecke, dessen Stoff aus den ungluecklichen Zeiten der Kreuzzuege genommen ist, die Toleranz predigen und die Abscheulichkeiten des Geistes der Verfolgung an den Bekennern der mahomedanischen Religion zeigen zu wollen. Denn diese Kreuzzuege selbst, die in ihrer Anlage ein politischer Kunstgriff der Paepste waren, wurden in ihrer Ausfuehrung die unmenschlichsten Verfolgungen, deren sich der christliche Aberglaube jemals schuldig gemacht hat; die meisten und blutgierigsten Ismenors hatte damals die wahre Religion; und einzelne Personen, die eine Moschee beraubet haben, zur Strafe ziehen, koemmt das wohl gegen die unselige Raserei, welche das rechtglaeubige Europa entvoelkerte, um das unglaeubige Asien zu verwuesten? Doch was der Tragikus in seinem Werke sehr unschicklich angebracht hat, das konnte der Dichter des Epilogs gar wohl auffassen. Menschlichkeit und Sanftmut verdienen bei jeder Gelegenheit empfohlen zu werden, und kein Anlass dazu kann so entfernt sein, den wenigstens unser Herz nicht sehr natuerlich und dringend finden sollte.

Uebrigens stimme ich mit Vergnuegen dem ruehrenden Lobe bei, welches der Dichter dem seligen Cronegk erteilet. Aber ich werde mich schwerlich bereden lassen, dass er mit mir ueber den poetischen Wert des kritisierten Stueckes nicht ebenfalls einig sein sollte. Ich bin sehr betroffen gewesen, als man mich versichert, dass ich verschiedene von meinen Lesern durch mein unverhohlnes Urteil unwillig gemacht haette. Wenn ihnen bescheidene Freiheit, bei der sich durchaus keine Nebenabsichten denken lassen, missfaellt, so laufe ich Gefahr, sie noch oft unwillig zu machen. Ich habe gar nicht die Absicht gehabt, ihnen die Lesung eines Dichters zu verleiden, den ungekuenstelter Witz, viel feine Empfindung und die lauterste Moral empfehlen. Diese Eigenschaften werden ihn jederzeit schaetzbar machen, ob man ihm schon andere absprechen muss, zu denen er entweder gar keine Anlage hatte, oder die zu ihrer Reife gewisse Jahre erfordern, weit unter welchen er starb. Sein "Kodrus" ward von den Verfassern der "Bibliothek der schoenen Wissenschaften" gekroenet, aber wahrlich nicht als ein gutes Stueck, sondern als das beste von denen, die damals um den Preis stritten. Mein Urteil nimmt ihm also keine Ehre, die ihm die Kritik damals erteilet. Wenn Hinkende um die Wette laufen, so bleibt der, welcher von ihnen zuerst an das Ziel koemmt, doch noch ein Hinkender.

Eine Stelle in dem Epilog ist einer Missdeutung ausgesetzt gewesen, von der sie gerettet zu werden verdienet. Der Dichter sagt:

    "Bedenkt, dass unter uns die Kunst nur kaum beginnt,
    In welcher tausend Quins fuer einen Garrick sind."

Quin, habe ich darwider erinnern hoeren, ist kein schlechter Schauspieler gewesen.—Nein, gewiss nicht; er war Thomsons besonderer Freund, und die Freundschaft, in der ein Schauspieler mit einem Dichter, wie Thomson, gestanden, wird bei der Nachwelt immer ein gutes Vorurteil fuer seine Kunst erwecken. Auch hat Quin noch mehr als dieses Vorurteil fuer sich: man weiss, dass er in der Tragoedie mit vieler Wuerde gespielet; dass er besonders der erhabenen Sprache des Milton Genuege zu leisten gewusst; dass er, im Komischen, die Rolle des Fa1staff zu ihrer groessten Vollkommenheit gebracht. Doch alles dieses macht ihn zu keinem Garrick; und das Missverstaendnis liegt bloss darin, dass man annimmt, der Dichter habe diesem allgemeinen und ausserordentlichen Schauspieler einen schlechten, und fuer schlecht durchgaengig erkannten, entgegensetzen wollen. Quin soll hier einen von der gewoehnlichen Sorte bedeuten, wie man sie alle Tage sieht; einen Mann, der ueberhaupt seine Sache so gut wegmacht, dass man mit ihm zufrieden ist; der auch diesen und jenen Charakter ganz vortrefflich spielet, so wie ihm seine Figur, seine Stimme, sein Temperament dabei zu Hilfe kommen. So ein Mann ist sehr brauchbar und kann mit allem Rechte ein guter Schauspieler heissen; aber wieviel fehlt ihm noch, um der Proteus in seiner Kunst zu sein, fuer den das einstimmige Geruecht schon laengst den Garrick erklaeret hat. Ein solcher Quin machte, ohne Zweifel, den Koenig im "Hamlet", als Thomas Jones und Rebhuhn in der Komoedie waren[1]; und der Rebhuhne gibt es mehrere, die nicht einen Augenblick anstehen, ihn einem Garrick weit vorzuziehen. "Was?" sagen sie, "Garrick der groesste Akteur? Er schien ja nicht ueber das Gespenst erschrocken, sondern er war es. Was ist das fuer eine Kunst, ueber ein Gespenst zu erschrecken? Gewiss und wahrhaftig, wenn wir den Geist gesehen haetten, so wuerden wir ebenso ausgesehen und eben das getan haben, was er tat. Der andere hingegen, der Koenig, schien wohl auch etwas geruehrt zu sein, aber als ein guter Akteur gab er sich doch alle moegliche Muehe, es zu verbergen. Zudem sprach er alle Worte so deutlich aus und redete noch einmal so laut, als jener kleine unansehnliche Mann, aus dem ihr so ein Aufhebens macht!"

Bei den Englaendern hat jedes neue Stueck seinen Prolog und Epilog, den entweder der Verfasser selbst oder ein Freund desselben abfasset. Wozu die Alten den Prolog brauchten, den Zuhoerer von verschiedenen Dingen zu unterrichten, die zu einem geschwindem Verstaendnisse der zum Grunde liegenden Geschichte des Stueckes dienen, dazu brauchen sie ihn zwar nicht. Aber er ist darum doch nicht ohne Nutzen. Sie wissen hunderterlei darin zu sagen, was das Auditorium fuer den Dichter, oder fuer den von ihm bearbeiteten Stoff einnehmen, und unbilligen Kritiken sowohl ueber ihn als ueber die Schauspieler vorbauen kann. Noch weniger bedienen sie sich des Epilogs, so wie sich wohl Plautus dessen manchmal bedienet; um die voellige Aufloesung des Stuecks, die in dem fuenften Akte nicht Raum hatte, darin erzaehlen zu lassen. Sondern sie machen ihn zu einer Art von Nutzanwendung, voll guter Lehren, voll feiner Bemerkungen ueber die geschilderten Sitten und ueber die Kunst, mit der sie geschildert worden; und das alles in dem schnurrigsten, launigsten Tone. Diesen Ton aendern sie auch nicht einmal gern bei dem Trauerspiele; und es ist gar nichts Ungewoehnliches, dass nach dem Blutigsten und Ruehrendsten die Satire ein so lautes Gelaechter aufschlaegt und der Witz so mutwillig wird, dass es scheinet, es sei die ausdrueckliche Absicht, mit allen Eindruecken des Guten ein Gespoette zu treiben. Es ist bekannt, wie sehr Thomson wider diese Narrenschellen, mit der man der Melpomene nachklingelt, geeifert hat. Wenn ich daher wuenschte, dass auch bei uns neue Origina1stuecke nicht ganz ohne Einfuehrung und Empfehlung vor das Publikum gebracht wuerden, so versteht es sich von selbst, dass bei dem Trauerspiele der Ton des Epilogs unserm deutschen Ernste angemessener sein muesste. Nach dem Lustspiele koennte er immer so burlesk sein, als er wollte. Dryden ist es, der bei den Englaendern Meisterstuecke von dieser Art gemacht hat, die noch itzt mit dem groessten Vergnuegen gelesen werden, nachdem die Spiele selbst, zu welchen er sie verfertiget, zum Teil laengst vergessen sind. Hamburg haette einen deutschen Dryden in der Naehe; und ich brauche ihn nicht noch einmal zu bezeichnen, wer von unsern Dichtern Moral und Kritik mit attischem Salze zu wuerzen, so gut als der Englaender verstehen wuerde.

——Fussnote

[1] Teil VI, S. 15.

——Fussnote

Achtes Stueck
Den 26. Mai 1767

Die Vorstellungen des ersten Abends wurden den zweiten wiederholt.

Den dritten Abend (freitags, den 24. v. M.) ward "Melanide" aufgefuehret. Dieses Stueck des Nivelle de la Chaussee ist bekannt. Es ist von der ruehrenden Gattung, der man den spoettischen Beinamen der Weinerlichen gegeben. Wenn weinerlich heisst, was uns die Traenen nahe bringt, wobei wir nicht uebel Lust haetten zu weinen, so sind verschiedene Stuecke von dieser Gattung etwas mehr, als weinerlich; sie kosten einer empfindlichen Seele Stroeme von Traenen; und der gemeine Prass franzoesischer Trauerspiele verdienet, in Vergleichung ihrer, allein weinerlich genannt zu werden. Denn eben bringen sie es ungefaehr so weit, dass uns wird, als ob wir haetten weinen koennen, wenn der Dichter seine Kunst besser verstanden haette.

"Melanide" ist kein Meisterstueck von dieser Gattung; aber man sieht es doch immer mit Vergnuegen. Es hat sich selbst auf dem franzoesischen Theater erhalten, auf welchem es im Jahre 1741 zuerst gespielt ward. Der Stoff, sagt man, sei aus einem Roman, "Mademoiselle de Bontems" betitelt, entlehnet. Ich kenne diesen Roman nicht; aber wenn auch die Situation der zweiten Szene des dritten Akts aus ihm genommen ist, so muss ich einen Unbekannten, anstatt des de la Chaussee, um das beneiden, weswegen ich wohl eine "Melanide" gemacht zu haben wuenschte.

Die Uebersetzung war nicht schlecht; sie ist unendlich besser, als eine italienische, die in dem zweiten Bande der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Ich muss es zum Troste des groessten Haufens unserer Uebersetzer anfuehren, dass ihre italienischen Mitbrueder meistenteils noch weit elender sind, als sie. Gute Verse indes in gute Prosa uebersetzen, erfodert etwas mehr als Genauigkeit; oder ich moechte wohl sagen, etwas anders. Allzu puenktliche Treue macht jede Uebersetzung steif, weil unmoeglich alles, was in der einen Sprache natuerlich ist, es auch in der andern sein kann. Aber eine Uebersetzung aus Versen macht sie zugleich waessrig und schielend. Denn wo ist der glueckliche Versifikateur, den nie das Silbenmass, nie der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort etwas staerker oder schwaecher, frueher oder spaeter, sagen liesse, als er es, frei von diesem Zwange, wuerde gesagt haben? Wenn nun der Uebersetzer dieses nicht zu unterscheiden weiss; wenn er nicht Geschmack, nicht Mut genug hat, hier einen Nebenbegriff wegzulassen, da statt der Metapher den eigentlichen Ausdruck zu setzen, dort eine Ellipsis zu ergaenzen oder anzubringen: so wird er uns alle Nachlaessigkeiten seines Originals ueberliefert und ihnen nichts als die Entschuldigung benommen haben, welche die Schwierigkeiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der Grundsprache fuer sie machen.

Die Rolle der Melanide ward von einer Aktrice gespielet, die nach einer neunjaehrigen Entfernung vom Theater aufs neue in allen den Vollkommenheiten wieder erschien, die Kenner und Nichtkenner, mit und ohne Einsicht, ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten. Madame Loewen verbindet mit dem silbernen Tone der sonoresten, lieblichsten Stimme, mit dem offensten, ruhigsten und gleichwohl ausdruckfaehigsten Gesichte von der Welt das feinste, schnel1ste Gefuehl, die sicherste, waermste Empfindung, die sich, zwar nicht immer so lebhaft, als es viele wuenschen, doch allezeit mit Anstand und Wuerde aeussert. In ihrer Deklamation akzentuiert sie richtig, aber nicht merklich. Der gaenzliche Mangel intensiver Akzente verursacht Monotonie; aber ohne ihr diese vorwerfen zu koennen, weiss sie dem sparsamern Gebrauche derselben durch eine andere Feinheit zu Hilfe zu kommen, von der, leider! sehr viele Akteurs ganz und gar nichts wissen. Ich will mich erklaeren. Man weiss, was in der Musik das Mouvement heisst; nicht der Takt, sondern der Grad der Langsamkeit oder Schnelligkeit, mit welchen der Takt gespielt wird. Dieses Mouvement ist durch das ganze Stueck einfoermig; in dem naemlichen Masse der Geschwindigkeit, in welchem die ersten Takte gespielet worden, muessen sie alle, bis zu den letzten, gespielet werden. Diese Einfoermigkeit ist in der Musik notwendig, weil ein Stueck nur einerlei ausdruecken kann, und ohne dieselbe gar keine Verbindung verschiedener Instrumente und Stimmen moeglich sein wuerde. Mit der Deklamation hingegen ist es ganz anders. Wenn wir einen Perioden von mehrern Gliedern als ein besonderes musikalisches Stueck annehmen und die Glieder als die Takte desselben betrachten, so muessen die Glieder, auch alsdenn, wenn sie vollkommen gleicher Laenge waeren und aus der naemlichen Anzahl von Silben des naemlichen Zeitmasses bestuenden, dennoch nie mit einerlei Geschwindigkeit gesprochen werden. Denn da sie, weder in Absicht auf die Deutlichkeit und den Nachdruck, noch in Ruecksicht auf den in dem ganzen Perioden herrschenden Affekt, von einerlei Wert und Belang sein koennen: so ist es der Natur gemaess, dass die Stimme die geringfuegigern schnell herausstoesst, fluechtig und nachlaessig darueber hinschlupft; auf den betraechtlichern aber verweilet, sie dehnet und schleift, und jedes Wort, und in jedem Worte jeden Buchstaben, uns zuzaehlet. Die Grade dieser Verschiedenheit sind unendlich; und ob sie sich schon durch keine kuenstliche Zeitteilchen bestimmen und gegeneinander abmessen lassen, so werden sie doch auch von dem ungelehrtesten Ohre unterschieden, sowie von der ungelehrtesten Zunge beobachtet, wenn die Rede aus einem durchdrungenen Herzen und nicht bloss aus einem fertigen Gedaechtnisse fliesset. Die Wirkung ist unglaublich, die dieses bestaendig abwechselnde Mouvement der Stimme hat; und werden vollends alle Abaenderungen des Tones, nicht bloss in Ansehung der Hoehe und Tiefe, der Staerke und Schwaeche, sondern auch des Rauhen und Sanften, des Schneidenden und Runden, sogar des Holprichten und Geschmeidigen an den rechten Stellen damit verbunden: so entstehet jene natuerliche Musik, gegen die sich unfehlbar unser Herz eroeffnet, weil es empfindet, dass sie aus dem Herzen entspringt, und die Kunst nur insofern daran Anteil hat, als auch die Kunst zur Natur werden kann. Und in dieser Musik, sage ich, ist die Aktrice, von welcher ich spreche, ganz vortrefflich, und ihr niemand zu vergleichen, als Herr Ekhof, der aber, indem er die intensiven Akzente auf einzelne Worte, worauf sie sich weniger befleissiget, noch hinzufueget, bloss dadurch seiner Deklamation eine hoehere Vollkommenheit zu geben imstande ist. Doch vielleicht hat sie auch diese in ihrer Gewalt; und ich urteile bloss so von ihr, weil ich sie noch in keinen Rollen gesehen, in welchen sich das Ruehrende zum Pathetischen erhebet. Ich erwarte sie in dem Trauerspiele und fahre indes in der Geschichte unsers Theaters fort.

Den vierten Abend (montags, den 27. v. M.) ward ein neues deutsches Original, betitelt "Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe", aufgefuehret. Es hat den Hrn. Heufeld in Wien zum Verfasser, der uns sagt, dass bereits zwei andere Stuecke von ihm den Beifall des dortigen Publikums erhalten haetten. Ich kenne sie nicht; aber nach dem gegenwaertigen zu urteilen, muessen sie nicht ganz schlecht sein.

Die Hauptzuege der Fabel und der groesste Teil der Situationen sind aus der "Neuen Heloise" des Rousseau entlehnet. Ich wuenschte, dass Herr Heufeld, ehe er zu Werke geschritten, die Beurteilung dieses Romans in den "Briefen, die neueste Literatur betreffend"[1] gelesen und studiert haette. Er wuerde mit einer sicherern Einsicht in die Schoenheiten seines Originals gearbeitet haben und vielleicht in vielen Stuecken gluecklicher gewesen sein.

Der Wert der "Neuen Heloise" ist, von der Seite der Erfindung, sehr gering, und das Beste darin ganz und gar keiner dramatischen Bearbeitung faehig. Die Situationen sind alltaeglich oder unnatuerlich, und die wenig guten so weit voneinander entfernt, dass sie sich, ohne Gewaltsamkeit, in den engen Raum eines Schauspiels von drei Aufzuegen nicht zwingen lassen. Die Geschichte konnte sich auf der Buehne unmoeglich so schliessen, wie sie sich in dem Romane nicht sowohl schliesst, als verlieret. Der Liebhaber der Julie musste hier gluecklich werden, und Herr Heufeld laesst ihn gluecklich werden. Er bekoemmt seine Schuelerin. Aber hat Herr Heufeld auch ueberlegt, dass seine Julie nun gar nicht mehr die Julie des Rousseau ist? Doch Julie des Rousseau oder nicht: wem liegt daran? Wenn sie nur sonst eine Person ist, die interessierst. Aber eben das ist sie nicht; sie ist nichts als eine kleine verliebte Naerrin, die manchmal artig genug schwatzet, wenn sich Herr Heufeld auf eine schoene Stelle im Rousseau besinnet. "Julie", sagt der Kunstrichter, dessen Urteils ich erwaehnet habe, "spielt in der Geschichte eine zweifache Rolle. Sie ist anfangs ein schwaches und sogar etwas verfuehrerisches Maedchen und wird zuletzt ein Frauenzimmer, das, als ein Muster der Tugend, alle, die man jemals erdichtet hat, weit uebertrifft." Dieses letztere wird sie durch ihren Gehorsam, durch die Aufopferung ihrer Liebe, durch die Gewalt, die sie ueber ihr Herz gewinnet. Wenn nun aber von allen diesen in dem Stuecke nichts zu hoeren und zu sehen ist: was bleibt von ihr uebrig, als, wie gesagt, das schwache verfuehrerische Maedchen, das Tugend und Weisheit auf der Zunge, und Torheit im Herzen hat?

Den St. Preux des Rousseau hat Herr Heufeld in einen Siegmund umgetauft. Der Name Siegmund schmecket bei uns ziemlich nach dem Domestiken. Ich wuenschte, dass unsere dramatischen Dichter auch in solchen Kleinigkeiten ein wenig gesuchterer, und auf den Ton der grossen Welt aufmerksamer sein wollten.—St. Preux spielt schon bei dem Rousseau eine sehr abgeschmackte Figur. "Sie nennen ihn alle", sagt der angefuehrte Kunstrichter, "den Philosophen. Den Philosophen! Ich moechte wissen, was der junge Mensch in der ganzen Geschichte spricht oder tut, dadurch er diesen Namen verdienst? In meinen Augen ist er der albernste Mensch von der Welt, der in all- gemeinen Ausrufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel erhebt und nicht den geringsten Funken davon besitzet. In seiner Liebe ist er abenteuerlich, schwuelstig, ausgelassen, und in seinem uebrigen Tun und Lassen findet sich nicht die geringste Spur von Ueberlegung. Er setzet das stolzeste Zutrauen in seine Vernunft und ist dennoch nicht entschlossen genug, den kleinsten Schritt zu tun, ohne von seiner Schuelerin oder von seinem Freunde an der Hand gefuehret zu werden."—Aber wie tief ist der deutsche Siegmund noch unter diesem St. Preux!

——Fussnote

[1] Teil X, S. 255 u. f.

——Fussnote

Neuntes Stueck
Den 29. Mai 1767

In dem Romane hat St. Preux doch noch dann und wann Gelegenheit, seinen aufgeklaerten Verstand zu zeigen und die taetige Rolle des rechtschaffenen Mannes zu spielen. Aber Siegmund in der Komoedie ist weiter nichts, als ein kleiner eingebildeter Pedant, der aus seiner Schwachheit eine Tugend macht und sich sehr beleidiget findet, dass man seinem zaertlichen Herzchen nicht durchgaengig will Gerechtigkeit widerfahren lassen. Seine ganze Wirksamkeit laeuft auf ein paar maechtige Torheiten heraus. Das Buerschchen will sich schlagen und erstechen.

Der Verfasser hat es selbst empfunden, dass sein Siegmund nicht in genugsamer Handlung erscheinet; aber er glaubt, diesem Einwurfe dadurch vorzubeugen, wenn er zu erwaegen gibt: "dass ein Mensch seinesgleichen, in einer Zeit von vierundzwanzig Stunden, nicht wie ein Koenig, dem alle Augenblicke Gelegenheiten dazu darbieten, grosse Handlungen verrichten koenne. Man muesse zum voraus annehmen, dass er ein rechtschaffener Mann sei, wie er beschrieben werde; und genug, dass Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, lauter rechtschaffene Leute, ihn dafuer erkannt haetten."

Es ist recht wohl gehandelt, wenn man, im gemeinen Leben, in den Charakter anderer kein beleidigendes Misstrauen setzt; wenn man dem Zeugnisse, das sich ehrliche Leute untereinander erteilen, allen Glauben beimisst. Aber darf uns der dramatische Dichter mit dieser Regel der Billigkeit abspeisen? Gewiss nicht; ob er sich schon sein Geschaeft dadurch sehr leicht machen koennte. Wir wollen es auf der Buehne sehen, wer die Menschen sind, und koennen es nur aus ihren Taten sehen. Das Gute, das wir ihnen, bloss auf anderer Wort, zutrauen sollen, kann uns unmoeglich fuer sie interessieren; es laesst uns voellig gleichgueltig, und wenn wir nie die geringste eigene Erfahrung davon erhalten, so hat es sogar eine ueble Rueckwirkung auf diejenigen, auf deren Treu und Glauben wir es einzig und allein annehmen sollen. Weit gefehlt also, dass wir deswegen, weil Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, den Siegmund fuer den vortrefflichsten, vollkommensten jungen Menschen erklaeren, ihn auch dafuer zu erkennen bereit sein sollten: so fangen wir vielmehr an, in die Einsicht aller dieser Personen ein Misstrauen zu setzen, wenn wir nie mit unsern eigenen Augen etwas sehen, was ihre guenstige Meinung rechtfertiget. Es ist wahr, in vierundzwanzig Stunden kann eine Privatperson nicht viel grosse Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn grosse? Auch in den kleinsten kann sich der Charakter schildern; und nur die, welche das meiste Licht auf ihn werfen, sind, nach der poetischen Schaetzung, die groessten. Wie traf es sich denn indes, dass vierundzwanzig Stunden Zeit genug waren, dem Siegmund zu den zwei aeussersten Narrheiten Gelegenheit zu schaffen, die einem Menschen in seinen Umstaenden nur immer einfallen koennen? Die Gelegenheiten sind auch darnach; koennte der Verfasser antworten: doch das wird er wohl nicht. Sie moechten aber noch so natuerlich herbeigefuehret, noch so fein behandelt sein: so wuerden darum die Narrheiten selbst, die wir ihn zu begehen im Begriffe sehen, ihre ueble Wirkung auf unsere Idee von dem jungen stuermischen Scheinweisen nicht verlieren. Dass er schlecht handele, sehen wir: dass er gut handeln koenne, hoeren wir nur, und nicht einmal in Beispielen, sondern in den allgemeinsten schwankendsten Ausdruecken.

Die Haerte, mit der Julien von ihrem Vater begegnet wird, da sie einen andern von ihm zum Gemahle nehmen soll, als den ihr Herz gewaehlet hatte, wird beim Rousseau nur kaum beruehrt. Herr Heufeld hatte den Mut, uns eine ganze Szene davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er laesst den Vater die Tochter zu Boden stossen. Ich war um die Ausfuehrung dieser Aktion besorgt. Aber vergebens; unsere Schauspieler hatten sie so wohl konzertieret; es ward, von seiten des Vaters und der Tochter, so viel Anstand dabei beobachtet, und dieser Anstand tat der Wahrheit so wenig Abbruch, dass ich mir gestehen musste, diesen Akteurs koenne man so etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld verlangt, dass, wenn Julie von ihrer Mutter aufgehoben wird, sich in ihrem Gesichte Blut zeigen soll. Es kann ihm lieb sein, dass dieses unterlassen worden. Die Pantomime muss nie bis zu dem Ekelhaften getrieben werden. Gut, wenn in solchen Faellen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu sehen glaubt; aber das Auge muss es nicht wirklich sehen.

Die darauf folgende Szene ist die hervorragendste des ganzen Stueckes. Sie gehoert dem Rousseau. Ich weiss selbst nicht, welcher Unwille sich in die Empfindung des Pathetischen mischet, wenn wir einen Vater seine Tochter fussfaellig um etwas bitten sehen. Es beleidiget, es kraenket uns, denjenigen so erniedriget zu erblicken, dem die Natur so heilige Rechte uebertragen hat. Dem Rousseau muss man diesen ausserordentlichen Hebel verzeihen; die Masse ist zu gross, die er in Bewegung setzen soll. Da keine Gruende bei Julien anschlagen wollen; da ihr Herz in der Verfassung ist, dass es sich durch die aeusserste Strenge in seinem Entschlusse nur noch mehr befestigen wuerde: so konnte sie nur durch die ploetzliche Ueberraschung der unerwartetsten Begegnung erschuettert, und in einer Art von Betaeubung umgelenket werden. Die Geliebte sollte sich in die Tochter, verfuehrerische Zaertlichkeit in blinden Gehorsam verwandeln; da Rousseau kein Mittel sahe, der Natur diese Veraenderung abzugewinnen, so musste er sich entschliessen, ihr sie abzunoetigen, oder, wenn man will, abzustehlen. Auf keine andere Weise konnten wir es Julien in der Folge vergeben, dass sie den inbruenstigsten Liebhaber dem kaeltesten Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da diese Aufopferung in der Komoedie nicht erfolget; da es nicht die Tochter, sondern der Vater ist, der endlich nachgibt: haette Herr Heufeld die Wendung nicht ein wenig lindern sollen, durch die Rousseau bloss das Befremdliche jener Aufopferung rechtfertigen und das Ungewoehnliche derselben vor dem Vorwurfe des Unnatuerlichen in Sicherheit setzen wollte?—Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das getan haette, so wuerden wir um eine Szene gekommen sein, die, wenn sie schon nicht so recht in das Ganze passen will, doch sehr kraeftig ist; er wuerde uns ein hohes Licht in seiner Kopie vermalt haben, von dem man zwar nicht eigentlich weiss, wo es herkoemmt, das aber eine treffliche Wirkung tut. Die Art, mit der Herr Ekhof diese Szene ausfuehrte, die Aktion, mit der er einen Teil der grauen Haare vors Auge brachte, bei welchen er die Tochter beschwor, waeren es allein wert gewesen, eine kleine Unschicklichkeit zu begehen, die vielleicht niemanden, als dem kalten Kunstrichter, bei Zergliederung des Planes, merklich wird.

Das Nachspiel dieses Abends war "Der Schatz", die Nachahmung des Plautinschen "Trinummus", in welcher der Verfasser alle die komischen Szenen seines Originals in einen Aufzug zu konzentrieren gesucht hat. Er ward sehr wohl gespielt. Die Akteurs alle wussten ihre Rollen mit der Fertigkeit, die zu dem Niedrigkomischen so notwendig erfodert wird. Wenn ein halbschieriger Einfall, eine Unbesonnenheit, ein Wortspiel langsam und stotternd vorgebracht wird; wenn sich die Personen auf Armseligkeiten, die weiter nichts als den Mund in Falten setzen sollen, noch erst viel besinnen: so ist die Langeweile unvermeidlich. Possen muessen Schlag auf Schlag gesagt werden, und der Zuhoerer muss keinen Augenblick Zeit haben, zu untersuchen, wie witzig oder unwitzig sie sind. Es sind keine Frauenzimmer in diesem Stuecke; das einzige, welches noch anzubringen gewesen waere, wuerde eine frostige Liebhaberin sein; und freilich lieber keines, als so eines. Sonst moechte ich es niemanden raten, sich dieser Besondernheit zu befleissigen. Wir sind zu sehr an die Untermengung beider Geschlechter gewoehnet, als dass wir bei gaenzlicher Vermissung des reizendern nicht etwas Leeres empfinden sollten.

Unter den Italienern hat ehedem Cecchi, und neuerlich unter den Franzosen Destouches, das naemliche Lustspiel des Plautus wieder auf die Buehne gebracht. Sie haben beide grosse Stuecke von fuenf Aufzuegen daraus gemacht und sind daher genoetiget gewesen, den Plan des Roemers mit eignen Erfindungen zu erweitern. Das vom Cecchi heisst "Die Mitgift" und wird vom Riccoboni, in seiner Geschichte des italienischen Theaters, als eines von den besten alten Lustspielen desselben empfohlen. Das vom Destouches fuehrt den Titel "Der verborgne Schatz", und ward ein einziges Mal, im Jahre 1745, auf der italienischen Buehne zu Paris, und auch dieses einzige Mal nicht ganz bis zu Ende, aufgefuehret. Es fand keinen Beifall, und ist erst nach dem Tode des Verfassers, und also verschiedene Jahre spaeter, als der deutsche Schatz, im Drucke erschienen. Plautus selbst ist nicht der erste Erfinder dieses so gluecklichen, und von mehrern mit so vieler Nacheifrung bearbeiteten Stoffes gewesen; sondern Philemon, bei dem es eben die simple Aufschrift hatte, zu der es im Deutschen wieder zurueckgefuehret worden. Plautus hatte seine ganz eigne Manier, in Benennung seiner Stuecke; und meistenteils nahm er sie von dem aller- unerheblichsten Umstande her. Dieses z.E. nennte er "Trinummus", den Dreiling; weil der Sykophant einen Dreiling fuer seine Muehe bekam.

Zehntes Stueck
Den 2. Juni 1767

Das Stueck des fuenften Abends (dienstags, den 28. April) war "Das unvermutete Hindernis oder das Hindernis ohne Hindernis" vom Destouches.

Wenn wir die Annales des franzoesischen Theaters nachschlagen, so finden wir, dass die lustigsten Stuecke dieses Verfassers gerade den allerwenigsten Beifall gehabt haben. Weder das gegenwaertige, noch "Der verborgne Schatz", noch "Das Gespenst mit der Trommel", noch "Der poetische Dorfjunker" haben sich darauf erhalten; und sind, selbst in ihrer Neuheit, nur wenigemal aufgefuehret worden. Es beruhet sehr viel auf dem Tone, in welchem sich ein Dichter ankuendiget, oder in welchem er seine besten Werke verfertiget. Man nimmt stillschweigend an, als ob er eine Verbindung dadurch eingehe, sich von diesem Tone niemals zu entfernen; und wenn er es tut, duenket man sich berechtiget, darueber zu stutzen. Man sucht den Verfasser in dem Verfasser und glaubt, etwas Schlechters zu finden, sobald man nicht das naemliche findet. Destouches hatte in seinem "Verheirateten Philosophen", in seinem "Ruhmredigen", in seinem "Verschwender" Muster eines feinern, hoehern Komischen gegeben, als man vom Moliere, selbst in seinen ernsthaftesten Stuecken, gewohnt war. Sogleich machten die Kunstrichter, die so gern klassifizieren, dieses zu seiner eigentuemlichen Sphaere; was bei dem Poeten vielleicht nichts als zufaellige Wahl war, erklaerten sie fuer vorzueglichen Hang und herrschende Faehigkeit; was er einmal, zweimal nicht gewollt hatte, schien er ihnen nicht zu koennen: und als er nunmehr wollte, was sieht Kunstrichtern aehnlicher, als dass sie ihm lieber nicht Gerechtigkeit widerfahren liessen, ehe sie ihr voreiliges Urteil aenderten? Ich will damit nicht sagen, dass das Niedrigkomische des Destouches mit dem Molierischen von einerlei Guete sei. Es ist wirklich um vieles steifer; der witzige Kopf ist mehr darin zu spueren, als der getreue Maler; seine Narren sind selten von den behaglichen Narren, wie sie aus den Haenden der Natur kommen, sondern mehrenteils von der hoelzernen Gattung, wie sie die Kunst schnitzelt und mit Affektation, mit verfehlter Lebensart, mit Pedanterie ueberladet; sein Schulwitz, sein Masuren sind daher frostiger als laecherlich. Aber demohngeachtet,—und nur dieses wollte ich sagen,—sind seine lustigen Stuecke am wahren Komischen so geringhaltig noch nicht, als sie ein verzaertelter Geschmack findet; sie haben Szenen mitunter, die uns aus Herzensgrunde zu lachen machen, und die ihm allein einen ansehnlichen Rang unter den komischen Dichtern versichern koennten.

Hierauf folgte ein neues Lustspiel in einem Aufzuge, betitelt "Die neue
Agnese".

Madame Gertrude spielte vor den Augen der Welt die fromme Sproede; aber insgeheim war sie die gefaellige, feurige Freundin eines gewissen Bernard. "Wie gluecklich, o wie gluecklich machst du mich, Bernard!" rief sie einst in der Entzueckung, und ward von ihrer Tochter behorcht. Morgens darauf fragte das liebe einfaeltige Maedchen: "Aber Mama, wer ist denn der Bernard, der die Leute gluecklich macht?" Die Mutter merkte sich verraten, fasste sich aber geschwind. "Er ist der Heilige, meine Tochter, den ich mir kuerzlich gewaehlt habe; einer von den groessten im Paradiese." Nicht lange, so ward die Tochter mit einem gewissen Hilar bekannt. Das gute Kind fand in seinem Umgange recht viel Vergnuegen; Mama bekoemmt Verdacht; Mama beschleicht das glueckliche Paar; und da bekoemmt Mama von dem Toechterchen ebenso schoene Seufzer zu hoeren, als das Toechterchen juengst von Mama gehoert hatte. Die Mutter ergrimmt, ueberfaellt sie, tobt. "Nun, was denn, liebe Mama?" sagt endlich das ruhige Maedchen. "Sie haben sich den h. Bernard gewaehlt; und ich, ich mir den h. Hilar. Warum nicht?"—Dieses ist eines von den lehrreichen Maerchen, mit welchen das weise Alter des goettlichen Voltaire die junge Welt beschenkte. Favart fand es gerade so erbaulich, als die Fabel zu einer komischen Oper sein muss. Er sahe nichts Anstoessiges darin, als die Namen der Heiligen, und diesem Anstosse wusste er auszuweichen. Er machte aus Madame Gertrude eine platonische Weise, eine Anhaengerin der Lehre des Gabalis; und der h. Bernard ward zu einem Sylphen, der unter dem Namen und in der Gestalt eines guten Bekannten die tugendhafte Frau besucht. Zum Sylphen ward dann auch Hilar, und so weiter. Kurz, es entstand die Operette "Isabelle und Getrude, oder die vermeinten Sylphen", welche die Grundlage zur "Neuen Agnese" ist. Man hat die Sitten darin den unsrigen naeherzubringen gesucht; man hat sich aller Anstaendigkeit beflissen; das liebe Maedchen ist von der reizendsten, verehrungswuerdigsten Unschuld; und durch das Ganze sind eine Menge gute komische Einfaelle verstreuet, die zum Teil dem deutschen Verfasser eigen sind. Ich kann mich in die Veraenderungen selbst, die er mit seiner Urschrift gemacht, nicht naeher einlassen; aber Personen von Geschmack, welchen diese nicht unbekannt war, wuenschten, dass er die Nachbarin, anstatt des Vaters, beibehalten haette.—Die Rolle der Agnese spielte Mademoiselle Felbrich, ein junges Frauenzimmer, das eine vortreffliche Aktrice verspricht und daher die beste Aufmunterung verdienet. Alter, Figur, Miene, Stimme, alles koemmt ihr hier zustatten; und ob sich, bei diesen Naturgaben, in einer solchen Rolle schon vieles von selbst spielet: so muss man ihr doch auch eine Menge Feinheiten zugestehen, die Vorbedacht und Kunst, aber gerade nicht mehr und nicht weniger verrieten, als sich an einer Agnese verraten darf.

Den sechsten Abend (mittwochs, den 29. April) ward die "Semiramis" des
Hrn. von Voltaire aufgefuehret.

Dieses Trauerspiel ward im Jahre 1748 auf die franzoesische Buehne gebracht, erhielt grossen Beifall und macht in der Geschichte dieser Buehne gewissermassen Epoche.—Nachdem der Hr. von Voltaire seine "Zaire" und "Alzire", seinen "Brutus" und "Caesar" geliefert hatte, ward er in der Meinung bestaerkt, dass die tragischen Dichter seiner Nation die alten Griechen in vielen Stuecken weit uebertraefen. "Von uns Franzosen", sagt er, "haetten die Griechen eine geschicktere Exposition und die grosse Kunst, die Auftritte untereinander so zu verbinden, dass die Szene niemals leer bleibt und keine Person weder ohne Ursache koemmt noch abgehet, lernen koennen. Von uns", sagt er, "haetten sie lernen koennen, wie Nebenbuhler und Nebenbuhlerinnen in witzigen Antithesen miteinander sprechen; wie der Dichter mit einer Menge erhabner, glaenzender Gedanken blenden und in Erstaunen setzen muesse. Von uns haetten sie lernen koennen"—O freilich; was ist von den Franzosen nicht alles zu lernen! Hier und da moechte zwar ein Auslaender, der die Alten auch ein wenig gelesen hat, demuetig um Erlaubnis bitten, anderer Meinung sein zu duerfen. Er moechte vielleicht einwenden, dass alle diese Vorzuege der Franzosen auf das Wesentliche des Trauerspiels eben keinen grossen Einfluss haetten; dass es Schoenheiten waeren, welche die einfaeltige Groesse der Alten verachtet habe. Doch was hilft es, dem Herrn von Voltaire etwas einzuwenden? Er spricht, und man glaubt. Ein einziges vermisste er bei seiner Buehne; dass die grossen Meisterstuecke derselben nicht mit der Pracht aufgefuehret wuerden, deren doch die Griechen die kleinen Versuche einer erst sich bildenden Kunst gewuerdiget haetten. Das Theater in Paris, ein altes Ballhaus, mit Verzierungen von dem schlechtesten Geschmacke, wo sich in einem schmutzigen Parterre das stehende Volk draengt und stoesst, beleidigte ihn mit Recht; und besonders beleidigte ihn die barbarische Gewohnheit, die Zuschauer auf der Buehne zu dulden, wo sie den Akteurs kaum so viel Platz lassen, als zu ihren notwendigsten Bewegungen erforderlich ist. Er war ueberzeugt, dass bloss dieser Uebe1stand Frankreich um vieles gebracht habe, was man, bei einem freiern, zu Handlungen bequemern und praechtigern Theater, ohne Zweifel gewagt haette. Und eine Probe hiervon zu geben, verfertigte er seine "Semiramis". Eine Koenigin, welche die Staende ihres Reichs versammelt, um ihnen ihre Vermaehlung zu eroeffnen; ein Gespenst, das aus seiner Gruft steigt, um Blutschande zu verhindern und sich an seinem Moerder zu raechen; diese Gruft, in die ein Narr hereingeht, um als ein Verbrecher wieder herauszukommen: das alles war in der Tat fuer die Franzosen etwas ganz Neues. Es macht so viel Laermen auf der Buehne, es erfordert so viel Pomp und Verwandlung, als man nur immer in einer Oper gewohnt ist. Der Dichter glaubte das Muster zu einer ganz besondern Gattung gegeben zu haben; und ob er es schon nicht fuer die franzoesische Buehne, so wie sie war, sondern so wie er sie wuenschte, gemacht hatte: so ward es dennoch auf derselben, vorderhand, so gut gespielet, als es sich ohngefaehr spielen liess. Bei der ersten Vorstellung sassen die Zuschauer noch mit auf dem Theater; und ich haette wohl ein altvaetrisches Gespenst in einem so galanten Zirkel moegen erscheinen sehen. Erst bei den folgenden Vorstellungen ward dieser Unschicklichkeit abgeholfen; die Akteurs machten sich ihre Buehne frei; und was damals nur eine Ausnahme, zum Besten eines so ausserordentlichen Stueckes, war, ist nach der Zeit die bestaendige Einrichtung geworden. Aber vornehmlich nur fuer die Buehne in Paris; fuer die, wie gesagt, "Semiramis" in diesem Stuecke Epoche macht. In den Provinzen bleibet man noch haeufig bei der alten Mode, und will lieber aller Illusion, als dem Vorrechte entsagen, den Zairen und Meropen auf die Schleppe treten zu koennen.

Eilftes Stueck
Den 5. Junius 1767

Die Erscheinung eines Geistes war in einem franzoesischen Trauerspiele eine so kuehne Neuheit, und der Dichter, der sie wagte, rechtfertiget sie mit so eignen Gruenden, dass es sich der Muehe lohnet, einen Augenblick dabei zu verweilen.

"Man schrie und schrieb von allen Seiten", sagt der Herr von Voltaire, "dass man an Gespenster nicht mehr glaube und dass die Erscheinung der Toten, in den Augen einer erleuchteten Nation, nicht anders als kindisch sein koenne." "Wie?" versetzt er dagegen; "das ganze Altertum haette diese Wunder geglaubt, und es sollte nicht vergoennt sein, sich nach dem Altertume zu richten? Wie? unsere Religion haette dergleichen ausserordentliche Fuegungen der Vorsicht geheiliget, und es sollte laecherlich sein, sie zu erneuern?"

Diese Ausrufungen, duenkt mich, sind rhetorischer, als gruendlich. Vor allen Dingen wuenschte ich, die Religion hier aus dem Spiele zu lassen. In Dingen des Geschmacks und der Kritik sind Gruende, aus ihr genommen, recht gut, seinen Gegner zum Stillschweigen zu bringen, aber nicht so recht tauglich, ihn zu ueberzeugen. Die Religion, als Religion, muss hier nichts entscheiden sollen; nur als eine Art von Ueberlieferung des Altertums, gilt ihr Zeugnis nicht mehr und nicht weniger, als andere Zeugnisse des Altertums gelten. Und sonach haetten wir es auch hier nur mit dem Altertume zu tun.

Sehr wohl; das ganze Altertum hat Gespenster geglaubt. Die dramatischen Dichter des Altertums hatten also recht, diesen Glauben zu nutzen; wenn wir bei einem von ihnen wiederkommende Tote aufgefuehret finden, so waere es unbillig, ihm nach unsern bessern Einsichten den Prozess zu machen. Aber hat darum der neue, diese unsere bessere Einsichten teilende dramatische Dichter die naemliche Befugnis? Gewiss nicht.—Aber wenn er seine Geschichte in jene leichtglaeubigere Zeiten zuruecklegt? Auch alsdenn nicht. Denn der dramatische Dichter ist kein Geschichtschreiber; er erzaehlt nicht, was man ehedem geglaubt, dass es geschehen, sondern er laesst es vor unsern Augen nochmals geschehen; und laesst es nochmals geschehen, nicht der blossen historischen Wahrheit wegen, sondern in einer ganz andern und hoehern Absicht; die historische Wahrheit ist nicht sein Zweck, sondern nur das Mittel zu seinem Zwecke; er will uns taeuschen, und durch die Taeuschung ruehren. Wenn es also wahr ist, dass wir itzt keine Gespenster mehr glauben; wenn dieses Nichtglauben die Taeuschung notwendig verhindern muesste; wenn ohne Taeuschung wir unmoeglich sympathisieren koennen: so handelt itzt der dramatische Dichter wider sich selbst, wenn er uns demohngeachtet solche unglaubliche Maerchen ausstaffieret; alle Kunst, die er dabei anwendet, ist verloren.

Folglich? Folglich ist es durchaus nicht erlaubt, Gespenster und Erscheinungen auf die Buehne zu bringen? Folglich ist diese Quelle des Schrecklichen und Pathetischen fuer uns vertrocknet? Nein; dieser Verlust waere fuer die Poesie zu gross; und hat sie nicht Beispiele fuer sich, wo das Genie aller unserer Philosophie trotzet und Dinge, die der kalten Vernunft sehr spoettisch vorkommen, unserer Einbildung sehr fuerchterlich zu machen weiss? Die Folge muss daher anders fallen; und die Voraussetzung wird nur falsch sein. Wir glauben keine Gespenster mehr? Wer sagt das? Oder vielmehr, was heisst das? Heisst es so viel: wir sind endlich in unsern Einsichten so weit gekommen, dass wir die Unmoeglichkeit davon erweisen koennen; gewisse unumstoessliche Wahrheiten, die mit dem Glauben an Gespenster im Widerspruche stehen, sind so allgemein bekannt worden, sind auch dem gemeinsten Manne immer und bestaendig so gegenwaertig, dass ihm alles, was damit streitet, notwendig laecherlich und abgeschmackt vorkommen muss? Das kann es nicht heissen. Wir glauben itzt keine Gespenster, kann also nur so viel heissen: in dieser Sache, ueber die sich fast ebensoviel dafuer als darwider sagen laesst, die nicht entschieden ist und nicht entschieden werden kann, hat die gegenwaertig herrschende Art zu denken den Gruenden darwider das Uebergewicht gegeben; einige wenige haben diese Art zu denken, und viele wollen sie zu haben scheinen; diese machen das Geschrei und geben den Ton; der groesste Haufe schweigt und verhaelt sich gleichgueltig und denkt bald so, bald anders, hoert beim hellen Tage mit Vergnuegen ueber die Gespenster spotten und bei dunkler Nacht mit Grausen davon erzaehlen.

Aber in diesem Verstande keine Gespenster glauben, kann und darf den dramatischen Dichter im geringsten nicht abhalten, Gebrauch davon zu machen. Der Same, sie zu glauben, liegt in uns allen, und in denen am haeufigsten, fuer die er vornehmlich dichtet. Es koemmt nur auf seine Kunst an, diesen Samen zum Keimen zu bringen; nur auf gewisse Handgriffe, den Gruenden fuer ihre Wirklichkeit in der Geschwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er diese in seiner Gewalt, so moegen wir in gemeinem Leben glauben, was wir wollen; im Theater muessen wir glauben, was Er will.

So ein Dichter ist Shakespeare, und Shakespeare fast einzig und allein. Vor seinem Gespenste im "Hamlet" richten sich die Haare zu Berge, sie moegen ein glaeubiges oder unglaeubiges Gehirn bedecken. Der Herr von Voltaire tat gar nicht wohl, sich auf dieses Gespenst zu berufen; es macht ihn und seinen Geist des Ninus—laecherlich.

Shakespeares Gespenst koemmt wirklich aus jener Welt; so duenkt uns. Denn es koemmt zu der feierlichen Stunde, in der schaudernden Stille der Nacht, in der vollen Begleitung aller der duestern, geheimnisvollen Nebenbegriffe, wenn und mit welchen wir, von der Amme an, Gespenster zu erwarten und zu denken gewohnt sind. Aber Voltairens Geist ist auch nicht einmal zum Popanze gut, Kinder damit zu erschrecken; es ist der blosse verkleidete Komoediant, der nichts hat, nichts sagt, nichts tut, was es wahrscheinlich machen koennte, er waere das, wofuer er sich ausgibt; alle Umstaende vielmehr, unter welchen er erscheinet, stoeren den Betrug und verraten das Geschoepf eines kalten Dichters, der uns gern taeuschen und schrecken moechte, ohne dass er weiss, wie er es anfangen soll. Man ueberlege auch nur dieses einzige: am hellen Tage, mitten in der Versammlung der Staende des Reichs, von einem Donnerschlage angekuendiget, tritt das Voltairische Gespenst aus seiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehoert, dass Gespenster so dreist sind? Welche alte Frau haette ihm nicht sagen koennen, dass die Gespenster das Sonnenlicht scheuen und grosse Gesellschaften gar nicht gern besuchten? Doch Voltaire wusste zuverlaessig das auch; aber er war zu furchtsam, zu ekel, diese gemeinen Umstaende zu nutzen; er wollte uns einen Geist zeigen, aber es sollte ein Geist von einer edlern Art sein; und durch diese edlere Art verdarb er alles. Das Gespenst, das sich Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten unter den Gespenstern sind, duenket mich kein rechtes Gespenst zu sein; und alles, was die Illusion hier nicht befoerdert, stoeret die Illusion.

Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die Pantomime genommen haette, so wuerde er auch von einer andern Seite die Unschicklichkeit empfunden haben, ein Gespenst vor den Augen einer grossen Menge erscheinen zu lassen. Alle muessen auf einmal, bei Erblickung desselben, Furcht und Entsetzen aeussern; alle muessen es auf verschiedene Art aeussern, wenn der Anblick nicht die frostige Symmetrie eines Balletts haben soll. Nun richte man einmal eine Herde dumme Statisten dazu ab; und wenn man sie auf das gluecklichste abgerichtet hat, so bedenke man, wie sehr dieser vielfache Ausdruck des naemlichen Affekts die Aufmerksamkeit teilen, und von den Hauptpersonen abziehen muss. Wenn diese den rechten Eindruck auf uns machen sollen, so muessen wir sie nicht allein sehen koennen, sondern es ist auch gut, wenn wir sonst nichts sehen, als sie. Beim Shakespeare ist es der einzige Hamlet, mit dem sich das Gespenst einlaesst; in der Szene, wo die Mutter dabei ist, wird es von der Mutter weder gesehen noch gehoert. Alle unsere Beobachtung geht also auf ihn, und je mehr Merkmale eines von Schauder und Schrecken zerruetteten Gemuets wir an ihm entdecken, desto bereitwilliger sind wir, die Erscheinung, welche diese Zerruettung in ihm verursacht, fuer eben das zu halten, wofuer er sie haelt. Das Gespenst wirket auf uns, mehr durch ihn, als durch sich selbst. Der Eindruck, den es auf ihn macht, gehet in uns ueber, und die Wirkung ist zu augenscheinlich und zu stark, als dass wir an der ausserordentlichen Ursache zweifeln sollten. Wie wenig hat Voltaire auch diesen Kunstgriff verstanden! Es erschrecken ueber seinen Geist viele; aber nicht viel. Semiramis ruft einmal: "Himmel! ich sterbe!" und die andern machen nicht mehr Umstaende mit ihm, als man ohngefaehr mit einem weit entfernt geglaubten Freunde machen wuerde, der auf einmal ins Zimmer tritt.

Zwoelftes Stueck
Den 9. Junius 1767

Ich bemerke noch einen Unterschied, der sich zwischen den Gespenstern des englischen und franzoesischen Dichters findet. Voltaires Gespenst ist nichts als eine poetische Maschine, die nur des Knotens wegen da ist; es interessiert uns fuer sich selbst nicht im geringsten. Shakespeares Gespenst hingegen ist eine wirklich handelnde Person, an dessen Schicksale wir Anteil nehmen; es erweckt Schauder, aber auch Mitleid.

Dieser Unterschied entsprang, ohne Zweifel, aus der verschiedenen Denkungsart beider Dichter von den Gespenstern ueberhaupt. Voltaire betrachtet die Erscheinung eines Verstorbenen als ein Wunder; Shakespeare als eine ganz natuerliche Begebenheit. Wer von beiden philosophischer denkt, duerfte keine Frage sein; aber Shakespeare dachte poetischer. Der Geist des Ninus kam bei Voltairen als ein Wesen, das noch jenseit dem Grabe angenehmer und unangenehmer Empfindungen faehig ist, mit welchem wir also Mitleiden haben koennen, in keine Betrachtung. Er wollte bloss damit lehren, dass die hoechste Macht, um verborgene Verbrechen ans Licht zu bringen und zu bestrafen, auch wohl eine Ausnahme von ihren ewigen Gesetzen mache.

Ich will nicht sagen, dass es ein Fehler ist, wenn der dramatische Dichter seine Fabel so einrichtet, dass sie zur Erlaeuterung oder Bestaetigung irgendeiner grossen moralischen Wahrheit dienen kann. Aber ich darf sagen, dass diese Einrichtung der Fabel nichts weniger als notwendig ist; dass sehr lehrreiche vollkommene Stuecke geben kann, die auf keine solche einzelne Maxime abzwecken; dass man unrecht tut, den letzten Sittenspruch, den man zum Schlusse verschiedener Trauerspiele der Alten findet, so anzusehen, als ob das Ganze bloss um seinetwillen da waere.

Wenn daher die "Semiramis" des Herrn von Voltaire weiter kein Verdienst haette, als dieses, worauf er sich so viel zugute tut, dass man naemlich daraus die hoechste Gerechtigkeit verehren lerne, die, ausserordentliche Lastertaten zu strafen, ausserordentliche Wege waehle: so wuerde "Semiramis" in meinen Augen nur ein sehr mittelmaessiges Stueck sein. Besonders da diese Moral selbst nicht eben die erbaulichste ist. Denn es ist ohnstreitig dem weisesten Wesen weit anstaendiger, wenn es dieser ausserordentlichen Wege nicht bedarf und wir uns die Bestrafung des Guten und Boesen in die ordentliche Kette der Dinge von ihr mit eingeflochten denken.

Doch ich will mich bei dem Stuecke nicht laenger verweilen, um noch ein Wort von der Art zu sagen, wie es hier aufgefuehret worden. Man hat alle Ursache, damit zufrieden zu sein. Die Buehne ist geraeumlich genug, die Menge von Personen ohne Verwirrung zu fassen, die der Dichter in verschiedenen Szenen auftreten laesst. Die Verzierungen sind neu, von dem besten Geschmacke, und sammeln den so oft abwechselnden Ort so gut als moeglich in einen.

Den siebenten Abend (donnerstags, den 30. April) ward "Der verheiratete
Philosoph", vom Destouches, gespielet.

Dieses Lustspiel kam im Jahr 1727 zuerst auf die franzoesische Buehne und fand so allgemeinen Beifall, dass es in Jahr und Tag sechsunddreissigmal aufgefuehret ward. Die deutsche Uebersetzung ist nicht die prosaische aus den zu Berlin uebersetzten saemtlichen Werken des Destouches; sondern eine in Versen, an der mehrere Haende geflickt und gebessert haben. Sie hat wirklich viel glueckliche Verse, aber auch viel harte und unnatuerliche Stellen. Es ist unbeschreiblich, wie schwer dergleichen Stellen dem Schauspieler das Agieren machen; und doch werden wenig franzoesische Stuecke sein, die auf irgendeinem deutschen Theater jemals besser ausgefallen waeren, als dieses auf unserm. Die Rollen sind alle auf das schicklichste besetzt, und besonders spielet Madame Loewen die launigte Celiante als eine Meisterin, und Herr Ackermann den Geront unverbesserlich. Ich kann es ueberhoben sein, von dem Stuecke selbst zu reden. Es ist zu bekannt und gehoert unstreitig unter die Meisterstuecke der franzoesischen Buehne, die man auch unter uns immer mit Vergnuegen sehen wird.

Das Stueck des achten Abends (freitags, den 1. Mai) war "Das Kaffeehaus, oder Die Schottlaenderin" des Hrn. von Voltaire.

Es liesse sich eine lange Geschichte von diesem Lustspiele machen. Sein Verfasser schickte es als eine Uebersetzung aus dem Englischen des Hume, nicht des Geschichtschreibers und Philosophen, sondern eines andern dieses Namens, der sich durch das Trauerspiel "Douglas" bekannt gemacht hat, in die Welt. Es hat in einigen Charakteren mit der "Kaffeeschenke" des Goldoni etwas Aehnliches; besonders scheint der Don Marzio des Goldoni das Urbild des Frelon gewesen zu sein. Was aber dort bloss ein boesartiger Kerl ist, ist hier zugleich ein elender Skribent, den er Frelon nannte, damit die Ausleger desto geschwinder auf seinen geschwornen Feind, den Journalisten Freron, fallen moechten. Diesen wollte er damit zu Boden schlagen, und ohne Zweifel hat er ihm einen empfindlichen Streich versetzt. Wir Auslaender, die wir an den haemischen Neckereien der franzoesischen Gelehrten unter sich keinen Anteil nehmen, sehen ueber die Persoenlichkeiten dieses Stuecks weg und finden in dem Frelon nichts als die getreue Schilderung einer Art von Leuten, die auch bei uns nicht fremd ist. Wir haben unsere Frelons so gut, wie die Franzosen und Englaender, nur dass sie bei uns weniger Aufsehen machen, weil uns unsere Literatur ueberhaupt gleichgueltiger ist. Fiele das Treffende dieses Charakters aber auch gaenzlich in Deutschland weg, so hat das Stueck doch, noch ausser ihm, Interesse genug, und der ehrliche Freeport allein koennte es in unserer Gunst erhalten. Wir lieben seine plumpe Edelmuetigkeit, und die Englaender selbst haben sich dadurch geschmeichelt gefunden.

Denn nur seinetwegen haben sie erst kuerzlich den ganzen Stamm auf den Grund wirklich verpflanzt, auf welchem er sich gewachsen zu sein ruehmte. Colman, unstreitig itzt ihr bester komischer Dichter, hat die "Schottlaenderin", unter dem Titel des "Englischen Kaufmanns", uebersetzt und ihr vollends alle das nationale Kolorit gegeben, das ihr in dem Originale noch mangelte. So sehr der Herr von Voltaire die englischen Sitten auch kennen will, so hatte er doch haeufig dagegen verstossen; z.E. darin, dass er seine Lindane auf einem Kaffeehause wohnen laesst. Colman mietet sie dafuer bei einer ehrlichen Frau ein, die moeblierte Zimmer haelt, und diese Frau ist weit anstaendiger die Freundin und Wohltaeterin der jungen verlassenen Schoene, als Fabriz. Auch die Charaktere hat Colman fuer den englischen Geschmack kraeftiger zu machen gesucht. Lady Alton ist nicht bloss eine eifersuechtige Furie; sie will ein Frauenzimmer von Genie, von Geschmack und Gelehrsamkeit sein und gibt sich das Ansehen einer Schutzgoettin der Literatur. Hierdurch glaubte er die Verbindung wahrscheinlicher zu machen, in der sie mit dem elenden Frelon stehet, den er Spatter nennet. Freeport vornehmlich hat eine weitere Sphaere von Taetigkeit bekommen, und er nimmt sich des Vaters der Lindane ebenso eifrig an, als der Lindane selbst. Was im Franzoesischen der Lord Falbridge zu dessen Begnadigung tut, tut im Englischen Freeport, und er ist es allein, der alles zu einem gluecklichen Ende bringet.

Die englischen Kunstrichter haben in Colmans Umarbeitung die Gesinnungen durchaus vortrefflich, den Dialog fein und lebhaft und die Charaktere sehr wohl ausgefuehrt gefunden. Aber doch ziehen sie ihr Colmans uebrige Stuecke weit vor, von welchen man "Die eifersuechtige Ehefrau" auf dem Ackermannischen Theater ehedem hier gesehen, und nach der diejenigen, die sich ihrer erinnern, ungefaehr urteilen koennen. "Der englische Kaufmann" hat ihnen nicht Handlung genug; die Neugierde wird ihnen nicht genug darin genaehret; die ganze Verwickelung ist in dem ersten Akte sichtbar. Hiernaechst hat er ihnen zuviel Aehnlichkeit mit andern Stuecken, und den besten Situationen fehlt die Neuheit. Freeport, meinen sie, haette nicht den geringsten Funken von Liebe gegen die Lindane empfinden muessen; seine gute Tat verliere dadurch alles Verdienst usw.

Es ist an dieser Kritik manches nicht ganz ungegruendet; indes sind wir Deutschen es sehr wohl zufrieden, dass die Handlung nicht reicher und verwickelter ist. Die englische Manier in diesem Punkte zerstreuet und ermuedet uns; wir lieben einen einfaeltigen Plan, der sich auf einmal uebersehen laesst. So wie die Englaender die franzoesischen Stuecke mit Episoden erst vollpfropfen muessen, wenn sie auf ihrer Buehne gefallen sollen; so muessten wir die englischen Stuecke von ihren Episoden erst entladen, wenn wir unsere Buehne gluecklich damit bereichern wollten. Ihre besten Lustspiele eines Congreve und Wycherley wuerden uns, ohne diesen Ausbau des allzu wolluestigen Wuchses, unausstehlich sein. Mit ihren Tragoedien werden wir noch eher fertig; diese sind zum Teil bei weitem so verworren nicht, als ihre Komoedien, und verschiedene haben, ohne die geringste Veraenderung, bei uns Glueck gemacht, welches ich von keiner einzigen ihrer Komoedien zu sagen wuesste.

Auch die Italiener haben eine Uebersetzung von der "Schottlaenderin", die in dem ersten Teile der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Sie folgt dem Originale Schritt vor Schritt, so wie die deutsche; nur eine Szene zum Schlusse hat ihr der Italiener mehr gegeben. Voltaire sagte, Frelon werde in der englischen Urschrift am Ende bestraft; aber so verdient diese Bestrafung sei, so habe sie ihm doch dem Hauptinteresse zu schaden geschienen; er habe sie also weggelassen. Dem Italiener duenkte diese Entschuldigung nicht hinlaenglich, und er ergaenzte die Bestrafung des Frelons aus seinem Kopfe; denn die Italiener sind grosse Liebhaber der poetischen Gerechtigkeit.

Dreizehntes Stueck
Den 12. Junius 1767

Den neunten Abend (montags, den 4. Mai) sollte "Cenie" gespielet werden. Es wurden aber auf einmal mehr als die Haelfte der Schauspieler durch einen epidemischen Zufall ausserstand gesetzet, zu agieren; und man musste sich so gut zu helfen suchen, als moeglich. Man wiederholte "Die neue Agnese" und gab das Singspiel "Die Gouvernante".

Den zehnten Abend (dienstags, den 5. Mai) ward "Der poetische
Dorfjunker", vom Destouches, aufgefuehrt.

Dieses Stueck hat im Franzoesischen drei Aufzuege, und in der Uebersetzung fuenfe. Ohne diese Verbesserung war es nicht wert, in die "Deutsche Schaubuehne" des weiland beruehmten Herrn Professor Gottscheds aufgenommen zu werden, und seine gelehrte Freundin, die Uebersetzerin, war eine viel zu brave Ehefrau, als dass sie sich nicht den kritischen Ausspruechen ihres Gemahls blindlings haette unterwerfen sollen. Was kostet es denn nun auch fuer grosse Muehe, aus drei Aufzuegen fuenfe zu machen? Man laesst in einem andern Zimmer einmal Kaffee trinken; man schlaegt einen Spaziergang im Garten vor; und wenn Not an den Mann gehet, so kann ja auch der Lichtputzer herauskommen und sagen: "Meine Damen und Herren, treten Sie ein wenig ab; die Zwischenakte sind des Putzens wegen erfunden, und was hilft Ihr Spielen, wenn das Parterre nicht sehen kann?"—Die Uebersetzung selbst ist sonst nicht schlecht, und besonders sind der Fr. Professorin die Knittelverse des Masuren, wie billig, sehr wohl gelungen. Ob sie ueberall ebenso gluecklich gewesen, wo sie den Einfaellen ihres Originals eine andere Wendung geben zu muessen geglaubt, wuerde sich aus der Vergleichung zeigen. Eine Verbesserung dieser Art, mit der es die liebe Frau recht herzlich gut gemeinet hatte, habe ich demohngeachtet aufmutzen hoeren. In der Szene, wo Henriette die alberne Dirne spielt, laesst Destouches den Masuren zu ihr sagen: "Sie setzen mich in Erstaunen, Mademoiselle; ich habe Sie fuer eine Virtuosin gehalten." "O pfui!" erwidert Henriette; "wofuer haben Sie mich gehalten? Ich bin ein ehrliches Maedchen; dass Sie es nur wissen." "Aber man kann ja", faellt ihr Masuren ein, "beides wohl zugleich, ein ehrliches Maedchen und eine Virtuosin, sein." "Nein", sagt Henriette; "ich behaupte, dass man das nicht zugleich sein kann. Ich eine Virtuosin!" Man erinnere sich, was Madame Gottsched anstatt des Worts "Virtuosin" gesetzt hat: ein Wunder. Kein Wunder! sagte man, dass sie das tat. Sie fuehlte sich auch so etwas von einer Virtuosin zu sein, und ward ueber den vermeinten Stich boese. Aber sie haette nicht boese werden sollen, und was die witzige und gelehrte Henriette, in der Person einer dummen Agnese, sagt, haette die Frau Professorin immer, ohne Maulspitzen, nachsagen koennen. Doch vielleicht war ihr nur das fremde Wort Virtuosin anstoessig; Wunder ist deutscher; zudem gibt es unter unsern Schoenen fuenfzig Wunder gegen eine Virtuosin; die Frau wollte rein und verstaendlich uebersetzen; sie hatte sehr recht.

Den Beschluss dieses Abends machte "Die stumme Schoenheit", von Schlegeln.

Schlegel hatte dieses kleine Stueck fuer das neuerrichtete Kopenhagensche Theater geschrieben, um auf demselben in einer daenischen Uebersetzung aufgefuehret zu werden. Die Sitten darin sind daher auch wirklich daenischer, als deutsch. Demohngeachtet ist es unstreitig unser bestes komisches Original, das in Versen geschrieben ist. Schlegel hatte ueberall eine ebenso fliessende als zierliche Versifikation, und es war ein Glueck fuer seine Nachfolger, dass er seine groessern Komoedien nicht auch in Versen schrieb. Er haette ihnen leicht das Publikum verwoehnen koennen, und so wuerden sie nicht allein seine Lehre, sondern auch sein Beispiel wider sich gehabt haben. Er hatte sich ehedem der gereimten Komoedie sehr lebhaft angenommen; und je gluecklicher er die Schwierigkeiten derselben ueberstiegen haette, desto unwiderleglicher wuerden seine Gruende geschienen haben. Doch, als er selbst Hand an das Werk legte, fand er ohne Zweifel, wie unsaegliche Muehe es koste, nur einen Teil derselben zu uebersteigen, und wie wenig das Vergnuegen, welches aus diesen ueberstiegenen Schwierigkeiten entstehet, fuer die Menge kleiner Schoenheiten, die man ihnen aufopfern muesse, schadlos halte. Die Franzosen waren ehedem so ekel, dass man ihnen die prosaischen Stuecke des Moliere, nach seinem Tode, in Verse bringen musste; und noch itzt hoeren sie ein prosaisches Lustspiel als ein Ding an, das ein jeder von ihnen machen koenne. Den Englaender hingegen wuerde eine gereimte Komoedie aus dem Theater jagen. Nur die Deutschen sind auch hierin, soll ich sagen billiger, oder gleichgueltiger? Sie nehmen an, was ihnen der Dichter vorsetzt. Was waere es auch, wenn sie itzt schon waehlen und ausmustern wollten?

Die Rolle der stummen Schoene hat ihre Bedenklichkeiten. Eine stumme Schoene, sagt man, ist nicht notwendig eine dumme, und die Schauspielerin hat unrecht, die eine alberne plumpe Dirne daraus macht. Aber Schlegels stumme Schoenheit ist allerdings dumm zugleich; denn dass sie nichts spricht, koemmt daher, weil sie nichts denkt. Das Feine dabei wuerde also dieses sein, dass man sie ueberall, wo sie, um artig zu scheinen, denken muesste, unartig machte, dabei aber ihr alle die Artigkeiten liesse, die bloss mechanisch sind, und die sie, ohne viel zu denken, haben koennte. Ihr Gang z.E., ihre Verbeugungen, brauchen gar nicht baeurisch zu sein; sie koennen so gut und zierlich sein, als sie nur immer ein Tanzmeister kehren kann; denn warum sollte sie von ihrem Tanzmeister nichts gelernt haben, da sie sogar Quadrille gelernt hat? Und sie muss Quadrille nicht schlecht spielen; denn sie rechnet fest darauf, dem Papa das Geld abzugewinnen. Auch ihre Kleidung muss weder altvaetrisch, noch schlumpicht sein; denn Frau Praatgern sagt ausdruecklich:

    "Bist du vielleicht nicht wohl gekleidet?—Lass doch sehn!
    Nun!—dreh dich um!—das ist ja gut, und sitzt galant.
    Was sagt denn der Phantast, dir fehlte der Verstand?"

In dieser Musterung der Fr. Praatgern ueberhaupt hat der Dichter deutlich genug bemerkt, wie er das Aeusserliche seiner stummen Schoene zu sein wuensche. Gleichfalls schoen, nur nicht reizend.

"Lass sehn, wie traegst du dich?—Den Kopf nicht so zuruecke!"

Dummheit ohne Erziehung haelt den Kopf mehr vorwaerts, als zurueck; ihn zurueckhalten, lehrt der Tanzmeister; man muss also Charlotten den Tanzmeister ansehen, und je mehr, je besser; denn das schadet ihrer Stummheit nichts, vielmehr sind die zierlich steifen Tanzmeistermanieren gerade die, welche der stummen Schoenheit am meisten entsprechen; sie zeigen die Schoenheit in ihrem besten Vorteile, nur dass sie ihr das Leben nehmen.

"Wer fragt: hat sie Verstand? der seh' nur ihre Blicke."

Recht wohl, wenn man eine Schauspielerin mit grossen schoenen Augen zu dieser Rolle hat. Nur muessen sich diese schoene Augen wenig oder gar nicht regen; ihre Blicke muessen langsam und stier sein; sie muessen uns mit ihrem unbeweglichen Brennpunkte in Flammen setzen wollen, aber nichts sagen.

    "Geh doch einmal herum!—Gut! hieher!—Neige dich!
    Da haben wir's, das fehlt. Nein, sieh! So neigt man sich."

Diese Zeilen versteht man ganz falsch, wenn man Charlotten eine baeurische Neige, einen dummen Knicks machen laesst. Ihre Verbeugung muss wohl gelernt sein, und wie gesagt, ihrem Tanzmeister keine Schande machen. Frau Praatgern muss sie nur noch nicht affektiert genug finden. Charlotte verbeugt sich, und Frau Praatgern will, sie soll sich dabei zieren. Das ist der ganze Unterschied, und Madame Loewen bemerkte ihn sehr wohl, ob ich gleich nicht glaube, dass die Praatgern sonst eine Rolle fuer sie ist. Sie kann die feine Frau zu wenig verbergen, und gewissen Gesichtern wollen nichtswuerdige Handlungen, dergleichen die Vertauschung einer Tochter ist, durchaus nicht lassen.

Den eilften Abend (mittewochs, den 6. Mai) ward "Miss Sara Sampson" aufgefuehret.

Man kann von der Kunst nichts mehr verlangen, als was Madame Henseln in der Rolle der Sara leistet, und das Stueck ward ueberhaupt sehr gut gespielet. Es ist ein wenig zu lang, und man verkuerzt es daher auf den meisten Theatern. Ob der Verfasser mit allen diesen Verkuerzungen so recht zufrieden ist, daran zweifle ich fast. Man weiss ja, wie die Autores sind; wenn man ihnen auch nur einen Nietnagel nehmen will, so schreien sie gleich: Ihr kommt mir ans Leben! Freilich ist der uebermaessigen Laenge eines Stuecks durch das blosse Weglassen nur uebel abgeholfen, und ich begreife nicht, wie man eine Szene verkuerzen kann, ohne die ganze Folge des Dialogs zu aendern. Aber wenn dem Verfasser die fremden Verkuerzungen nicht anstehen; so mache er selbst welche, falls es ihm der Muehe wert duenket und er nicht von denjenigen ist, die Kinder in die Welt setzen, und auf ewig die Hand von ihnen abziehen.

Madame Henseln starb ungemein anstaendig; in der malerischsten Stellung; und besonders hat mich ein Zug ausserordentlich ueberrascht. Es ist eine Bemerkung an Sterbenden, dass sie mit den Fingern an ihren Kleidern oder Betten zu rupfen anfangen. Diese Bemerkung machte sie sich auf die gluecklichste Art zu nutze; in dem Augenblicke, da die Seele von ihr wich, aeusserte sich auf einmal, aber nur in den Fingern des erstarrten Armes, ein gelinder Spasmus; sie kniff den Rock, der um ein weniges erhoben ward und gleich wieder sank: das letzte Aufflattern eines verloeschenden Lichts; der juengste Strahl einer untergehenden Sonne.—Wer diese Feinheit in meiner Beschreibung nicht schoen findet, der schiebe die Schuld auf meine Beschreibung; aber er sehe sie einmal!

Vierzehntes Stueck
Den 16. Junius 1767

Das buergerliche Trauerspiel hat an dem franzoesischen Kunstrichter, welcher die "Sara" seiner Nation bekannt gemacht,[1] einen sehr gruendlichen Verteidiger gefunden. Die Franzosen billigen sonst selten etwas, wovon sie kein Muster unter sich selbst haben.

Die Namen von Fuersten und Helden koennen einem Stuecke Pomp und Majestaet geben; aber zur Ruehrung tragen sie nichts bei. Das Unglueck derjenigen, deren Umstaende den unsrigen am naechsten kommen, muss natuerlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Koenigen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Koenigen. Macht ihr Stand schon oefters ihre Unfaelle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin moegen ganze Voelker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff fuer unsere Empfindungen.

"Man tut dem menschlichen Herze unrecht", sagt auch Marmontel, "man verkennst die Natur, wenn man glaubt, dass sie Titel beduerfe, uns zu bewegen und zu ruehren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Geliebten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen ueberhaupt: diese sind pathetischer als alles; diese behaupten ihre Rechte immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname, die Geburt des Ungluecklichen ist, den seine Gefaelligkeit gegen unwuerdige Freunde und das verfuehrerische Beispiel ins Spiel verstricket, der seinen Wohlstand und seine Ehre darueber zugrunde gerichtet, und nun im Gefaengnisse seufzet, von Scham und Reue zerrissen? Wenn man fragt, wer er ist; so antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu seiner Marter ist er Gemahl und Vater; seine Gattin, die er liebt und von der er geliebt wird, schmachtet in der aeussersten Beduerfnis und kann ihren Kindern, welche Brot verlangen, nichts als Traenen geben. Man zeige mir in der Geschichte der Helden eine ruehrendere, moralischere, mit einem Worte, tragischere Situation! Und wenn sich endlich dieser Unglueckliche vergiftet; wenn er, nachdem er sich vergiftet, erfaehrt, dass der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet diesem schmerzlichen und fuerchterlichen Augenblicke, wo sich zu den Schrecknissen des Todes marternde Vorstellungen, wie gluecklich er habe leben koennen, gesellen; was fehlt ihm, frage ich, um der Tragoedie wuerdig zu sein? Das Wunderbare, wird man antworten. Wie? Findet sich denn nicht dieses Wunderbare genugsam in dem ploetzlichen Uebergange von der Ehre zur Schande, von der Unschuld zum Verbrechen, von der suessesten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in dem aeussersten Ungluecke, in das eine blosse Schwachheit gestuerzet?"

Man lasse aber diese Betrachtungen den Franzosen, von ihren Diderots und Marmontels, noch so eingeschaerft werden: es scheint doch nicht, dass das buergerliche Trauerspiel darum bei ihnen besonders in Schwang kommen werde. Die Nation ist zu eitel, ist in Titel und andere aeusserliche Vorzuege zu verliebt; bis auf den gemeinsten Mann will alles mit Vornehmern umgehen; und Gesellschaft mit seinesgleichen ist so viel als schlechte Gesellschaft. Zwar ein glueckliches Genie vermag viel ueber sein Volk; die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und sie erwartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der sie in aller ihrer Wahrheit und Staerke zu zeigen verstehet. Der Versuch, den ein Ungenannter in einem Stuecke gemacht hat, welches er "Das Gemaelde der Duerftigkeit" nennet, hat schon grosse Schoenheiten; und bis die Franzosen daran Geschmack gewinnen, haetten wir es fuer unser Theater adoptieren sollen.

Was der erstgedachte Kunstrichter an der deutschen "Sara" aussetzet, ist zum Teil nicht ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Verfasser wird lieber seine Fehler behalten, als sich der vielleicht ungluecklichen Muehe einer gaenzlichen Umarbeitung unterziehen wollen. Er erinnert sich, was Voltaire bei einer aehnlichen Gelegenheit sagte: "Man kann nicht immer alles ausfuehren, was uns unsere Freunde raten. Es gibt auch notwendige Fehler. Einem Bucklichten, den man von seinem Buckel heilen wollte, muesste man das Leben nehmen. Mein Kind ist bucklicht; aber es befindet sich sonst ganz gut."

Den zwoelften Abend (donnerstags, den 7. Mai) ward "Der Spieler", vom
Regnard, aufgefuehret.

Dieses Stueck ist ohne Zweifel das beste, was Regnard gemacht hat; aber Riviere du Freny, der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die Buehne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung in Anspruch. Er beklagte sich, dass ihm Regnard die Anlage und verschiedene Szenen gestohlen habe; Regnard schob die Beschuldigung zurueck, und itzt wissen wir von diesem Streite nur so viel mit Zuverlaessigkeit, dass einer von beiden der Plagiarius gewesen. Wenn es Regnard war, so muessen wir es ihm wohl noch dazu danken, dass er sich ueberwinden konnte, die Vertraulichkeit seines Freundes zu missbrauchen; er bemaechtigte sich, bloss zu unserm Besten, der Materialien, von denen er voraussahe, dass sie verhunzt werden wuerden. Wir haetten nur einen sehr elenden Spieler, wenn er gewissenhafter gewesen waere. Doch haette er die Tat eingestehen und dem armen Du Freny einen Teil der damit erworbnen Ehre lassen muessen.

Den dreizehnten Abend (freitags, den 8. Mai) ward "Der verheiratete
Philosoph" wiederholst; und den Beschluss machte "Der Liebhaber als
Schriftsteller und Bedienter".

Der Verfasser dieses kleinen artigen Stueckes heisst Cerou; er studierte die Rechte, als er es im Jahre 1740 den Italienern in Paris zu spielen gab. Es faellt ungemein wohl aus.

Den vierzehnten Abend (montags, den 11. Mai) wurden "Die kokette Mutter", vom Quinault, und "Der Advokat Patelin" aufgefuehrt.

Jene wird von den Kennern unter die besten Stuecke gerechnet, die sich auf dem franzoesischen Theater aus dem vorigen Jahrhunderte erhalten haben. Es ist wirklich viel gutes Komisches darin, dessen sich Moliere nicht haette schaemen duerfen. Aber der fuenfte Akt und die ganze Aufloesung haette weit besser sein koennen; der alte Sklave, dessen in den vorhergehenden Akten gedacht wird, koemmt nicht zum Vorscheine; das Stueck schliesst mit einer kalten Erzaehlung, nachdem wir auf eine theatralische Handlung vorbereitet worden. Sonst ist es in der Geschichte des franzoesischen Theaters deswegen mit merkwuerdig, weil der laecherliche Marquis darin der erste von seiner Art ist. "Die kokette Mutter" ist auch sein eigentlichster Titel nicht, und Quinault haette es immer bei dem zweiten "Die veruneinigten Verliebten" koennen bewenden lassen.

"Der Advokat Patelin" ist eigentlich ein altes Possenspiel aus dem funfzehnten Jahrhunderte, das zu seiner Zeit ausserordentlichen Beifall fand. Es verdiente ihn auch, wegen der ungemeinen Lustigkeit und des guten Komischen, das aus der Handlung selbst und aus der Situation der Personen entspringet und nicht auf blossen Einfaellen beruhet. Brueys gab ihm eine neue Sprache und brachte es in die Form, in welcher es gegenwaertig aufgefuehret wird. Hr. Ekhof spielt den Patelin ganz vortrefflich.

Den funfzehnten Abend (dienstags, den 12. Mai) ward Lessings "Freigeist" vorgestellt.

Man kennt ihn hier unter dem Titel des "Beschaemten Freigeistes", weil man ihn von dem Trauerspiele des Hrn. von Brawe, das eben diese Aufschrift fuehret, unterscheiden wollen. Eigentlich kann man wohl nicht sagen, dass derjenige beschaemt wird, welcher sich bessert. Adrast ist auch nicht einzig und allein der Freigeist; sondern es nehmen mehrere Personen an diesem Charakter teil. Die eitle unbesonnene Henriette, der fuer Wahrheit und Irrtum gleichgueltige Lisidor, der spitzbuebische Johann sind alles Arten von Freigeistern, die zusammen den Titel des Stuecks erfuellen muessen. Doch was liegt an dem Titel? Genug, dass die Vorstellung alles Beifalls wuerdig war. Die Rollen sind ohne Ausnahme wohl besetzt; und besonders spielt Herr Boek den Theophan mit alle dem freundlichen Anstande, den dieser Charakter erfordert, um dem endlichen Unwillen ueber die Hartnaeckigkeit, mit der ihn Adrast verkennet, und auf dem die ganze Katastrophe beruhet, dagegen abstechen zu lassen.

Den Beschluss dieses Abends machte das Schaeferspiel des Hrn. Pfeffels:
"Der Schatz".

Dieser Dichter hat sich, ausser diesem kleinen Stuecke, noch durch ein anders, "Der Eremit", nicht unruehmlich bekannt gemacht. In den "Schatz" hat er mehr Interesse zu legen gesucht, als gemeiniglich unsere Schaeferspiele zu haben pflegen, deren ganzer Inhalt taendelnde Liebe ist. Sein Ausdruck ist nur oefters ein wenig zu gesucht und kostbar, wodurch die ohnedem schon allzu verfeinerten Empfindungen ein hoechst studiertes Ansehen bekommen, und zu nichts als frostigen Spielwerken des Witzes werden. Dieses gilt besonders von seinem "Eremiten", welches ein kleines Trauerspiel sein soll, das man, anstatt der allzu lustigen Nachspiele, auf ruehrende Stuecke koennte folgen lassen. Die Absicht ist recht gut; aber wir wollen vom Weinen doch noch lieber zum Lachen, als zum Gaehnen uebergehen.

——Fussnote

[1] "Journal Etranger", Decembre 1761.

——Fussnote

Funfzehntes Stueck
Den 19. Junius 1767

Den sechzehnten Abend (mittewochs, den 13. Mai) ward die "Zaire" des
Herrn von Voltaire aufgefuehrt.

"Den Liebhabern der gelehrten Geschichte", sagt der Hr. von Voltaire, "wird es nicht unangenehm sein, zu wissen, wie dieses Stueck entstanden. Verschiedene Damen hatten dem Verfasser vorgeworfen, dass in seinen Tragoedien nicht genug Liebe waere. Er antwortete ihnen, dass seiner Meinung nach die Tragoedie auch eben nicht der schicklichste Ort fuer die Liebe sei; wenn sie aber doch mit aller Gewalt verliebte Helden haben muessten, so wolle er ihnen welche machen, so gut als ein anderer. Das Stueck ward in achtzehn Tagen vollendet und fand grossen Beifall. Man nennt es zu Paris ein christliches Trauerspiel, und es ist oft, anstatt des Polyeukts, vorgestellet worden."

Den Damen haben wir also dieses Stueck zu verdanken, und es wird noch lange das Lieblingsstueck der Damen bleiben. Ein junger feuriger Monarch, nur der Liebe unterwuerfig; ein stolzer Sieger, nur von der Schoenheit besiegt; ein Sultan ohne Polygamie; ein Seraglio, in den freien zugaenglichen Sitz einer unumschraenkten Gebieterin verwandelt; ein verlassenes Maedchen, zur hoechsten Staffel des Gluecks, durch nichts als ihre schoenen Augen, erhoehet; ein Herz, um das Zaertlichkeit und Religion streiten, das sich zwischen seinen Gott und seinen Abgott teilet, das gern fromm sein moechte, wenn es nur nicht aufhoeren sollte zu lieben; ein Eifersuechtiger, der sein Unrecht erkennet und es an sich selbst raechet; wenn diese schmeichelnde Ideen das schoene Geschlecht nicht bestechen, durch was liesse es sich denn bestechen?

Die Liebe selbst hat Voltairen die Zaire diktiert: sagt ein Kunstrichter artig genug. Richtiger haette er gesagt: die Galanterie. Ich kenne nur eine Tragoedie, an der die Liebe selbst arbeiten helfen; und das ist "Romeo und Juliet", vom Shakespeare. Es ist wahr, Voltaire laesst seine verliebte Zaire ihre Empfindungen sehr fein, sehr anstaendig ausdruecken; aber was ist dieser Ausdruck gegen jenes lebendige Gemaelde aller der kleinsten geheimsten Raenke, durch die sich die Liebe in unsere Seele einschleicht, aller der unmerklichen Vorteile, die sie darin gewinnet, aller der Kunstgriffe, mit denen sie jede andere Leidenschaft unter sich bringt, bis sie der einzige Tyrann aller unserer Begierden und Verabscheuungen wird? Voltaire verstehet, wenn ich so sagen darf, den Kanzeleistil der Liebe vortrefflich; das ist, diejenige Sprache, denjenigen Ton der Sprache, den die Liebe braucht, wenn sie sich auf das behutsamste und gemessenste ausdruecken will, wenn sie nichts sagen will, als was sie bei der sproeden Sophistin und bei dem kalten Kunstrichter verantworten kann. Aber der beste Kanzeliste weiss von den Geheimnissen der Regierung nicht immer das meiste; oder hat gleichwohl Voltaire in das Wesen der Liebe eben die tiefe Einsicht, die Shakespeare gehabt, so hat er sie wenigstens hier nicht zeigen wollen, und das Gedicht ist weit unter dem Dichter geblieben.

Von der Eifersucht laesst sich ohngefaehr eben das sagen. Der eifersuechtige Orosman spielt gegen den eifersuechtigen Othello des Shakespeare eine sehr kahle Figur. Und doch ist Othello offenbar das Vorbild des Orosman gewesen. Cibber sagt,[1] Voltaire habe sich des Brandes bemaechtiget, der den tragischen Scheiterhaufen des Shakespeare in Glut gesetzt. Ich haette gesagt: eines Brandes aus diesem flammenden Scheiterhaufen; und noch dazu eines, der mehr dampft, als leuchtet und waermet. Wir hoeren in dem Orosman einen Eifersuechtigen reden, wir sehen ihn die rasche Tat eines Eifersuechtigen begehen; aber von der Eifersucht selbst lernen wir nicht mehr und nicht weniger, als wir vorher wussten. Othello hingegen ist das vollstaendigste Lehrbuch ueber diese traurige Raserei; da koennen wir alles lernen, was sie angeht, sie erwecken und sie vermeiden.

Aber ist es denn immer Shakespeare, werden einige meiner Leser fragen, immer Shakespeare, der alles besser verstanden hat als die Franzosen? Das aergert uns; wir koennen ihn ja nicht lesen.—Ich ergreife diese Gelegenheit, das Publikum an etwas zu erinnern, das es vorsaetzlich vergessen zu wollen scheinet. Wir haben eine Uebersetzung von Shakespeare. Sie ist noch kaum fertig geworden, und niemand bekuemmert sich schon mehr darum. Die Kunstrichter haben viel Boeses davon gesagt. Ich haette grosse Lust, sehr viel Gutes davon zu sagen. Nicht, um diesen gelehrten Maennern zu widersprechen; nicht, um die Fehler zu verteidigen, die sie darin bemerkt haben: sondern weil ich glaube, dass man von diesen Fehlern kein solches Aufheben haette machen sollen. Das Unternehmen war schwer; ein jeder anderer, als Herr Wieland, wuerde in der Eil' noch oeftrer verstossen und aus Unwissenheit oder Bequemlichkeit noch mehr ueberhuepft haben; aber was er gut gemacht hat, wird schwerlich jemand besser machen. So wie er uns den Shakespeare geliefert hat, ist es noch immer ein Buch, das man unter uns nicht genug empfehlen kann. Wir haben an den Schoenheiten, die es uns liefert, noch lange zu lernen, ehe uns die Flecken, mit welchen es sie liefert, so beleidigen, dass wir notwendig eine bessere Uebersetzung haben muessten.

Doch wieder zur "Zaire". Der Verfasser brachte sie im Jahre 1733 auf die Pariser Buehne; und drei Jahr darauf ward sie ins Englische uebersetzt, und auch in London auf dem Theater in Drury-Lane gespielt. Der Uebersetzer war Aaron Hill, selbst ein dramatischer Dichter, nicht von der schlechtesten Gattung. Voltaire fand sich sehr dadurch geschmeichelt, und was er, in dem ihm eigenen Tone der stolzen Bescheidenheit, in der Zuschrift seines Stuecks an den Englaender Falkener, davon sagt, verdient gelesen zu werden. Nur muss man nicht alles fuer vollkommen so wahr annehmen, als er es ausgibt. Wehe dem, der Voltairens Schriften ueberhaupt nicht mit dem skeptischen Geiste lieset, in welchem er einen Teil derselben geschrieben hat!

Er sagt z.E. zu seinem englischen Freunde: "Eure Dichter hatten eine Gewohnheit, der sich selbst Addison[2] unterworfen; denn Gewohnheit ist so maechtig als Vernunft und Gesetz. Diese gar nicht vernuenftige Gewohnheit bestand darin, dass jeder Akt mit Versen beschlossen werden musste, die in einem ganz andern Geschmacke waren, als das Uebrige des Stuecks; und notwendig mussten diese Verse eine Vergleichung enthalten. Phaedra, indem sie abgeht, vergleicht sich sehr poetisch mit einem Rehe, Cato mit einem Felsen, und Kleopatra mit Kindern, die so lange weinen, bis sie einschlafen. Der Uebersetzer der "Zaire" ist der erste, der es gewagt hat, die Rechte der Natur gegen einen von ihr so entfernten Geschmack zu behaupten. Er hat diesen Gebrauch abgeschafft; er hat es empfunden, dass die Leidenschaft ihre wahre Sprache fuehren und der Poet sich ueberall verbergen muesse, um uns nur den Helden erkennen zu lassen."

Es sind nicht mehr als nur drei Unwahrheiten in dieser Stelle; und das ist fuer den Hrn. von Voltaire eben nicht viel. Wahr ist es, dass die Englaender, vom Shakespeare an, und vielleicht auch von noch laenger her, die Gewohnheit gehabt, ihre Aufzuege in ungereimten Versen mit ein paar gereimten Zeilen zu enden. Aber dass diese gereimten Zeilen nichts als Vergleichungen enthielten, dass sie notwendig Vergleichungen enthalten muessen, das ist grundfalsch; und ich begreife gar nicht, wie der Herr von Voltaire einem Englaender, von dem er doch glauben konnte, dass er die tragischen Dichter seines Volkes auch gelesen habe, so etwas unter die Nase sagen koennen. Zweitens ist es nicht an dem, dass Hill in seiner Uebersetzung der "Zaire" von dieser Gewohnheit abgegangen. Es ist zwar beinahe nicht glaublich, dass der Hr. von Voltaire die Uebersetzung seines Stuecks nicht genauer sollte angesehen haben, als ich oder ein anderer. Gleichwohl muss es so sein. Denn so gewiss sie in reimfreien Versen ist, so gewiss schliesst sich auch jeder Akt mit zwei oder vier gereimten Zellen. Vergleichungen enthalten sie freilich nicht; aber, wie gesagt, unter allen dergleichen gereimten Zeilen, mit welchen Shakespeare und Jonson und Dryden und Lee und Otway und Rowe, und wie sie alle heissen, ihre Aufzuege schliessen, sind sicherlich hundert gegen fuenfe, die gleichfalls keine enthalten. Was hatte denn Hill also Besonders? Haette er aber auch wirklich das Besondere gehabt, das ihm Voltaire leihet: so waere doch drittens das nicht wahr, dass sein Beispiel von dem Einflusse gewesen, von dem es Voltaire sein laesst. Noch bis diese Stunde erscheinen in England ebensoviel, wo nicht noch mehr Trauerspiele, deren Akte sich mit gereimten Zellen enden, als die es nicht tun. Hill selbst hat in keinem einzigen Stuecke, deren er doch verschiedene, noch nach der Uebersetzung der "Zaire", gemacht, sich der alten Mode gaenzlich entaeussert. Und was ist es denn nun, ob wir zuletzt Reime hoeren oder keine? Wenn sie da sind, koennen sie vielleicht dem Orchester noch nutzen; als Zeichen naemlich, nach den Instrumenten zu greifen, welches Zeichen auf diese Art weit schicklicher aus dem Stuecke selbst abgenommen wuerde, als dass es die Pfeife oder der Schluessel gibt.

——Fussnote

[1] From English Plays, Zara's French author fir'd,
    Confess'd his Muse, beyond herself, inspir'd,
    From rack'd Othello's rage, he rais'd his style
    And snatch'd the brand, that lights this tragic pile.

[2] Le plus sage de vos ecrivains, setzt Voltaire hinzu. Wie waere das wohl recht zu uebersetzen? Sage heisst: weise; aber der weiseste unter den englischen Schriftstellern, wer wuerde den Addison dafuer erkennen? Ich besinne mich, dass die Franzosen auch ein Maedchen sage nennen, dem man keinen Fehltritt, so keinen von den groben Fehltritten, vorzuwerfen hat. Dieser Sinn duerfte vielleicht hier passen. Und nach diesem koennte man ja wohl geradezu uebersetzen: "Addison, derjenige von euern Schriftstellern, der uns harmlosen, nuechternen Franzosen am naechsten koemmt."

——Fussnote

Sechzehntes Stueck
Den 23. Junius 1767

Die englischen Schauspieler waren zu Hills Zeiten ein wenig sehr unnatuerlich; besonders war ihr tragisches Spiel aeusserst wild und uebertrieben; wo sie heftige Leidenschaften auszudruecken hatten, schrien und gebaerdeten sie sich als Besessene; und das uebrige toenten sie in einer steifen, strotzenden Feierlichkeit daher, die in jeder Silbe den Komoedianten verriet. Als er daher seine Uebersetzung der "Zaire" auffuehren zu lassen bedacht war, vertraute er die Rolle der Zaire einem jungen Frauenzimmer, das noch nie in der Tragoedie gespielt hatte. Er urteilte so: dieses junge Frauenzimmer hat Gefuehl und Stimme und Figur und Anstand; sie hat den falschen Ton des Theaters noch nicht angenommen; sie braucht keine Fehler erst zu verlernen; wenn sie sich nur ein paar Stunden ueberreden kann, das wirklich zu sein, was sie vorstellet, so darf sie nur reden, wie ihr der Mund gewachsen, und alles wird gut gehen. Es ging auch; und die Theaterpedanten, welche gegen Hillen behaupteten, dass nur eine sehr geuebte, sehr erfahrene Person einer solchen Rolle Genuege leisten koenne, wurden beschaemt. Diese junge Aktrice war die Frau des Komoedianten Theophilus Cibber, und der erste Versuch in ihrem achtzehnten Jahre ward ein Meisterstueck. Es ist merkwuerdig, dass auch die franzoesische Schauspielerin, welche die Zaire zuerst spielte, eine Anfaengerin war. Die junge reizende Mademoiselle Gaussin ward auf einmal dadurch beruehmt, und selbst Voltaire ward so entzueckt ueber sie, dass er sein Alter recht klaeglich bedauerte.

Die Rolle des Orosman hatte ein Anverwandter des Hill uebernommen, der kein Komoediant von Profession, sondern ein Mann von Stande war. Er spielte aus Liebhaberei und machte sich nicht das geringste Bedenken, oeffentlich aufzutreten, um ein Talent zu zeigen, das so schaetzbar als irgendein anders ist. In England sind dergleichen Exempel von angesehenen Leuten, die zu ihrem blossen Vergnuegen einmal mitspielen, nicht selten. "Alles was uns dabei befremden sollte", sagt der Hr. von Voltaire "ist dieses, dass es uns befremdet. Wir sollten ueberlegen, dass alle Dinge in der Welt von der Gewohnheit und Meinung abhangen. Der franzoesische Hof hat ehedem auf dem Theater mit den Opernspielern getanzt; und man hat weiter nichts Besonders dabei gefunden, als dass diese Art von Lustbarkeit aus der Mode gekommen. Was ist zwischen den beiden Kuensten fuer ein Unterschied, als dass die eine ueber die andere ebensoweit erhaben ist, als es Talente, welche vorzuegliche Seelenkraefte erfodern, ueber bloss koerperliche Fertigkeiten sind?"

Ins Italienische hat der Graf Gozzi die "Zaire" uebersetzt; sehr genau und sehr zierlich; sie stehet in dem dritten Teile seiner Werke. In welcher Sprache koennen zaertliche Klagen ruehrender klingen, als in dieser? Mit der einzigen Freiheit, die sich Gozzi gegen das Ende des Stuecks genommen, wird man schwerlich zufrieden sein. Nachdem sich Orosman erstochen, laesst ihn Voltaire nur noch ein paar Worte sagen, uns ueber das Schicksal des Nerestan zu beruhigen. Aber was tut Gozzi? Der Italiener fand es ohne Zweifel zu kalt, einen Tuerken so gelassen wegsterben zu lassen. Er legt also dem Orosman noch eine Tirade in den Mund, voller Ausrufungen, voller Winseln und Verzweiflung. Ich will sie der Seltenheit halber unter den Text setzen.[1]

Es ist doch sonderbar, wie weit sich hier der deutsche Geschmack von dem welschen entfernet! Dem Welschen ist Voltaire zu kurz; uns Deutschen ist er zu lang. Kaum hat Orosman gesagt "verehret und gerochen"; kaum hat er sich den toedlichen Stoss beigebracht, so lassen wir den Vorhang niederfallen. Ist es denn aber auch wahr, dass der deutsche Geschmack dieses so haben will? Wir machen dergleichen Verkuerzung mit mehrern Stuecken: aber warum machen wir sie? Wollen wir denn im Ernst, dass sich ein Trauerspiel wie ein Epigramm schliessen soll? Immer mit der Spitze des Dolchs, oder mit dem letzten Seufzer des Helden? Woher koemmt uns gelassenen, ernsten Deutschen die flatternde Ungeduld, sobald die Exekution vorbei, durchaus nun weiter nichts hoeren zu wollen, wenn es auch noch so wenige, zur voelligen Rundung des Stuecks noch so unentbehrliche Worte waeren? Doch ich forsche vergebens nach der Ursache einer Sache, die nicht ist. Wir haetten kalt Blut genug, den Dichter bis ans Ende zu hoeren, wenn es uns der Schauspieler nur zutrauen wollte. Wir wuerden recht gern die letzten Befehle des grossmuetigen Sultans vernehmen; recht gern die Bewunderung und das Mitleid des Nerestan noch teilen: aber wir sollen nicht. Und warum sollen wir nicht? Auf dieses warum weiss ich kein darum. Sollten wohl die Orosmansspieler daran schuld sein? Es waere begreiflich genug, warum sie gern das letzte Wort haben wollten. Erstochen und geklatscht! Man muss Kuenstlern kleine Eitelkeiten verzeihen.

Bei keiner Nation hat die "Zaire" einen schaerfern Kunstrichter gefunden, als unter den Hollaendern. Friedrich Duim, vielleicht ein Anverwandter des beruehmten Akteurs dieses Namens auf dem Amsterdamer Theater, fand so viel daran auszusetzen, dass er es fuer etwas Kleines hielt, eine bessere zu machen. Er machte auch wirklich eine—andere[2], in der die Bekehrung der Zaire das Hauptwerk ist, und die sich damit endet, dass der Sultan ueber seine Liebe sieget und die christliche Zaire mit aller der Pracht in ihr Vaterland schicket, die ihrer vorgehabten Erhoehung gemaess ist; der alte Lusignan stirbt vor Freuden. Wer ist begierig, mehr davon zu wissen? Der einzige unverzeihliche Fehler eines tragischen Dichters ist dieser, dass er uns kalt laesst; er interessiere uns und mache mit den kleinen mechanischen Regeln, was er will. Die Duime koennen wohl tadeln, aber den Bogen des Ulysses muessen sie nicht selber spannen wollen. Dieses sage ich darum, weil ich nicht gern zurueck, von der misslungenen Verbesserung auf den Ungrund der Kritik geschlossen wissen moechte. Duims Tadel ist in vielen Stuecken ganz gegruendet; besonders hat er die Unschicklichkeiten, deren sich Voltaire in Ansehung des Orts schuldig macht, und das Fehlerhafte in dem nicht genugsam motivierten Auftreten und Abgehen der Personen, sehr wohl angemerkt. Auch ist ihm die Ungereimtheit der sechsten Szene im dritten Akte nicht entgangen. "Orosman", sagt er, "koemmt, Zairen in die Moschee abzuholen; Zaire weigert sich, ohne die geringste Ursache von ihrer Weigerung anzufuehren; sie geht ab, und Orosman bleibt als ein Laffe (als eenen lafhartigen) stehen. Ist das wohl seiner Wuerde gemaess? Reimet sich das wohl mit seinem Charakter? Warum dringt er nicht in Zairen, sich deutlicher zu erklaeren? Warum folgt er ihr nicht in das Seraglio? Durfte er ihr nicht dahin folgen?"—Guter Duim! wenn sich Zaire deutlicher erklaeret haette: wo haetten denn die andern Akte sollen herkommen? Waere nicht die ganze Tragoedie darueber in die Pilze gegangen?—Ganz recht! auch die zweite Szene des dritten Akts ist ebenso abgeschmackt: Orosman koemmt wieder zu Zairen; Zaire geht abermals, ohne die geringste naehere Erklaerung, ab, und Orosman, der gute Schlucker (dien goeden hals), troestet sich desfalls in einer Monologe. Aber, wie gesagt, die Verwickelung oder Ungewissheit musste doch bis zum fuenften Aufzuge hinhalten; und wenn die ganze Katastrophe an einem Haare haengt, so haengen mehr wichtige Dinge in der Welt an keinem staerkern.

Die letzterwaehnte Szene ist sonst diejenige, in welcher der Schauspieler, der die Rolle des Orosman hat, seine feinste Kunst in alle dem bescheidenen Glanze zeigen kann, in dem sie nur ein ebenso feiner Kenner zu empfinden faehig ist. Er muss aus einer Gemuetsbewegung in die andere uebergehen, und diesen Uebergang durch das stumme Spiel so natuerlich zu machen wissen, dass der Zuschauer durchaus durch keinen Sprung, sondern durch eine zwar schnelle, aber doch dabei merkliche Gradation mit fortgerissen wird. Erst zeiget sich Orosman in aller seiner Grossmut, willig und geneigt, Zairen zu vergeben, wann ihr Herz bereits eingenommen sein sollte, falls sie nur aufrichtig genug ist, ihm laenger kein Geheimnis davon zu machen. Indem erwacht seine Leidenschaft aufs neue, und er fodert die Aufopferung seines Nebenbuhlers. Er wird zaertlich genug, sie unter dieser Bedingung aller seiner Huld zu versichern. Doch da Zaire auf ihrer Unschuld bestehet, wider die er so offenbar Beweise zu haben glaubet, bemeistert sich seiner nach und nach der aeusserste Unwille. Und so geht er von dem Stolze zur Zaertlichkeit, und von der Zaertlichkeit zur Erbitterung ueber. Alles was Remond de Sainte-Albine in seinem "Schauspieler"[3] hierbei beobachtet wissen will, leistet Herr Ekhof auf eine so vollkommene Art, dass man glauben sollte, er allein koenne das Vorbild des Kunstrichters gewesen sein.

——Fussnote

[1]
    Questo mortale orror che per le vene
    Tutte mi scorre, omai non e dolore,
    Che basti ad appagarti, anima bella.
    Feroce cor, cor dispietato, e misero,
    Paga la pena del delitto orrendo.
    Mani crudeli—oh Dio—Mani, che siete
    Tinte del sangue di si cara donna.
    Voi—voi—dov'e quel ferro? Un' altra volta
    In mezzo al petto—Oime, dov'e quel ferro?
    L'acuta punta—
    Tenebre, e notte
    Si fanno intorno—
    Perche non posso—
    Non posso spargere
    Il sangue tutto?
    Si, si, lo spargo tutto, anima mia,
    Dove sei?—piu non posso—oh Dio! non posso—
    Vorrei—vederti—io manco, io manco, oh Dio!

[2] "Zaire, bekeerde Turkinne". Treurspel. Amsterdam 1745.

[3] "Le Comedien", Partie II, chap. X. p. 209.

——Fussnote

Siebzehntes Stueck
Den 26. Junius 1767

Den siebzehnten Abend (donnerstags, den 14. Mai) ward der "Sidney", vom
Gresset, aufgefuehret.

Dieses Stueck kam im Jahre 1745 zuerst aufs Theater. Ein Lustspiel wider den Selbstmord konnte in Paris kein grosses Glueck machen. Die Franzosen sagten: es waere ein Stueck fuer London. Ich weiss auch nicht; denn die Englaender duerften vielleicht den Sidney ein wenig unenglisch finden; er geht nicht rasch genug zu Werke; er philosophiert, ehe er die Tat begeht, zu viel, und nachdem er sie begangen zu haben glaubt, zu wenig; seine Reue koennte schimpflicher Kleinmut scheinen; ja, sich von einem franzoesischen Bedienten so angefuehrt zu sehen, moechte von manchen fuer eine Beschaemung gehalten werden, die des Haengens allein wuerdig waere.

Doch so wie das Stueck ist, scheinet es fuer uns Deutsche recht gut zu sein. Wir moegen eine Raserei gern mit ein wenig Philosophie bemaenteln und finden es unserer Ehre eben nicht nachteilig, wenn man uns von einem dummen Streiche zurueckhaelt und das Gestaendnis, falsch philosophiert zu haben, uns abgewinnet. Wir werden daher dem Dumont, ob er gleich ein franzoesischer Prahler ist, so herzlich gut, dass uns die Etikette, welche der Dichter mit ihm beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney nun erfaehrt, dass er durch die Vorsicht desselben dem Tode nicht naeher ist, als der gesundesten einer, so laesst ihn Gresset ausrufen: "Kaum kann ich es glauben—Rosalla!—Hamilton!—und du, dessen gluecklicher Eifer usw." Warum diese Rangordnung? Ist es erlaubt, die Dankbarkeit der Politesse aufzuopfern? Der Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten gehoert das erste Wort, der erste Ausdruck der Freude, so Bedienter, so weit unter seinem Herrn und seines Herrn Freunden er auch immer ist. Wenn ich Schauspieler waere, hier wuerde ich es kuehnlich wagen, zu tun, was der Dichter haette tun sollen. Wenn ich schon, wider seine Vorschrift, nicht das erste Wort an meinen Erretter richten duerfte, so wuerde ich ihm wenigstens den ersten geruehrten Blick zuschicken, mit der ersten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen; und dann wuerde ich mich gegen Rosalien und gegen Hamilton wenden, und wieder auf ihn zurueckkommen. Es sei uns immer angelegener, Menschlichkeit zu zeigen, als Lebensart!

Herr Ekhof spielt den Sidney so vortrefflich—Es ist ohnstreitig eine von seinen staerksten Rollen. Man kann die enthusiastische Melancholie, das Gefuehl der Fuehllosigkeit, wenn ich so sagen darf, worin die ganze Gemuetsverfassung des Sidney bestehet, schwerlich mit mehr Kunst, mit groesserer Wahrheit ausdruecken. Welcher Reichtum von malenden Gesten, durch die er allgemeinen Betrachtungen gleichsam Figur und Koerper gibt, und seine innersten Empfindungen in sichtbare Gegenstaende verwandelt. Welcher fortreissende Ton der Ueberzeugung!—

Den Beschluss machte diesen Abend ein Stueck in einem Aufzuge, nach dem Franzoesischen des l'Affichard, unter dem Titel: "Ist er von Familie?" Man erraet gleich, dass ein Narr oder eine Naerrin darin vorkommen muss, der es hauptsaechlich um den alten Adel zu tun ist. Ein junger wohlerzogener Mensch, aber von zweifelhaftem Herkommen, bewirbt sich um die Stieftochter eines Marquis. Die Einwilligung der Mutter haengt von der Aufklaerung dieses Punkts ab. Der junge Mensch hielt sich nur fuer den Pflegesohn eines gewissen buergerlichen Lisanders, aber es findet sich, dass Lisander sein wahrer Vater ist. Nun waere weiter an die Heirat nicht zu denken, wenn nicht Lisander selbst sich nur durch Unfaelle zu dem buergerlichen Stande herablassen muessen. In der Tat ist er von ebenso guter Geburt, als der Marquis; er ist des Marquis Sohn, den jugendliche Ausschweifungen aus dem vaeterlichen Hause vertrieben. Nun will er seinen Sohn brauchen, um sich mit seinem Vater auszusoehnen. Die Aussoehnung gelingt und macht das Stueck gegen das Ende sehr ruehrend. Da also der Hauptton desselben ruehrender, als komisch ist: sollte uns nicht auch der Titel mehr jenes als dieses erwarten lassen? Der Titel ist eine wahre Kleinigkeit; aber dasmal haette ich ihn von dem einzigen laecherlichen Charakter nicht hergenommen; er braucht den Inhalt weder anzuzeigen, noch zu erschoepfen; aber er sollte doch auch nicht irrefuehren. Und dieser tut es ein wenig. Was ist leichter zu aendern, als ein Titel? Die uebrigen Abweichungen des deutschen Verfassers von dem Originale gereichen mehr zum Vorteile des Stuecks und geben ihm das einheimische Ansehen, das fast allen von dem franzoesischen Theater entlehnten Stuecken mangelt.

Den achtzehnten Abend (freitags, den 15. Mai) ward "Das Gespenst mit der
Trommel" gespielt.

Dieses Stueck schreibt sich eigentlich aus dem Englischen des Addison her. Addison hat nur eine Tragoedie und nur eine Komoedie gemacht. Die dramatische Poesie ueberhaupt war sein Fach nicht. Aber ein guter Kopf weiss sich ueberall aus dem Handel zu ziehen; und so haben seine beiden Stuecke, wenn schon nicht die hoechsten Schoenheiten ihrer Gattung, wenigstens andere, die sie noch immer zu sehr schaetzbaren Werken machen. Er suchte sich mit dem einen sowohl als mit dem andern der franzoesischen Regelmaessigkeit mehr zu naehern; aber noch zwanzig Addisons, und diese Regelmaessigkeit wird doch nie nach dem Geschmacke der Englaender werden. Begnuege sich damit, wer keine hoehere Schoenheiten kennet!

Destouches, der in England persoenlichen Umgang mit Addison gehabt hatte, zog das Lustspiel desselben ueber einen noch franzoesischern Leisten. Wir spielen es nach seiner Umarbeitung; in der wirklich vieles feiner und natuerlicher, aber auch manches kalter und kraftloser geworden. Wenn ich mich indes nicht irre, so hat Madame Gottsched, von der sich die deutsche Uebersetzung herschreibt, das englische Original mit zur Hand genommen und manchen guten Einfall wieder daraus hergestellet.

Den neunzehnten Abend (montags, den 18. Mai) ward "Der verheiratete
Philosoph", vom Destouches, wiederholt.

Des Regnard "Demokrit" war dasjenige Stueck, welches den zwanzigsten Abend (dienstags, den 19. Mai) gespielet wurde.

Dieses Lustspiel wimmelt von Fehlern und Ungereimtheiten, und doch gefaellt es. Der Kenner lacht dabei so herzlich, als der Unwissendste aus dem Poebel. Was folgt hieraus? Dass die Schoenheiten, die es hat, wahre allgemeine Schoenheiten sein muessen, und die Fehler vielleicht nur willkuerliche Regeln betreffen, ueber die man sich leichter hinaussetzen kann, als es die Kunstrichter Wort haben wollen. Er hat keine Einheit des Orts beobachtet: mag er doch. Er hat alles Uebliche aus den Augen gesetzt: immerhin. Sein Demokrit sieht dem wahren Demokrit in keinem Stuecke aehnlich; sein Athen ist ein ganz anders Athen, als wir kennen: nun wohl, so streiche man Demokrit und Athen aus und setze bloss erdichtete Namen dafuer. Regnard hat es gewiss so gut als ein anderer gewusst, dass um Athen keine Wueste und keine Tiger und Baere waren; dass es, zu der Zeit des Demokrits, keinen Koenig hatte usw. Aber er hat das alles itzt nicht wissen wollen; seine Absicht war, die Sitten seines Landes unter fremden Namen zu schildern. Diese Schilderung ist das Hauptwerk des komischen Dichters, und nicht die historische Wahrheit.

Andere Fehler moechten schwerer zu entschuldigen sein; der Mangel des Interesse, die kahle Verwickelung, die Menge muessiger Personen, das abgeschmackte Geschwaetz des Demokrits, nicht deswegen nur abgeschmackt, weil es der Idee widerspricht, die wir von dem Demokrit haben, sondern weil es Unsinn in jedes andern Munde sein wuerde, der Dichter moechte ihn genannt haben, wie er wolle. Aber was uebersieht man nicht bei der guten Laune, in die uns Strabo und Thaler setzen? Der Charakter des Strabo ist gleichwohl schwer zu bestimmen; man weiss nicht, was man aus ihm machen soll; er aendert seinen Ton gegen jeden, mit dem er spricht; bald ist er ein feiner witziger Spoetter, bald ein plumper Spassmacher, bald ein zaertlicher Schulfuchs, bald ein unverschaemter Stutzer. Seine Erkennung mit der Kleanthis ist ungemein komisch, aber unnatuerlich. Die Art, mit der Mademoiselle Beauval und La Thorilliere diese Szenen zuerst spielten, hat sich von einem Akteur zum andern, von einer Aktrice zur andern fortgepflanzt. Es sind die unanstaendigsten Grimassen, aber da sie durch die Ueberlieferung bei Franzosen und Deutschen geheiliget sind, so koemmt es niemanden ein, etwas daran zu aendern, und ich will mich wohl hueten, zu sagen, dass man sie eigentlich kaum in dem niedrigsten Possenspiele dulden sollte. Der beste, drolligste und ausgefuehrteste Charakter ist der Charakter des Thalers; ein wahrer Bauer, schalkisch und geradezu; voller boshafter Schnurren; und der, von der poetischen Seite betrachtet, nichts weniger als episodisch, sondern zur Aufloesung des Knoten ebenso schicklich als unentbehrlich ist.[1]

——Fussnote

[1] "Histoire du Theatre Francais", T. XIV. p. 164.

——Fussnote

Achtzehntes Stueck
Den 30. Junius 1767

Den einundzwanzigsten Abend (mittewochs, den 20. Mai) wurde das Lustspiel des Marivaux "Die falschen Vertraulichkeiten" aufgefuehrt.

Marivaux hat fast ein ganzes halbes Jahrhundert fuer die Theater in Paris gearbeitet; sein erstes Stueck ist vom Jahre 1712, und sein Tod erfolgte 1763, in einem Alter von zweiundsiebzig. Die Zahl seiner Lustspiele belaeuft sich auf einige dreissig, wovon mehr als zwei Dritteile den Harlekin haben, weil er sie fuer die italienische Buehne verfertigte. Unter diese gehoeren auch "Die falschen Vertraulichkeiten", die 1736 zuerst, ohne besonderen Beifall, gespielet, zwei Jahre darauf aber wieder hervorgesucht wurden, und desto groessern erhielten.

Seine Stuecke, so reich sie auch an mannigfaltigen Charakteren und Verwicklungen sind, sehen sich einander dennoch sehr aehnlich. In allen der naemliche schimmernde und oefters allzu gesuchte Witz; in allen die naemliche metaphysische Zergliederung der Leidenschaften; in allen die naemliche blumenreiche, neologische Sprache. Seine Plane sind nur von einem sehr geringen Umfange; aber, als ein wahrer Kallipides seiner Kunst, weiss er den engen Bezirk derselben mit einer Menge so kleiner und doch so merklich abgesetzter Schritte zu durchlaufen, dass wir am Ende einen noch so weiten Weg mit ihm zurueckgelegt zu haben glauben.

Seitdem die Neuberin, sub auspiciis Sr. Magnifizenz des Herrn Prof. Gottscheds, den Harlekin oeffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle deutsche Buehnen, denen daran gelegen war, regelmaessig zu heissen, dieser Verbannung beizutreten geschienen. Ich sage, geschienen; denn im Grunde hatten sie nur das bunte Jaeckchen und den Namen abgeschafft, aber den Narren behalten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stuecke, in welchen Harlekin die Hauptperson war. Aber Harlekin hiess bei ihr Haenschen, und war ganz weiss, anstatt scheckicht gekleidet. Wahrlich, ein grosser Triumph fuer den guten Geschmack!

Auch "Die falschen Vertraulichkeiten" haben einen Harlekin, der in der deutschen Uebersetzung zu einem Peter geworden. Die Neuberin ist tot, Gottsched ist auch tot: ich daechte, wir zoegen ihm das Jaeckchen wieder an.—Im Ernste; wenn er unter fremdem Namen zu dulden ist, warum nicht auch unter seinem? "Er ist ein auslaendisches Geschoepf", sagt man. Was tut das? Ich wollte, dass alle Narren unter uns Auslaender waeren! "Er traegt sich, wie sich kein Mensch unter uns traegt":—so braucht er nicht erst lange zu sagen, wer er ist. "Es ist widersinnig, das naemliche Individuum alle Tage in einem andern Stuecke erscheinen zu sehen." Man muss ihn als kein Individuum, sondern als eine ganze Gattung betrachten; es ist nicht Harlekin, der heute im "Timon", morgen im "Falken", uebermorgen in den "Falschen Vertraulichkeiten", wie ein wahrer Hans in allen Gassen, vorkoemmt; sondern es sind Harlekine; die Gattung leidet tausend Varietaeten; der im "Timon" ist nicht der im "Falken"; jener lebte in Griechenland, dieser in Frankreich; nur weil ihr Charakter einerlei Hauptzuege hat, hat man ihnen einerlei Namen gelassen. Warum wollen wir ekler, in unsere Vergnuegungen waehliger und gegen kahle Vernuenfteleien nachgebender sein, als—ich will nicht sagen, die Franzosen und Italiener sind—sondern, als selbst die Roemer und Griechen waren? War ihr Parasit etwas anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch seine eigene, besondere Tracht, in der er in einem Stuecke ueber dem andern vorkam? Hatten die Griechen nicht ein eigenes Drama, in das jederzeit Satyri eingeflochten werden mussten, sie mochten sich nun in die Geschichte des Stuecks schicken oder nicht?

Harlekin hat, vor einigen Jahren, seine Sache vor dem Richterstuhle der wahren Kritik, mit ebenso vieler Laune als Gruendlichkeit, verteidiget. Ich empfehle die Abhandlung des Herrn Moeser ueber das Groteske-Komische allen meinen Lesern, die sie noch nicht kennen; die sie kennen, deren Stimme habe ich schon. Es wird darin beilaeufig von einem gewissen Schriftsteller gesagt, dass er Einsicht genug besitze, dermaleins der Lobredner des Harlekins zu werden. Itzt ist er es geworden! wird man denken. Aber nein; er ist es immer gewesen. Den Einwurf, den ihm Herr Moeser wider den Harlekin in den Mund legt, kann er sich nie gemacht, ja nicht einmal gedacht zu haben erinnern.

Ausser dem Harlekin koemmt in den "Falschen Vertraulichkeiten" noch ein anderer Bedienter vor, der die ganze Intrige fuehret. Beide wurden sehr wohl gespielt; und unser Theater hat ueberhaupt an den Herren Hensel und Merschy ein paar Akteurs, die man zu den Bedientenrollen kaum besser verlangen kann.

Den zweiundzwanzigsten Abend (donnerstags, den 21. Mai) ward die
"Zelmire" des Herrn Du Belloy aufgefuehret.

Der Name Du Belloy kann niemanden unbekannt sein, der in der neuern franzoesischen Literatur nicht ganz ein Fremdling ist. Des Verfassers der "Belagerung von Calais"! Wenn es dieses Stueck nicht verdiente, dass die Franzosen ein solches Laermen damit machten, so gereicht doch dieses Laermen selbst den Franzosen zur Ehre. Es zeigt sie als ein Volk, das auf seinen Ruhm eifersuechtig ist; auf das die grossen Taten seiner Vorfahren den Eindruck nicht verloren haben; das, von dem Werte eines Dichters und von dem Einflusse des Theaters auf Tugend und Sitten ueberzeugt, jenen nicht zu seinen unnuetzen Gliedern rechnet, dieses nicht zu den Gegenstaenden zaehlet, um die sich nur geschaeftige Muessiggaenger bekuemmern. Wie weit sind wir Deutsche in diesem Stuecke noch hinter den Franzosen! Es gerade herauszusagen: wir sind gegen sie noch die wahren Barbaren! Barbarischer, als unsere barbarischsten Voreltern, denen ein Liedersaenger ein sehr schaetzbarer Mann war, und die, bei aller ihrer Gleichgueltigkeit gegen Kuenste und Wissenschaften, die Frage, ob ein Barde, oder einer, der mit Baerfellen und Bernstein handelt, der nuetzlichere Buerger waere? sicherlich fuer die Frage eines Narren gehalten haetten!—Ich mag mich in Deutschland umsehen, wo ich will, die Stadt soll noch gebauet werden, von der sich erwarten liesse, dass sie nur den tausendsten Teil der Achtung und Erkenntlichkeit gegen einen deutschen Dichter haben wuerde, die Calais gegen den Du Belloy gehabt hat. Man erkenne es immer fuer franzoesische Eitelkeit: wie weit haben wir noch hin, ehe wir zu so einer Eitelkeit faehig sein werden! Was Wunder auch? Unsere Gelehrte selbst sind klein genug, die Nation in der Geringschaetzung alles dessen zu bestaerken, was nicht geradezu den Beutel fuellet. Man spreche von einem Werke des Genies, von welchem man will; man rede von der Aufmunterung der Kuenstler; man aeussere den Wunsch, dass eine reiche bluehende Stadt der anstaendigsten Erholung fuer Maenner, die in ihren Geschaeften des Tages Last und Hitze getragen, und der nuetzlichsten Zeitverkuerzung fuer andere, die gar keine Geschaefte haben wollen, (das wird doch wenigstens das Theater sein?) durch ihre blosse Teilnehmung aufhelfen moege:—und sehe und hoere um sich. "Dem Himmel sei Dank", ruft nicht bloss der Wucherer Albinus, "dass unsere Buerger wichtigere Dinge zu tun haben!"

———Eu!
Rem poteris servare tuam!—

Wichtigere? Eintraeglichere; das gebe ich zu! Eintraeglich ist freilich unter uns nichts, was im geringsten mit den freien Kuensten in Verbindung stehet. Aber,

—haec animos aerugo er cura peculi Cum semel imbuerit—

Doch ist vergesse mich. Wie gehoert das alles zur "Zelmire"?

Du Belloy war ein junger Mensch, der sich auf die Rechte legen wollte oder sollte. Sollte, wird es wohl mehr gewesen sein. Denn die Liebe zum Theater behielt die Oberhand; er legte den Bartolus beiseite und ward Komoediant. Er spielte einige Zeit unter der franzoesischen Truppe zu Braunschweig, machte verschiedene Stuecke, kam wieder in sein Vaterland und ward geschwind durch ein paar Trauerspiele so gluecklich und beruehmt, als ihn nur immer die Rechtsgelehrsamkeit haette machen koennen, wenn er auch ein Beaumont geworden waere. Wehe dem jungen deutschen Genie, das diesen Weg einschlagen wollte! Verachtung und Bettelei wuerden sein gewissestes Los sein!

Das erste Trauerspiel des Du Belloy heisst "Titus"; und "Zelmire" war sein zweites. "Titus" fand keinen Beifall, und ward nur ein einziges Mal gespielt. Aber "Zelmire" fand desto groessern; es ward vierzehnmal hintereinander aufgefuehrt, und die Pariser hatten sich noch nicht daran satt gesehen. Der Inhalt ist von des Dichters eigener Erfindung.

Ein franzoesischer Kunstrichter[1] nahm hiervon Gelegenheit, sich gegen die Trauerspiele von dieser Gattung ueberhaupt zu erklaeren: "Uns waere", sagt er, "ein Stoff aus der Geschichte weit lieber gewesen. Die Jahrbuecher der Welt sind an beruechtigten Verbrechen ja so reich; und die Tragoedie ist ja ausdruecklich dazu, dass sie uns die grossen Handlungen wirklicher Helden zur Bewunderung und Nachahmung vorstellen soll. Indem sie so den Tribut bezahlt, den die Nachwelt ihrer Asche schuldig ist, befeuert sie zugleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Begierde, ihnen gleich zu werden. Man wende nicht ein, dass 'Zaire', 'Alzire', 'Mahomet' doch auch nur Geburten der Erdichtung waeren. Die Namen der beiden ersten sind erdichtet, aber der Grund der Begebenheiten ist historisch. Es hat wirklich Kreuzzuege gegeben, in welchen sich Christen und Tuerken zur Ehre Gottes, ihres gemeinschaftlichen Vaters, hassten und wuergten. Bei der Eroberung von Mexiko haben sich notwendig die gluecklichen und erhabenen Kontraste zwischen den europaeischen und amerikanischen Sitten, zwischen der Schwaermerei und der wahren Religion aeussern muessen. Und was den 'Mahomet' anbelangt, so ist er der Auszug, die Quintessenz, so zu reden, aus dem ganzen Leben dieses Betruegers; der Fanatismus, in Handlung gezeigt; das schoenste philosophische Gemaelde, das jemals von diesem gefaehrlichen Ungeheuer gemacht worden."

——Fussnote

[1] "Journal Encyclopedique", Juillet 1762.

——Fussnote

Neunzehntes Stueck
Den 3. Julius 1767

Es ist einem jeden vergoennt, seinen eigenen Geschmack zu haben; und es ist ruehmlich, sich von seinem eigenen Geschmacke Rechenschaft zu geben suchen. Aber den Gruenden, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit erteilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit haette, ihn zu dem einzigen wahren Geschmacke machen muesste, heisst aus den Grenzen des forschenden Liebhabers herausgehen und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwerfen. Der angefuehrte franzoesische Schriftsteller faengt mit einem bescheidenen "Uns waere lieber gewesen" an und geht zu so allgemein verbindenden Ausspruechen fort, dass man glauben sollte, dieses Uns sei aus dem Munde der Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfodert.

Nun hat es Aristoteles laengst entschieden, wie weit sich der tragische Dichter um die historische Wahrheit zu bekuemmern habe; nicht weiter, als sie einer wohleingerichteten Fabel aehnlich ist, mit der er seine Absichten verbinden kann. Er braucht eine Geschichte nicht darum, weil sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen ist, dass er sie schwerlich zu seinem gegenwaertigen Zwecke besser erdichten koennte. Findet er diese Schicklichkeit von ohngefaehr an einem wahren Falle, so ist ihm der wahre Fall willkommen; aber die Geschichtbuecher erst lange darum nachzuschlagen, lohnt der Muehe nicht. Und wie viele wissen denn, was geschehen ist? Wenn wir die Moeglichkeit, dass etwas geschehen kann, nur daher abnehmen wollen, weil es geschehen ist: was hindert uns, eine gaenzlich erdichtete Fabel fuer eine wirklich geschehene Historie zu halten, von der wir nie etwas gehoert haben? Was ist das erste, was uns eine Historie glaubwuerdig macht? Ist es nicht ihre innere Wahrscheinlichkeit? Und ist es nicht einerlei, ob diese Wahrscheinlichkeit von gar keinen Zeugnissen und Ueberlieferungen bestaetiget wird, oder von solchen, die zu unserer Wissenschaft noch nie gelangt sind? Es wird ohne Grund angenommen, dass es eine Bestimmung des Theaters mit sei, das Andenken grosser Maenner zu erhalten; dafuer ist die Geschichte, aber nicht das Theater. Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch getan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umstaenden tun werde. Die Absicht der Tragoedie ist weit philosophischer, als die Absicht der Geschichte; und es heisst sie von ihrer wahren Wuerde herabsetzen, wenn man sie zu einem blossen Panegyrikus beruehmter Maenner macht, oder sie gar den Nationa1stolz zu naehren missbraucht.

Die zweite Erinnerung des naemlichen franzoesischen Kunstrichters gegen die "Zelmire" des Du Belloy ist wichtiger. Er tadelt, dass sie fast nichts als ein Gewebe mannigfaltiger wunderbarer Zufaelle sei, die in den engen Raum von vierundzwanzig Stunden zusammengepresst, aller Illusion unfaehig wuerden. Eine seltsam ausgesparte Situation ueber die andere! ein Theaterstreich ueber den andern! Was geschieht nicht alles! was hat man nicht alles zu behalten! Wo sich die Begebenheiten so draengen, koennen schwerlich alle vorbereitet genug sein. Wo uns so vieles ueberrascht, wird uns leicht manches mehr befremden, als ueberraschen. "Warum muss sich z.E. der Tyrann dem Rhamnes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm seine Verbrechen zu offenbaren? Faellt Ilus nicht gleichsam vom Himmel? Ist die Gemuetsaenderung des Rhamnes nicht viel zu schleunig? Bis auf den Augenblick, da er den Antenor ersticht, nimmt er an den Verbrechen seines Herrn auf die entschlossenste Weise teil; und wenn er einmal Reue zu empfinden geschienen, so hatte er sie doch sogleich wieder unterdrueckt. Welch geringfuegige Ursachen gibt hiernaechst der Dichter nicht manchmal den wichtigsten Dingen! So muss Polydor, wenn er aus der Schlacht koemmt und sich wiederum in dem Grabmale verbergen will, der Zelmire den Ruecken zukehren, und der Dichter muss uns sorgfaeltig diesen kleinen Umstand einschaerfen. Denn wenn Polydor anders ginge, wenn er der Prinzessin das Gesicht, anstatt den Ruecken zuwendete: so wuerde sie ihn erkennen, und die folgende Szene, wo diese zaertliche Tochter unwissend ihren Vater seinen Henkern ueberliefert, diese so vorstechende, auf alle Zuschauer so grossen Eindruck machende Szene fiele weg. Waere es gleichwohl nicht weit natuerlicher gewesen, wenn Polydor, indem er wieder in das Grabmal fluechtet, die Zelmire bemerkt, ihr ein Wort zugerufen oder auch nur einen Wink gegeben haette? Freilich waere es so natuerlicher gewesen, als dass die ganzen letzten Akte sich nunmehr auf die Art, wie Polydor geht, ob er seinen Ruecken dahin oder dorthin kehret, gruenden muessen. Mit dem Billett des Azor hat es die naemliche Bewandtnis: brachte es der Soldat im zweiten Akte gleich mit, so wie er es haette mitbringen sollen, so war der Tyrann entlarvet, und das Stueck hatte ein Ende."

Die Uebersetzung der "Zelmire" ist nur in Prosa. Aber wer wird nicht lieber eine koernichte, wohlklingende Prosa hoeren wollen, als matte, geradebrechte Verse? Unter allen unsern gereimten Uebersetzungen werden kaum ein halbes Dutzend sein, die ertraeglich sind. Und dass man mich ja nicht bei dem Worte nehme, sie zu nennen! Ich wuerde eher wissen, wo ich aufhoeren, als wo ich anfangen sollte. Die beste ist an vielen Stellen dunkel und zweideutig; der Franzose war schon nicht der groesste Versifikateur, sondern stuemperte und flickte; der Deutsche war es noch weniger, und indem er sich bemuehte, die gluecklichen und ungluecklichen Zeilen seines Originals gleich treu zu uebersetzen, so ist es natuerlich, dass oefters, was dort nur Lueckenbuesserei oder Tautologie war, hier zu foermlichem Unsinne werden musste. Der Ausdruck ist dabei meistens so niedrig und die Konstruktion so verworfen, dass der Schauspieler allen seinen Adel noetig hat, jenem aufzuhelfen, und allen seinen Verstand brauchet, diese nur nicht verfehlen zu lassen. Ihm die Deklamation zu erleichtern, daran ist vollends gar nicht gedacht worden!

Aber verlohnt es denn auch der Muehe, auf franzoesische Verse so viel Fleiss zu wenden, bis in unserer Sprache ebenso waessrig korrekte, ebenso grammatikalisch kalte Verse daraus werden? Wenn wir hingegen den ganzen poetischen Schmuck der Franzosen in unsere Prosa uebertragen, so wird unsere Prosa dadurch eben noch nicht sehr poetisch werden. Es wird der Zwitterton noch lange nicht daraus entstehen, der aus den prosaischen Uebersetzungen englischer Dichter entstanden ist, in welchen der Gebrauch der kuehnsten Tropen und Figuren, ausser einer gebundenen kadensierten Wortfuegung, uns an Besoffene denken laesst, die ohne Musik tanzen. Der Ausdruck wird sich hoechstens ueber die alltaegliche Sprache nicht weiter erheben, als sich die theatralische Deklamation ueber den gewoehnlichen Ton der gesellschaftlichen Unterhaltungen erheben soll. Und sonach wuenschte ich unserm prosaischen Uebersetzer recht viele Nachfolger; ob ich gleich der Meinung des Houdar de la Motte gar nicht bin, dass das Silbenmass ueberhaupt ein kindischer Zwang sei, dem sich der dramatische Dichter am wenigsten Ursache habe zu unterwerfen. Denn hier koemmt es bloss darauf an, unter zwei Uebeln das kleinste zu waehlen; entweder Verstand und Nachdruck der Versifikation, oder diese jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la Motte war seine Meinung zu vergeben; er hatte eine Sprache in Gedanken, in der das Metrische der Poesie nur Kitzelung der Ohren ist und zur Verstaerkung des Ausdrucks nichts beitragen kann; in der unsrigen hingegen ist es etwas mehr, und wir koennen der griechischen ungleich naeher kommen, die durch den blossen Rhythmus ihrer Versarten die Leidenschaften, die darin ausgedrueckt werden, anzudeuten vermag. Die franzoesischen Verse haben nichts als den Wert der ueberstandenen Schwierigkeit fuer sich; und freilich ist dieses nur ein sehr elender Wert.

Die Rolle des Antenors hat Herr Borchers ungemein wohl gespielt; mit aller der Besonnenheit und Heiterkeit, die einem Boesewichte von grossem Verstande so natuerlich zu sein scheinen. Kein misslungener Anschlag wird ihn in Verlegenheit setzen; er ist an immer neuen Raenken unerschoepflich; er besinnt sich kaum, und der unerwartetste Streich, der ihn in seiner Bloesse darzustellen drohte, empfaengt eine Wendung, die ihm die Larve nur noch fester aufdrueckt. Diesen Charakter nicht zu verderben, ist von seiten des Schauspielers das getreueste Gedaechtnis, die fertigste Stimme, die freieste, nachlaessigste Aktion unumgaenglich noetig. Hr. Borchers hat ueberhaupt sehr viele Talente, und schon das muss ein guenstiges Vorurteil fuer ihn erwecken, dass er sich in alten Rollen ebenso gern uebet, als in jungen. Dieses zeuget von seiner Liebe zur Kunst; und der Kenner unterscheidet ihn sogleich von so vielen andern jungen Schauspielern, die nur immer auf der Buehne glaenzen wollen, und deren kleine Eitelkeit, sich in lauter galanten liebenswuerdigen Rollen begaffen und bewundern zu lassen, ihr vornehmster, auch wohl oefters ihr einziger Beruf zum Theater ist.

Zwanzigstes Stueck
Den 7. Julius 1767

Den dreiundzwanzigsten Abend (freitags, den 22. Mai) ward "Cenie" aufgefuehret.

Dieses vortreffliche Stueck der Graffigny musste der Gottschedin zum Uebersetzen in die Haende fallen. Nach dem Bekenntnisse, welches sie von sich selbst ablegt, "dass sie die Ehre, welche man durch Uebersetzung oder auch Verfertigung theatralischer Stuecke erwerben koenne, allezeit nur fuer sehr mittelmaessig gehalten habe", laesst sich leicht vermuten, dass sie, diese mittelmaessige Ehre zu erlangen, auch nur sehr mittelmaessige Muehe werde angewendet haben. Ich habe ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass sie einige lustige Stuecke des Destouches eben nicht verdorben hat. Aber wieviel leichter ist es, eine Schnurre zu uebersetzen, als eine Empfindung! Das Laecherliche kann der Witzige und Unwitzige nachsagen; aber die Sprache des Herzens kann nur das Herz treffen. Sie hat ihre eigene Regeln; und es ist ganz um sie geschehen, sobald man diese verkennt und sie dafuer den Regeln der Grammatik unterwerfen und ihr alle die kalte Vollstaendigkeit, alle die langweilige Deutlichkeit geben will, die wir an einem logischen Satze verlangen. z.E. Dorimond hat dem Mericourt eine ansehnliche Verbindung, nebst dem vierten Teile seines Vermoegens, zugedacht. Aber das ist das wenigste, worauf Mericourt geht; er verweigert sich dem grossmuetigen Anerbieten und will sich ihm aus Uneigennuetzigkeit verweigert zu haben scheinen. "Wozu das?" sagt er. "Warum wollen Sie sich Ihres Vermoegens berauben? Geniessen Sie Ihrer Gueter selbst; sie haben Ihnen Gefahr und Arbeit genug gekostet." J'en jouirai, je vous rendrai tous heureux: laesst die Graffigny den lieben gutherzigen Alten antworten. "Ich will ihrer geniessen, ich will euch alle gluecklich machen." Vortrefflich! Hier ist kein Wort zu viel! Die wahre nachlaessige Kuerze, mit der ein Mann, dem Guete zur Natur geworden ist, von seiner Guete spricht, wenn er davon sprechen muss! Seines Glueckes geniessen, andere gluecklich machen: beides ist ihm nur eines; das eine ist ihm nicht bloss eine Folge des andern, ein Teil des andern; das eine ist ihm ganz das andere: und so wie sein Herz keinen Unterschied darunter kennet, so weiss auch sein Mund keinen darunter zu machen; er spricht, als ob er das naemliche zweimal spraeche, als ob beide Saetze wahre tautologische Saetze, vollkommen identische Saetze waeren; ohne das geringste Verbindungswort. O des Elenden, der die Verbindung nicht fuehlt, dem sie eine Partikel erst fuehlbar machen soll! Und dennoch, wie glaubt man wohl, dass die Gottschedin jene acht Worte uebersetzt hat? "Alsdenn werde ich meiner Gueter erst recht geniessen, wenn ich euch beide dadurch werde gluecklich gemacht haben." Unertraeglich! Der Sinn ist vollkommen uebergetragen, aber der Geist ist verflogen; ein Schwall von Worten hat ihn erstickt. Dieses Alsdenn, mit seinem Schwanze von Wenn; dieses Erst; dieses Recht; dieses Dadurch: lauter Bestimmungen, die dem Ausbruche des Herzens alle Bedenklichkeiten der Ueberlegung geben und eine warme Empfindung in eine frostige Schlussrede verwandeln.

Denen, die mich verstehen, darf ich nur sagen, dass ungefaehr auf diesen Schlag das ganze Stueck uebersetzt ist. Jede feinere Gesinnung ist in ihren gesunden Menschenverstand paraphrasiert, jeder affektvolle Ausdruck in die toten Bestandteile seiner Bedeutung aufgeloeset worden. Hierzu koemmt in vielen Stellen der haessliche Ton des Zeremoniells; verabredete Ehrenbenennungen kontrastieren mit den Ausrufungen der geruehrten Natur auf die abscheulichste Weise. Indem Cenie ihre Mutter erkennet, ruft sie: "Frau Mutter! o welch ein suesser Name!" Der Name Mutter ist suess; aber Frau Mutter ist wahrer Honig mit Zitronensaft! Der herbe Titel zieht das ganze, der Empfindung sich oeffnende Herz wieder zusammen. Und in dem Augenblicke, da sie ihren Vater findet, wirft sie sich gar mit einem "Gnaediger Herr Vater! ich bin Ihrer Gnade wert!" ihm in die Arme. Mon pere! auf deutsch: Gnaediger Herr Vater. Was fuer ein respektuoeses Kind! Wenn ich Dorsainville waere, ich haette es ebenso gern gar nicht wieder gefunden, als mit dieser Anrede.

Madame Loewen spielt die Orphise; man kann sie nicht mit mehrerer Wuerde und Empfindung spielen. Jede Miene spricht das ruhige Bewusstsein ihres verkannten Wertes; und sanfte Melancholie auszudruecken, kann nur ihrem Blicke, kann nur ihrem Tone gelingen.

Cenie ist Madame Hensel. Kein Wort faellt aus ihrem Munde auf die Erde. Was sie sagt, hat sie nicht gelernt; es koemmt aus ihrem eignen Kopfe, aus ihrem eignen Herzen. Sie mag sprechen, oder sie mag nicht sprechen, ihr Spiel geht ununterbrochen fort. Ich wuesste nur einen einzigen Fehler; aber es ist ein sehr seltner Fehler; ein sehr beneidenswuerdiger Fehler. Die Aktrice ist fuer die Rolle zu gross. Mich duenkt einen Riesen zu sehen, der mit dem Gewehre eines Kadetts exerzieret. Ich moechte nicht alles machen, was ich vortrefflich machen koennte.

Herr Ekhof in der Rolle des Dorimond ist ganz Dorimond. Diese Mischung von Sanftmut und Ernst, von Weichherzigkeit und Strenge, wird gerade in so einem Manne wirklich sein, oder sie ist es in keinem. Wann er zum Schlusse des Stuecks vom Mericourt sagt: "Ich will ihm so viel geben, dass er in der grossen Welt leben kann, die sein Vaterland ist; aber sehen mag ich ihn nicht mehr!" wer hat den Mann gelehrt, mit ein paar erhobenen Fingern, hierhin und dahin bewegt, mit einem einzigen Kopfdrehen, uns auf einmal zu zeigen, was das fuer ein Land ist, dieses Vaterland des Mericourt? Ein gefaehrliches, ein boeses Land!

Tot linguae, quot membra viro!

Den vierundzwanzigsten Abend (montags, den 25. Mai) ward die "Amalia" des
Herrn Weisse aufgefuehret.

"Amalia" wird von Kennern fuer das beste Lustspiel dieses Dichters gehalten. Es hat auch wirklich mehr Interesse, ausgefuehrtere Charaktere und einen lebhaftern gedankenreichern Dialog, als seine uebrige komische Stuecke. Die Rollen sind hier sehr wohl besetzt; besonders macht Madame Boek den Manley, oder die verkleidete Amalia, mit vieler Anmut und mit aller der ungezwungenen Leichtigkeit, ohne die wir es ein wenig sehr unwahrscheinlich finden wuerden, ein junges Frauenzimmer so lange verkannt zu sehen. Dergleichen Verkleidungen ueberhaupt geben einem dramatischen Stuecke zwar ein romanenhaftes Ansehen, dafuer kann es aber auch nicht fehlen, dass sie nicht sehr komische, auch wohl sehr interessante Szenen veranlassen sollten. Von dieser Art ist die fuenfte des letzten Akts, in welcher ich meinem Freunde einige allzu kuehn kroquierte Pinselstriche zu lindern und mit dem uebrigen in eine sanftere Haltung zu vertreiben wohl raten moechte. Ich weiss nicht, was in der Welt geschieht; ob man wirklich mit dem Frauenzimmer manchmal in diesem zudringlichen Tone spricht. Ich will nicht untersuchen, wie weit es mit der weiblichen Bescheidenheit bestehen koenne, gewisse Dinge, obschon unter der Verkleidung, so zu brueskieren. Ich will die Vermutung ungeaeussert lassen, dass es vielleicht gar nicht einmal die rechte Art sei, eine Madame Freemann ins Enge zu treiben; dass ein wahrer Manley die Sache wohl haette feiner anfangen koennen; dass man ueber einen schnellen Strom nicht in gerader Linie schwimmen zu wollen verlangen muesse; dass—Wie gesagt, ich will diese Vermutungen ungeaeussert lassen; denn es koennte leicht bei einem solchen Handel mehr als eine rechte Art geben. Nachdem naemlich die Gegenstaende sind; obschon alsdenn noch gar nicht ausgemacht ist, dass diejenige Frau, bei der die eine Art fehlgeschlagen, auch allen uebrigen Arten Obstand halten werde. Ich will bloss bekennen, dass ich fuer mein Teil nicht Herz genug gehabt haette, eine dergleichen Szene zu bearbeiten. Ich wuerde mich, vor der einen Klippe zu wenig Erfahrung zu zeigen, ebenso sehr gefuerchtet haben, als vor der andern, allzu viele zu verraten. Ja wenn ich mir auch einer mehr als Crebillonschen Faehigkeit bewusst gewesen waere, mich zwischen beide Klippen durchzustehlen: so weiss ich doch nicht, ob ich nicht viel lieber einen ganz andern Weg eingeschlagen waere. Besonders da sich dieser andere Weg hier von selbst oeffnet. Manley, oder Amalia, wusste ja, dass Freemann mit seiner vorgeblichen Frau nicht gesetzmaessig verbunden sei. Warum konnte er also nicht dieses zum Grunde nehmen, sie ihm gaenzlich abspenstig zu machen, und sich ihr nicht als einen Galan, dem es nur um fluechtige Gunstbezeigungen zu tun, sondern als einen ernsthaften Liebhaber anzutragen, der sein ganzes Schicksal mit ihr zu teilen bereit sei? Seine Bewerbungen wuerden dadurch, ich will nicht sagen unstraeflich, aber doch unstraeflicher geworden sein; er wuerde, ohne sie in ihren eigenen Augen zu beschimpfen, darauf haben bestehen koennen; die Probe waere ungleich verfuehrerischer und das Bestehen in derselben ungleich entscheidender fuer ihre Liebe gegen Freemann gewesen. Man wuerde zugleich einen ordentlichen Plan von seiten der Amalia dabei abgesehen haben; anstatt dass man itzt nicht wohl erraten kann, was sie nun weiter tun koennen, wenn sie ungluecklicherweise in ihrer Verfuehrung gluecklich gewesen waere.

Nach der "Amalia" folgte das kleine Lustspiel des Saintfoix, "Der Finanzpachter". Es besteht ungefaehr aus ein Dutzend Szenen von der aeussersten Lebhaftigkeit. Es duerfte schwer sein, in einen so engen Bezirk mehr gesunde Moral, mehr Charaktere, mehr Interesse zu bringen. Die Manier dieses liebenswuerdigen Schriftstellers ist bekannt. Nie hat ein Dichter ein kleineres niedlicheres Ganze zu machen gewusst, als er.

Den fuenfundzwanzigsten Abend (dienstags, den 26. Mai) ward die "Zelmire" des Du Belloy wiederholt.

Einundzwanzigstes Stueck
Den 10. Julius 1767

Den sechsundzwanzigsten Abend (freitags, den 29. Mal) ward "Die
Muetterschule" des Nivelle de la Chaussee aufgefuehret.

Es ist die Geschichte einer Mutter, die fuer ihre parteiische Zaertlichkeit gegen einen nichtswuerdigen schmeichlerischen Sohn die verdiente Kraenkung erhaelt. Marivaux hat auch ein Stueck unter diesem Titel. Aber bei ihm ist es die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter, um ein recht gutes, gehorsames Kind an ihr zu haben, in aller Einfalt erziehet, ohne alle Welt und Erfahrung laesst: und wie geht es damit? Wie man leicht erraten kann. Das liebe Maedchen hat ein empfindliches Herz; sie weiss keiner Gefahr auszuweichen, weil sie keine Gefahr kennet; sie verliebt sich in den ersten in den besten, ohne Mama darum zu fragen, und Mama mag dem Himmel danken, dass es noch so gut ablaeuft. In jener Schule gibt es eine Menge ernsthafte Betrachtungen anzustellen; in dieser setzt es mehr zu lachen. Die eine ist der Pendant der andern; und ich glaube, es muesste fuer Kenner ein Vergnuegen mehr sein, beide an einem Abende hintereinander besuchen zu koennen. Sie haben hierzu auch alle aeusserliche Schicklichkeit; das erste Stueck ist von fuenf Akten, das andere von einem.

Den siebenundzwanzigsten Abend (montags, den 1. Junius) ward die "Nanine" des Herrn von Voltaire gespielt.

Nanine? fragten sogenannte Kunstrichter, als dieses Lustspiel im Jahre 1749 zuerst erschien. Was ist das fuer ein Titel? Was denkt man dabei?—Nicht mehr und nicht weniger, als man bei einem Titel denken soll. Ein Titel muss kein Kuechenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalte verraet, desto besser ist er. Dichter und Zuschauer finden ihre Rechnung dabei, und die Alten haben ihren Komoedien selten andere, als nichtsbedeutende Titel gegeben. Ich kenne kaum drei oder viere, die den Hauptcharakter anzeigten oder etwas von der Intrige verrieten. Hierunter gehoeret des Plautus "Miles gloriosus". Wie koemmt es, dass man noch nicht angemerket, dass dieser Titel dem Plautus nur zur Haelfte gehoeren kann. Plautus nannte sein Stueck bloss Gloriosus; so wie er ein anderes "Truculentus" ueberschrieb. Miles muss der Zusatz eines Grammatikers sein. Es ist wahr, der Prahler, den Plautus schildert, ist ein Soldat; aber seine Prahlereien beziehen sich nicht bloss auf seinen Stand und seine kriegerische Taten. Er ist in dem Punkte der Liebe ebenso grosssprecherisch; er ruehmt sich nicht allein der tapferste, sondern auch der schoenste und liebenswuerdigste Mann zu sein. Beides kann in dem Worte Gloriosus liegen; aber sobald man Miles hinzufuegt, wird das gloriosus nur auf das erstere eingeschraenkt. Vielleicht hat den Grammatiker, der diesen Zusatz machte, eine Stelle des Cicero[1] verfuehrt; aber hier haette ihm Plautus selbst mehr als Cicero gelten sollen. Plautus selbst sagt:

    ALAZON Graece huic nomen est Comoediae
    Id nos latine GLORIOSUM dicimus—

und in der Stelle des Cicero ist es noch gar nicht ausgemacht, dass eben das Stueck des Plautus gemeinet sei. Der Charakter eines grosssprecherischen Soldaten kam in mehrern Stuecken vor. Cicero kann ebensowohl auf den Thraso des Terenz gezielet haben.—Doch dieses beilaeufig. Ich erinnere mich, meine Meinung von den Titeln der Komoedien ueberhaupt schon einmal geaeussert zu haben. Es koennte sein, dass die Sache so unbedeutend nicht waere. Mancher Stuemper hat zu einem schoenen Titel eine schlechte Komoedie gemacht; und bloss des schoenen Titels wegen. Ich moechte doch lieber eine gute Komoedie mit einem schlechten Titel. Wenn man nachfragt, was fuer Charaktere bereits bearbeitet worden, so wird kaum einer zu erdenken sein, nach welchem, besonders die Franzosen, nicht schon ein Stueck genannt haetten. Der ist laengst dagewesen! ruft man. Der auch schon! Dieser wuerde vom Moliere, jener vom Destouches entlehnet sein! Entlehnet? Das koemmt aus den schoenen Titeln. Was fuer ein Eigentumsrecht erhaelt ein Dichter auf einen gewissen Charakter dadurch, dass er seinen Titel davon hergenommen? Wenn er ihn stillschweigend gebraucht haette, so wuerde ich ihn wiederum stillschweigend brauchen duerfen, und niemand wuerde mich darueber zum Nachahmer machen. Aber so wage es einer einmal, und mache z.E. einen neuen Misanthropen. Wenn er auch keinen Zug von dem Moliereschen nimmt, so wird sein Misanthrop doch immer nur eine Kopie heissen. Genug, dass Moliere den Namen zuerst gebraucht hat. Jener hat unrecht, dass er funfzig Jahr spaeter lebet; und dass die Sprache fuer die unendlichen Varietaeten des menschlichen Gemuets nicht auch unendliche Benennungen hat.

Wenn der Titel "Nanine" nichts sagt, so sagt der andere Titel desto mehr: "Nanine, oder das besiegte Vorurteil". Und warum soll ein Stueck nicht zwei Titel haben? Haben wir Menschen doch auch zwei, drei Namen. Die Namen sind der Unterscheidung wegen; und mit zwei Namen ist die Verwechselung schwerer, als mit einem. Wegen des zweiten Titels scheinet der Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit sich gewesen zu sein. In der naemlichen Ausgabe seiner Werke heisst er auf einem Blatte "Das besiegte Vorurteil"; und auf dem andern "Der Mann ohne Vorurteil". Doch beides ist nicht weit auseinander. Es ist von dem Vorurteile, dass zu einer vernuenftigen Ehe die Gleichheit der Geburt und des Standes erforderlich sei, die Rede. Kurz, die Geschichte der Nanine ist die Geschichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte der Herr von Voltaire den Namen Pamela nicht brauchen, weil schon einige Jahre vorher ein paar Stuecke unter diesem Namen erschienen waren, und eben kein grosses Glueck gemacht hatten. Die "Pamela" des Boissy und des de la Chaussee sind auch ziemlich kahle Stuecke; und Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu sein, etwas weit Besseres zu machen.

"Nanine" gehoert unter die ruehrenden Lustspiele. Es hat aber auch sehr viel laecherliche Szenen, und nur insofern, als die laecherlichen Szenen mit den ruehrenden abwechseln, will Voltaire diese in der Komoedie geduldet wissen. Eine ganz ernsthafte Komoedie, wo man niemals lacht, auch nicht einmal laechelt, wo man nur immer weinen moechte, ist ihm ein Ungeheuer. Hingegen findet er den Uebergang von dem Ruehrenden zum Laecherlichen und von dem Laecherlichen zum Ruehrenden sehr natuerlich. Das menschliche Leben ist nichts als eine bestaendige Kette solcher Uebergaenge, und die Komoedie soll ein Spiegel des menschlichen Lebens sein. "Was ist gewoehnlicher", sagt er, "als dass in dem naemlichen Hause der zornige Vater poltert, die verliebte Tochter seufzet, der Sohn sich ueber beide aufhaelt und jeder Anverwandte bei der naemlichen Szene etwas anders empfindet? Man verspottet in einer Stube sehr oft, was in der Stube nebenan aeusserst bewegt; und nicht selten hat ebendieselbe Person in ebenderselben Viertelstunde ueber ebendieselbe Sache gelacht und geweinet. Eine sehr ehrwuerdige Matrone sass bei einer von ihren Toechtern, die gefaehrlich krank lag, am Bette, und die ganze Familie stand um ihr herum. Sie wollte in Traenen zerfliessen, sie rang die Haende und rief: 'O Gott, lass mir, lass mir dieses Kind, nur dieses; magst du mir doch alle die andern dafuer nehmen!' Hier trat ein Mann, der eine von ihren uebrigen Toechtern geheiratet hatte, naeher zu ihr hinzu, zupfte sie bei dem Aermel und fragte: 'Madame, auch die Schwiegersoehne?' Das kalte Blut, der komische Ton, mit denen er diese Worte aussprach, machten einen solchen Eindruck auf die betruebte Dame, dass sie in vollem Gelaechter herauslaufen musste; alles folgte ihr und lachte; die Kranke selbst, als sie es hoerte, waere vor Lachen fast erstickt."

"Homer", sagt er an einem andern Orte, "laesst sogar die Goetter, indem sie das Schicksal der Welt entscheiden, ueber den possierlichen Anstand des Vulkans lachen. Hektor lacht ueber die Furcht seines kleinen Sohnes, indem Andromacha die heissesten Traenen vergiesst. Es trifft sich wohl, dass mitten unter den Greueln einer Schlacht, mitten in den Schrecken einer Feuersbrunst oder sonst eines traurigen Verhaengnisses, ein Einfall, eine ungefaehre Posse, trotz aller Beaengstigung, trotz alles Mitleids das unbaendigste Lachen erregt. Man befahl in der Schlacht bei Speyern einem Regimente, dass es keinen Pardon geben sollte. Ein deutscher Offizier bat darum, und der Franzose, den er darum bat, antwortete: 'Bitten Sie, mein Herr, was Sie wollen, nur das Leben nicht; damit kann ich unmoeglich dienen!' Diese Naivetaet ging sogleich von Mund zu Munde; man lachte und metzelte. Wie viel eher wird nicht in der Komoedie das Lachen auf ruehrende Empfindungen folgen koennen? Bewegt uns nicht Alkmene? Macht uns nicht Sosias zu lachen? Welche elende und eitle Arbeit, wider die Erfahrung streiten zu wollen."

Sehr wohl! Aber streitet nicht auch der Herr von Voltaire wider die Erfahrung, wenn er die ganz ernsthafte Komoedie fuer eine ebenso fehlerhafte als langweilige Gattung erklaeret? Vielleicht damals, als er es schrieb, noch nicht. Damals war noch keine "Cenie", noch kein "Hausvater" vorhanden; und vieles muss das Genie erst wirklich machen, wenn wir es fuer moeglich erkennen sollen.

——Fussnote

[1] "De Officiis", Lib. I. Cap. 33.

——Fussnote

Zweiundzwanzigstes Stueck
Den 14. Julius 1767

Den achtundzwanzigsten Abend (dienstags, den 2. Junius) ward der "Advokat Patelin" wiederholt, und mit der "Kranken Frau" des Herrn Gellert beschlossen.

Ohnstreitig ist unter allen unsern komischen Schriftstellern Herr Gellert derjenige, dessen Stuecke das meiste urspruenglich Deutsche haben. Es sind wahre Familiengemaelde, in denen man sogleich zu Hause ist; jeder Zuschauer glaubt, einen Vetter, einen Schwager, ein Muehmchen aus seiner eigenen Verwandtschaft darin zu erkennen. Sie beweisen zugleich, dass es an Originalnarren bei uns gar nicht mangelt, und dass nur die Augen ein wenig selten sind, denen sie sich in ihrem wahren Lichte zeigen. Unsere Torheiten sind bemerkbarer, als bemerkt; im gemeinen Leben sehen wir ueber viele aus Gutherzigkeit hinweg; und in der Nachahmung haben sich unsere Virtuosen an eine allzu flache Manier gewoehnet. Sie machen sie aehnlich, aber nicht hervorspringend. Sie treffen; aber da sie ihren Gegenstand nicht vorteilhaft genug zu beleuchten gewusst, so mangelt dem Bilde die Rundung, das Koerperliche; wir sehen nur immer eine Seite, an der wir uns bald satt gesehen, und deren allzu schneidende Aussenlinien uns gleich an die Taeuschung erinnern, wenn wir in Gedanken um die uebrigen Seiten herumgehen wollen. Die Narren sind in der ganzen Welt platt und frostig und ekel; wann sie belustigen sollen, muss ihnen der Dichter etwas von dem Seinigen geben. Er muss sie nicht in ihrer Alltagskleidung, in der schmutzigen Nachlaessigkeit auf das Theater bringen, in der sie innerhalb ihren vier Pfaehlen herumtraeumen. Sie muessen nichts von der engen Sphaere kuemmerlicher Umstaende verraten, aus der sich ein jeder gern herausarbeiten will. Er muss sie aufputzen; er muss ihnen Witz und Verstand leihen, das Armselige ihrer Torheiten bemaenteln zu koennen; er muss ihnen den Ehrgeiz geben, damit glaenzen zu wollen.

"Ich weiss gar nicht", sagte eine von meinen Bekanntinnen, "was das fuer ein Paar zusammen ist, dieser Herr Stephan und diese Frau Stephan! Herr Stephan ist ein reicher Mann und ein guter Mann. Gleichwohl muss seine geliebte Frau Stephan um eine lumpige Andrienne so viel Umstaende machen! Wir sind freilich sehr oft um ein Nichts krank; aber doch um ein so gar grosses Nichts nicht. Eine neue Andrienne! Kann sie nicht hinschicken, und ausnehmen lassen, und machen lassen? Der Mann wird ja wohl bezahlen; und er muss ja wohl."

"Ganz gewiss!" sagte eine andere. "Aber ich habe noch etwas zu erinnern. Der Dichter schrieb zu den Zeiten unserer Muetter. Eine Andrienne! Welche Schneidersfrau traegt denn noch eine Andrienne? Es ist nicht erlaubt, dass die Aktrice hier dem guten Manne nicht ein wenig nachgeholfen! Konnte sie nicht Roberonde, Benedictine, Respectueuse"—(ich habe die andern Namen vergessen, ich wuerde sie auch nicht zu schreiben wissen)—"dafuer sagen! Mich in einer Andrienne zu denken; das allein koennte mich krank machen. Wenn es der neueste Stoff ist, wornach Madame Stephan lechzet, so muss es auch die neueste Tracht sein. Wie koennen wir es sonst wahrscheinlich finden, dass sie darueber krank geworden?"

"Und ich", sagte eine dritte (es war die gelehrteste), "finde es sehr unanstaendig, dass die Stephan ein Kleid anzieht, das nicht auf ihren Leib gemacht worden. Aber man sieht wohl, was den Verfasser zu dieser—wie soll ich es nennen?—Verkennung unserer Delikatesse gezwungen hat. Die Einheit der Zeit! Das Kleid musste fertig sein; die Stephan sollte es noch anziehen; und in vierundzwanzig Stunden wird nicht immer ein Kleid fertig. Ja, er durfte sich nicht einmal zu einem kleinen Nachspiele vierundzwanzig Stunden gar wohl erlauben. Denn Aristoteles sagt"—Hier ward meine Kunstrichterin unterbrochen.

Den neunundzwanzigsten Abend (mittewochs, den 3. Junius) ward nach der "Melanide" des de la Chaussee "Der Mann nach der Uhr, oder der ordentliche Mann" gespielet.

Der Verfasser dieses Stuecks ist Herr Hippel, in Danzig. Es ist reich an drolligen Einfaellen; nur schade, dass ein jeder, sobald er den Titel hoert, alle diese Einfaelle voraussieht. National ist es auch genug; oder vielmehr provinzial. Und dieses koennte leicht das andere Extremum werden, in das unsere komischen Dichter verfielen, wenn sie wahre deutsche Sitten schildern wollten. Ich fuerchte, dass jeder die armseligen Gewohnheiten des Winkels, in dem er geboren worden, fuer die eigentlichen Sitten des gemeinschaftlichen Vaterlandes halten duerfte. Wem aber liegt daran, zu erfahren, wievielmal im Jahre man da oder dort gruenen Kohl isst?

Ein Lustspiel kann einen doppelten Titel haben; doch versteht sich, dass jeder etwas anders sagen muss. Hier ist das nicht; "Der Mann nach der Uhr", oder "Der ordentliche Mann" sagen ziemlich das naemliche; ausser dass das erste ohngefaehr die Karikatur von dem andern ist.

Den dreissigsten Abend (donnerstags, den 4. Junius) ward der "Graf von Essex", vom Thomas Corneille, auf gefuehrt. Dieses Trauerspiel ist fast das einzige, welches sich aus der betraechtlichen Anzahl der Stuecke des juengern Corneille auf dem Theater erhalten hat. Und ich glaube, es wird auf den deutschen Buehnen noch oefterer wiederholt, als auf den franzoesischen. Es ist vom Jahre 1678, nachdem vierzig Jahre vorher bereits Calprenede die naemliche Geschichte bearbeitet hatte.

"Es ist gewiss", schreibt Corneille, "dass der Graf von Essex bei der Koenigin Elisabeth in besondern Gnaden gestanden. Er war von Natur sehr stolz. Die Dienste, die er England geleistet hatte, bliesen ihn noch mehr auf. Seine Feinde beschuldigten ihn eines Verstaendnisses mit dem Grafen von Tyrone, den die Rebellen in Irland zu ihrem Haupte erwaehlet hatten. Der Verdacht, der dieserwegen auf ihm blieb, brachte ihn um das Kommando der Armee. Er ward erbittert, kam nach London, wiegelte das Volk auf, ward in Verhaft gezogen, verurteilt, und nachdem er durchaus nicht um Gnade bitten wollen, den 25. Februar 1601 enthauptet. So viel hat mir die Historie an die Hand gegeben. Wenn man mir aber zur Last legt, dass ich sie in einem wichtigen Stuecke verfaelscht haette, weil ich mich des Vorfalles mit dem Ringe nicht bedienet, den die Koenigin dem Grafen zum Unterpfande ihrer unfehlbaren Begnadigung, falls er sich jemals eines Staatsverbrechens schuldig machen sollte, gegeben habe: so muss mich dieses sehr befremden. Ich bin versichert, dass dieser Ring eine Erfindung des Calprenede ist, wenigstens habe ich in keinem Geschichtschreiber das geringste davon gelesen."

Allerdings stand es Corneillen frei, diesen Umstand mit dem Ringe zu nutzen oder nicht zu nutzen; aber darin ging er zu weit, dass er ihn fuer eine poetische Erfindung erklaerte. Seine historische Richtigkeit ist neuerlich fast ausser Zweifel gesetzt worden; und die bedaechtlichsten, skeptischsten Geschichtschreiber, Hume und Robertson, haben ihn in ihre Werke aufgenommen.

Wenn Robertson in seiner Geschichte von Schottland von der Schwermut redet, in welche Elisabeth vor ihrem Tode verfiel, so sagt er: "Die gemeinste Meinung damaliger Zeit, und vielleicht die wahrscheinlichste war diese, dass dieses Uebel aus einer betruebten Reue wegen des Grafen von Essex entstanden sei. Sie hatte eine ganz ausserordentliche Achtung fuer das Andenken dieses ungluecklichen Herrn; und wiewohl sie oft ueber seine Hartnaeckigkeit klagte, so nannte sie doch seinen Namen selten ohne Traenen. Kurz vorher hatte sich ein Vorfall zugetragen, der ihre Neigung mit neuer Zaertlichkeit belebte und ihre Betruebnis noch mehr vergaellte. Die Graefin von Nottingham, die auf ihrem Todbette lag, wuenschte die Koenigin zu sehen und ihr ein Geheimnis zu offenbaren, dessen Verhehlung sie nicht ruhig wuerde sterben lassen. Wie die Koenigin in ihr Zimmer kam, sagte ihr die Graefin, Essex habe, nachdem ihm das Todesurteil gesprochen worden, gewuenscht, die Koenigin um Vergebung zu bitten, und zwar auf die Art, die Ihro Majestaet ihm ehemals selbst vorgeschrieben. Er habe ihr naemlich den Ring zuschicken wollen, den sie ihm, zur Zeit der Huld, mit der Versicherung geschenkt, dass, wenn er ihr denselben, bei einem etwanigen Ungluecke, als ein Zeichen senden wuerde, er sich ihrer voelligen Gnaden wiederum versichert halten sollte. Lady Scroop sei die Person, durch welche er ihn habe uebersenden wollen; durch ein Versehen aber sei er nicht in der Lady Scroop, sondern in ihre Haende geraten. Sie habe ihrem Gemahl die Sache erzaehlt (er war einer von den unversoehnlichsten Feinden des Essex), und der habe ihr verboten, den Ring weder der Koenigin zu geben noch dem Grafen zurueckzusenden. Wie die Graefin der Koenigin ihr Geheimnis entdeckt hatte, bat sie dieselbe um Vergebung; allein Elisabeth, die nunmehr sowohl die Bosheit der Feinde des Grafen, als ihre eigene Ungerechtigkeit einsahe, dass sie ihn im Verdacht eines unbaendigen Eigensinnes gehabt, antwortete: 'Gott mag Euch vergeben; ich kann es nimmermehr!' Sie verliess das Zimmer in grosser Entsetzung, und von dem Augenblicke an sanken ihre Lebensgeister gaenzlich. Sie nahm weder Speise noch Trank zu sich; sie verweigerte sich allen Arzeneien; sie kam in kein Bette; sie blieb zehn Tage und zehn Naechte auf einem Polster, ohne ein Wort zu sprechen, in Gedanken sitzen; einen Finger im Munde, mit offenen, auf die Erde geschlagenen Augen; bis sie endlich, von innerlicher Angst der Seelen und von so langem Fasten ganz entkraeftet, den Geist aufgab."

Dreiundzwanzigstes Stueck
Den 17. Julius 1767

Der Herr von Voltaire hat den "Essex" auf eine sonderbare Weise kritisiert. Ich moechte nicht gegen ihn behaupten, dass "Essex" ein vorzueglich gutes Stueck sei; aber das ist leicht zu erweisen, dass viele von den Fehlern, die er daran tadelt, teils sich nicht darin finden, teils unerhebliche Kleinigkeiten sind, die seinerseits eben nicht den richtigsten und wuerdigsten Begriff von der Tragoedie voraussetzen.

Es gehoert mit unter die Schwachheiten des Herrn von Voltaire, dass er ein sehr profunder Historikus sein will. Er schwang sich also auch bei dem "Essex" auf dieses sein Streitross und tummelte es gewaltig herum. Schade nur, dass alle die Taten, die er darauf verrichtet, des Staubes nicht wert sind, den er erregt.

Thomas Corneille hat ihm von der englischen Geschichte nur wenig gewusst; und zum Gluecke fuer den Dichter war das damalige Publikum noch unwissender. "Itzt", sagt er, "kennen wir die Koenigin Elisabeth und den Grafen Essex besser; itzt wuerden einem Dichter dergleichen grobe Verstossungen wider die historische Wahrheit schaerfer aufgemutzet werden".

Und welches sind denn diese Verstossungen? Voltaire hat ausgerechnet, dass die Koenigin damals, als sie dem Grafen den Prozess machen liess, achtundsechzig Jahr alt war. "Es waere also laecherlich", sagt er, "wenn man sich einbilden wollte, dass die Liebe den geringsten Anteil an dieser Begebenheit koenne gehabt haben." Warum das? Geschieht nichts Laecherliches in der Welt? Sich etwas Laecherliches als geschehen denken, ist das so laecherlich? "Nachdem das Urteil ueber den Essex abgegeben war", sagt Hume, "fand sich die Koenigin in der aeussersten Unruhe und in der grausamsten Ungewissheit. Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden, Sorge fuer ihre eigene Sicherheit und Bekuemmernis um das Leben ihres Lieblings stritten unaufhoerlich in ihr: und vielleicht, dass sie in diesem quaelenden Zustande mehr zu beklagen war, als Essex selbst. Sie unterzeichnete und widerrufte den Befehl zu seiner Hinrichtung einmal ueber das andere; itzt war sie fast entschlossen, ihn dem Tode zu ueberliefern; den Augenblick darauf erwachte ihre Zaertlichkeit aufs neue, und er sollte leben. Die Feinde des Grafen liessen sie nicht aus den Augen; sie stellten ihr vor, dass er selbst den Tod wuensche, dass er selbst erklaeret habe, wie sie doch anders keine Ruhe vor ihm haben wuerde. Wahrscheinlicherweise tat diese Aeusserung von Reue und Achtung fuer die Sicherheit der Koenigin, die der Graf sonach lieber durch seinen Tod befestigen wollte, eine ganz andere Wirkung, als sich seine Feinde davon versprochen hatten. Sie fachte das Feuer einer alten Leidenschaft, die sie so lange fuer den ungluecklichen Gefangnen genaehret hatte, wieder an. Was aber dennoch ihr Herz gegen ihn verhaertete, war die vermeintliche Halsstarrigkeit, durchaus nicht um Gnade zu bitten. Sie versahe sich dieses Schrittes von ihm alle Stunden, und nur aus Verdruss, dass er nicht erfolgen wollte, liess sie dem Rechte endlich seinen Lauf."

Warum sollte Elisabeth nicht noch in ihrem achtundsechzigsten Jahre geliebt haben, sie, die sich so gern lieben liess? Sie, der es so sehr schmeichelte, wenn man ihre Schoenheit ruehmte? Sie, die es so wohl aufnahm, wenn man ihre Kette zu tragen schien? Die Welt muss in diesem Stuecke keine eitlere Frau jemals gesehen haben. Ihre Hoeflinge stellten sich daher alle in sie verliebt und bedienten sich gegen Ihro Majestaet, mit allem Anscheine des Ernstes, des Stils der laecherlichsten Galanterie. Als Raleigh in Ungnade fiel, schrieb er an seinen Freund Cecil einen Brief, ohne Zweifel damit er ihn weisen sollte, in welchem ihm die Koenigin eine Venus, eine Diane, und ich weiss nicht was, war. Gleichwohl war diese Goettin damals schon sechzig Jahr alt. Fuenf Jahr darauf fuehrte Heinrich Union, ihr Abgesandter in Frankreich, die naemliche Sprache mit ihr. Kurz, Corneille ist hinlaenglich berechtiget gewesen, ihr alle die verliebte Schwachheit beizulegen, durch die er das zaertliche Weib mit der stolzen Koenigin in einen so interessanten Streit bringet.

Ebensowenig hat er den Charakter des Essex verstellet oder verfaelschet. "Essex", sagt Voltaire, "war der Held gar nicht, zu dem ihn Corneille macht: er hat nie etwas Merkwuerdiges getan." Aber wenn er es nicht war, so glaubte er es doch zu sein. Die Vernichtung der spanischen Flotte, die Eroberung von Cadix, an der ihm Voltaire wenig oder gar kein Teil laesst, hielt er so sehr fuer sein Werk, dass er es durchaus nicht leiden wollte, wenn sich jemand die geringste Ehre davon anmasste. Er erbot sich, es mit dem Degen in der Hand gegen den Grafen von Nottingham, unter dem er kommandiert hatte, gegen seinen Sohn, gegen jeden von seinen Anverwandten zu beweisen, dass sie ihm allein zugehoere.

Corneille laesst den Grafen von seinen Feinden, namentlich vom Raleigh, vom Cecil, vom Cobhan, sehr veraechtlich sprechen. Auch das will Voltaire nicht gutheissen. "Es ist nicht erlaubt", sagt er, "eine so neue Geschichte so groeblich zu verfaelschen, und Maenner von so vornehmer Geburt, von so grossen Verdiensten, so unwuerdig zu misshandeln. "Aber hier koemmt es ja gar nicht darauf an, was diese Maenner waren, sondern wofuer sie Essex hielt; und Essex war auf seine eigene Verdienste stolz genug, um ihnen ganz und gar keine einzuraeumen.

Wenn Corneille den Essex sagen laesst, dass es nur an seinem Willen gemangelt, den Thron selbst zu besteigen, so laesst er ihn freilich etwas sagen, was noch weit von der Wahrheit entfernt war. Aber Voltaire haette darum doch nicht ausrufen muessen. "Wie? Essex auf dem Throne? mit was fuer Recht? unter was fuer Vorwande? wie waere das moeglich gewesen?" Denn Voltaire haette sich erinnern sollen, dass Essex von muetterlicher Seite aus dem koeniglichen Hause abstammte, und dass es wirklich Anhaenger von ihm gegeben, die unbesonnen genug waren, ihn mit unter diejenigen zu zaehlen, die Ansprueche auf die Krone machen koennten. Als er daher mit dem Koenige Jakob von Schottland in geheime Unterhandlung trat, liess er es das erste sein, ihn zu versichern, dass er selbst dergleichen ehrgeizige Gedanken nie gehabt habe. Was er hier von sich ablehnte, ist nicht viel weniger, als was ihn Corneille voraussetzen laesst.

Indem also Voltaire durch das ganze Stueck nichts als historische Unrichtigkeiten findet, begeht er selbst nicht geringe. Ueber eine hat sich Walpole[1] schon lustig gemacht. Wenn naemlich Voltaire die erstern Lieblinge der Koenigin Elisabeth nennen will, so nennt er den Robert Dudley und den Grafen von Leicester. Er wusste nicht, dass beide nur eine Person waren, und dass man mit eben dem Rechte den Poeten Arouet und den Kammerherrn von Voltaire zu zwei verschiedenen Personen machen koennte. Ebenso unverzeihlich ist das Hysteronproteron, in welches er mit der Ohrfeige verfaellt, die die Koenigin dem Essex gab. Es ist falsch, dass er sie nach seiner ungluecklichen Expedition in Irland bekam; er hatte sie lange vorher bekommen; und es ist so wenig wahr, dass er damals den Zorn der Koenigin durch die geringste Erniedrigung zu besaenftigen gesucht, dass er vielmehr auf die lebhafteste und edelste Art muendlich und schriftlich seine Empfindlichkeit darueber ausliess. Er tat zu seiner Begnadigung auch nicht wieder den ersten Schritt; die Koenigin musste ihn tun.

Aber was geht mich hier die historische Unwissenheit des Herrn von
Voltaire an? Ebensowenig als ihn die historische Unwissenheit des
Corneille haette angehen sollen. Und eigentlich will ich mich auch nur
dieser gegen ihn annehmen.

Die ganze Tragoedie des Corneille sei ein Roman: wenn er ruehrend ist, wird er dadurch weniger ruehrend, weil der Dichter sich wahrer Namen bedienet hat?

Weswegen waehlt der tragische Dichter wahre Namen? Nimmt er seine Charaktere aus diesen Namen; oder nimmt er diese Namen, weil die Charaktere, welche ihnen die Geschichte beilegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu zeigen sich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art, wie die meisten Trauerspiele vielleicht entstanden sind, sondern wie sie eigentlich entstehen sollten. Oder, mich mit der gewoehnlichen Praxi der Dichter uebereinstimmender auszudruecken: sind es die blossen Fakta, die Umstaende der Zeit und des Ortes, oder sind es die Charaktere der Personen, durch welche die Fakta wirklich geworden, warum der Dichter lieber diese als eine andere Begebenheit waehlet? Wenn es die Charaktere sind, so ist die Frage gleich entschieden, wie weit der Dichter von der historischen Wahrheit abgehen koenne? In allem, was die Charaktere nicht betrifft, soweit er will. Nur die Charaktere sind ihm heilig; diese zu verstaerken, diese in ihrem besten Lichte zu zeigen, ist alles, was er von dem Seinigen dabei hinzutun darf; die geringste wesentliche Veraenderung wuerde die Ursache aufheben, warum sie diese und nicht andere Namen fuehren; und nichts ist anstoessiger, als wovon wir uns keine Ursache geben koennen.

——Fussnote

[1] "Le Chateau d'Otrante", Pref. p. XIV.

——Fussnote

Vierundzwanzigstes Stueck
Den 21. Julius 1767

Wenn der Charakter der Elisabeth des Corneille das poetische Ideal von dem wahren Charakter ist, den die Geschichte der Koenigin dieses Namens beilegt; wenn wir in ihr die Unentschluessigkeit, die Widersprueche, die Beaengstigung, die Reue, die Verzweiflung, in die ein stolzes und zaertliches Herz, wie das Herz der Elisabeth, ich will nicht sagen, bei diesen und jenen Umstaenden wirklich verfallen ist, sondern auch nur verfallen zu koennen vermuten lassen, mit wahren Farben geschildert finden: so hat der Dichter alles getan, was ihm als Dichter zu tun obliegt. Sein Werk, mit der Chronologie in der Hand, untersuchen; ihn vor den Richterstuhl der Geschichte fuehren, um ihn da jedes Datum, jede beilaeufige Erwaehnung, auch wohl solcher Personen, ueber welche die Geschichte selbst in Zweifel ist, mit Zeugnissen belegen zu lassen: heisst ihn und seinen Beruf verkennen, heisst von dem, dem man diese Verkennung nicht zutrauen kann, mit einem Worte, schikanieren.

Zwar bei dem Herrn von Voltaire koennte es leicht weder Verkennung noch Schikane sein. Denn Voltaire ist selbst ein tragischer Dichter, und ohnstreitig ein weit groesserer, als der juengere Corneille. Es waere denn, dass man ein Meister in einer Kunst sein und doch falsche Begriffe von der Kunst haben koennte. Und was die Schikane anbelangt, die ist, wie die ganze Welt weiss, sein Werk nun gar nicht. Was ihr in seinen Schriften hier und da aehnlich sieht, ist nichts als Laune; aus blosser Laune spielt er dann und wann in der Poetik den Historikus, in der Historie den Philosophen und in der Philosophie den witzigen Kopf.

Sollte er umsonst wissen, dass Elisabeth achtundsechzig Jahr alt war, als sie den Grafen koepfen liess? Im achtundsechzigsten Jahre noch verliebt, noch eifersuechtig! Die grosse Nase der Elisabeth dazu genommen, was fuer lustige Einfaelle muss das geben! Freilich stehen diese lustigen Einfaelle in dem Kommentare ueber eine Tragoedie; also da, wo sie nicht hingehoeren. Der Dichter haette recht zu seinem Kommentator zu sagen: "Mein Herr Notenmacher, diese Schwaenke gehoeren in Eure allgemeine Geschichte, nicht unter meinen Text. Denn es ist falsch, dass meine Elisabeth achtundsechzig Jahr alt ist. Weiset mir doch, wo ich das sage. Was ist in meinem Stuecke, das Euch hinderte, sie nicht ungefaehr mit dem Essex von gleichem Alter anzunehmen? Ihr sagt: Sie war aber nicht von gleichem Alter: Welche Sie? Eure Elisabeth im Rapin de Thoyras; das kann sein. Aber warum habt Ihr den Rapin de Thoyras gelesen? Warum seid Ihr so gelehrt? Warum vermengt Ihr diese Elisabeth mit meiner? Glaubt Ihr im Ernst, dass die Erinnerung bei dem und jenem Zuschauer, der den Rapin de Thoyras auch einmal gelesen hat, lebhafter sein werde, als der sinnliche Eindruck, den eine wohlgebildete Aktrice in ihren besten Jahren auf ihn macht? Er sieht ja meine Elisabeth; und seine eigene Augen ueberzeugen ihn, dass es nicht Eure achtundsechzigjaehrige Elisabeth ist. Oder wird er dem Rapin de Thoyras mehr glauben, als seinen eignen Augen?"—

So ungefaehr koennte sich auch der Dichter ueber die Rolle des Essex erklaeren. "Euer Essex im Rapin de Thoyras", koennte er sagen, "ist nur der Embryo von dem meinigen. Was sich jener zu sein duenkte, ist meiner wirklich. Was jener, unter gluecklichem Umstaenden, fuer die Koenigin vielleicht getan haette, hat meiner getan. Ihr hoert ja, dass es ihm die Koenigin selbst zugesteht; wollt Ihr meiner Koenigin nicht ebensoviel glauben, als dem Rapin de Thoyras? Mein Essex ist ein verdienter und grosser, aber stolzer und unbiegsamer Mann. Eurer war in der Tat weder so gross, noch so unbiegsam: desto schlimmer fuer ihn. Genug fuer mich, dass er doch immer noch gross und unbiegsam genug war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe seinen Namen zu lassen."

Kurz: die Tragoedie ist keine dialogierte Geschichte; die Geschichte ist fuer die Tragoedie nichts, als ein Repertorium von Namen, mit denen wir gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sind. Findet der Dichter in der Geschichte mehrere Umstaende zur Ausschmueckung und Individualisierung seines Stoffes bequem: wohl, so brauche er sie. Nur dass man ihm hieraus ebensowenig ein Verdienst, als aus dem Gegenteile ein Verbrechen mache!

Diesen Punkt von der historischen Wahrheit abgerechnet, bin ich sehr bereit, das uebrige Urteil des Herrn von Voltaire zu unterschreiben. "Essex" ist ein mittelmaessiges Stueck, sowohl in Ansehung der Intrige als des Stils. Den Grafen zu einem seufzenden Liebhaber einer Irton zu machen; ihn mehr aus Verzweiflung, dass er der ihrige nicht sein kann, als aus edelmuetigem Stolze, sich nicht zu Entschuldigungen und Bitten herabzulassen, auf das Schafott zu fuehren: das war der ungluecklichste Einfall, den Thomas nur haben konnte, den er aber als ein Franzose wohl haben musste. Der Stil ist in der Grundsprache schwach; in der Uebersetzung ist er oft kriechend geworden. Aber ueberhaupt ist das Stueck nicht ohne Interesse und hat hier und da glueckliche Verse, die aber im Franzoesischen gluecklicher sind als im Deutschen. "Die Schauspieler", setzt der Herr von Voltaire hinzu, "besonders die in der Provinz, spielen die Rolle des Essex gar zu gern, weil sie in einem gestickten Bande unter dem Knie und mit einem grossen blauen Bande ueber die Schulter darin erscheinen koennen. Der Graf ist ein Held von der ersten Klasse, den der Neid verfolgt: das macht Eindruck. Uebrigens ist die Zahl der guten Tragoedien bei allen Nationen in der Welt so klein, dass die, welche nicht ganz schlecht sind, noch immer Zuschauer an sich ziehen, wenn sie von guten Akteurs nur aufgestutzet werden."

Er bestaetiget dieses allgemeine Urteil durch verschiedene einzelne Anmerkungen, die ebenso richtig als scharfsinnig sind und deren man sich vielleicht, bei einer wiederholten Vorstellung, mit Vergnuegen erinnern duerfte. Ich teile die vorzueglichsten also hier mit; in der festen Ueberzeugung, dass die Kritik dem Genusse nicht schadet und dass diejenigen, welche ein Stueck am schaerfesten zu beurteilen gelernt haben, immer diejenigen sind, welche das Theater am fleissigsten besuchen.

"Die Rolle des Cecils ist eine Nebenrolle, und eine sehr frostige Nebenrolle. Solche kriechende Schmeichler zu malen, muss man die Farben in seiner Gewalt haben, mit welchen Racine den Narcissus geschildert hat.

Die vorgebliche Herzogin von Irton ist eine vernuenftige, tugendhafte Frau, die sich durch ihre Liebe zu dem Grafen weder die Ungnade der Elisabeth zuziehen, noch ihren Liebhaber heiraten wollen. Dieser Charakter wuerde sehr schoen sein, wenn er mehr Leben haette, und wenn er zur Verwickelung etwas beitruege; aber hier vertritt sie bloss die Stelle eines Freundes. Das ist fuer das Theater nicht hinlaenglich.

Mich duenket, dass alles, was die Personen in dieser Tragoedie sagen und tun, immer noch sehr schielend, verwirret und unbestimmt ist. Die Handlung muss deutlich, der Knoten verstaendlich und jede Gesinnung plan und natuerlich sein: das sind die ersten, wesentlichsten Regeln. Aber was will Essex? Was will Elisabeth? Worin besteht das Verbrechen des Grafen? Ist er schuldig, oder ist er faelschlich angeklagt? Wenn ihn die Koenigin fuer unschuldig haelt, so muss sie sich seiner annehmen. Ist er aber schuldig: so ist es sehr unvernuenftig, die Vertraute sagen zu lassen, dass er nimmermehr um Gnade bitten werde, dass er viel zu stolz dazu sei. Dieser Stolz schickt sich sehr wohl fuer einen tugendhaften unschuldigen Helden, aber fuer keinen Mann, der des Hochverrats ueberwiesen ist. Er soll sich unterwerfen: sagt die Koenigin. Ist das wohl die eigentliche Gesinnung, die sie haben muss, wenn sie ihn liebt? Wenn er sich nun unterworfen, wenn er nun ihre Verzeihung angenommen hat, wird Elisabeth darum von ihm mehr geliebt als zuvor? Ich liebe ihn hundertmal mehr, als mich selbst: sagt die Koenigin. Ah, Madame; wenn es so weit mit Ihnen gekommen ist, wenn Ihre Leidenschaft so heftig geworden: so untersuchen Sie doch die Beschuldigungen Ihres Gebliebten selbst und verstatten nicht, dass ihn seine Feinde unter Ihrem Namen so verfolgen und unterdruecken, wie es durch das ganze Stueck, obwohl ganz ohne Grund, heisst.

Auch aus dem Freunde des Grafen, dem Salisbury, kann man nicht klug werden, ob er ihn fuer schuldig oder fuer unschuldig haelt. Er stellt der Koenigin vor, dass der Anschein oefters betriege, dass man alles von der Parteilichkeit und Ungerechtigkeit seiner Richter zu besorgen habe. Gleichwohl nimmt er seine Zuflucht zur Gnade der Koenigin. Was hatte er dieses noetig, wenn er seinen Freund nicht strafbar glaubte? Aber was soll der Zuschauer glauben? Der weiss ebensowenig, woran er mit der Verschwoerung des Grafen, als woran er mit der Zaertlichkeit der Koenigin gegen ihn ist.

Salisbury sagt der Koenigin, dass man die Unterschrift des Grafen nachgemacht habe. Aber die Koenigin laesst sich im geringsten nicht einfallen, einen so wichtigen Umstand naeher zu untersuchen. Gleichwohl war sie als Koenigin und als Geliebte dazu verbunden. Sie antwortet nicht einmal auf diese Eroeffnung, die sie doch begierig haette ergreifen muessen. Sie erwidert bloss mit andern Worten, dass der Graf allzu stolz sei, und dass sie durchaus wolle, er solle um Gnade bitten."

Aber warum sollte er um Gnade bitten, wenn seine Unterschrift nachgemacht war?"

Fuenfundzwanzigstes Stueck
Den 24. Julius 1767

"Essex selbst beteuert seine Unschuld; aber warum will er lieber sterben, als die Koenigin davon ueberzeugen? Seine Feinde haben ihn verleumdet; er kann sie mit einem einzigen Worte zu Boden schlagen; und er tut es nicht. Ist das dem Charakter eines so stolzen Mannes gemaess? Soll er aus Liebe zur Irton so widersinnig handeln: so haette ihn der Dichter durch das ganze Stueck von seiner Leidenschaft mehr bemeistert zeigen muessen. Die Heftigkeit des Affekts kann alles entschuldigen; aber in dieser Heftigkeit sehen wir ihn nicht.

Der Stolz der Koenigin streitet unaufhoerlich mit dem Stolze des Essex; ein solcher Streit kann leicht gefallen. Aber wenn allein dieser Stolz sie handeln laesst, so ist er bei der Elisabeth sowohl als bei dem Grafen, blosser Eigensinn. Er soll mich um Gnade bitten; ich will sie nicht um Gnade bitten; das ist die ewige Leier. Der Zuschauer muss vergessen, dass Elisabeth entweder sehr abgeschmackt oder sehr ungerecht ist, wenn sie verlangt, dass der Graf sich ein Verbrechen soll vergeben lassen, welches er nicht begangen, oder sie nicht untersucht hat. Er muss es vergessen, und er vergisst es wirklich, um sich bloss mit den Gesinnungen des Stolzes zu beschaeftigen, der dem menschlichen Herze so schmeichelhaft ist.

Mit einem Worte: keine einzige Rolle dieses Trauerspiels ist, was sie sein sollte; alle sind verfehlt; und gleichwohl hat es gefallen. Woher dieses Gefallen? Offenbar aus der Situation der Personen, die fuer sich selbst ruehrend ist.—Ein grosser Mann, den man auf das Schafott fuehret, wird immer interessieren; die Vorstellung seines Schicksals macht, auch ohne alle Hilfe der Poesie, Eindruck; ungefaehr eben den Eindruck, den die Wirklichkeit selbst machen wuerde."

So viel liegt fuer den tragischen Dichter an der Wahl des Stoffes. Durch diese allein koennen die schwaechsten, verwirrtesten Stuecke eine Art von Glueck machen; und ich weiss nicht, wie es koemmt, dass es immer solche Stuecke sind, in welchen sich gute Akteurs am vorteilhaftesten zeigen. Selten wird ein Meisterstueck so meisterhaft vorgestellt, als es geschrieben ist; das Mittelmaessige faehrt mit ihnen immer besser. Vielleicht, weil sie in dem Mittelmaessigen mehr von dem ihrigen hinzutun koennen; vielleicht, weil uns das Mittelmaessige mehr Zeit und Ruhe laesst, auf ihr Spiel aufmerksam zu sein; vielleicht, weil in dem Mittelmaessigen alles nur auf einer oder zwei hervorstechenden Personen beruhet, anstatt dass in einem vollkommenem Stuecke oefters eine jede Person ein Hauptakteur sein muesste, und wenn sie es nicht ist, indem sie ihre Rolle verhunzt, zugleich auch die uebrigen verderben hilft.

Beim "Essex" koennen alle diese und mehrere Ursachen zusammenkommen. Weder der Graf noch die Koenigin sind von dem Dichter mit der Staerke geschildert, dass sie durch die Aktion nicht noch weit staerker werden koennten. Essex spricht so stolz nicht, dass ihn der Schauspieler nicht in jeder Stellung, in jeder Gebaerde, in jeder Miene noch stolzer zeigen koennte. Es ist sogar dem Stolze wesentlich, dass er sich weniger durch Worte, als durch das uebrige Betragen aeussert. Seine Worte sind oefters bescheiden, und es laesst sich nur sehen, nicht hoeren, dass es eine stolze Bescheidenheit ist. Diese Rolle muss also notwendig in der Vorstellung gewinnen. Auch die Nebenrollen Mit der Rolle der Elisabeth ist es nicht voellig so; aber doch kann sie auch schwerlich ganz verungluecken. Elisabeth ist so zaertlich als stolz; ich glaube ganz gern, dass ein weibliches Herz beides zugleich sein kann; aber wie eine Aktrice beides gleich gut vorstellen koenne, das begreife ich nicht recht. In der Natur selbst trauen wir einer stolzen Frau nicht viel Zaertlichkeit, und einer zaertlichen nicht viel Stolz zu. Wir trauen es ihr nicht zu, sage ich: denn die Kennzeichen des einen widersprechen den Kennzeichen des andern. Es ist ein Wunder, wenn ihr beide gleich gelaeufig sind; hat sie aber nur die einen vorzueglich in ihrer Gewalt, so kann sie die Leidenschaft, die sich durch die andern ausdrueckt, zwar empfinden, aber schwerlich werden wir ihr glauben, dass sie dieselbe so lebhaft empfindet, als sie sagt. Wie kann eine Aktrice nun weiter gehen als die Natur? Ist sie von einem majestaetischen Wuchse, toent ihre Stimme voller und maennlicher, ist ihr Blick dreist, ist ihre Bewegung schnell und herzhaft: so werden ihr die stolzen Stellen vortrefflich gelingen; aber wie steht es mit den zaertlichen? Ist ihre Figur hingegen weniger imponierend; herrscht in ihren Mienen Sanftmut, in ihren Augen ein bescheidnes Feuer, in ihrer Stimme mehr Wohlklang als Nachdruck; ist in ihrer Bewegung mehr Anstand und Wuerde, als Kraft und Geist: so wird sie den zaertlichen Stellen die voelligste Genuege leisten; aber auch den stolzen? Sie wird sie nicht verderben, ganz gewiss nicht; sie wird sie noch genug absetzen; wir werden eine beleidigte zuernende Liebhaberin in ihr erblicken; nur keine Elisabeth nicht, die Manns genug war, ihren General und Geliebten mit einer Ohrfeige nach Hause zu schicken. Ich meine also, die Aktricen, welche die ganze doppelte Elisabeth uns gleich taeuschend zu zeigen vermoegend waeren, duerften noch seltner sein, als die Elisabeths selber; und wir koennen und muessen uns begnuegen, wenn eine Haelfte nur recht gut gespielt und die andere nicht ganz verwahrloset wird.

Madame Loewen hat in der Rolle der Elisabeth sehr gefallen; aber, jene allgemeine Anmerkung nunmehr auf sie anzuwenden, uns mehr die zaertliche Frau, als die stolze Monarchin sehen und hoeren lassen. Ihre Bildung, ihre Stimme, ihre bescheidene Aktion liessen es nicht anders erwarten; und mich duenkt, unser Vergnuegen hat dabei nichts verloren. Denn wenn notwendig eine die andere verfinstert, wenn es kaum anders sein kann, als dass nicht die Koenigin unter der Liebhaberin, oder diese unter jener leiden sollte: so, glaube ich, ist es zutraeglicher, wenn eher etwas von dem Stolze und der Koenigin, als von der Liebhaberin und der Zaertlichkeit verloren geht.

Es ist nicht bloss eigensinniger Geschmack, wenn ich so urteile; noch weniger ist es meine Absicht, einem Frauenzimmer ein Kompliment damit zu machen, die noch immer eine Meisterin in ihrer Kunst sein wuerde, wenn ihr diese Rolle auch gar nicht gelungen waere. Ich weiss einem Kuenstler, er sei von meinem oder dem andern Geschlechte, nur eine einzige Schmeichelei zu machen; und diese besteht darin, dass ich annehme, er sei von aller eiteln Empfindlichkeit entfernt, die Kunst gehe bei ihm ueber alles, er hoere gern frei und laut ueber sich urteilen, und wolle sich lieber auch dann und wann falsch, als seltner beurteilet wissen. Wer diese Schmeichelei nicht versteht, bei dem erkenne ich mich gar bald irre, und er ist es nicht wert, dass wir ihn studieren. Der wahre Virtuose glaubt es nicht einmal, dass wir seine Vollkommenheit einsehen und empfinden, wenn wir auch noch so viel Geschrei davon machen, ehe er nicht merkt, dass wir auch Augen und Gefuehl fuer seine Schwaeche haben. Er spottet bei sich ueber jede uneingeschraenkte Bewunderung, und nur das Lob desjenigen kitzelt ihn, von dem er weiss, dass er auch das Herz hat, ihn zu tadeln.

Ich wollte sagen, dass sich Gruende anfuehren lassen, warum es besser ist, wenn die Aktrice mehr die zaertliche als die stolze Elisabeth ausdrueckt. Stolz muss sie sein, das ist ausgemacht: und dass sie es ist, das hoeren wir. Die Frage ist nur, ob sie zaertlicher als stolz, oder stolzer als zaertlich scheinen soll; ob man, wenn man unter zwei Aktricen zu waehlen haette, lieber die zur Elisabeth nehmen sollte, welche die beleidigte Koenigin, mit allem drohenden Ernste, mit allen Schrecken der raecherischen Majestaet, auszudruecken vermoechte, oder die, welche die eifersuechtige Liebhaberin, mit allen kraenkenden Empfindungen der verschmaehten Liebe, mit aller Bereitwilligkeit, dem teuern Frevler zu vergeben, mit aller Beaengstigung ueber seine Hartnaeckigkeit, mit allem Jammer ueber seinen Verlust, angemessener waere? Und ich sage: diese.

Denn erstlich wird dadurch die Verdopplung des naemlichen Charakters vermieden. Essex ist stolz; und wenn Elisabeth auch stolz sein soll, so muss sie es wenigstens auf eine andere Art sein. Wenn bei dem Grafen die Zaertlichkeit nicht anders, als dem Stolze untergeordnet sein kann, so muss bei der Koenigin die Zaertlichkeit den Stolz ueberwiegen. Wenn der Graf sich eine hoehere Miene gibt, als ihm zukommt, so muss die Koenigin etwas weniger zu sein scheinen, als sie ist. Beide auf Stelzen, mit der Nase nur immer in der Luft einhertreten, beide mit Verachtung auf alles, was um sie ist, herabblicken lassen, wuerde die ekelste Einfoermigkeit sein. Man muss nicht glauben koennen, dass Elisabeth, wenn sie an des Essex Stelle waere, ebenso wie Essex handeln wuerde. Der Ausgang weiset es, dass sie nachgebender ist als er; sie muss also auch gleich von Anfange nicht so hoch daherfahren als er. Wer sich durch aeussere Macht emporzuhalten vermag, braucht weniger Anstrengung, als der es durch eigene innere Kraft tun muss. Wir wissen darum doch, dass Elisabeth die Koenigin ist, wenn sie gleich Essex das koeniglichere Ansehen gibt.

Zweitens ist es in dem Trauerspiele schicklicher, dass die Personen in ihren Gesinnungen steigen, als dass sie fallen. Es ist schicklicher, dass ein zaertlicher Charakter Augenblicke des Stolzes hat, als dass ein stolzer von der Zaertlichkeit sich fortreissen laesst. Jener scheint sich zu erheben; dieser zu sinken. Eine ernsthafte Koenigin, mit gerunzelter Stirne, mit einem Blicke, der alles scheu und zitternd macht, mit einem Tone der Stimme, der allein ihr Gehorsam verschaffen koennte, wenn die zu verliebten Klagen gebracht wird und nach den kleinen Beduerfnissen ihrer Leidenschaft seufzet, ist fast, fast laecherlich. Eine Geliebte hingegen, die ihre Eifersucht erinnert, dass sie Koenigin ist, erhebt sich ueber sich selbst, und ihre Schwachheit wird fuerchterlich.

Sechsundzwanzigstes Stueck
Den 28. Julius 1767

Den einunddreissigsten Abend (mittewochs, den 10. Juni) ward das Lustspiel der Madame Gottsched, "Die Hausfranzoesin, oder die Mamsell" aufgefuehret.

Dieses Stueck ist eines von den sechs Originalen, mit welchen 1744, unter Gottschedischer Geburtshilfe, Deutschland im fuenften Bande der "Schaubuehne" beschenkt ward. Man sagt, es sei, zur Zeit seiner Neuheit, hier und da mit Beifall gespielt worden. Man wollte versuchen, welchen Beifall es noch erhalten wuerde, und es erhielt den, den es verdienet: gar keinen. "Das Testament", von ebenderselben Verfasserin, ist noch so etwas; aber "Die Hausfranzoesin" ist ganz und gar nichts. Noch weniger als nichts: denn sie ist nicht allein niedrig und platt und kalt, sondern noch obendarein schmutzig, ekel, und im hoechsten Grade beleidigend. Es ist mir unbegreiflich, wie eine Dame solches Zeug schreiben koennen. Ich will hoffen, dass man mir den Beweis von diesem allen schenken wird.—

Den zweiunddreissigsten Abend (donnerstags, den 11. Junius) ward die
"Semiramis" des Herrn von Voltaire wiederholt.

Da das Orchester bei unsern Schauspielen gewissermassen die Stelle der alten Choere vertritt, so haben Kenner schon laengst gewuenscht, dass die Musik, welche vor und zwischen und nach dem Stuecke gespielt wird, mit dem Inhalte desselben mehr uebereinstimmen moechte. Herr Scheibe ist unter den Musicis derjenige, welcher zuerst hier ein ganz neues Feld fuer die Kunst bemerkte. Da er einsahe, dass, wenn die Ruehrung des Zuschauers nicht auf eine unangenehme Art geschwaecht und unterbrochen werden sollte, ein jedes Schauspiel seine eigene musikalische Begleitung erfordere: so machte er nicht allein bereits 1738 mit dem "Polyeukt" und "Mithridat" den Versuch, besondere diesen Stuecken entsprechende Symphonien zu verfertigen, welche bei der Gesellschaft der Neuberin, hier in Hamburg, in Leipzig, und anderwaerts aufgefuehret wurden; sondern liess sich auch in einem besondern Blatte seines "Kritischen Musikus"[1] umstaendlich darueber aus, was ueberhaupt der Komponist zu beobachten habe, der in dieser neuen Gattung mit Ruhm arbeiten wolle.

"Alle Symphonien," sagt er, "die zu einem Schauspiele verfertiget werden, sollen sich auf den Inhalt und die Beschaffenheit desselben beziehen. Es gehoeren also zu den Trauerspielen eine andere Art von Symphonien als zu den Lustspielen. So verschieden die Tragoedien und Komoedien unter sich selbst sind, so verschieden muss auch die dazugehoerige Musik sein. Insbesondere aber hat man auch wegen der verschiedenen Abteilungen der Musik in den Schauspielen auf die Beschaffenheit der Stellen, zu welchen eine jede Abteilung gehoert, zu sehen. Daher muss die Anfangssymphonie sich auf den ersten Aufzug des Stueckes beziehen; die Symphonien aber, die zwischen den Aufzuegen vorkommen, muessen teils mit dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges, teils aber mit dem Anfange des folgenden Aufzuges uebereinkommen; so wie die letzte Symphonie dem Schlusse des letzten Aufzuges gemaess sein muss."

"Alle Symphonien zu Trauerspielen muessen praechtig, feurig und geistreich gesetzt sein. Insonderheit aber hat man den Charakter der Hauptpersonen und den Hauptinhalt zu bemerken und darnach seine Erfindung einzurichten. Dieses ist von keiner gemeinen Folge. Wir finden Tragoedien, da bald diese, bald jene Tugend eines Helden oder einer Heldin der Stoff gewesen ist. Man halte einmal den 'Polyeukt' gegen den 'Brutus', oder auch die 'Alzire' gegen den 'Mithridat': so wird man gleich sehen, dass sich keinesweges einerlei Musik dazu schicket. Ein Trauerspiel, in welchem die Religion und Gottesfurcht den Helden oder die Heldin in allen Zufaellen begleiten, erfordert auch solche Symphonien, die gewissermassen das Praechtige und Ernsthafte der Kirchenmusik beweisen. Wenn aber die Grossmut, die Tapferkeit oder die Standhaftigkeit in allerlei Ungluecksfaellen im Trauerspiele herrschen: so muss auch die Musik weit feuriger und lebhafter sein. Von dieser letztern Art sind die Trauerspiele 'Cato', 'Brutus', 'Mithridat'. 'Alzire' aber und 'Zaire' erfordern hingegen schon eine etwas veraenderte Musik, weil die Begebenheiten und die Charaktere in diesen Stuecken von einer andern Beschaffenheit sind und mehr Veraenderung der Affekten zeigen."

"Ebenso muessen die Komoediensymphonien ueberhaupt frei, fliessend und zuweilen auch scherzhaft sein; insbesondere aber sich nach dem eigentuemlichen Inhalte einer jeden Komoedie richten. So wie die Komoedie bald ernsthafter, bald verliebter, bald scherzhafter ist, so muss auch die Symphonie beschaffen sein. Zum Exempel die Komoedien 'Der Falke' und 'Die beiderseitige Unbestaendigkeit' wuerden ganz andere Symphonien erfordern als 'Der verlorne Sohn'. So wuerden sich auch nicht die Symphonien, die sich zum 'Geizigen' oder zum 'Kranken in der Einbildung' sehr wohl schicken moechten, zum 'Unentschluessigen' oder zum 'Zerstreuten' schicken. Jene muessen schon lustiger und scherzhafter sein, diese aber verdriesslicher und ernsthafter."

"Die Anfangssymphonie muss sich auf das ganze Stueck beziehen; zugleich aber muss sie auch den Anfang desselben vorbereiten und folglich mit dem ersten Auftritte uebereinkommen. Sie kann aus zwei oder drei Saetzen bestehen, so wie es der Komponist fuer gut findet.—Die Symphonien zwischen den Aufzuegen aber, weil sie sich nach dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges und nach dem Anfange des folgenden richten sollen, werden am natuerlichsten zwei Saetze haben koennen. Im ersten kann man mehr auf das Vorhergegangene, im zweiten aber mehr auf das Folgende sehen. Doch ist solches nur allein noetig, wenn die Affekten einander allzusehr entgegen sind; sonst kann man auch wohl nur einen Satz machen, wenn er nur die gehoerige Laenge erhaelt, damit die Beduerfnisse der Vorstellung, als Lichtputzen, Umkleiden usw., indes besorget werden koennen.—Die Schlusssymphonie endlich muss mit dem Schlusse des Schauspiels auf das genaueste uebereinstimmen, um die Begebenheit den Zuschauern desto nachdruecklicher zu machen. Was ist laecherlicher, als wenn der Held auf eine unglueckliche Weise sein Leben verloren hat, und es folgt eine lustige und lebhafte Symphonie darauf? Und was ist abgeschmackter, als wenn sich die Komoedie auf eine froehliche Art endiget, und es folgt eine traurige und bewegliche Symphonie darauf?"—

"Da uebrigens die Musik zu den Schauspielen bloss allein aus Instrumenten bestehet, so ist eine Veraenderung derselben sehr noetig, damit die Zuhoerer desto gewisser in der Aufmerksamkeit erhalten werden, die sie vielleicht verlieren moechten, wenn sie immer einerlei Instrumente hoeren sollten. Es ist aber beinahe eine Notwendigkeit, dass die Anfangssymphonie sehr stark und vollstaendig ist, und also desto nachdruecklicher ins Gehoer falle. Die Veraenderung der Instrumenten muss also vornehmlich in den Zwischensymphonien erscheinen. Man muss aber wohl urteilen, welche Instrumente sich am besten zur Sache schicken, und womit man dasjenige am gewissesten ausdruecken kann, was man ausdruecken soll. Es muss also auch hier eine vernuenftige Wahl getroffen werden, wenn man seine Absicht geschickt und sicher erreichen will. Sonderlich aber ist es nicht allzugut, wenn man in zwei aufeinanderfolgenden Zwischensymphonien einerlei Veraenderung der Instrumente anwendet. Es ist allemal besser und angenehmer, wenn man diesen Uebelstand vermeidet."

Dieses sind die wichtigsten Regeln, um auch hier die Tonkunst und Poesie in eine genauere Verbindung zu bringen. Ich habe sie lieber mit den Worten eines Tonkuenstlers, und zwar desjenigen vortragen wollen, der sich die Ehre der Erfindung anmassen kann, als mit meinen. Denn die Dichter und Kunstrichter bekommen nicht selten von den Musicis den Vorwurf, dass sie weit mehr von ihnen erwarten und verlangen, als die Kunst zu leisten imstande sei. Die mehresten muessen es von ihren Kunstverwandten erst hoeren, dass die Sache zu bewerkstelligen ist, ehe sie die geringste Aufmerksamkeit darauf wenden.

Zwar die Regeln selbst waren leicht zu machen; sie lehren nur, was geschehen soll, ohne zu sagen, wie es geschehen kann. Der Ausdruck der Leidenschaften, auf welchen alles dabei ankoemmt, ist noch einzig das Werk des Genies. Denn ob es schon Tonkuenstler gibt und gegeben, die bis zur Bewunderung darin gluecklich sind, so mangelt es doch unstreitig noch an einem Philosophen, der ihnen die Wege abgelernt und allgemeine Grundsaetze aus ihren Beispielen hergeleitet haette. Aber je haeufiger diese Beispiele werden, je mehr sich die Materialien zu dieser Herleitung sammeln, desto eher koennen wir sie uns versprechen; und ich muesste mich sehr irren, wenn nicht ein grosser Schritt dazu durch die Beeiferung der Tonkuenstler in dergleichen dramatischen Symphonien geschehen koennte. In der Vokalmusik hilft der Text dem Ausdrucke allzusehr nach; der schwaechste und schwankendste wird durch die Worte bestimmt und verstaerkt: in der Instrumentalmusik hingegen faellt diese Hilfe weg, und sie sagt gar nichts, wenn sie das, was sie sagen will, nicht rechtschaffen sagt. Der Kuenstler wird also hier seine aeusserste Staerke anwenden muessen; er wird unter den verschiedenen Folgen von Toenen, die eine Empfindung ausdruecken koennen, nur immer diejenigen waehlen, die sie am deutlichsten ausdruecken; wir werden diese oefterer hoeren, wir werden sie miteinander oefterer vergleichen und durch die Bemerkung dessen, was sie bestaendig gemein haben, hinter das Geheimnis des Ausdrucks kommen.

Welchen Zuwachs unser Vergnuegen im Theater dadurch erhalten wuerde, begreift jeder von selbst. Gleich vom Anfange der neuen Verwaltung unsers Theaters hat man sich daher nicht nur ueberhaupt bemueht, das Orchester in einen bessern Stand zu setzen, sondern es haben sich auch wuerdige Maenner bereit finden lassen, die Hand an das Werk zu legen, und Muster in dieser Art von Komposition zu machen, die ueber alle Erwartung ausgefallen sind. Schon zu Cronegks "Olint und Sophronia" hatte Herr Hertel eigne Symphonien verfertiget; und bei der zweiten Auffuehrung der "Semiramis" wurden dergleichen von dem Herrn Agricola in Berlin aufgefuehrt.

——Fussnote

[1] Stueck 67.

——Fussnote

Siebenundzwanzigstes Stueck
Den 31. Julius 1767

Ich will es versuchen, einen Begriff von der Musik des Herrn Agricola zu machen. Nicht zwar nach ihren Wirkungen;—denn je lebhafter und feiner ein sinnliches Vergnuegen ist, desto weniger laesst es sich mit Worten beschreiben; man kann nicht wohl anders, als in allgemeine Lobsprueche, in unbestimmte Ausrufungen, in kreischende Bewunderung damit verfallen, und diese sind ebenso ununterrichtend fuer den Liebhaber, als ekelhaft fuer den Virtuosen, den man zu ehren vermeinet;—sondern bloss nach den Absichten, die ihr Meister damit gehabt, und nach den Mitteln ueberhaupt, deren er sich, zur Erreichung derselben, bedienen wollen.

Die Anfangssymphonie bestehet aus drei Saetzen. Der erste Satz ist ein Largo, nebst den Violinen, mit Hoboen und Floeten; der Grundbass ist durch Fagotte verstaerkt. Sein Ausdruck ist ernsthaft; manchmal gar wild und stuermisch; der Zuhoerer soll vermuten, dass er ein Schauspiel ungefaehr dieses Inhalts zu erwarten habe. Doch nicht dieses Inhalts allein; Zaertlichkeit, Reue, Gewissensangst, Unterwerfung nehmen ihr Teil daran; und der zweite Satz, ein Andante mit gedaempften Violinen und konzertierenden Fagotten, beschaeftigst sich also mit dunkeln und mitleidigen Klagen. In dem dritten Satze vermischen sich die beweglichen Tonwendungen mit stolzen; denn die Buehne eroeffnet sich mit mehr als gewoehnlicher Pracht; Semiramis nahet sich dem Ende ihrer Herrlichkeit; wie diese Herrlichkeit das Auge spueren muss, soll sie auch das Ohr vernehmen. Der Charakter ist Allegretto, und die Instrumente sind wie in dem ersten, ausser dass die Hoboen, Floeten und Fagotte miteinander einige besondere kleinere Saetze haben.

Die Musik zwischen den Akten hat durchgaengig nur einen einzigen Satz; dessen Ausdruck sich auf das Vorhergehende beziehet. Einen zweiten, der sich auf das Folgende bezoege, scheinet Herr Agricola also nicht zu billigen. Ich wuerde hierin sehr seines Geschmacks sein. Denn die Musik soll dem Dichter nichts verderben; der tragische Dichter liebt das Unerwartete, das Ueberraschende mehr als ein anderer; er laesst seinen Gang nicht gern voraus verraten; und die Musik wuerde ihn verraten, wenn sie die folgende Leidenschaft angeben wollte. Mit der Anfangssymphonie ist es ein anders; sie kann auf nichts Vorhergehendes gehen; und doch muss auch sie nur den allgemeinen Ton des Stuecks angeben, und nicht staerker, nicht bestimmter, als ihn ungefaehr der Titel angibt. Man darf dem Zuhoerer wohl das Ziel zeigen, wohin man ihn fuehren will, aber die verschiedenen Wege, auf welchen er dahin gelangen soll, muessen ihm gaenzlich verborgen bleiben. Dieser Grund wider einen zweiten Satz zwischen den Akten ist aus dem Vorteile des Dichters hergenommen; und er wird durch einen andern, der sich aus den Schranken der Musik ergibt, bestaerkt. Denn gesetzt, dass die Leidenschaften, welche in zwei aufeinanderfolgenden Akten herrschen, einander ganz entgegen waeren, so wuerden notwendig auch die beiden Saetze von ebenso widriger Beschaffenheit sein muessen. Nun begreife ich sehr wohl, wie uns der Dichter aus einer jeden Leidenschaft zu der ihr entgegenstehenden, zu ihrem voelligen Widerspiele, ohne unangenehme Gewaltsamkeit bringen kann; er tut das nach und nach, gemach und gemach; er steiget die ganze Leiter von Sprosse zu Sprosse, entweder hinauf oder hinab, ohne irgendwo den geringsten Sprung zu tun. Aber kann dieses auch der Musikus? Es sei, dass er es in einem Stuecke, von der erforderlichen Laenge, ebensowohl tun koenne; aber in zwei besondern, voneinander gaenzlich abgesetzten Stuecken muss der Sprung, z.E. aus dem Ruhigen in das Stuermische, aus dem Zaertlichen in das Grausame, notwendig sehr merklich sein, und alle das Beleidigende haben, was in der Natur jeder ploetzliche Uebergang aus einem Aeussersten in das andere, aus der Finsternis in das Licht, aus der Kaelte in die Hitze zu haben pflegt. Itzt zerschmelzen wir in Wehmut, und auf einmal sollen wir rasen. Wie? warum? wider wen? wider eben den, fuer den unsere Seele ganz mitleidiges Gefuehl war? oder wider einen andern? Alles das kann die Musik nicht bestimmen; sie laesst uns in Ungewissheit und Verwirrung; wir empfinden, ohne eine richtige Folge unserer Empfindungen wahrzunehmen; wir empfinden wie im Traume; und alle diese unordentliche Empfindungen sind mehr abmattend als ergoetzend. Die Poesie hingegen laesst uns den Faden unserer Empfindungen nie verlieren; hier wissen wir nicht allein, was wir empfinden sollen, sondern auch, warum wir es empfinden sollen; und nur dieses Warum macht die ploetzlichsten Uebergaenge nicht allein ertraeglich, sondern auch angenehm. In der Tat ist diese Motivierung der ploetzlichen Uebergaenge einer der groessten Vorteile, den die Musik aus der Vereinigung mit der Poesie ziehet; ja vielleicht der allergroesste. Denn es ist bei weitem nicht so notwendig, die allgemeinen unbestimmten Empfindungen der Musik, z.E. der Freude, durch Worte auf einen gewissen einzeln Gegenstand der Freude einzuschraenken, weil auch jene dunkeln schwanken Empfindungen noch immer sehr angenehm sind; als notwendig es ist, abstechende, widersprechende Empfindungen durch deutliche Begriffe, die nur Worte gewaehren koennen, zu verbinden, um sie durch diese Verbindung in ein Ganzes zu verweben, welchem man nicht allein Mannigfaltiges, sondern auch Uebereinstimmung des Mannigfaltigen bemerke. Nun aber wuerde, bei dem doppelten Satze zwischen den Akten eines Schauspiels, diese Verbindung erst hintennach kommen; wir wuerden es erst hintennach erfahren, warum wir aus einer Leidenschaft in eine ganz entgegengesetzte ueberspringen muessen: und das ist fuer die Musik so gut, als erfuehren wir es gar nicht. Der Sprung hat einmal seine ueble Wirkung getan, und er hat uns darum nicht weniger beleidiget, weil wir nun einsehen, dass er uns nicht haette beleidigen sollen. Man glaube aber nicht, dass sonach alle Symphonien verwerflich sein muessten, weil alle aus mehrern Saetzen bestehen, die voneinander unterschieden sind, und deren jeder etwas anders ausdrueckt als der andere. Sie druecken etwas anders aus, aber nicht etwas Verschiednes; oder vielmehr, sie druecken das naemliche, und nur auf eine andere Art aus. Eine Symphonie, die in ihren verschiednen Saetzen verschiedne, sich widersprechende Leidenschaften ausdrueckt, ist ein musikalisches Ungeheuer; in einer Symphonie muss nur eine Leidenschaft herrschen, und jeder besondere Satz muss ebendieselbe Leidenschaft, bloss mit verschiednen Abaenderungen, es sei nun nach den Graden ihrer Staerke und Lebhaftigkeit oder nach den mancherlei Vermischungen mit andern verwandten Leidenschaften, ertoenen lassen und in uns zu erwecken suchen. Die Anfangssymphonie war vollkommen von dieser Beschaffenheit; das Ungestueme des ersten Satzes zerfliesst in das Klagende des zweiten, welches sich in dem dritten zu einer Art von feierlichen Wuerde erhebet. Ein Tonkuenstler, der sich in seinen Symphonien mehr erlaubt, der mit jedem Satze den Affekt abbricht, um mit dem folgenden einen neuen ganz verschiednen Affekt anzuheben, und auch diesen fahren laesst, um sich in einen dritten ebenso verschiednen zu werfen; kann viel Kunst, ohne Nutzen, verschwendet haben, kann ueberraschen, kann betaeuben, kann kitzeln, nur ruehren kann er nicht. Wer mit unserm Herzen sprechen und sympathetische Regungen in ihm erwecken will, muss ebensowohl Zusammenhang beobachten, als wer unsern Verstand zu unterhalten und zu belehren denkt. Ohne Zusammenhang, ohne die innigste Verbindung aller und jeder Teile ist die beste Musik ein eitler Sandhaufen, der keines dauerhaften Eindruckes faehig ist; nur der Zusammenhang macht sie zu einem festen Marmor, an dem sich die Hand des Kuenstlers verewigen kann.

Der Satz nach dem ersten Akte sucht also lediglich die Besorgnisse der
"Semiramis" zu unterhalten, denen der Dichter diesen Akt gewidmet hat;
Besorgnisse, die noch mit einiger Hoffnung vermischt sind; ein Andante
mesto, bloss mit gedaempften Violinen und Bratsche.

In dem zweiten Akt spielt Assur eine zu wichtige Rolle, als dass er nicht den Ausdruck der darauffolgenden Musik bestimmen sollte. Ein Allegro assai aus dem G-dur mit Waldhoernern, durch Floeten und Hoboen, auch den Grundbass mitspielende Fagotte verstaerkt, drueckt den durch Zweifel und Furcht unterbrochenen, aber immer noch sich wieder erholenden Stolz dieses treulosen und herrschsuechtigen Ministers aus.

In dem dritten Akte erscheint das Gespenst. Ich habe, bei Gelegenheit der ersten Vorstellung, bereits angemerkt, wie wenig Eindruck Voltaire diese Erscheinung auf die Anwesenden machen laesst. Aber der Tonkuenstler hat sich, wie billig, daran nicht gekehrt; er holt es nach, was der Dichter unterlassen hat, und ein Allegro aus dem E-moll, mit der naemlichen Instrumentenbesetzung des Vorhergehenden, nur dass E-Hoerner mit G-Hoernern verschiedentlich abwechseln, schildert kein stummes und traeges Erstaunen, sondern die wahre wilde Bestuerzung, welche eine dergleichen Erscheinung unter dem Volke verursachen muss.

Die Beaengstigung der Semiramis im vierten Aufzuge erweckt unser Mitleid; wir bedauern die Reuende, so schuldig wir auch die Verbrecherin wissen. Bedauern und Mitleid laesst also auch die Musik ertoenen; in einem Larghetto aus dem A-moll, mit gedaempften Violinen und Bratsche und einer konzertierenden Hoboe.

Endlich folget auch auf den fuenften Akt nur ein einziger Satz, ein Adagio, aus dem E-dur, naechst den Violinen und der Bratsche, mit Hoernern, mit verstaerkenden Hoboen und Floeten und mit Fagotten, die mit dem Grundbasse gehen. Der Ausdruck ist den Personen des Trauerspiels angemessene und ins Erhabene gezogene Betruebnis, mit einiger Ruecksicht, wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen, in welchen die Wahrheit ihre warnende Stimme gegen die Grossen der Erde ebenso wuerdig als maechtig erhebt.

Die Absichten eines Tonkuenstlers merken, heisst ihm zugestehen, dass er sie erreicht hat. Sein Werk soll kein Raetsel sein, dessen Deutung ebenso muehsam als schwankend ist. Was ein gesundes Ohr am geschwindesten in ihm vernimmt, das und nichts anders hat er sagen wollen; sein Lob waechst mit seiner Verstaendlichkeit; je leichter, je allgemeiner diese, desto verdienter jenes.—Es ist kein Ruhm fuer mich, dass ich recht gehoert habe; aber fuer den Hrn. Agricola ist es ein so viel groesserer, dass in dieser seiner Komposition niemand etwas anders gehoert hat als ich.

Achtundzwanzigstes Stueck
Den 4. August 1767

Den dreiunddreissigsten Abend (freitags, den 12. Junius) ward die "Nanine" wiederholt, und den Beschluss machte "Der Bauer mit der Erbschaft", aus dem Franzoesischen des Marivaux.

Dieses kleine Stueck ist hier Ware fuer den Platz und macht daher allezeit viel Vergnuegen. Juerge koemmt aus der Stadt zurueck, wo er einen reichen Bruder begraben lassen, von dem er hunderttausend Mark geerbt. Glueck aendert Stand und Sitten; nun will er leben, wie vornehme Leute leben, erhebt seine Liese zur Madame, findet geschwind fuer seinen Hans und fuer seine Grete eine ansehnliche Partie, alles ist richtig, aber der hinkende Bote koemmt nach. Der Makler, bei dem die hunderttausend Mark gestanden, hat Bankerott gemacht, Juerge ist wieder nichts wie Juerge, Hans bekommt den Korb, Grete bleibt sitzen, und der Schluss wuerde traurig genug sein, wenn das Glueck mehr nehmen koennte, als es gegeben hat; gesund und vergnuegt waren sie, gesund und vergnuegt bleiben sie.

Diese Fabel haette jeder erfinden koennen; aber wenige wuerden sie so unterhaltend zu machen gewusst haben, als Marivaux. Die drolligste Laune, der schnurrigste Witz, die schalkischste Satire lassen uns vor Lachen kaum zu uns selbst kommen; und die naive Bauernsprache gibt allem eine ganz eigene Wuerze. Die Uebersetzung ist von Kruegern, der das franzoesische Patois in den hiesigen platten Dialekt meisterhaft zu uebertragen gewusst hat. Es ist nur schade, dass verschiedene Stellen hoechst fehlerhaft und verstuemmelt abgedruckt werden. Einige muessten notwendig in der Vorstellung berichtiget und ergaenzt werden. Z. E. folgende, gleich in der ersten Szene.

"Juerge. He, he, he! Giv mie doch fief Schillink kleen Geld, ik hev niks, as Gullen un Dahlers.

Lise. He, he, he! Segge doch, hest du Schrullen med dienen fief
Schillink kleen Geld? wat wist du damed maaken?

Juerge. He, he, he, he! Giv mie fief Schillink kleen Geld, seg ik die.

Lise. Woto denn, Hans Narr?

Juerge. Foer duessen Jungen, de mie mienen Buendel op dee Reise bed in unse Doerp dragen hed, un ik buen ganss licht und sacht hergahn.

Lise. Buest du to Foote hergahn?

Juerge. Ja. Wielt't veel kummoder is.

Lise. Da hest du een Maark.

Juerge. Dat is doch noch resnabel. Wo veel maakt't? So veel is dat.
Een Maark hed se mie dahn: da, da is't. Nehmt't hen; so is't richdig.

Lise. Un du verdeihst fief Schillink an een Jungen, de die dat Pak dragen hed?

Juerge. Ja! ik met ehm doch een Drankgeld geven.

Valentin. Sollen die fuenf Schilling fuer mich, Herr Juerge?

Juerge. Ja, mien Fruend!

Valentin. Fuenf Schilling? ein reicher Erbe! fuenf Schillinge? ein
Mann von Ihrem Stande! Und wo bleibt die Hoheit der Seele?

Juerge. O! et kumt mie even darop nich an, jy doerft't man seggen.
Maake Fro, smiet ehm noch een Schillink hen; by uns regnet man so."

Wie ist das? Juerge ist zu Fusse gegangen, weil es kommoder ist? Er fodert fuenf Schillinge, und seine Frau gibt ihm ein Mark, die ihm fuenf Schillinge nicht geben wollte? Die Frau soll dem Jungen noch einen Schilling hinschmeissen? warum tut er es nicht selbst? Von dem Marke blieb ihm ja noch uebrig. Ohne das Franzoesische wird man sich schwerlich aus dem Hanfe finden. Juerge war nicht zu Fusse gekommen, sondern mit der Kutsche: und darauf geht sein "Wielt't veel kummoder is". Aber die Kutsche ging vielleicht bei seinem Dorfe nur vorbei, und von da, wo er abstieg, liess er sich bis zu seinem Hause das Buendel nachtragen. Dafuer gibt er dem Jungen die fuenf Schillinge; das Mark gibt ihm nicht die Frau, sondern das hat er fuer die Kutsche bezahlen muessen, und er erzaehlt ihr nur, wie geschwind er mit dem Kutscher darueber fertig geworden.[1]

Den vierunddreissigsten Abend (montags, den 29. Junius) ward "Der
Zerstreute" des Regnard aufgefuehrt.

Ich glaube schwerlich, dass unsere Grossvaeter den deutschen Titel dieses Stuecks verstanden haetten. Noch Schlegel uebersetzte Distrait durch "Traeumer". Zerstreut sein, ein Zerstreuter, ist lediglich nach der Analogie des Franzoesischen gemacht. Wir wollen nicht untersuchen, wer das Recht hatte, diese Worte zu machen; sondern wir wollen sie brauchen, nachdem sie einmal gemacht sind. Man versteht sie nunmehr, und das ist genug.

Regnard brachte seinen "Zerstreuten" im Jahre 1679 aufs Theater; und er fand nicht den geringsten Beifall. Aber vierunddreissig Jahr darauf, als ihn die Komoedianten wieder versuchten, fand er einen so viel groessern. Welches Publikum hatte nun recht? Vielleicht hatten sie beide nicht unrecht. Jenes strenge Publikum verwarf das Stueck als eine gute foermliche Komoedie, wofuer es der Dichter ohne Zweifel ausgab. Dieses geneigtere nahm es fuer nichts mehr auf, als es ist; fuer eine Farce, fuer ein Possenspiel, das zu lachen machen soll; man lachte und war dankbar. Jenes Publikum dachte:

—non satis est risu diducere rictum Auditoris—

und dieses:

—et est quaedam tamen hic quoque virtus.

Ausser der Versifikation, die noch dazu sehr fehlerhaft und nachlaessig ist, kann dem Regnard dieses Lustspiel nicht viel Muehe gemacht haben. Den Charakter seiner Hauptperson fand er bei dem La Bruyere voellig entworfen. Er hatte nichts zu tun, als die vornehmsten Zuege teils in Handlung zu bringen, teils erzaehlen zu lassen. Was er von dem Seinigen hinzufuegte, will nicht viel sagen.

Wider dieses Urteil ist nichts einzuwenden; aber wider eine andere Kritik, die den Dichter auf der Seite der Moralitaet fassen will, desto mehr. Ein Zerstreuter soll kein Vorwurf fuer die Komoedie sein. Warum nicht? Zerstreut sein, sagt man, sei eine Krankheit, ein Unglueck; und kein Laster. Ein Zerstreuter verdiene ebensowenig ausgelacht zu werden, als einer, der Kopfschmerzen hat. Die Komoedie muesse sich nur mit Fehlern abgeben, die sich verbessern lassen. Wer aber von Natur zerstreut sei, der lasse sich durch Spoettereien ebensowenig bessern als ein Hinkender.

Aber ist es denn wahr, dass die Zerstreuung ein Gebrechen der Seele ist, dem unsere besten Bemuehungen nicht abhelfen koennen? Sollte sie wirklich mehr natuerliche Verwahrlosung als ueble Angewohnheit sein? Ich kann es nicht glauben. Sind wir nicht Meister unserer Aufmerksamkeit? Haben wir es nicht in unserer Gewalt, sie anzustrengen, sie abzuziehen, wie wir wollen? Und was ist die Zerstreuung anders, als ein unrechter Gebrauch unserer Aufmerksamkeit? Der Zerstreute denkt, und denkt nur das nicht, was er, seinen itzigen sinnlichen Eindruecken zufolge, denken sollte. Seine Seele ist nicht entschlummert, nicht betaeubt, nicht ausser Taetigkeit gesetzt; sie ist nur abwesend, sie ist nur anderwaerts taetig. Aber so gut sie dort sein kann, so gut kann sie auch hier sein; es ist ihr natuerlicher Beruf, bei den sinnlichen Veraenderungen ihres Koerpers gegenwaertig zu sein; es kostet Muehe, sie dieses Berufs zu entwoehnen, und es sollte unmoeglich sein, ihr ihn wieder gelaeufig zu machen?

Doch es sei; die Zerstreuung sei unheilbar: wo steht es denn geschrieben, dass wir in der Komoedie nur ueber moralische Fehler, nur ueber verbesserliche Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realitaet ist laecherlich. Aber lachen und verlachen ist sehr weit auseinander. Wir koennen ueber einen Menschen lachen, bei Gelegenheit seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verlachen. So unstreitig, so bekannt dieser Unterschied ist, so sind doch alle Schikanen, welche noch neuerlich Rousseau gegen den Nutzen der Komoedie gemacht hat, nur daher entstanden, weil er ihn nicht gehoerig in Erwaegung gezogen. "Moliere", sagt er z.E., "macht uns ueber den Misanthropen zu lachen, und doch ist der Misanthrop der ehrliche Mann des Stuecks; Moliere beweiset sich also als einen Feind der Tugend, indem er den Tugendhaften veraechtlich macht."

Nicht doch; der Misanthrop wird nicht veraechtlich, er bleibt, wer er ist, und das Lachen, welches aus den Situationen entspringt, in die ihn der Dichter setzt, benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das geringste. Der Zerstreute gleichfalls; wir lachen ueber ihn, aber verachten wir ihn darum? Wir schaetzen seine uebrige guten Eigenschaften, wie wir sie schaetzen sollen; ja ohne sie wuerden wir nicht einmal ueber seine Zerstreuung lachen koennen. Man gebe diese Zerstreuung einem boshaften, nichtswuerdigen Manne, und sehe, ob sie noch laecherlich sein wird? Widrig, ekel, haesslich wird sie sein; nicht laecherlich.

——Fussnote

[1] Blaise. Eh! eh! eh! baille-moi cinq sols de monnoye, je n'ons que de grosses pieces.

Claudine (le contrefaisant). Eh! eh! eh! di donc, Nicaise, avec tes cinq sols de monnoye, qu'est-ce que t'en veux faire?

Blaise. Eh! eh! eh! baille-moi cinq sols de monnoye, te dis-je.

Claudine. Pourquoi donc, Nicodeme?

Blaise. Pour ce garcon qui apporte mon paquet depis la voiture jusqu'a cheux nous, pendant que je marchois tout bellement et a mon aise.

Claudine. T'es venu dans la voiture?

Blaise. Oui, parce que cela est plus commode.

Claudine. T'a baille un ecu?

Blaise. Oh bian noblement. Combien faut-il? ai-je fait. Un ecu, ce m'a-t-on fait. Tenez, le vela, prennez. Tout comme ca.

Claudine. Et tu depenses cinq sols en porteurs de paquets?

Blaise. Oui, par maniere de recreation.

Arlequin. Est-ce pour moi les cinq sols, Monsieur Blaise?

Blaise. Oui, mon ami. etc.

——Fussnote

Neunundzwanzigstes Stueck
Den 7. August 1767

Die Komoedie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen Unarten, ueber die sie zu lachen macht, noch weniger bloss und allein die, an welchen sich diese laecherlichen Unarten finden. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Uebung unserer Faehigkeit, das Laecherliche zu bemerken; es unter allen Bemaentelungen der Leidenschaft und der Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmern oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes, leicht und geschwind zu bemerken. Zugegeben, dass der "Geizige" des Moliere nie einen Geizigen, der "Spieler" des Regnard nie einen Spieler gebessert habe; eingeraeumt, dass das Lachen diese Toren gar nicht bessern koenne: desto schlimmer fuer sie, aber nicht fuer die Komoedie. Ihr ist genug, wenn sie keine verzweifelte Krankheiten heilen kann, die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen. Auch dem Freigebigen ist der Geizige lehrreich; auch dem, der gar nicht spielt, ist der Spieler unterrichtend; die Torheiten, die sie nicht haben, haben andere, mit welchen sie leben muessen; es ist erspriesslich, diejenigen zu kennen, mit welchen man in Kollision kommen kann; erspriesslich, sich wider alle Eindruecke des Beispiels zu verwahren. Ein Praeservativ ist auch eine schaetzbare Arzenei; und die ganze Moral hat kein kraeftigers, wirksamers, als das Laecherliche.—

"Das Raetsel oder Was den Damen am meisten gefaellt", ein Lustspiel in einem Aufzuge von Herr Loewen, machte diesen Abend den Beschluss.

Wenn Marmontel und Voltaire nicht Erzaehlungen und Maerchen geschrieben haetten, so wuerde das franzoesische Theater eine Menge Neuigkeiten haben entbehren muessen. Am meisten hat sich die komische Oper aus diesen Quellen bereichert. Des letztern "Ce qui plait aux dames" gab den Stoff zu einem mit Arien untermengten Lustspiele von vier Aufzuegen, welches unter dem Titel "La fee Urgele", von den italienischen Komoedianten zu Paris, im Dezember 1765 aufgefuehret ward. Herr Loewen scheinet nicht sowohl dieses Stueck, als die Erzaehlung des Voltaire selbst vor Augen gehabt zu haben. Wenn man bei Beurteilung einer Bildsaeule mit auf den Marmorblock zu sehen hat, aus welchem sie gemacht worden; wenn die primitive Form dieses Blockes es zu entschuldigen vermag, dass dieses oder jenes Glied zu kurz, diese oder jene Stellung zu gezwungen geraten: so ist die Kritik auf einmal abgewiesen, die den Herrn Loewen wegen der Einrichtung seines Stuecks in Anspruch nehmen wollte. Mache aus einem Hexenmaerchen etwas Wahrscheinlichers, wer da kann! Herr Loewen selbst gibt sein Raetsel fuer nichts anders, als fuer eine kleine Plaisanterie, die auf dem Theater gefallen kann, wenn sie gut gespielt wird. Verwandlung und Tanz und Gesang konkurrieren zu dieser Absicht; und es waere blosser Eigensinn, an keinem Belieben zu finden. Die Laune des Pedrillo ist zwar nicht original, aber doch gut getroffen. Nur duenkt mich, dass ein Waffentraeger oder Stallmeister, der das Abgeschmackte und Wahnsinnige der irrenden Ritterschaft einsieht, sich nicht so recht in eine Fabel passen will, die sich auf die Wirklichkeit der Zauberei gruendet und ritterliche Abenteuer als ruehmliche Handlungen eines vernuenftigen und tapfern Mannes annimmt. Doch, wie gesagt, es ist eine Plaisanterie; und Plaisanterien muss man nicht zergliedern wollen.

Den fuenfunddreissigsten Abend (mittewochs, den 1. Julius) ward, in
Gegenwart Sr. Koenigl. Majestaet von Daenemark, die "Rodogune" des Peter
Corneille aufgefuehrt.

Corneille bekannte, dass er sich auf dieses Trauerspiel das meiste einbilde, dass er es weit ueber seinen "Cinna" und "Cid" setze, dass seine uebrige Stuecke wenig Vorzuege haetten, die in diesem nicht vereint anzutreffen waeren; ein gluecklicher Stoff, ganz neue Erdichtungen, starke Verse, ein gruendliches Raisonnement, heftige Leidenschaften, ein von Akt zu Akt immer wachsendes Interesse.—

Es ist billig, dass wir uns bei dem Meisterstuecke dieses grossen Mannes verweilen.

Die Geschichte, auf die es gebauet ist, erzaehlt Appianus Alexandrinus gegen das Ende seines Buchs von den syrischen Kriegen. "Demetrius, mit dem Zunamen Nikanor, unternahm einen Feldzug gegen die Parther und lebte als Kriegsgefangner einige Zeit an dem Hofe ihres Koeniges Phraates, mit dessen Schwester Rodogune er sich vermaehlte. Inzwischen bemaechtigte sich Diodotus, der den vorigen Koenigen gedienet hatte, des syrischen Thrones und erhob ein Kind, den Sohn des Alexander Nothus, darauf, unter dessen Namen er als Vormund anfangs die Regierung fuehrte. Bald aber schaffte er den jungen Koenig aus dem Wege, setzte sich selbst die Krone auf und gab sich den Namen Tryphon. Als Antiochus, der Bruder des gefangenen Koenigs, das Schicksal desselben und die darauf erfolgten Unruhen des Reichs zu Rhodus, wo er sich aufhielt, hoerte, kam er nach Syrien zurueck, ueberwand mit vieler Muehe den Tryphon und liess ihn hinrichten. Hierauf wandte er seine Waffen gegen den Phraates und foderte die Befreiung seines Bruders. Phraates, der sich des Schlimmsten besorgte, gab den Demetrius auch wirklich los; aber nichtsdestoweniger kam es zwischen ihm und Antiochus zum Treffen, in welchem dieser den kuerzern zog und sich aus Verzweiflung selbst entleibte. Demetrius, nachdem er wieder in sein Reich gekehret war, ward von seiner Gemahlin Kleopatra aus Hass gegen die Rodogune umgebracht; obschon Kleopatra selbst, aus Verdruss ueber diese Heirat, sich mit dem naemlichen Antiochus, seinem Bruder, vermaehlet hatte. Sie hatte von dem Demetrius zwei Soehne, wovon sie den aeltesten, mit Namen Seleukus, der nach dem Tode seines Vaters den Thron bestieg, eigenhaendig mit einem Pfeile erschoss; es sei nun, weil sie besorgte, er moechte den Tod seines Vaters an ihr raechen, oder weil sie sonst ihre grausame Gemuetsart dazu veranlasste. Der juengste Sohn hiess Antiochus; er folgte seinem Bruder in der Regierung und zwang seine abscheuliche Mutter, dass sie den Giftbecher, den sie ihm zugedacht hatte, selbst trinken musste."

In dieser Erzaehlung lag Stoff zu mehr als einem Trauerspiele. Es wuerde Corneillen eben nicht viel mehr Erfindung gekostet haben, einen "Tryphon", einen "Antiochus", einen "Demetrius", einen "Seleukus" daraus zu machen, als es ihm, eine "Rodogune" daraus zu erschaffen, kostete. Was ihn aber vorzueglich darin reizte, war die beleidigte Ehefrau, welche die usurpierten Rechte ihres Ranges und Bettes nicht grausam genug raechen zu koennen glaubet. Diese also nahm er heraus; und es ist unstreitig, dass sonach sein Stueck nicht "Rodogune", sondern "Kleopatra" heissen sollte. Er gestand es selbst, und nur weil er besorgte, dass die Zuhoerer diese Koenigin von Syrien mit jener beruehmten letzten Koenigin von Aegypten gleichen Namens verwechseln duerften, wollte er lieber von der zweiten, als von der ersten Person den Titel hernehmen. "Ich glaubte mich", sagt er, "dieser Freiheit um so eher bedienen zu koennen, da ich angemerkt hatte, dass die Alten selbst es nicht fuer notwendig gehalten, ein Stueck eben nach seinem Helden zu benennen, sondern es ohne Bedenken auch wohl nach dem Chore benannt haben, der an der Handlung doch weit weniger teil hat, und weit episodischer ist, als Rodogune; so hat z.E. Sophokles eines seiner Trauerspiele 'Die Trachinerinnen' genannt, welches man itziger Zeit schwerlich anders, als den 'sterbenden Herkules' nennen wuerde." Diese Bemerkung ist an und fuer sich sehr richtig; die Alten hielten den Titel fuer ganz unerheblich; sie glaubten im geringsten nicht, dass er den Inhalt angeben muesse; genug, wenn dadurch ein Stueck von dem andern unterschieden ward, und hiezu ist der kleinste Umstand hinlaenglich. Allein, gleichwohl glaube ich schwerlich, dass Sophokles das Stueck, welches er "Die Trachinerinnen" ueberschrieb, wuerde haben "Dejanira" nennen wollen. Er stand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden Titel zu geben, aber ihm einen verfuehrerischen Titel zu geben, einen Titel, der unsere Aufmerksamkeit auf einen falschen Punkt richtet, dessen moechte er sich ohne Zweifel mehr bedacht haben. Die Besorgnis des Corneille ging hiernaechst zu weit; wer die aegyptische Kleopatra kennet, weiss auch, dass Syrien nicht Aegypten ist, weiss, dass mehr Koenige und Koeniginnen einerlei Namen gefuehrt haben: wer aber jene nicht kennt, kann sie auch mit dieser nicht verwechseln. Wenigstens haette Corneille in dem Stueck selbst den Namen Kleopatra nicht so sorgfaeltig vermeiden sollen; die Deutlichkeit hat in dem ersten Akte darunter gelitten; und der deutsche Uebersetzer tat daher sehr wohl, dass er sich ueber diese kleine Bedenklichkeit wegsetzte. Kein Skribent, am wenigsten ein Dichter, muss seine Leser oder Zuhoerer so gar unwissend annehmen; er darf auch gar wohl manchmal denken: was sie nicht wissen, das moegen sie fragen!

Dreissigstes Stueck
Den 11. August 1767

Kleopatra, in der Geschichte, ermordet ihren Gemahl, erschiesst den einen von ihren Soehnen und will den andern mit Gift vergeben. Ohne Zweifel folgte ein Verbrechen aus dem andern, und sie hatten alle im Grunde nur eine und ebendieselbe Quelle. Wenigstens laesst es sich mit Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die einzige Eifersucht ein wuetendes Eheweib zu einer ebenso wuetenden Mutter machte. Sich eine zweite Gemahlin an die Seite gestellet zu sehen, mit dieser die Liebe ihres Gatten und die Hoheit ihres Ranges zu teilen, brachte ein empfindliches und stolzes Herz leicht zu dem Entschlusse, das gar nicht zu besitzen, was es nicht allein besitzen konnte. Demetrius muss nicht leben, weil er fuer Kleopatra nicht allein leben will. Der schuldige Gemahl faellt; aber in ihm faellt auch ein Vater, der raechende Soehne hinterlaesst. An diese hatte die Mutter in der Hitze ihrer Leidenschaft nicht gedacht, oder nur als an ihre Soehne gedacht, von deren Ergebenheit sie versichert sei, oder deren kindlicher Eifer doch, wenn er unter Eltern waehlen muesste, ohnfehlbar sich fuer den zuerst beleidigten Teil erklaeren wuerde. Sie fand es aber so nicht; der Sohn ward Koenig, und der Koenig sahe in der Kleopatra nicht die Mutter, sondern die Koenigsmoerderin. Sie hatte alles von ihm zu fuerchten; und von dem Augenblicke an, er alles von ihr. Noch kochte die Eifersucht in ihrem Herzen; noch war der treulose Gemahl in seinen Soehnen uebrig; sie fing an, alles zu hassen, was sie erinnern musste, ihn einmal geliebt zu haben; die Selbsterhaltung staerkte diesen Hass; die Mutter war fertiger als der Sohn, die Beleidigerin fertiger, als der Beleidigte; sie beging den zweiten Mord, um den ersten ungestraft begangen zu haben; sie beging ihn an ihrem Sohne und beruhigte sich mit der Vorstellung, dass sie ihn nur an dem begehe, der ihr eignes Verderben beschlossen habe, dass sie eigentlich nicht morde, dass sie ihrer Ermordung nur zuvorkomme. Das Schicksal des aeltere Sohnes waere auch das Schicksal des juengern geworden; aber dieser war rascher, oder war gluecklicher. Er zwingt die Mutter, das Gift zu trinken, das sie ihm bereitet hat; ein unmenschliches Verbrechen raechet das andere; und es koemmt bloss auf die Umstaende an, auf welcher Seite wir mehr Verabscheuung, oder mehr Mitleid empfinden sollen.

Dieser dreifache Mord wuerde nur eine Handlung ausmachen, die ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende in der naemlichen Leidenschaft der naemlichen Person haette. Was fehlt ihr also noch zum Stoffe einer Tragoedie? Fuer das Genie fehlt ihr nichts: fuer den Stuemper alles. Da ist keine Liebe, da ist keine Verwicklung, keine Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer Zwischenfall; alles geht seinen natuerlichen Gang. Dieser natuerliche Gang reizet das Genie; und den Stuemper schrecket er ab. Das Genie koennen nur Begebenheiten beschaeftigen, die ineinander gegruendet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurueckzufuehren, jene gegen diese abzuwaegen, ueberall das Ungefaehr auszuschliessen, alles, was geschieht, so geschehen zu lassen, dass es nicht anders geschehen koennen: das, das ist seine Sache, wenn es in dem Felde der Geschichte arbeitet, um die unnuetzen Schaetze des Gedaechtnisses in Nahrungen des Geistes zu verwandeln. Der Witz hingegen, als der nicht auf das ineinander Gegruendete, sondern nur auf das Aehnliche oder Unaehnliche gehet, wenn er sich an Werke waget, die dem Genie allein vorgesparet bleiben sollten, haelt sich bei Begebenheiten auf, die weiter nichts miteinander gemein haben, als dass sie zugleich geschehen. Diese miteinander zu verbinden, ihre Faden so durcheinander zu flechten und zu verwirren, dass wir jeden Augenblick den einen unter dem andern verlieren, aus einer Befremdung in die andere gestuerzt werden; das kann er, der Witz; und nur das. Aus der bestaendigen Durchkreuzung solcher Faeden von ganz verschiednen Farben entstehet denn eine Kontextur, die in der Kunst eben das ist, was die Weberei Changeant nennet: ein Stoff, von dem man nicht sagen kann, ob er blau oder rot, gruen oder gelb ist; der beides ist, der von dieser Seite so, von der andern anders erscheinet; ein Spielwerk der Mode, ein Gaukelputz fuer Kinder.

Nun urteile man, ob der grosse Corneille seinen Stoff mehr als ein Genie oder als ein witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu dieser Beurteilung weiter nichts, als die Anwendung eines Satzes, den niemand in Zweifel zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz Verwicklung.

Kleopatra bringt, in der Geschichte, ihren Gemahl aus Eifersucht um. Aus Eifersucht? dachte Corneille: das waere ja eine ganz gemeine Frau; nein, meine Kleopatra muss eine Heldin sein, die noch wohl ihren Mann gern verloren haette, aber durchaus nicht den Thron; dass ihr Mann Rodogunen liebt, muss sie nicht so sehr schmerzen, als dass Rodogune Koenigin sein soll, wie sie; das ist weit erhabner.—

Ganz recht; weit erhabner und—weit unnatuerlicher. Denn einmal ist der Stolz ueberhaupt ein unnatuerlicheres, ein gekuenstelteres Laster, als die Eifersucht. Zweitens ist der Stolz eines Weibes noch unnatuerlicher, als der Stolz eines Mannes. Die Natur ruestete das weibliche Geschlecht zur Liebe, nicht zu Gewaltseligkeiten aus; es soll Zaertlichkeit, nicht Furcht erwecken; nur seine Reize sollen es maechtig machen; nur durch Liebkosungen soll es herrschen und soll nicht mehr beherrschen wollen, als es geniessen kann. Eine Frau, der das Herrschen, bloss des Herrschens wegen, gefaellt, bei der alle Neigungen dem Ehrgeize untergeordnet sind, die keine andere Glueckseligkeit kennet, als zu gebieten, zu tyrannisieren und ihren Fuss ganzen Voelkern auf den Nacken zu setzen; so eine Frau kann wohl einmal, auch mehr als einmal, wirklich gewesen sein, aber sie ist demohngeachtet eine Ausnahme, und wer eine Ausnahme schildert, schildert ohnstreitig das minder Natuerliche. Die Kleopatra des Corneille, die so eine Frau ist, die, ihren Ehrgeiz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, sich alle Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit macchiavellischen Maximen um sich wirft, ist ein Ungeheuer ihres Geschlechts, und Medea ist gegen ihr tugendhaft und liebenswuerdig. Denn alle die Grausamkeiten, welche Medea begeht, begeht sie aus Eifersucht. Einer zaertlichen, eifersuechtigen Frau will ich noch alles vergeben; sie ist das, was sie sein soll, nur zu heftig. Aber gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus ueberlegtem Ehrgeize Freveltaten veruebet, empoert sich das ganze Herz; und alle Kunst des Dichters kann sie uns nicht interessant machen. Wir staunen sie an, wie wir ein Monstrum anstaunen; und wenn wir unsere Neugierde gesaettiget haben, so danken wir dem Himmel, dass sich die Natur nur alle tausend Jahre einmal so verirret, und aergern uns ueber den Dichter, der uns dergleichen Missgeschoepfe fuer Menschen verkaufen will, deren Kenntnis uns erspriesslich sein koennte. Man gehe die ganze Geschichte durch; unter funfzig Frauen, die ihre Maenner vom Throne gestuerzet und ermordet haben, ist kaum eine, von der man nicht beweisen koennte, dass nur beleidigte Liebe sie zu diesem Schritte bewogen. Aus blossem Regierungsneide, aus blossem Stolze das Zepter selbst zu fuehren, welches ein liebreicher Ehemann fuehrte, hat sich schwerlich eine so weit vergangen. Viele, nachdem sie als beleidigte Gattinnen die Regierung an sich gerissen, haben diese Regierung hernach mit allem maennlichen Stolze verwaltet: das ist wahr. Sie hatten bei ihren kalten, muerrischen, treulosen Gatten alles, was die Unterwuerfigkeit Kraenkendes hat, zu sehr erfahren, als dass ihnen nachher ihre mit der aeussersten Gefahr erlangte Unabhaengigkeit nicht um so viel schaetzbarer haette sein sollen. Aber sicherlich hat keine das bei sich gedacht und empfunden, was Corneille seine Kleopatra selbst von sich sagen laesst; die unsinnigsten Bravaden des Lasters. Der groesste Boesewicht weiss sich vor sich selbst zu entschuldigen, sucht sich selbst zu ueberreden, dass das Laster, welches er begeht, kein so grosses Laster sei, oder dass ihn die unvermeidliche Notwendigkeit es zu begehen zwinge. Es ist wider alle Natur, dass er sich des Lasters, als Lasters, ruehmet; und der Dichter ist aeusserst zu tadeln, der aus Begierde, etwas Glaenzendes und Starkes zu sagen, uns das menschliche Herz so verkennen laesst, als ob seine Grundneigungen auf das Boese, als auf das Boese, gehen koennten.

Dergleichen missgeschilderte Charaktere, dergleichen schaudernde Tiraden, sind indes bei keinem Dichter haeufiger, als bei Corneillen, und es koennte leicht sein, dass sich zum Teil sein Beiname des Grossen mit darauf gruende. Es ist wahr, alles atmet bei ihm Heroismus; aber auch das, was keines faehig sein sollte, und wirklich auch keines faehig ist: das Laster. Den Ungeheuern, den Gigantischen haette man ihn nennen sollen; aber nicht den Grossen. Denn nichts ist gross, was nicht wahr ist.

Einunddreissigstes Stueck
Den 14. August 1767

In der Geschichte raechet sich Kleopatra bloss an ihrem Gemahle; an Rodogunen konnte, oder wollte sie sich nicht raechen. Bei dem Dichter ist jene Rache laengst vorbei; die Ermordung des Demetrius wird bloss erzaehlt, und alle Handlung des Stuecks geht auf Rodogunen. Corneille will seine Kleopatra nicht auf halbem Wege stehen lassen; sie muss sich noch gar nicht geraechet zu haben glauben, wenn sie sich nicht auch an Rodogunen raechet. Einer Eifersuechtigen ist es allerdings natuerlich, dass sie gegen ihre Nebenbuhlerin noch unversoehnlicher ist, als gegen ihren treulosen Gemahl. Aber die Kleopatra des Corneille, wie gesagt, ist wenig oder gar nicht eifersuechtig; sie ist bloss ehrgeizig; und die Rache einer Ehrgeizigen sollte nie der Rache einer Eifersuechtigen aehnlich sein. Beide Leidenschaften sind zu sehr unterschieden, als dass ihre Wirkungen die naemlichen sein koennten. Der Ehrgeiz ist nie ohne eine Art von Edelmut, und die Rache streitet mit dem Edelmute zu sehr, als dass die Rache des Ehrgeizigen ohne Mass und Ziel sein sollte. Solange er seinen Zweck verfolgt, kennet sie keine Grenzen; aber kaum hat er diesen erreicht, kaum ist seine Leidenschaft befriediget, als auch seine Rache kaelter und ueberlegender zu werden anfaengt. Er proportioniert sie nicht sowohl nach dem erlittenen Nachteile, als vielmehr nach dem noch zu besorgenden. Wer ihm nicht weiter schaden kann, von dem vergisst er es auch wohl, dass er ihm geschadet hat. Wen er nicht zu fuerchten hat, den verachtet er; und wen er verachtet, der ist weit unter seiner Rache. Die Eifersucht hingegen ist eine Art von Neid; und Neid ist ein kleines, kriechendes Laster, das keine andere Befriedigung kennet, als das gaenzliche Verderben seines Gegenstandes. Sie tobet in einem Feuer fort; nichts kann sie versoehnen; da die Beleidigung, die sie erwecket hat, nie aufhoeret, die naemliche Beleidigung zu sein, und immer waechset, je laenger sie dauert: so kann auch ihr Durst nach Rache nie erloeschen, die sie spat oder frueh, immer mit gleichem Grimme, vollziehen wird. Gerade so ist die Rache der Kleopatra beim Corneille; und die Misshelligkeit, in der diese Rache also mit ihrem Charakter stehet, kann nicht anders als aeusserst beleidigend sein. Ihre stolzen Gesinnungen, ihr unbaendiger Trieb nach Ehre und Unabhaengigkeit, lassen sie uns als eine grosse, erhabne Seele betrachten, die alle unsere Bewunderung verdienet. Aber ihr tueckischer Groll; ihre haemische Rachsucht gegen eine Person, von der ihr weiter nichts zu befuerchten stehet, die sie in ihrer Gewalt hat, der sie, bei dem geringsten Funken von Edelmute, vergeben muesste; ihr Leichtsinn, mit dem sie nicht allein selbst Verbrechen begeht, mit dem sie auch andern die unsinnigsten so plump und geradehin zumutet: machen sie uns wiederum so klein, dass wir sie nicht genug verachten zu koennen glauben. Endlich muss diese Verachtung notwendig jene Bewunderung aufzehren, und es bleibt in der ganzen Kleopatra nichts uebrig, als ein haessliches, abscheuliches Weib, das immer sprudelt und raset, und die erste Stelle im Tollhause verdienet.

Aber nicht genug, dass Kleopatra sich an Rodogunen raechet: der Dichter will, dass sie es auf eine ganz ausnehmende Weise tun soll. Wie faengt er dieses an? Wenn Kleopatra selbst Rodogunen aus dem Wege schafft, so ist das Ding viel zu natuerlich: denn was ist natuerlicher, als seine Feindin hinzurichten? Ginge es nicht an, dass zugleich eine Liebhaberin in ihr hingerichtet wuerde? Und dass sie von ihrem Liebhaber hingerichtet wuerde? Warum nicht? Lasst uns erdichten, dass Rodogune mit dem Demetrius noch nicht voellig vermaehlet gewesen; lasst uns erdichten, dass nach seinem Tode sich die beiden Soehne in die Braut des Vaters verliebt haben; lasst uns erdichten, dass die beiden Soehne Zwillinge sind, dass dem aeltesten der Thron gehoeret, dass die Mutter es aber bestaendig verborgen gehalten, welcher von ihnen der aelteste sei; lasst uns erdichten, dass sich endlich die Mutter entschlossen, dieses Geheimnis zu entdecken, oder vielmehr nicht zu entdecken, sondern an dessen Statt denjenigen fuer den aeltesten zu erklaeren und ihn dadurch auf den Thron zu setzen, welcher eine gewisse Bedingung eingehen wolle; lasst uns erdichten, dass diese Bedingung der Tod der Rodogune sei. Nun haetten wir ja, was wir haben wollten: beide Prinzen sind in Rodogunen sterblich verliebt; wer von beiden seine Geliebte umbringen will, der soll regieren.

Schoen; aber koennten wir den Handel nicht noch mehr verwickeln? Koennten wir die guten Prinzen nicht noch in groessere Verlegenheit setzen? Wir wollen versuchen. Lasst uns also weiter erdichten, dass Rodogune den Anschlag der Kleopatra erfaehrt; lasst uns weiter erdichten, dass sie zwar einen von den Prinzen vorzueglich liebt, aber es ihm nicht bekannt hat, auch sonst keinem Menschen es bekannt hat, noch bekennen will, dass sie fest entschlossen ist, unter den Prinzen weder diesen geliebtern, noch den, welchem der Thron heimfallen duerfte, zu ihrem Gemahle zu waehlen, dass sie allein den waehlen wolle, welcher sich ihr am wuerdigsten erzeigen werde; Rodogune muss geraechet sein wollen; muss an der Mutter der Prinzen geraechet sein wollen; Rodogune muss ihnen erklaeren: wer mich von euch haben will, der ermorde seine Mutter!

Bravo! Das nenne ich doch noch eine Intrige! Diese Prinzen sind gut angekommen! Die sollen zu tun haben, wenn sie sich herauswickeln wollen! Die Mutter sagt zu ihnen: wer von euch regieren will, der ermorde seine Geliebte! Und die Geliebte sagt: wer mich haben will, ermorde seine Mutter! Es versteht sich, dass es sehr tugendhafte Prinzen sein muessen, die einander von Grund der Seele lieben, die viel Respekt fuer den Teufel von Mama, und ebensoviel Zaertlichkeit fuer eine liebaeugelnde Furie von Gebieterin haben. Denn wenn sie nicht beide sehr tugendhaft sind, so ist die Verwicklung so arg nicht, als es scheinet; oder sie ist zu arg, dass es gar nicht moeglich ist, sie wieder aufzuwickeln. Der eine geht hin und schlaegt die Prinzessin tot, um den Thron zu haben: damit ist es aus. Oder der andere geht hin und schlaegt die Mutter tot, um die Prinzessin zu haben: damit ist es wieder aus. Oder sie gehen beide hin und schlagen die Geliebte tot, und wollen beide den Thron haben: so kann es gar nicht aus werden. Oder sie schlagen beide die Mutter tot, und wollen beide das Maedchen haben: und so kann es wiederum nicht aus werden. Aber wenn sie beide fein tugendhaft sind, so will keiner weder die eine noch die andere totschlagen; so stehen sie beide huebsch und sperren das Maul auf, und wissen nicht, was sie tun sollen: und das ist eben die Schoenheit davon. Freilich wird das Stueck dadurch ein sehr sonderbares Ansehen bekommen, dass die Weiber darin aerger als rasende Maenner, und die Maenner weibischer als die armseligsten Weiber handeln: aber was schadet das? Vielmehr ist dieses ein Vorzug des Stueckes mehr; denn das Gegenteil ist so gewoehnlich, so abgedroschen!—

Doch im Ernste: ich weiss nicht, ob es viel Muehe kostet, dergleichen Erdichtungen zu machen; ich habe es nie versucht, ich moechte es auch schwerlich jemals versuchen. Aber das weiss ich, dass es einem sehr sauer wird, dergleichen Erdichtungen zu verdauen.

Nicht zwar, weil es blosse Erdichtungen sind; weil nicht die mindeste Spur in der Geschichte davon zu finden. Diese Bedenklichkeit haette sich Corneille immer ersparen koennen. "Vielleicht", sagt er, "duerfte man zweifeln, ob sich die Freiheit der Poesie so weit erstrecket, dass sie unter bekannten Namen eine ganze Geschichte erdenken darf; so wie ich es hier gemacht habe, wo nach der Erzaehlung im ersten Akte, welche die Grundlage des Folgenden ist, bis zu den Wirkungen im fuenften, nicht das geringste vorkoemmt, welches einigen historischen Grund haette. Doch", faehrt er fort, "Mich duenkt, wenn wir nur das Resultat einer Geschichte beibehalten, so sind alle vorlaeufige Umstaende, alle Einleitungen zu diesem Resultate in unserer Gewalt. Wenigstens wuesste ich mich keiner Regel dawider zu erinnern, und die Ausuebung der Alten ist voellig auf meiner Seite. Denn man vergleiche nur einmal die 'Elektra' des Sophokles mit der 'Elektra' des Euripides, und sehe, ob sie mehr miteinander gemein haben, als das blosse Resultat, die letzten Wirkungen in den Begegnissen ihrer Heldin, zu welchen jeder auf einem besondern Wege, durch ihm eigentuemliche Mittel gelanget, so dass wenigstens eine davon notwendig ganz und gar die Erfindung ihres Verfassers sein muss. Oder man werfe nur die Augen auf die 'Iphigenia in Taurika', die uns Aristoteles zum Muster einer vollkommenen Tragoedie gibt, und die doch sehr darnach aussieht, dass sie weiter nichts als eine Erdichtung ist, indem sie sich bloss auf das Vorgeben gruendet, dass Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem Altare, auf welchem sie geopfert werden sollte, entrueckt und ein Reh an ihrer Stelle untergeschoben habe. Vornehmlich aber verdient die 'Helena' des Euripides bemerkt zu werden, wo sowohl die Haupthandlung, als die Episoden, sowohl der Knoten als die Aufloesung, gaenzlich erdichtet sind, und aus der Historie nichts als die Namen haben."

Allerdings durfte Corneille mit den historischen Umstaenden nach Gutduenken verfahren. Er durfte z.E. Rodogunen so jung annehmen, als er wollte; und Voltaire hat sehr unrecht, wenn er auch hier wiederum aus der Geschichte nachrechnet, dass Rodogune so jung nicht koenne gewesen sein; sie habe den Demetrius geheiratet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenigstens zwanzig Jahre haben muessten, noch in ihrer Kindheit gewesen waeren. Was geht das dem Dichter an? Seine Rodogune hat den Demetrius gar nicht geheiratet; sie war sehr jung, als sie der Vater heiraten wollte, und nicht viel aelter, als sich die Soehne in sie verliebten. Voltaire ist mit seiner historischen Kontrolle ganz unleidlich. Wenn er doch lieber die Data in seiner allgemeinen Weltgeschichte dafuer verifizieren wollte!

Zweiunddreissigstes Stueck
Den 18. August 1767

Mit den Beispielen der Alten haette Corneille noch weiter zurueckgehen koennen. Viele stellen sich vor, dass die Tragoedie in Griechenland wirklich zur Erneuerung des Andenkens grosser und sonderbarer Begebenheiten erfunden worden; dass ihre erste Bestimmung also gewesen, genau in die Fusstapfen der Geschichte zu treten und weder zur Rechten noch zur Linken auszuweichen. Aber sie irren sich. Denn schon Thespis liess sich um die historische Richtigkeit ganz unbekuemmert.[1] Es ist wahr, er zog sich darueber einen harten Verweis von dem Solon zu. Doch ohne zu sagen, dass Solon sich besser auf die Gesetze des Staats, als der Dichtkunst verstanden: so laesst sich den Folgerungen, die man aus seiner Missbilligung ziehen koennte, auf eine andere Art ausweichen. Die Kunst bediente sich unter dem Thespis schon aller Vorrechte, als sie sich, von seiten des Nutzens, ihrer noch nicht wuerdig erzeigen konnte. Thespis ersann, erdichtete, liess die bekanntesten Personen sagen und tun, was er wollte: aber er wusste seine Erdichtungen vielleicht weder wahrscheinlich noch lehrreich zu machen. Solon bemerkte in ihnen also nur das Unwahre, ohne die geringste Vermutung von dem Nuetzlichen zu haben. Er eiferte wider ein Gift, welches, ohne sein Gegengift mit sich zu fuehren, leicht von uebeln Folgen sein koennte.

Ich fuerchte sehr, Solon duerfte auch die Erdichtungen des grossen Corneille nichts als leidige Luegen genannt haben. Denn wozu alle diese Erdichtungen? Machen sie in der Geschichte, die er damit ueberladet, das Geringste wahrscheinlicher. Sie sind nicht einmal fuer sich selbst wahrscheinlich. Corneille prahlte damit, als mit sehr wunderbaren Anstrengungen der Erdichtungskraft; und er haette doch wohl wissen sollen, dass nicht das blosse Erdichten, sondern das zweckmaessige Erdichten, einen schoepfrischen Geist beweise.

Der Poet findet in der Geschichte eine Frau, die Mann und Soehne mordet; eine solche Tat kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er nimmt sich vor, sie in einer Tragoedie zu behandeln. Aber die Geschichte sagt ihm weiter nichts, als das blosse Faktum, und dieses ist ebenso graesslich als ausserordentlich. Es gibt hoechstens drei Szenen, und da es von allen naehern Umstaenden entbloesst ist, drei unwahrscheinliche Szenen.—Was tut also der Poet?

So wie er diesen Namen mehr oder weniger verdient, wird ihm entweder die
Unwahrscheinlichkeit oder die magere Kuerze der groessere Mangel seines
Stueckes scheinen.

Ist er in dem ersten Falle, so wird er vor allen Dingen bedacht sein, eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene unwahrscheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geschehen muessen. Unzufrieden, ihre Moeglichkeit bloss auf die historische Glaubwuerdigkeit zu gruenden, wird er suchen, die Charaktere seiner Personen so anzulegen; wird er suchen, die Vorfaelle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so notwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen, die Leidenschaften nach eines jeden Charakter so genau abzumessen; wird er suchen, diese Leidenschaften durch so allmaehliche Stufen durchzufuehren: dass wir ueberall nichts als den natuerlichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen; dass wir bei jedem Schritte, den er seine Personen tun laesst, bekennen muessen, wir wuerden ihn, in dem naemlichen Grade der Leidenschaft, bei der naemlichen Lage der Sachen, selbst getan haben; dass uns nichts dabei befremdet, als die unmerkliche Annaeherung eines Zieles, von dem unsere Vorstellungen zurueckbeben, und an dem wir uns endlich, voll des innigsten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Strom dahinreisst, und voll Schrecken ueber das Bewusstsein befinden, auch uns koenne ein aehnlicher Strom dahinreissen, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Gebluete noch so weit von uns entfernt zu sein glauben.—Und schlaegt der Dichter diesen Weg ein, sagt ihm sein Genie, dass er darauf nicht schimpflich ermatten werde: so ist mit eins auch jene magere Kuerze seiner Fabel verschwunden; es bekuemmert ihn nun nicht mehr, wie er mit so wenigen Vorfaellen fuenf Akte fuellen wolle; ihm ist nur bange, dass fuenf Akte alle den Stoff nicht fassen werden, der sich unter seiner Bearbeitung aus sich selbst immer mehr und mehr vergroessert, wenn er einmal der verborgnen Organisation desselben auf die Spur gekommen und sie zu entwickeln verstehet.

Hingegen dem Dichter, der diesen Namen weniger verdienet, der weiter nichts als ein witziger Kopf, als ein guter Versifikateur ist, dem, sage ich, wird die Unwahrscheinlichkeit seines Vorwurfs so wenig anstoessig sein, dass er vielmehr eben hierin das Wunderbare desselben zu finden vermeinet, welches er auf keine Weise vermindern duerfe, wenn er sich nicht selbst des sichersten Mittels berauben wolle, Schrecken und Mitleid zu erregen. Denn er weiss so wenig, worin eigentlich dieses Schrecken und dieses Mitleid bestehet, dass er, um jenes hervorzubringen, nicht sonderbare, unerwartete, unglaubliche, ungeheure Dinge genug haeufen zu koennen glaubt, und um dieses zu erwecken, nur immer seine Zuflucht zu den ausserordentlichsten, graesslichsten Ungluecksfaellen und Freveltaten nehmen zu muessen vermeinet. Kaum hat er also in der Geschichte eine Kleopatra, eine Moerderin ihres Gemahls und ihrer Soehne, aufgesagt, so sieht er, um eine Tragoedie daraus zu machen, weiter nichts dabei zu tun, als die Luecken zwischen beiden Verbrechen auszufuellen, und sie mit Dingen auszufuellen, die wenigstens ebenso befremdend sind, als diese Verbrechen selbst. Alles dieses, seine Erfindungen und die historischen Materialien, knetet er denn in einen fein langen, fein schwer zu fassenden Roman zusammen; und wenn er es so gut zusammengeknetet hat, als sich nur immer Haecksel und Mehl zusammenkneten lassen: so bringt er seinen Teig auf das Drahtgerippe von Akten und Szenen, laesst erzaehlen und erzaehlen, laesst rasen und reimen,—und in vier, sechs Wochen, nachdem ihm das Reimen leichter oder saurer ankoemmt, ist das Wunder fertig; es heisst ein Trauerspiel, —wird gedruckt und aufgefuehrt,—gelesen und angesehen,—bewundert oder ausgepfiffen,—beibehalten oder vergessen,—so wie es das liebe Glueck will. Denn et habent sua fata libelli.

Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon auf den grossen Corneille zu machen? Oder brauche ich sie noch lange zu machen?—Nach dem geheimnisvollen Schicksale, welches die Schriften so gut als die Menschen haben, ist seine "Rodogune", nun laenger als hundert Jahr, als das groesste Meisterstueck des groessten tragischen Dichters, von ganz Frankreich und gelegentlich mit von ganz Europa bewundert worden. Kann eine hundertjaehrige Bewunderung wohl ohne Grund sein? Wo haben die Menschen so lange ihre Augen, ihre Empfindung gehabt? War es von 1646 bis 1767 allein dem hamburgischen Dramaturgisten aufbehalten, Flecken in der Sonne zu sehen und ein Gestirn auf ein Meteor herabzusetzen?

O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte sass einmal ein ehrlicher Hurone in der Bastille zu Paris; dem ward die Zeit lang, ob er schon in Paris war; und vor langer Weile studierte er die franzoesischen Poeten; diesem Huronen wollte die "Rodogune" gar nicht gefallen. Hernach lebte, zu Anfange des itzigen Jahrhunderts, irgendwo in Italien, ein Pedant, der hatte den Kopf von den Trauerspielen der Griechen und seiner Landesleute des sechzehnten Saeculi voll, und der fand an der "Rodogune" gleichfalls vieles auszusetzen. Endlich kam vor einigen Jahren sogar auch ein Franzose, sonst ein gewaltiger Verehrer des Corneilleschen Namens, (denn, weil er reich war und ein sehr gutes Herz hatte, so nahm er sich einer armen verlassnen Enkelin dieses grossen Dichters an, liess sie unter seinen Augen erziehen, lehrte sie huebsche Verse machen, sammelte Almosen fuer sie, schrieb zu ihrer Aussteuer einen grossen eintraeglichen Kommentar ueber die Werke ihres Grossvaters usw.) aber gleichwohl erklaerte er die "Rodogune" fuer ein sehr ungereimtes Gedicht und wollte sich des Todes verwundern, wie ein so grosser Mann, als der grosse Corneille, solch widersinniges Zeug habe schreiben koennen.—Bei einem von diesen ist der Dramaturgist ohnstreitig in die Schule gegangen; und aller Wahrscheinlichkeit nach bei dem letztern; denn es ist doch gemeiniglich ein Franzose, der den Auslaendern ueber die Fehler eines Franzosen die Augen eroeffnet. Diesem ganz gewiss betet er nach;—oder ist es nicht diesem, wenigstens dem Welschen,—wo nicht gar dem Huronen. Von einem muss er es doch haben. Denn dass ein Deutscher selbst daechte, von selbst die Kuehnheit haette, an der Vortrefflichkeit eines Franzosen zu zweifeln, wer kann sich das einbilden?

Ich rede von diesen meinen Vorgaengern mehr bei der naechsten Wiederholung der "Rodogune". Meine Leser wuenschen aus der Stelle zu kommen; und ich mit ihnen. Itzt nur noch ein Wort von der Uebersetzung, nach welcher dieses Stueck aufgefuehret worden. Es war nicht die alte Wolfenbuettelsche vom Bressand, sondern eine ganz neue, hier verfertigte, die noch ungedruckt lieget; in gereimten Alexandrinern. Sie darf sich gegen die beste von dieser Art nicht schaemen, und ist voller starken, gluecklichen Stellen. Der Verfasser aber, weiss ich, hat zu viel Einsicht und Geschmack, als dass er sich einer so undankbaren Arbeit noch einmal unterziehen wollte. Corneillen gut zu uebersetzen, muss man bessere Verse machen koennen, als er selbst.

——Fussnote

[1] Diogenes Laertius, Lib. I. Sec. 59.

——Fussnote

Dreiunddreissigstes Stueck
Den 21. August 1767

Den sechsunddreissigsten Abend (freitags, den 3. Julius) ward das Lustspiel des Herrn Favart, "Soliman der Zweite", ebenfalls in Gegenwart Sr. Koenigl. Majestaet von Daenemark, aufgefuehret.

Ich mag nicht untersuchen, wieweit es die Geschichte bestaetiget, dass Soliman II. sich in eine europaeische Sklavin verliebt habe, die ihn so zu fesseln, so nach ihrem Willen zu lenken gewusst, dass er, wider alle Gewohnheit seines Reichs, sich foermlich mit ihr verbinden und sie zur Kaiserin erklaeren muessen. Genug, dass Marmontel hierauf eine von seinen moralischen Erzaehlungen gegruendet, in der er aber jene Sklavin, die eine Italienerin soll gewesen sein, zu einer Franzoesin macht; ohne Zweifel, weil er es ganz unwahrscheinlich gefunden, dass irgendeine andere Schoene, als eine franzoesische, einen so seltnen Sieg ueber einen Grosstuerken erhalten koennen.

Ich weiss nicht, was ich eigentlich zu der Erzaehlung des Marmontel sagen soll; nicht, dass sie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen den feinen Kenntnissen der grossen Welt, ihrer Eitelkeit und ihres Laecherlichen, ausgefuehret und mit der Eleganz und Anmut geschrieben waere, welche diesem Verfasser so eigen sind; von dieser Seite ist sie vortrefflich, allerliebst. Aber es soll eine moralische Erzaehlung sein, und ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moralische sitzt. Allerdings ist sie nicht so schluepfrig, so anstoessig, als eine Erzaehlung des La Fontaine oder Grecourt: aber ist sie darum moralisch, weil sie nicht ganz unmoralisch ist?

Ein Sultan, der in dem Schosse der Wollueste gaehnet, dem sie der alltaegliche und durch nichts erschwerte Genuss unschmackhaft und ekel gemacht hat, der seine schlaffen Nerven durch etwas ganz Neues, ganz Besonderes, wieder gespannet und gereizet wissen will, um den sich die feinste Sinnlichkeit, die raffinierteste Zaertlichkeit umsonst bewirbt, vergebens erschoepft: dieser kranke Wolluestling ist der leidende Held in der Erzaehlung. Ich sage der leidende: der Lecker hat sich mit zu viel Suessigkeiten den Magen verdorben; nichts will ihm mehr schmecken; bis er endlich auf etwas verfaellt, was jedem gesunden Magen Abscheu erwecken wuerde, auf faule Eier, auf Rattenschwaenze und Raupenpasteten; die schmecken ihm. Die edelste, bescheidenste Schoenheit, mit dem schmachtendsten Auge, gross und blau, mit der unschuldigsten empfindlichsten Seele, beherrscht den Sultan,—bis sie gewonnen ist. Eine andere, majestaetischer in ihrer Form, blendender von Kolorit, bluehende Suada auf ihren Lippen, und in ihrer Stimme das ganze liebliche Spiel bezaubernder Toene, eine wahre Muse, nur verfuehrerischer, wird—genossen und vergessen. Endlich erscheinet ein weibliches Ding, fluechtig, unbedachtsam, wild, witzig bis zur Unverschaemtheit, lustig bis zum Tollen, viel Physiognomie, wenig Schoenheit, niedlicher als wohlgestaltet, Taille aber keine Figur; dieses Ding, als es den Sultan erblickt, faellt mit der plumpesten Schmeichelei, wie mit der Tuere ins Haus: Graces au ciel, voici une figure humaine! —(Eine Schmeichelei, die nicht bloss dieser Sultan, auch mancher deutscher Fuerst, dann und wann etwas feiner, dann und wann aber auch wohl noch plumper, zu hoeren bekommen, und mit der unter zehnen neune, so gut wie der Sultan, vorlieb genommen, ohne die Beschimpfung, die sie wirklich enthaelt, zu fuehlen.) Und so wie dieses Eingangskompliment, so das uebrige —Vous etes beaucoup mieux, qu'il n'appartient a un Turc: vous avez meme quelque chose d'un Francais—En verite ces Turcs sont plaisants—Je me charge d'apprendre a vivre a ce Turc—Je ne desespere pas d'en faire quelque jour un Francais.—Dennoch gelingt es dem Dinge! Es lacht und schilt, es droht und spottet, es liebaeugelt und mault, bis der Sultan, nicht genug, ihm zu gefallen, dem Seraglio eine neue Gestalt gegeben zu haben, auch Reichsgesetze abaendern und Geistlichkeit und Poebel wider sich aufzubringen Gefahr laufen muss, wenn er anders mit ihr ebenso gluecklich sein will, als schon der und jener, wie sie ihm selbst bekennet, in ihrem Vaterlande mit ihr gewesen. Das verlohnte sich wohl der Muehe!

Marmontel faengt seine Erzaehlung mit der Betrachtung an, dass grosse Staatsveraenderungen oft durch sehr geringfuegige Kleinigkeiten veranlasst worden, und laesst den Sultan mit der heimlichen Frage an sich selbst schliessen: Wie ist es moeglich, dass eine kleine aufgestuelpte Nase die Gesetze eines Reiches umstossen koennen? Man sollte also fast glauben, dass er bloss diese Bemerkung, dieses anscheinende Missverhaeltnis zwischen Ursache und Wirkung, durch ein Exempel erlaeutern wollen. Doch diese Lehre waere unstreitig zu allgemein, und er entdeckt uns in der Vorrede selbst, dass er eine ganz andere und weit speziellere dabei zur Absicht gehabt. "Ich nahm mir vor", sagt er, "die Torheit derjenigen zu zeigen, welche ein Frauenzimmer durch Ansehen und Gewalt zur Gefaelligkeit bringen wollen; ich waehlte also zum Beispiele einen Sultan und eine Sklavin, als die zwei Extrema der Herrschaft und Abhaengigkeit." Allein Marmontel muss sicherlich auch diesen seinen Vorsatz waehrend der Ausarbeitung vergessen haben; fast nichts zielet dahin ab; man sieht nicht den geringsten Versuch einiger Gewaltsamkeit von seiten des Sultans; er ist gleich bei den ersten Insolenzen, die ihm die galante Franzoesin sagt, der zurueckhaltendste, nachgebendste, gefaelligste, folgsamste, untertaenigste Mann, la meilleure pate de mari, als kaum in Frankreich zu finden sein wuerde. Also nur gerade heraus; entweder es liegt gar keine Moral in dieser Erzaehlung des Marmontel, oder es ist die, auf welche ich, oben bei dem Charakter des Sultans, gewiesen: der Kaefer, wenn er alle Blumen durchschwaermt hat, bleibt endlich auf dem Miste liegen.

Doch Moral oder keine Moral; dem dramatischen Dichter ist es gleich viel, ob sich aus seiner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern laesst oder nicht; und also war die Erzaehlung des Marmontel darum nichts mehr und nichts weniger geschickt, auf das Theater gebracht zu werden. Das tat Favart, und sehr gluecklich. Ich rate allen, die unter uns das Theater aus aehnlichen Erzaehlungen bereichern wollen, die Favartsche Ausfuehrung mit dem Marmontelschen Urstoffe zusammenzuhalten. Wenn sie die Gabe zu abstrahieren haben, so werden ihnen die geringsten Veraenderungen, die dieser gelitten und zum Teil leiden muessen, lehrreich sein, und ihre Empfindung wird sie auf manchen Handgriff leiten, der ihrer blossen Spekulation wohl unentdeckt geblieben waere, den noch kein Kritikus zur Regel generalisieret hat, ob er es schon verdiente, und der oefters mehr Wahrheit, mehr Leben in ihr Stueck bringen wird, als alle die mechanischen Gesetze, mit denen sich kahle Kunstrichter herumschlagen, und deren Beobachtung sie lieber, dem Genie zum Trotze, zur einzigen Quelle der Vollkommenheit eines Dramas machen moechten.

Ich will nur bei einer von diesen Veraenderungen stehenbleiben. Aber ich muss vorher das Urteil anfuehren, welches Franzosen selbst ueber das Stueck gefaellt haben.[1] Anfangs aeussern sie ihre Zweifel gegen die Grundlage des Marmontels. "Soliman der Zweite", sagen sie, "war einer von den groessten Fuersten seines Jahrhunderts; die Tuerken haben keinen Kaiser, dessen Andenken ihnen teurer waere als dieses Solimans; seine Siege, seine Talente und Tugenden machten ihn selbst bei den Feinden verehrungswuerdig, ueber die er siegte: aber welche kleine, jaemmerliche Rolle laesst ihn Marmontel spielen? Roxelane war, nach der Geschichte, eine verschlagener ehrgeizige Frau, die, ihren Stolz zu befriedigen, der kuehnsten, schwaerzesten Streiche faehig war, die den Sultan durch ihre Raenke und falsche Zaertlichkeit so weit zu bringen wusste, dass er wider sein eigenes Blut wuetete, dass er seinen Ruhm durch die Hinrichtung eines unschuldigen Sohnes befleckte: und diese Roxelane ist bei dem Marmontel eine kleine naerrische Kokette, wie nur immer eine in Paris herumflattert, den Kopf voller Wind, doch das Herz mehr gut als boese. Sind dergleichen Verkleidungen", fragen sie, "wohl erlaubt? Darf ein Poet oder ein Erzaehler, wenn man ihm auch noch so viel Freiheit verstattet, diese Freiheit wohl bis auf die allerbekanntesten Charaktere erstrecken? Wenn er Fakta nach seinem Gutduenken veraendern darf, darf er auch eine Lucretia verbuhlt und einen Sokrates galant schildern?"

Das heisst einem mit aller Bescheidenheit zu Leibe gehen. Ich moechte die Rechtfertigung des Hrn. Marmontel nicht uebernehmen; ich habe mich vielmehr schon dahin geaeussert,[2] dass die Charaktere dem Dichter weit heiliger sein muessen, als die Fakta. Einmal, weil, wenn jene genau beobachtet werden, diese, insofern sie eine Folge von jenen sind, von selbst nicht viel anders ausfallen koennen; da hingegen allerlei Faktum sich aus ganz verschiednen Charakteren herleiten laesst. Zweitens, weil das Lehrreiche nicht in den blossen Faktis, sondern in der Erkenntnis bestehet, dass diese Charaktere unter diesen Umstaenden solche Fakta hervorzubringen pflegen und hervorbringen muessen. Gleichwohl hat es Marmontel gerade umgekehrt. Dass es einmal in dem Seraglio eine europaeische Sklavin gegeben, die sich zur gesetzmaessigen Gemahlin des Kaisers zu machen gewusst: das ist das Faktum. Die Charaktere dieser Sklavin und dieses Kaisers bestimmen die Art und Weise, wie dieses Faktum wirklich geworden; und da es durch mehr als eine Art von Charakteren wirklich werden koennen, so steht es freilich bei dem Dichter, als Dichter, welche von diesen Arten er waehlen will; ob die, welche die Historie bestaetiget, oder eine andere, sowie der moralischen Absicht, die er mit seiner Erzaehlung verbindet, das eine oder das andere gemaesser ist. Nur sollte er sich, im Fall dass er andere Charaktere als die historischen, oder wohl gar diesen voellig entgegengesetzte waehlet, auch der historischen Namen enthalten und lieber ganz unbekannten Personen das bekannte Faktum beilegen, als bekannten Personen nicht zukommende Charaktere andichten. Jenes vermehret unsere Kenntnis, oder scheinet sie wenigstens zu vermehren und ist dadurch angenehm. Dieses widerspricht der Kenntnis, die wir bereits haben, und ist dadurch unangenehm. Die Fakta betrachten wir als etwas Zufaelliges, als etwas, das mehrern Personen gemein sein kann; die Charaktere hingegen als etwas Wesentliches und Eigentuemliches. Mit jenen lassen wir den Dichter umspringen, wie er will, solange er sie nur nicht mit den Charakteren in Widerspruch setzet; diese hingegen darf er wohl ins Licht stellen, aber nicht veraendern; die geringste Veraenderung scheinet uns die Individualitaet aufzuheben und andere Personen unterzuschieben, betruegerische Personen, die fremde Namen usurpieren und sich fuer etwas ausgeben, was sie nicht sind.

——Fussnote

[1] "Journal Encyclop.", Janvier 1762.

[2] Oben im 23. Stueck.

——Fussnote

Vierunddreissigstes Stueck
Den 25. August 1767

Aber dennoch duenkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, seinen Personen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geschichte gibt, als in diesen freiwillig gewaehlten Charakteren selbst, es sei von seiten der innern Wahrscheinlichkeit, oder von seiten des Unterrichtenden, zu verstossen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie bestehen; nicht aber dieser. Dem Genie ist es vergoennt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiss; nicht der erworbene Vorrat seines Gedaechtnisses, sondern das, was es aus sich selbst, aus seinem eigenen Gefuehl, hervorzubringen vermag, macht seinen Reichtum aus;[1] was es gehoert oder gelesen, hat es entweder wieder vergessen oder mag es weiter nicht wissen, als insofern es in seinen Kram taugt; es verstoesst also, bald aus Sicherheit bald aus Stolz, bald mit bald ohne Vorsatz, so oft, so groeblich, dass wir andern guten Leute uns nicht genug darueber verwundern koennen; wir stehen und staunen und schlagen die Haende zusammen und rufen: "Aber, wie hat ein so grosser Mann nicht wissen koennen!—Wie ist es moeglich, dass ihm nicht beifiel!—Ueberlegte er denn nicht?" Oh, lasst uns ja schweigen; wir glauben ihn zu demuetigen, und wir machen uns in seinen Augen laecherlich; alles, was wir besser wissen, als er, beweiset bloss, dass wir fleissiger zur Schule gegangen, als er; und das hatten wir leider noetig, wenn wir nicht vollkommne Dummkoepfe bleiben wollten.

Marmontels Soliman haette daher meinetwegen immer ein ganz anderer Soliman, und seine Roxelane eine ganz andere Roxelane sein moegen, als mich die Geschichte kennen lehret: wenn ich nur gefunden haette, dass, ob sie schon nicht aus dieser wirklichen Welt sind, sie dennoch zu einer andern Welt gehoeren koennten; zu einer Welt, deren Zufaelligkeiten in einer andern Ordnung verbunden, aber doch ebenso genau verbunden sind, als in dieser; zu einer Welt, in welcher Ursachen und Wirkungen zwar in einer andern Reihe folgen, aber doch zu eben der allgemeinen Wirkung des Guten abzwacken; kurz, zu der Welt eines Genies, das (es sei mir erlaubt, den Schoepfer ohne Namen durch sein edelstes Geschoepf zu bezeichnen!) das, sage ich, um das hoechste Genie im Kleinen nachzuahmen, die Teile der gegenwaertigen Welt versetzet, vertauscht, verringert, vermehret, um sich ein eigenes Ganze daraus zu machen, mit dem es seine eigene Absichten verbindet. Doch da ich dieses in dem Werke des Marmontels nicht finde, so kann ich es zufrieden sein, dass man ihm auch jenes nicht fuer genossen ausgehen laesst. Wer uns nicht schadlos halten kann oder will, muss uns nicht vorsaetzlich beleidigen. Und hier hat es wirklich Marmontel, es sei nun nicht gekonnt, oder nicht gewollt.

Denn nach dem angedeuteten Begriffe, den wir uns von dem Genie zu machen haben, sind wir berechtiget, in allen Charakteren, die der Dichter ausbildet oder sich schaffet, Uebereinstimmung und Absicht zu verlangen, wenn er von uns verlangt, in dem Lichte eines Genies betrachtet zu werden.

Uebereinstimmung:—Nichts muss sich in den Charakteren widersprechen; sie muessen immer einfoermig, immer sich selbst aehnlich bleiben; sie duerfen sich itzt staerker, itzt schwaecher aeussern, nachdem die Umstaende auf sie wirken; aber keine von diesen Umstaenden muessen maechtig genug sein koennen, sie von Schwarz auf Weiss zu aendern. Ein Tuerk und Despot muss, auch wenn er verliebt ist, noch Tuerk und Despot sein. Dem Tuerken, der nur die sinnliche Liebe kennt, muessen keine von den Raffinements beifallen, die eine verwoehnte europaeische Einbildungskraft damit verbindet. "Ich bin dieser liebkosenden Maschinen satt; ihre weiche Gelehrigkeit hat nichts Anzuegliches, nichts Schmeichelhaftes; ich will Schwierigkeiten zu ueberwinden haben und, wenn ich sie ueberwunden habe, durch neue Schwierigkeiten in Atem erhalten sein": so kann ein Koenig von Frankreich denken, aber kein Sultan. Es ist wahr, wenn man einem Sultan diese Denkungsart einmal gibt, so koemmt der Despot nicht mehr in Betrachtung; er entaeussert sich seines Despotismus selbst, um einer freiern Liebe zu geniessen; aber wird er deswegen auf einmal der zahme Affe sein, den eine dreiste Gauklerin kann tanzen lassen, wie sie will? Marmontel sagt: "Soliman war ein zu grosser Mann, als dass er die kleinen Angelegenheiten seines Seraglio auf den Fuss wichtiger Staatsgeschaefte haette treiben sollen." Sehr wohl; aber so haette er auch am Ende wichtige Staatsgeschaefte nicht auf den Fuss der kleinen Angelegenheiten seines Seraglio treiben muessen. Denn zu einem grossen Manne gehoert beides: Kleinigkeiten als Kleinigkeiten, und wichtige Dinge als wichtige Dinge zu behandeln. Er suchte, wie ihn Marmontel selbst sagen laesst, freie Herzen, die sich aus blosser Liebe zu seiner Person die Sklaverei gefallen liessen; er haette ein solches Herz an der Elmire gefunden; aber weiss er, was er will? Die zaertliche Elmire wird von einer wolluestigen Delia verdraengt, bis ihm eine Unbesonnene den Strick ueber die Hoerner wirft, der er sich selbst zum Sklaven machen muss, ehe er die zweideutige Gunst geniesset, die bisher immer der Tod seiner Begierden gewesen. Wird sie es nicht auch hier sein? Ich muss lachen ueber den guten Sultan, und er verdiente doch mein herzliches Mitleid. Wenn Elmire und Delia nach dem Genusse auf einmal alles verlieren, was ihn vorher entzueckte: was wird denn Roxelane, nach diesem kritischen Augenblicke, fuer ihn noch behalten? Wird er es, acht Tage nach ihrer Kroenung, noch der Muehe wert halten, ihr dieses Opfer gebracht zu haben? Ich fuerchte sehr, dass er schon den ersten Morgen, sobald er sich den Schlaf aus den Augen gewischt, in seiner verehelichten Sultane weiter nichts sieht, als ihre zuversichtliche Frechheit und ihre aufgestuelpte Nase. Mich duenkt, ich hoere ihn ausrufen: "Beim Mahomet, wo habe ich meine Augen gehabt!"

Ich leugne nicht, dass bei alle den Widerspruechen, die uns diesen Soliman so armselig und veraechtlich machen, er nicht wirklich sein koennte. Es gibt Menschen genug, die noch klaeglichere Widersprueche in sich vereinigen. Aber diese koennen auch, eben darum, keine Gegenstaende der poetischen Nachahmung sein. Sie sind unter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende; es waere denn, dass man ihre Widersprueche selbst, das Laecherliche oder die ungluecklichen Folgen derselben, zum Unterrichtenden machte, welches jedoch Marmontel bei seinem Soliman zu tun offenbar weit entfernt gewesen. Einem Charakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem fehlet die Absicht. —Mit Absicht handeln ist das, was den Menschen ueber geringere Geschoepfe erhebt; mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was das Genie von den kleinen Kuenstlern unterscheidet, die nur dichten, um zu dichten, die nur nachahmen, um nachzuahmen, die sich mit dem geringen Vergnuegen befriedigen, das mit dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden ist, die diese Mittel zu ihrer ganzen Absicht machen und verlangen, dass auch wir uns mit dem ebenso geringen Vergnuegen befriedigen sollen, welches aus dem Anschauen ihres kunstreichen, aber absichtlosen Gebrauches ihrer Mittel entspringet. Es ist wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmungen faengt das Genie an, zu lernen; es sind seine Voruebungen; auch braucht es sie in groessern Werken zu Fuellungen, zu Ruhepunkten unserer waermern Teilnehmung: allein mit der Anlage und Ausbildung seiner Hauptcharaktere verbindet es weitere und groessere Absichten; die Absicht, uns zu unterrichten, was wir zu tun oder zu lassen haben; die Absicht, uns mit den eigentlichen Merkmalen des Guten und Boesen, des Anstaendigen und Laecherlichen bekannt zu machen; die Absicht, uns jenes in allen seinen Verbindungen und Folgen als schoen und als gluecklich selbst im Ungluecke, dieses hingegen als haesslich und ungluecklich selbst im Gluecke zu zeigen; die Absicht, bei Vorwuerfen, wo keine unmittelbare Nacheiferung, keine unmittelbare Abschreckung fuer uns statthat, wenigstens unsere Begehrungs-und Verabscheuungskraefte mit solchen Gegenstaenden zu beschaeftigen, die es zu sein verdienen, und diese Gegenstaende jederzeit in ihr wahres Licht zu stellen, damit uns kein falscher Tag verfuehrt, was wir begehren sollten zu verabscheuen, und was wir verabscheuen sollten zu begehren.

Was ist nun von diesem allen in dem Charakter des Solimans, in dem Charakter der Roxelane? Wie ich schon gesagt habe: Nichts. Aber von manchen ist gerade das Gegenteil darin; ein paar Leute, die wir verachten sollten, wovon uns das eine Ekel und das andere Unwille eigentlich erregen muesste, ein stumpfer Wolluestling, eine abgefeimte Buhlerin werden uns mit so verfuehrerischen Zuegen, mit so lachenden Farben geschildert, dass es mich nicht wundern sollte, wenn mancher Ehemann sich daraus berechtiget zu sein glaubte, seiner rechtschaffnen und so schoenen als gefaelligen Gattin ueberdruessig zu sein, weil sie eine Elmire und keine Roxelane ist.

Wenn Fehler, die wir adoptieren, unsere eigene Fehler sind, so haben die angefuehrten franzoesischen Kunstrichter recht, dass sie alle das Tadelhafte des Marmontelschen Stoffes dem Favart mit zur Last legen. Dieser scheinet ihnen sogar dabei noch mehr gesuendiget zu haben, als jener. "Die Wahrscheinlichkeit", sagen sie, "auf die es vielleicht in einer Erzaehlung so sehr nicht ankoemmt, ist in einem dramatischen Stuecke unumgaenglich noetig; und diese ist in dem gegenwaertigen auf das aeusserste verletzet. Der grosse Soliman spielet eine sehr kleine Rolle, und es ist unangenehm, so einen Helden nur immer aus so einem Gesichtspunkte zu betrachten. Der Charakter eines Sultans ist noch mehr verunstaltet; da ist auch nicht ein Schatten von der unumschraenkten Gewalt, vor der alles sich schmiegen muss. Man haette diese Gewalt wohl lindern koennen; nur ganz vertilgen haette man sie nicht muessen. Der Charakter der Roxelane hat wegen seines Spiels gefallen; aber wenn die Ueberlegung darueber koemmt, wie sieht es dann mit ihm aus? Ist ihre Rolle im geringsten wahrscheinlich? Sie spricht mit dem Sultan, wie mit einem Pariser Buerger; sie tadelt alle seine Gebraeuche; sie widerspricht in allem seinem Geschmacke und sagt ihm sehr harte, nicht selten sehr beleidigende Dinge. Vielleicht zwar haette sie das alles sagen koennen; wenn sie es nur mit gemessenem Ausdruecken gesagt haette. Aber wer kann es aushalten, den grossen Soliman von einer jungen Landstreicherin so hofmeistern zu hoeren? Er soll sogar die Kunst zu regieren von ihr lernen. Der Zug mit dem verschmaehten Schnupftuche ist hart, und der mit der weggeworfenen Tabakspfeife ganz unertraeglich."

——Fussnote

[1] Pindarus, "Olymp." II. str. 5. v. 10.

——Fussnote

Fuenfunddreissigstes Stueck
Den 28. August 1767

Der letztere Zug, muss man wissen, gehoert dem Favart ganz allein; Marmontel hat sich ihn nicht erlaubt. Auch ist der erstere bei diesem feiner, als bei jenem. Denn beim Favart gibt Roxelane das Tuch, welches der Sultan ihr gegeben, weg; sie scheinet es der Delia lieber zu goennen, als sich selbst; sie scheinet es zu verschmaehen: das ist Beleidigung. Beim Marmontel hingegen laesst sich Roxelane das Tuch von dem Sultan geben und gibt es der Delia in seinem Namen; sie beuget damit einer Gunstbezeigung nur vor, die sie selbst noch nicht anzunehmen willens ist, und das mit der uneigennuetzigsten, gutherzigsten Miene: der Sultan kann sich ueber nichts beschweren, als dass sie seine Gesinnungen so schlecht erraet oder nicht besser erraten will.

Ohne Zweifel glaubte Favart durch dergleichen Ueberladungen das Spiel der Roxelane noch lebhafter zu machen; die Anlage zu Impertinenzen sahe er einmal gemacht, und eine mehr oder weniger konnte ihm nichts verschlagen, besonders wenn er die Wendung in Gedanken hatte, die er am Ende mit dieser Person nehmen wollte. Denn ohngeachtet, dass seine Roxelane noch unbedachtsamere Streiche macht, noch plumpern Mutwillen treibet, so hat er sie dennoch zu einem bessern und edlern Charakter zu machen gewusst, als wir in Marmontels Roxelane erkennen. Und wie das? warum das?

Eben auf diese Veraenderung wollte ich oben kommen; und mich duenkt, sie ist so gluecklich und vorteilhaft, dass sie von den Franzosen bemerkt und ihrem Urheber angerechnet zu werden verdient haette.

Marmontels Roxelane ist wirklich, was sie scheinet, ein kleines naerrisches, vermessenes Ding, dessen Glueck es ist, dass der Sultan Geschmack an ihm gefunden, und das die Kunst versteht, diesen Geschmack durch Hunger immer gieriger zu machen, und ihn nicht eher zu befriedigen, als bis sie ihren Zweck erreicht hat. Hinter Favarts Roxelane hingegen steckt mehr, sie scheinet die kecke Buhlerin mehr gespielt zu haben, als zu sein, durch ihre Dreistigkeiten den Sultan mehr auf die Probe gestellt, als seine Schwaeche gemissbraucht zu haben. Denn kaum hat sie den Sultan dahingebracht, wo sie ihn haben will, kaum erkennt sie, dass seine Liebe ohne Grenzen ist, als sie gleichsam die Larve abnimmt und ihm eine Erklaerung tut, die zwar ein wenig unvorbereitet kommt, aber ein Licht auf ihre vorige Auffuehrung wirft, durch welches wir ganz mit ihr ausgesoehnet werden. "Nun kenn' ich dich, Sultan; ich habe deine Seele, bis in ihre geheimste Triebfedern, erforscht; es ist eine edle, grosse Seele, ganz den Empfindungen der Ehre offen. So viel Tugend entzueckt mich! Aber lerne nun auch mich kennen. Ich liebe dich, Soliman; ich muss dich wohl lieben! Nimm all deine Rechte, nimm meine Freiheit zurueck; sei mein Sultan, mein Held, mein Gebieter! Ich wuerde dir sonst sehr eitel, sehr ungerecht scheinen muessen. Nein, tue nichts, als was dich dein Gesetz zu tun berechtiget. Es gibt Vorurteile, denen man Achtung schuldig ist. Ich verlange einen Liebhaber, der meinetwegen nicht erroeten darf; sieh hier in Roxelanen —nichts, als deine untertaenige Sklavin."[1] So sagt sie, und uns wird auf einmal ganz anders; die Kokette verschwindet, und ein liebes, ebenso vernuenftiges als drollichtes Maedchen steht vor uns; Soliman hoeret auf, uns veraechtlich zu scheinen, denn diese bessere Roxelane ist seiner Liebe wuerdig; wir fangen sogar in dem Augenblicke an zu fuerchten, er moechte die nicht genug lieben, die er uns zuvor viel zu sehr zu lieben schien, er moechte sie bei ihrem Worte fassen, der Liebhaber moechte den Despoten wieder annehmen, sobald sich die Liebhaberin in die Sklavin schickt, eine kalte Danksagung, dass sie ihn noch zu rechter Zeit von einem so bedenklichen Schritte zurueckhalten wollen, moechte anstatt einer feurigen Bestaetigung seines Entschlusses erfolgen, das gute Kind moechte durch ihre Grossmut wieder auf einmal verlieren, was sie durch mutwillige Vermessenheiten so muehsam gewonnen: doch diese Furcht ist vergebens, und das Stueck schliesst sich zu unserer voelligen Zufriedenheit.

Und nun, was bewog den Favart zu dieser Veraenderung? Ist sie bloss willkuerlich, oder fand er sich durch die besondern Regeln der Gattung, in welcher er arbeitete, dazu verbunden? Warum gab nicht auch Marmontel seiner Erzaehlung diesen vergnuegendern Ausgang? Ist das Gegenteil von dem, was dort eine Schoenheit ist, hier ein Fehler?

Ich erinnere mich, bereits an einem andern Orte angemerkt zu haben, welcher Unterschied sich zwischen der Handlung der Aesopischen Fabel und des Drama findet. Was von jener gilt, gilt von jeder moralischen Erzaehlung, welche die Absicht hat, einen allgemeinen moralischen Satz zur Intuition zu bringen. Wir sind zufrieden, wenn diese Absicht erreicht wird, und es ist uns gleichviel, ob es durch eine vollstaendige Handlung, die fuer sich ein wohlgeruendetes Ganze ausmacht, geschiehet oder nicht; der Dichter kann sie abbrechen, wo er will, sobald er sich an seinem Ziele sieht; wegen des Anteils, den wir an dem Schicksale der Personen nehmen, durch welche er sie ausfuehren laesst, ist er unbekuemmert, er hat uns nicht interessieren, er hat uns unterrichten wollen; er hat es lediglich mit unserm Verstande, nicht mit unserm Herzen zu tun, dieses mag befriediget werden oder nicht, wenn jener nur erleuchtet wird. Das Drama hingegen macht auf eine einzige, bestimmte, aus seiner Fabel fliessende Lehre keinen Anspruch; es gehet entweder auf die Leidenschaften, welche der Verlauf und die Gluecksveraenderungen seiner Fabel anzufachen und zu unterhalten vermoegend sind, oder auf das Vergnuegen, welches eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten und Charaktere gewaehret; und beides erfordert eine gewisse Vollstaendigkeit der Handlung, ein gewisses befriedigendes Ende, welches wir bei der moralischen Erzaehlung nicht vermissen, weil alle unsere Aufmerksamkeit auf den allgemeinen Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall derselben ein so einleuchtendes Beispiel gibt.

Wenn es also wahr ist, dass Marmontel durch seine Erzaehlung lehren wollte, die Liebe lasse sich nicht erzwingen, sie muesse durch Nachsicht und Gefaelligkeit, nicht durch Ansehen und Gewalt erhalten werden: so hatte er recht, so aufzuhoeren, wie er aufhoert. Die unbaendige Roxelane wird durch nichts als Nachgeben gewonnen; was wir dabei von ihrem und des Sultans Charakter denken, ist ihm ganz gleichgueltig, moegen wir sie doch immer fuer eine Naerrin und ihn fuer nichts Bessers halten. Auch hat er gar nicht Ursache, uns wegen der Folge zu beruhigen; es mag uns immer noch so wahrscheinlich sein, dass den Sultan seine blinde Gefaelligkeit bald gereuen werde: was geht das ihn an? Er wollte uns zeigen, was die Gefaelligkeit ueber das Frauenzimmer ueberhaupt vermag; er nahm also eines der wildesten; unbekuemmert, ob es eine solche Gefaelligkeit wert sei oder nicht.

Allein, als Favart diese Erzaehlung auf das Theater bringen wollte, so empfand er bald, dass durch die dramatische Form die Intuition des moralischen Satzes groesstenteils verloren gehe und dass, wenn sie auch vollkommen erhalten werden koenne, das daraus erwachsende Vergnuegen doch nicht so gross und lebhaft sei, dass man dabei ein anderes, welches dem Drama wesentlicher ist, entbehren koenne. Ich meine das Vergnuegen, welches uns ebenso rein gedachte als richtig gezeichnete Charaktere gewaehren. Nichts beleidiget uns aber, von seiten dieser, mehr als der Widerspruch, in welchem wir ihren moralischen Wert oder Unwert mit der Behandlung des Dichters finden; wenn wir finden, dass sich dieser entweder selbst damit betrogen hat oder uns wenigstens damit betriegen will, indem er das Kleine auf Stelzen hebet, mutwilligen Torheiten den Anstrich heiterer Weisheit gibt und Laster und Ungereimtheiten mit allen betriegerischen Reizen der Mode, des guten Tons, der feinen Lebensart, der grossen Welt ausstaffieret. Je mehr unsere ersten Blicke dadurch geblendet werden, desto strenger verfaehrt unsere Ueberlegung; das haessliche Gesicht, das wir so schoen geschminkt sehen, wird fuer noch einmal so haesslich erklaert, als es wirklich ist; und der Dichter hat nur zu waehlen, ob er von uns lieber fuer einen Giftmischer oder fuer einen Bloedsinnigen will gehalten sein. So waere es dem Favart, so waere es seinen Charakteren des Solimans und der Roxelane ergangen; und das empfand Favart. Aber da er diese Charaktere nicht von Anfang aendern konnte, ohne sich eine Menge Theaterspiele zu verderben, die er so vollkommen nach dem Geschmacke seines Parterres zu sein urteilte, so blieb ihm nichts zu tun uebrig, als was er tat. Nun freuen wir uns, uns an nichts vergnuegt zu haben, was wir nicht auch hochachten koennten; und zugleich befriediget diese Hochachtung unsere Neugierde und Besorgnis wegen der Zukunft. Denn da die Illusion des Drama weit staerker ist, als einer blossen Erzaehlung, so interessieren uns auch die Personen in jenem weit mehr, als in dieser, und wir begnuegen uns nicht, ihr Schicksal bloss fuer den gegenwaertigen Augenblick entschieden zu sehen, sondern wir wollen uns auf immer desfalls zufriedengestellet wissen.

——Fussnote

[1]
   Sultan, j'ai penetre ton ame;
   J'en ai demele les ressorts.
   Elle est grande, elle est fiere, et la gloire l'enflamme,
     Tant de vertus excitent mes transports.
     A ton tour, tu vas me connaitre:
   Je t'aime, Soliman; mais tu l'as merite.
     Reprends tes droits, reprends ma liberte;
   Sois mon Sultan, mon Heros et mon Maitre.
   Tu me soupconnerais d'injuste vanite.
     Va, ne fais rien que ta loi n'autorise;
   Il est des prejuges qu'on ne doit point trahir,
   Et je veux un Amant, qui n'ait point a rougir:
   Tu vois dans Roxelane une Esclave soumise.

——Fussnote

Sechsunddreissigstes Stueck
Den 1. September 1767

So unstreitig wir aber, ohne die glueckliche Wendung, welche Favart am Ende dem Charakter der Roxelane gibt, ihre darauf folgende Kroenung nicht anders als mit Spott und Verachtung, nicht anders als den laecherlichen Triumph einer "Serva Padrona" wuerden betrachtet haben; so gewiss, ohne sie, der Kaiser in unsern Augen nichts als ein klaeglicher Pimpinello, und die neue Kaiserin nichts als eine haessliche, verschmitzte Serbinette gewesen waere, von der wir vorausgesehen haetten, dass sie nun bald dem armen Sultan Pimpinello dem Zweiten noch ganz anders mitspielen werde: so leicht und natuerlich duenkt uns doch auch diese Wendung selbst; und wir muessen uns wundern, dass sie, demohngeachtet, so manchem Dichter nicht beigefallen und so manche drollige und dem Ansehen nach wirklich komische Erzaehlung in der dramatischen Form darueber verungluecken muessen.

Zum Exempel, "Die Matrone von Ephesus". Man kennt dieses beissende Maerchen, und es ist unstreitig die bitterste Satire, die jemals gegen den weiblichen Leichtsinn gemacht worden. Man hat es dem Petron tausendmal nacherzaehlt; und da es selbst in der schlechtesten Kopie noch immer gefiel, so glaubte man, dass es ein ebenso gluecklicher Stoff auch fuer das Theater sein muesse. Houdar de la Motte und andere machten den Versuch; aber ich berufe mich auf jedes feinere Gefuehl, wie dieser Versuch ausgefallen. Der Charakter der Matrone, der in der Erzaehlung ein nicht unangenehmes hoehnisches Laecheln ueber die Vermessenheit der ehelichen Liebe erweckt, wird in dem Drama ekel und haesslich. Wir finden hier die Ueberredungen, deren sich der Soldat gegen sie bedienet, bei weitem nicht so fein und dringend und siegend, als wir sie uns dort vorstellen. Dort bilden wir uns ein empfindliches Weibchen ein, dem es mit seinem Schmerze wirklich ernst ist, das aber den Versuchungen und ihrem Temperamente unterliegt; ihre Schwaeche duenkt uns die Schwaeche des ganzen Geschlechts zu sein; wir fassen also keinen besondern Hass gegen sie; was sie tut, glauben wir, wuerde ungefaehr jede Frau getan haben; selbst ihren Einfall, den lebendigen Liebhaber vermittelst des toten Mannes zu retten, glauben wir ihr, des Sinnreichen und der Besonnenheit wegen, verzeihen zu muessen; oder vielmehr eben das Sinnreiche dieses Einfalls bringt uns auf die Vermutung, dass er wohl auch nur ein blosser Zusatz des haemischen Erzaehlers sei, der sein Maerchen gern mit einer recht giftigen Spitze schliessen wollte. Aber in dem Drama findet diese Vermutung nicht statt; was wir dort nur hoeren, dass es geschehen sei, sehen wir hier wirklich geschehen; woran wir dort noch zweifeln koennen, davon ueberzeugt uns unser eigener Sinn hier zu unwidersprechlich; bei der blossen Moeglichkeit ergoetzte uns das Sinnreiche der Tat, bei ihrer Wirklichkeit sehen wir bloss ihre Schwaerze; der Einfall vergnuegte unsern Witz, aber die Ausfuehrung des Einfalls empoert unsere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der Buehne den Ruecken und sagen mit dem Lykas beim Petron, auch ohne uns in dem besondern Falle des Lykas zu befinden: Si justus imperator fuisset, debuit patrisfamiliae corpus in monimentum referre, mulierem adfigere cruci. Und diese Strafe scheinet sie uns um so viel mehr zu verdienen, je weniger Kunst der Dichter bei ihrer Verfuehrung angewendet; denn wir verdammen sodann in ihr nicht das schwache Weib ueberhaupt, sondern ein vorzueglich leichtsinniges, luederliches Weibsstueck insbesondere.—Kurz, die Petronische Fabel gluecklich auf das Theater zu bringen, muesste sie den naemlichen Ausgang behalten, und auch nicht behalten; muesste die Matrone so weit gehen, und auch nicht so weit gehen.—Die Erklaerung hierueber anderwaerts!

Den siebenunddreissigsten Abend (sonnabends, den 4. Julius) wurden
"Nanine" und der "Advokat Patelin" wiederholt.

Den achtunddreissigsten Abend (dienstags, den 7. Julius) ward die "Merope" des Herrn von Voltaire aufgefuehrt.

Voltaire verfertigte dieses Trauerspiel auf Veranlassung der "Merope" des Maffei; vermutlich im Jahr 1737 und vermutlich zu Cirey, bei seiner Urania, der Marquise du Chatelet. Denn schon im Jenner 1738 lag die Handschrift davon zu Paris bei dem Pater Brumoy, der als Jesuit und als Verfasser des Theatre des Grecs am geschicktesten war, die besten Vorurteile dafuer einzufloessen und die Erwartung der Hauptstadt diesen Vorurteilen gemaess zu stimmen. Brumoy zeigte sie den Freunden des Verfassers, und unter andern musste er sie auch dem alten Vater Tournemine schicken, der, sehr geschmeichelt, von seinem lieben Sohn Voltaire ueber ein Trauerspiel, ueber eine Sache, wovon er eben nicht viel verstand, um Rat gefragt zu werden, ein Briefchen voller Lobeserhebungen an jenen darueber zurueckschrieb, welches nachher, allen unberufenen Kunstrichtern zur Lehre und zur Warnung, jederzeit dem Stuecke selbst vorgedruckt worden. Es wird darin fuer eines von den vollkommensten Trauerspielen, fuer ein wahres Muster erklaert, und wir koennen uns nunmehr ganz zufrieden geben, dass das Stueck des Euripides gleichen Inhalts verloren gegangen; oder vielmehr, dieses ist nun nicht laenger verloren, Voltaire hat es uns wiederhergestellt.

So sehr hierdurch nun auch Voltaire beruhiget sein musste, so schien er sich doch mit der Vorstellung nicht uebereilen zu wollen, welche erst im Jahre 1743 erfolgte. Er genoss von seiner staatsklugen Verzoegerung auch alle die Fruechte, die er sich nur immer davon versprechen konnte. "Merope" fand den ausserordentlichsten Beifall, und das Parterre erzeigte dem Dichter eine Ehre, von der man noch zurzeit kein Exempel gehabt hatte. Zwar begegnete ehedem das Publikum auch dem grossen Corneille sehr vorzueglich; sein Stuhl auf dem Theater ward bestaendig freigelassen, wenn der Zulauf auch noch so gross war, und wenn er kam, so stand jedermann auf; eine Distinktion, deren in Frankreich nur die Prinzen vom Gebluete gewuerdiget werden. Corneille ward im Theater wie in seinem Hause angesehen; und wenn der Hausherr erscheinet, was ist billiger, als dass ihm die Gaeste ihre Hoeflichkeit bezeigen? Aber Voltairen widerfuhr noch ganz etwas anders; das Parterre ward begierig, den Mann von Angesicht zu kennen, den es so sehr bewundert hatte; wie die Vorstellung also zu Ende war, verlangte es ihn zu sehen und rufte und schrie und laermte, bis der Herr von Voltaire heraustreten und sich begaffen und beklatschen lassen musste. Ich weiss nicht, welches von beiden mich hier mehr befremdet haette, ob die kindische Neugierde des Publikums oder die eitele Gefaelligkeit des Dichters. Wie denkt man denn, dass ein Dichter aussieht? Nicht wie andere Menschen? Und wie schwach muss der Eindruck sein, den das Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Augenblicke auf nichts begieriger ist, als die Figur des Meisters dagegen zu halten? Das wahre Meisterstueck, duenkt mich, erfuellet uns so ganz mit sich selbst, dass wir des Urhebers darueber vergessen; dass wir es nicht als das Produkt eines einzeln Wesens, sondern der allgemeinen Natur betrachten. Young sagt von der Sonne, es waere Suende in den Heiden gewesen, sie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieser Hyperbel liegt, so ist es dieser: der Glanz, die Herrlichkeit der Sonne ist so gross, so ueberschwenglich, dass es dem rohern Menschen zu verzeihen, dass es sehr natuerlich war, wenn er sich keine groessere Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz sei, wenn er sich also in der Bewunderung der Sonne so sehr verlor, dass er an den Schoepfer der Sonne nicht dachte. Ich vermute, die wahre Ursache, warum wir so wenig Zuverlaessiges von der Person und den Lebensumstaenden des Homers wissen, ist die Vortrefflichkeit seiner Gedichte selbst. Wir stehen voller Erstaunen an dem breiten rauschenden Flusse, ohne an seine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wollen es nicht wissen, wir finden unsere Rechnung dabei, es zu vergessen, dass Homer, der Schulmeister in Smyrna, Homer, der blinde Bettler, eben der Homer ist, welcher uns in seinen Werken so entzuecket. Er bringt uns unter Goetter und Helden; wir muessten in dieser Gesellschaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Tuersteher so genau zu erkundigen, der uns hereingelassen. Die Taeuschung muss sehr schwach sein, man muss wenig Natur, aber desto mehr Kuenstelei empfinden, wenn man so neugierig nach dem Kuenstler ist. So wenig schmeichelhaft also im Grunde fuer einen Mann von Genie das Verlangen des Publikums, ihn von Person zu kennen, sein muesste (und was hat er dabei auch wirklich vor dem ersten, dem besten Murmeltiere voraus, welches der Poebel gesehen zu haben ebenso begierig ist?), so wohl scheinet sich doch die Eitelkeit der franzoesischen Dichter dabei befunden zu haben. Denn da das Pariser Parterre sah, wie leicht ein Voltaire in diese Falle zu locken sei, wie zahm und geschmeidig so ein Mann durch zweideutige Karessen werden koenne, so machte es sich dieses Vergnuegen oeftrer, und selten ward nachher ein neues Stueck aufgefuehrt, dessen Verfasser nicht gleichfalls hervormusste, und auch ganz gern hervorkam. Von Voltairen bis zu Marmontel und von Marmontel bis tief herab zu Cordier haben fast alle an diesem Pranger gestanden. Wie manches Armesuendergesichte muss daruntergewesen sein! Der Posse ging endlich so weit, dass sich die Ernsthaftern von der Nation selbst darueber aergerten. Der sinnreiche Einfall des weisen Polichinell ist bekannt. Und nur erst ganz neulich war ein junger Dichter kuehn genug, das Parterre vergebens nach sich rufen zu lassen. Er erschien durchaus nicht; sein Stueck war mittelmaessig, aber dieses sein Betragen desto braver und ruehmlicher. Ich wollte durch mein Beispiel einen solchen Uebe1stand lieber abgeschafft, als durch zehn "Meropen" ihn veranlasst haben.

Siebenunddreissigstes Stueck
Den 4. September 1767

Ich habe gesagt, dass Voltairens "Merope" durch die "Merope" des Maffei veranlasset worden ist. Aber veranlasset sagt wohl zu wenig: denn jene ist ganz aus dieser entstanden; Fabel, Plan und Sitten gehoeren dem Maffei; Voltaire wuerde ohne ihn gar keine oder doch sicherlich eine ganz andere "Merope" geschrieben haben.

Also, um die Kopie des Franzosen richtig zu beurteilen, muessen wir zuvoerderst das Original des Italieners kennenlernen; und um das poetische Verdienst des letztern gehoerig zu schaetzen, muessen wir vor allen Dingen einen Blick auf die historischen Fakta werfen, auf die er seine Fabel gegruendet hat.

Maffei selbst fasset diese Fakta in der Zueignungsschrift seines Stueckes folgendergestalt zusammen. "Dass, einige Zeit nach der Eroberung von Troja, als die Herakliden, d.I. die Nachkommen des Herkules, sich in Peloponnesus wieder festgesetzet, dem Kresphont das messenische Gebiete durch das Los zugefallen; dass die Gemahlin dieses Kresphonts Merope geheissen; dass Kresphont, weil er dem Volke sich allzuguenstig erwiesen, von den Maechtigern des Staats, mitsamt seinen Soehnen, umgebracht worden, den juengsten ausgenommen, welcher auswaerts bei einem Anverwandten seiner Mutter erzogen ward; dass dieser juengste Sohn, Namens Aepytus, als er erwachsen, durch Hilfe der Arkader und Dorier, sich des vaeterlichen Reiches wieder bemaechtiget, und den Tod seines Vaters an dessen Moerdern geraechet habe: dieses erzaehlet Pausanias. Dass, nachdem Kresphont mit seinen zwei Soehnen umgebracht worden, Polyphont, welcher gleichfalls aus dem Geschlechte der Herakliden war, die Regierung an sich gerissen; dass dieser die Merope gezwungen, seine Gemahlin zu werden; dass der dritte Sohn, den die Mutter in Sicherheit bringen lassen, den Tyrannen nachher umgebracht und das Reich wieder erobert habe: dieses berichtet Apollodorus. Dass Merope selbst den gefluechteten Sohn unbekannterweise toeten wollen; dass sie aber noch in dem Augenblicke von einem alten Diener daran verhindert worden, welcher ihr entdeckt, dass der, den sie fuer den Moerder ihres Sohnes halte, ihr Sohn selbst sei; dass der nun erkannte Sohn bei einem Opfer Gelegenheit gefunden, den Polyphont hinzurichten: dieses meldete Hyginus, bei dem Aepytus aber den Namen Telephontes fuehret."

Es waere zu verwundern, wenn eine solche Geschichte, die so besondere Glueckswechsel und Erkennungen hat, nicht schon von den alten Tragicis waere genutzt worden. Und was sollte sie nicht? Aristoteles, in seiner Dichtkunst, gedenkt eines Kresphontes, in welchem Merope ihren Sohn erkenne, eben da sie im Begriffe sei, ihn als den vermeinten Moerder ihres Sohnes umzubringen; und Plutarch, in seiner zweiten Abhandlung vom Fleischessen, zielet ohne Zweifel auf ebendieses Stueck,[1] wenn er sich auf die Bewegung beruft, in welche das ganze Theater gerate, indem Merope die Axt gegen ihren Sohn erhebet, und auf die Furcht, die jeden Zuschauer befalle, dass der Streich geschehen werde, ehe der alte Diener dazu kommen koenne. Aristoteles erwaehnet dieses Kresphonts zwar ohne Namen des Verfassers; da wir aber bei dem Cicero und mehrern Alten einen "Kresphont" des Euripides angezogen finden, so wird er wohl kein anderes als das Werk dieses Dichters gemeiner haben.

Der Pater Tournemine sagt in dem obgedachten Briefe: "Aristoteles, dieser weise Gesetzgeber des Theaters, hat die Fabel der Merope in die erste Klasse der tragischen Fabeln gesetzt (a mis ce sujet au premier rang des sujets tragiques). Euripides hatte sie behandelt, und Aristoteles meldet, dass, so oft der 'Kresphont' des Euripides auf dem Theater des witzigen Athens vorgestellet worden, dieses an tragische Meisterstuecke so gewoehnte Volk ganz ausserordentlich sei betroffen, geruehrt und entzueckt worden." —Huebsche Phrases, aber nicht viel Wahrheit! Der Pater irret sich in beiden Punkten. Bei dem letztern hat er den Aristoteles mit dem Plutarch vermengt und bei dem erstern den Aristoteles nicht recht verstanden. Jenes ist eine Kleinigkeit, aber ueber dieses verlohnet es der Muehe, ein paar Worte zu sagen, weil mehrere den Aristoteles ebenso unrecht verstanden haben.

Die Sache verhaelt sich wie folget. Aristoteles untersucht in dem vierzehnten Kapitel seiner "Dichtkunst", durch was eigentlich fuer Begebenheiten Schrecken und Mitleid erreget werde. Alle Begebenheiten, sagt er, muessen entweder unter Freunden oder unter Feinden oder unter gleichgueltigen Personen vorgehen. Wenn ein Feind seinen Feind toetet, so erweckt weder der Anschlag noch die Ausfuehrung der Tat sonst weiter einiges Mitleid als das allgemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerzlichen und Verderblichen ueberhaupt verbunden ist. Und so ist es auch bei gleichgueltigen Personen. Folglich muessen die tragischen Begebenheiten sich unter Freunden ereignen; ein Bruder muss den Bruder, ein Sohn den Vater, eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter toeten oder toeten wollen oder sonst auf eine empfindliche Weise misshandeln oder misshandeln wollen. Dieses aber kann entweder mit oder ohne Wissen und Vorbedacht geschehen; und da die Tat entweder vollfuehrt oder nicht vollfuehrt werden muss, so entstehen daraus vier Klassen von Begebenheiten, welche den Absichten des Trauerspiels mehr oder weniger entsprechen. Die erste: wenn die Tat wissentlich, mit voelliger Kenntnis der Person, gegen welche sie vollzogen werden soll, unternommen, aber nicht vollzogen wird. Die zweite: wenn sie wissentlich unternommen und wirklich vollzogen wird. Die dritte: wenn die Tat unwissend, ohne Kenntnis des Gegenstandes, unternommen und vollzogen wird und der Taeter die Person, an der er sie vollzogen, zu spaet kennenlernet. Die vierte: wenn die unwissend unternommene Tat nicht zur Vollziehung gelangt, indem die darein verwickelten Personen einander noch zur rechten Zeit erkennen. Von diesen vier Klassen gibt Aristoteles der letztern den Vorzug, und da er die Handlung der "Merope" in dem "Kresphont" davon zum Beispiele anfuehret: so haben Tournemine und andere dieses so angenommen, als ob er dadurch die Fabel dieses Trauerspiels ueberhaupt von der vollkommensten Gattung tragischer Fabeln zu sein erklaere.

Indes sagt doch Aristoteles kurz zuvor, dass eine gute tragische Fabel sich nicht gluecklich, sondern ungluecklich enden muesse. Wie kann dieses beides beieinander bestehen? Sie soll sich ungluecklich enden, und gleichwohl laeuft die Begebenheit, welche er nach jener Klassifikation allen andern tragischen Begebenheiten vorziehet, gluecklich ab. Widerspricht sich nicht also der grosse Kunstrichter offenbar?

Victorius, sagt Dacier, sei der einzige, welcher diese Schwierigkeit gesehen; aber da er nicht verstanden, was Aristoteles eigentlich in dem ganzen vierzehnten Kapitel gewollt: so habe er auch nicht einmal den geringsten Versuch gewagt, sie zu heben. Aristoteles, meinet Dacier, rede dort gar nicht von der Fabel ueberhaupt, sondern wolle nur lehren, auf wie mancherlei Art der Dichter tragische Begebenheiten behandeln koenne, ohne das Wesentliche, was die Geschichte davon meldet, zu veraendern, und welche von diesen Arten die beste sei. Wenn z.E. die Ermordung der Klytaemnestra durch den Orest der Inhalt des Stueckes sein sollte, so zeige sich, nach dem Aristoteles, ein vierfacher Plan, diesen Stoff zu bearbeiten, naemlich entweder als eine Begebenheit der erstern, oder der zweiten, oder der dritten, oder der vierten Klasse; der Dichter muesse nun ueberlegen, welcher hier der schicklichste und beste sei. Diese Ermordung als eine Begebenheit der erstern Klasse zu behandeln, finde darum nicht statt: weil sie nach der Historie wirklich geschehen muesse, und durch den Orest geschehen muesse. Nach der zweiten darum nicht: weil sie zu graesslich sei. Nach der vierten darum nicht: weil Klytaemnestra dadurch abermals gerettet wuerde, die doch durchaus nicht gerettet werden solle. Folglich bleibe ihm nichts als die dritte Klasse uebrig.

Die dritte! Aber Aristoteles gibt ja der vierten den Vorzug; und nicht bloss in einzeln Faellen, nach Massgebung der Umstaende, sondern ueberhaupt. Der ehrliche Dacier macht es oeftrer so: Aristoteles behaelt bei ihm recht, nicht weil er recht hat, sondern weil er Aristoteles ist. Indem er auf der einen Seite eine Bloesse von ihm zu decken glaubt, macht er ihm auf einer andern eine ebenso schlimme. Wenn nun der Gegner die Besonnenheit hat, anstatt nach jener in diese zu stossen: so ist es ja doch um die Untrueglichkeit seines Alten geschehen, an der ihm im Grunde noch mehr als an der Wahrheit selbst zu liegen scheinet. Wenn so viel auf die Uebereinstimmung der Geschichte ankoemmt, wenn der Dichter allgemein bekannte Dinge aus ihr zwar lindern, aber nie gaenzlich veraendern darf: wird es unter diesen nicht auch solche geben, die durchaus nach dem ersten oder zweiten Plane behandelt werden muessen? Die Ermordung der Klytaemnestra muesste eigentlich nach dem zweiten vorgestellet werden; denn Orestes hat sie wissentlich und vorsaetzlich vollzogen: der Dichter aber kann den dritten waehlen, weil dieser tragischer ist und der Geschichte doch nicht geradezu widerspricht. Gut, es sei so: aber z.E. Medea, die ihre Kinder ermordet? Welchen Plan kann hier der Dichter anders einschlagen, als den zweiten? Denn sie muss sie umbringen, und sie muss sie wissentlich umbringen; beides ist aus der Geschichte gleich allgemein bekannt. Was fuer eine Rangordnung kann also unter diesen Planen stattfinden? Der in einem Falle der vorzueglichste ist, koemmt in einem andern gar nicht in Betracht. Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben: so mache man die Anwendung nicht auf historische, sondern auf bloss erdichtete Begebenheiten. Gesetzt, die Ermordung der Klytaemnestra waere von dieser letztern Art, und es haette dem Dichter freigestanden, sie vollziehen oder nicht vollziehen zu lassen, sie mit oder ohne voellige Kenntnis vollziehen zu lassen. Welchen Plan haette er dann waehlen muessen, um eine so viel als moeglich vollkommene Tragoedie daraus zu machen? Dacier sagt selbst: den vierten, denn wenn er ihm den dritten vorziehe, so geschaehe es bloss aus Achtung gegen die Geschichte. Den vierten also? Den also, welcher sich gluecklich schliesst? Aber die besten Tragoedien, sagt eben der Aristoteles, der diesem vierten Plane den Vorzug vor allen erteilet, sind ja die, welche sich ungluecklich schliessen? Und das ist ja eben der Widerspruch, den Dacier heben wollte. Hat er ihn denn also gehoben? Bestaetiget hat er ihn vielmehr.

——Fussnote

[1] Dieses vorausgesetzt (wie man es denn wohl sicher voraussetzen kann, weil es bei den alten Dichtern nicht gebraeuchlich und auch nicht erlaubt war, einander solche eigene Situationen abzustehlen), wuerde sich an der angezogenen Stelle des Plutarchs ein Fragment des Euripides finden, welches Josua Barnes nicht mitgenommen haette und ein neuer Herausgeber des Dichters nutzen koennte.

——Fussnote

Achtunddreissigstes Stueck
Den 8. September 1767

Ich bin es auch nicht allein, dem die Auslegung des Dacier keine Genuege leistet. Unsern deutschen Uebersetzer der Aristotelischen Dichtkunst[1] hat sie ebensowenig befriediget. Er traegt seine Gruende dagegen vor, die zwar nicht eigentlich die Ausflucht des Dacier bestreiten, aber ihn doch sonst erheblich genug duenken, um seinen Autor lieber gaenzlich im Stiche zu lassen, als einen neuen Versuch zu wagen, etwas zu retten, was nicht zu retten sei. "Ich ueberlasse", schliesst er, "einer tiefern Einsicht, diese Schwierigkeiten zu heben; ich kann kein Licht zu ihrer Erklaerung finden, und scheinet mir wahrscheinlich, dass unser Philosoph dieses Kapitel nicht mit seiner gewoehnlichen Vorsicht durchgedacht habe."

Ich bekenne, dass mir dieses nicht sehr wahrscheinlich scheinet. Eines offenbaren Widerspruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht schuldig. Wo ich dergleichen bei so einem Manne zu finden glaube, setze ich das groessere Misstrauen lieber in meinen, als in seinen Verstand. Ich verdoppele meine Aufmerksamkeit, ich ueberlese die Stelle zehnmal und glaube nicht eher, dass er sich widersprochen, als bis ich aus dem ganzen Zusammenhange seines Systems ersehe, wie und wodurch er zu diesem Widerspruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten koennen, was ihm diesen Widerspruch gewissermassen unvermeidlich machen muessen, so bin ich ueberzeugt, dass er nur anscheinend ist. Denn sonst wuerde er dem Verfasser, der seine Materie so oft ueberdenken muessen, gewiss am ersten aufgefallen sein, und nicht mir ungeuebterm Leser, der ich ihn zu meinem Unterrichte in die Hand nehme. Ich bleibe also stehen, verfolge den Faden seiner Gedanken zurueck, ponderiere ein jedes Wort und sage mir immer: Aristoteles kann irren, und hat oft geirret; aber dass er hier etwas behaupten sollte, wovon er auf der naechsten Seite gerade das Gegenteil behauptet, das kann Aristoteles nicht. Endlich findet sich's auch.

Doch ohne weitere Umstaende; hier ist die Erklaerung, an welcher Herr
Curtius verzweifelt.—Auf die Ehre einer tiefern Einsicht mache ich
desfalls keinen Anspruch. Ich will mich mit der Ehre einer groessern
Bescheidenheit gegen einen Philosophen, wie Aristoteles, begnuegen.

Nichts empfiehlt Aristoteles dem tragischen Dichter mehr, als die gute Abfassung der Fabel; und nichts hat er ihm durch mehrere und feinere Bemerkungen zu erleichtern gesucht, als eben diese. Denn die Fabel ist es, die den Dichter vornehmlich zum Dichter macht: Sitten, Gesinnungen und Ausdruck werden zehnen geraten, gegen einen, der in jener untadelhaft und vortrefflich ist. Er erklaert aber die Fabel durch die Nachahmung einer Handlung, [Greek: praxeos]; und eine Handlung ist ihm eine Verknuepfung von Begebenheiten, [Greek: synthesin pragmaton]. Die Handlung ist das Ganze, die Begebenheiten sind die Teile dieses Ganzen: und so wie die Guete eines jeden Ganzen auf der Guete seiner einzeln Teile und deren Verbindung beruhet, so ist auch die tragische Handlung mehr oder weniger vollkommen, nachdem die Begebenheiten, aus welchen sie bestehet, jede fuer sich und alle zusammen, den Absichten der Tragoedie mehr oder weniger entsprechen. Nun bringt Aristoteles alle Begebenheiten, welche in der tragischen Handlung statthaben koennen, unter drei Hauptstuecke: des Glueckswechsels, [Greek: peripeteias]; der Erkennung, [Greek: anagnorismou]; und des Leidens, [Greek: pathous]. Was er unter den beiden erstern versteht, zeigen die Worte genugsam; unter dem dritten aber fasst er alles zusammen, was den handelnden Personen Verderbliches und Schmerzliches widerfahren kann; Tod, Wunden, Martern und dergleichen. Jene, der Glueckswechsel und die Erkennung, sind das, wodurch sich die verwickelte Fabel, [Greek: mythos peplegmenos], von der einfachen, [Greek: aplo], unterscheidet; sie sind also keine wesentliche Stuecke der Fabel; sie machen die Handlung nur mannigfaltiger, und dadurch schoener und interessanter; aber eine Handlung kann auch ohne sie ihre voellige Einheit und Rundung und Groesse haben. Ohne das dritte hingegen laesst sich gar keine tragische Handlung denken; Arten des Leidens, [Greek: pathos], muss jedes Trauerspiel haben, die Fabel desselben mag einfach oder verwickelt sein; denn sie gehen geradezu auf die Absicht des Trauerspiels, auf die Erregung des Schreckens und Mitleids; dahingegen nicht jeder Glueckswechsel, nicht jede Erkennung, sondern nur gewisse Arten derselben diese Absicht erreichen, sie in einem hoehern Grade erreichen helfen, andere aber ihr mehr nachteilig als vorteilhaft sind. Indem nun Aristoteles, aus diesem Gesichtspunkte, die verschiednen unter drei Hauptstuecke gebrachten Teile der tragischen Handlung, jeden insbesondere betrachtet, und untersuchet, welches der beste Glueckswechsel, welches die beste Erkennung, welches die beste Behandlung des Leidens sei: so findet sich in Ansehung des erstern, dass derjenige Glueckswechsel der beste, das ist der faehigste, Schrecken und Mitleid zu erwecken und zu befoerdern, sei, welcher aus dem Bessern in das Schlimmere geschieht; und in Ansehung der letztern, dass diejenige Behandlung des Leidens die beste in dem naemlichen Verstande sei, wenn die Personen, unter welchen das Leiden bevorstehet, einander nicht kennen, aber in eben dem Augenblicke, da dieses Leiden zur Wirklichkeit gelangen soll, einander kennen lernen, so dass es dadurch unterbleibt.

Und dieses soll sich widersprechen? Ich verstehe nicht, wo man die Gedanken haben muss, wenn man hier den geringsten Widerspruch findet. Der Philosoph redet von verschiedenen Teilen: warum soll denn das, was er von diesem Teile behauptet, auch von jenem gelten muessen? Ist denn die moeglichste Vollkommenheit des einen notwendig auch die Vollkommenheit des andern? Oder ist die Vollkommenheit eines Teils auch die Vollkommenheit des Ganzen? Wenn der Glueckswechsel und das, was Aristoteles unter dem Worte Leiden begreift, zwei verschiedene Dinge sind, wie sie es sind, warum soll sich nicht ganz etwas Verschiedenes von ihnen sagen lassen? Oder ist es unmoeglich, dass ein Ganzes Teile von entgegengesetzten Eigenschaften haben kann? Wo sagt Aristoteles, dass die beste Tragoedie nichts als die Vorstellung einer Veraenderung des Glueckes in Unglueck sei? Oder, wo sagt er, dass die beste Tragoedie auf nichts, als auf die Erkennung dessen hinauslaufen muesse, an dem eine grausam widernatuerliche Tat veruebet werden sollen? Er sagt weder das eine noch das andere von der Tragoedie ueberhaupt, sondern jedes von einem besondern Teile derselben, welcher dem Ende mehr oder weniger nahe liegen, welcher auf den andern mehr oder weniger Einfluss, und auch wohl gar keinen, haben kann. Der Glueckswechsel kann sich mitten in dem Stuecke ereignen, und wenn er schon bis an das Ende fortdauert, so macht er doch nicht selbst das Ende: so ist z.E. der Glueckswechsel im "Oedip", der sich bereits zum Schlusse des vierten Akts aeussert, zu dem aber noch mancherlei Leiden ([Greek: pathos]) hinzukommen, mit welchen sich eigentlich das Stueck schliesset. Gleichfalls kann das Leiden mitten in dem Stuecke zur Vollziehung gelangen sollen, und in dem naemlichen Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben werden, so dass durch diese Erkennung das Stueck nichts weniger als geendet ist; wie in der zweiten "Iphigenia" des Euripides, wo Orestes, auch schon in dem vierten Akte, von seiner Schwester, die ihn aufzuopfern im Begriffe ist, erkannt wird. Und wie vollkommen wohl jener tragischste Glueckswechsel mit der tragischsten Behandlung des Leidens sich in einer und eben derselben Fabel verbinden lasse, kann man an der "Merope" selbst zeigen. Sie hat die letztere; aber was hindert es, dass sie nicht auch den ersteren haben koennte, wenn naemlich Merope, nachdem sie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu schuetzen, entweder ihr eigenes oder dieses geliebten Sohnes Verderben befoerderte? Warum koennte sich dieses Stueck nicht ebensowohl mit dem Untergange der Mutter, als des Tyrannen schliessen? Warum sollte es einem Dichter nicht freistellen koennen, um unser Mitleiden gegen eine so zaertliche Mutter auf das hoechste zu treiben, sie durch ihre Zaertlichkeit selbst ungluecklich werden zu lassen? Oder warum sollte es ihm nicht erlaubt sein, den Sohn, den er der frommen Rache seiner Mutter entrissen, gleichwohl den Nachstellungen des Tyrannen unterliegen zu lassen? Wuerde eine solche Merope, in beiden Faellen, nicht wirklich die beiden Eigenschaften des besten Trauerspiels verbinden, die man bei dem Kunstrichter so widersprechend findet?

Ich merke wohl, was das Missverstaendnis veranlasset haben kann. Man hat sich einen Glueckswechsel aus dem Bessern in das Schlimmere nicht ohne Leiden, und das durch die Erkennung verhinderte Leiden nicht ohne Glueckswechsel denken koennen. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das andere sein; nicht zu erwaehnen, dass auch nicht beides eben die naemliche Person treffen muss, und wenn es die naemliche Person trifft, dass eben nicht beides sich zu der naemlichen Zeit ereignen darf, sondern eines auf das andere folgen, eines durch das andere verursachet werden kann. Ohne dieses zu ueberlegen, hat man nur an solche Faelle und Fabeln gedacht, in welchen beide Teile entweder zusammenfliessen, oder der eine den andern notwendig ausschliesst. Dass es dergleichen gibt, ist unstreitig. Aber ist der Kunstrichter deswegen zu tadeln, der seine Regeln in der moeglichsten Allgemeinheit abfasst, ohne sich um die Faelle zu bekuemmern, in welchen seine allgemeinen Regeln in Kollision kommen und eine Vollkommenheit der andern aufgeopfert werden muss? Setzet ihn eine solche Kollision mit sich selbst in Widerspruch? Er sagt: dieser Teil der Fabel, wenn er seine Vollkommenheit haben soll, muss von dieser Beschaffenheit sein; jener von einer andern, und ein dritter wiederum von einer andern. Aber wo hat er gesagt, dass jede Fabel diese Teile alle notwendig haben muesse? Genug fuer ihn, dass es Fabeln gibt, die sie alle haben koennen. Wenn eure Fabel aus der Zahl dieser gluecklichen nicht ist; wenn sie euch nur den besten Glueckswechsel, oder nur die beste Behandlung des Leidens erlaubt: so untersuchet, bei welchem von beiden ihr am besten ueberhaupt fahren wuerdet, und waehlet. Das ist es alles!

——Fussnote

[1] Herrn Curtius, S. 214.

——Fussnote

Neununddreissigstes Stueck
Den 11. September 1767

Am Ende zwar mag sich Aristoteles widersprochen oder nicht widersprochen haben; Tournemine mag ihn recht verstanden oder nicht recht verstanden haben: die Fabel der "Merope" ist weder in dem einen, noch in dem andern Falle so schlechterdings fuer eine vollkommene tragische Fabel zu erkennen. Denn hat sich Aristoteles widersprochen, so behauptet er ebensowohl gerade das Gegenteil von ihr, und es muss erst untersucht werden, wo er das groessere Recht hat, ob dort oder hier. Hat er sich aber, nach meiner Erklaerung, nicht widersprochen, so gilt das Gute, was er davon sagt, nicht von der ganzen Fabel, sondern nur von einem einzeln Teile derselben. Vielleicht war der Missbrauch seines Ansehens bei dem Pater Tournemine auch nur ein blosser Jesuiterkniff, um uns mit guter Art zu verstehen zu geben, dass eine so vollkommene Fabel, von einem so grossen Dichter, als Voltaire, bearbeitet, notwendig ein Meisterstueck werden muessen.

Doch Tournemine und Tournemine—Ich fuerchte, meine Leser werden fragen: "Wer ist denn dieser Tournemine? Wir kennen keinen Tournemine." Denn viele duerften ihn wirklich nicht kennen; und manche duerften so fragen, weil sie ihn gar zu gut kennen; wie Montesquieu[1].

Sie belieben also, anstatt des Pater Tournemine, den Herrn von Voltaire selbst zu substituieren. Denn auch er sucht uns von dem verlornen Stuecke des Euripides die naemlichen irrigen Begriffe zu machen. Auch er sagt, dass Aristoteles in seiner unsterblichen Dichtkunst nicht anstehe, zu behaupten, dass die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Buehne sei. Auch er sagt, dass Aristoteles diesem coup de theatre den Vorzug vor allen andern erteile. Und vom Plutarch versichert er uns gar, dass er dieses Stueck des Euripides fuer das ruehrendste von allen Stuecken desselben gehalten habe.[2] Dieses letztere ist nun gaenzlich aus der Luft gegriffen. Denn Plutarch macht von dem Stuecke, aus welchem er die Situation der Merope anfuehrt, nicht einmal den Titel namhaft; er sagt weder, wie es heisst, noch wer der Verfasser desselben sei; geschweige, dass er es fuer das ruehrendste von allen Stuecken des Euripides erklaere.

Aristoteles soll nicht anstehen, zu behaupten, dass die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Buehne sei! Welche Ausdruecke: nicht anstehen, zu behaupten! Welche Hyperbel: der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Buehne! Sollte man hieraus nicht schliessen: Aristoteles gehe mit Fleiss alle interessante Augenblicke, welche ein Trauerspiel haben koenne, durch, vergleiche einen mit dem andern, wiege die verschiedenen Beispiele, die er von jedem insbesondere bei allen, oder wenigstens den vornehmsten Dichtern gefunden, untereinander ab und tue endlich so dreist als sicher den Ausspruch fuer diesen Augenblick bei dem Euripides. Gleichwohl ist es nur eine einzelne Art von interessanten Augenblicken, wovon er ihn zum Beispiele anfuehret; gleichwohl ist er nicht einmal das einzige Beispiel von dieser Art. Denn Aristoteles fand aehnliche Beispiele in der "Iphigenia", wo die Schwester den Bruder, und in der "Helle", wo der Sohn die Mutter erkennet, eben da die erstern im Begriffe sind, sich gegen die andern zu vergehen.

Das zweite Beispiel von der Iphigenia ist wirklich aus dem Euripides; und wenn, wie Dacier vermutet, auch die "Helle" ein Werk dieses Dichters gewesen: so waere es doch sonderbar, dass Aristoteles alle drei Beispiele von einer solchen gluecklichen Erkennung gerade bei demjenigen Dichter gefunden haette, der sich der ungluecklichen Peripetie am meisten bediente. Warum zwar sonderbar? Wir haben ja gesehen, dass die eine die andere nicht ausschliesst; und obschon in der "Iphigenia" die glueckliche Erkennung auf die unglueckliche Peripetie folgt, und das Stueck ueberhaupt also gluecklich sich endet: wer weiss, ob nicht in den beiden andern eine unglueckliche Peripetie auf die glueckliche Erkennung folgte, und sie also voellig in der Manier schlossen, durch die sich Euripides den Charakter des tragischsten von allen tragischen Dichtern verdiente?

Mit der Merope, wie ich gezeigt, war es auf eine doppelte Art moeglich; ob es aber wirklich geschehen, oder nicht geschehen, laesst sich aus den wenigen Fragmenten, die uns von dem "Kresphontes" uebrig sind, nicht schliessen. Sie enthalten nichts als Sittensprueche und moralische Gesinnungen, von spaetern Schriftstellern gelegentlich angezogen, und werfen nicht das geringste Licht auf die Oekonomie des Stueckes.[3] Aus dem einzigen, bei dem Polybius, welches eine Anrufung an die Goettin des Friedens ist, scheinet zu erhellen, dass zu der Zeit, in welche die Handlung gefallen, die Ruhe in dem messenischen Staate noch nicht wieder hergestellet gewesen; und aus ein paar andern sollte man fast schliessen, dass die Ermordung des Kresphontes und seiner zwei aeltern Soehne entweder einen Teil der Handlung selbst ausgemacht habe oder doch nur kurz vorhergegangen sei; welches beides sich mit der Erkennung des juengern Sohnes, der erst verschiedene Jahre nachher seinen Vater und seine Brueder zu raechen kam, nicht wohl zusammenreimet. Die groesste Schwierigkeit aber macht mir der Titel selbst. Wenn diese Erkennung, wenn diese Rache des juengern Sohnes der vornehmste Inhalt gewesen. Wie konnte das Stueck "Kresphontes" heissen? Kresphontes war der Name des Vaters; der Sohn aber hiess nach einigen Aepytus und nach andern Telephontes; vielleicht, dass jenes der rechte und dieses der angenommene Name war, den er in der Fremde fuehrte, um unerkannt und vor den Nachstellungen des Polyphonts sicher zu bleiben. Der Vater muss laengst tot sein, wenn sich der Sohn des vaeterlichen Reiches wieder bemaechtiget. Hat man jemals gehoert, dass ein Trauerspiel nach einer Person benennet worden, die gar nicht darin vorkommt? Corneille und Dacier haben sich geschwind ueber diese Schwierigkeit hinwegzusetzen gewusst, indem sie angenommen, dass der Sohn gleichfalls Kresphont geheissen;[4] aber mit welcher Wahrscheinlichkeit? aus welchem Grunde?

Wenn es indes mit einer Entdeckung seine Richtigkeit hat, mit der sich Maffei schmeichelte: so koennen wir den Plan des Kresphontes ziemlich genau wissen. Er glaubte ihn naemlich bei dem Hyginus, in der hundertundvierundachtzigsten Fabel, gefunden zu haben.[5] Denn er haelt die Fabeln des Hyginus ueberhaupt groesstenteils fuer nichts, als fuer die Argumente alter Tragoedien, welcher Meinung auch schon vor ihm Reinesius gewesen war, und empfiehlt daher den neuern Dichtern, lieber in diesem verfallenen Schachte nach alten tragischen Fabeln zu suchen, als sich neue zu erdichten. Der Rat ist nicht uebel und zu befolgen. Auch hat ihn mancher befolgt, ehe ihn Maffei noch gegeben, oder ohne zu wissen, dass er ihn gegeben. Herr Weisse hat den Stoff zu seinem "Thyest" aus dieser Grube geholt; und es wartet da noch mancher auf ein verstaendiges Auge. Nur moechte es nicht der groesste, sondern vielleicht gerade der allerkleinste Teil sein, der in dieser Absicht von dem Werke des Hyginus zu nutzen. Es braucht auch darum gar nicht aus den Argumenten der alten Tragoedien zusammengesetzt zu sein; es kann aus eben den Quellen, mittelbar oder unmittelbar, geflossen sein, zu welchen die Tragoedienschreiber selbst ihre Zuflucht nahmen. Ja, Hyginus, oder wer sonst die Kompilation gemacht, scheinet selbst die Tragoedien als abgeleitete verdorbene Baeche betrachtet zu haben; indem er an verschiedenen Stellen das, was weiter nichts als die Glaubwuerdigkeit eines tragischen Dichters vor sich hatte, ausdruecklich von der alten echtern Tradition absondert. So erzaehlt er z.E. die Fabel von der Ino und die Fabel von der Antiopa, zuerst nach dieser und darauf in einem besondern Abschnitte nach der Behandlung des Euripides.

——Fussnote

[1] "Lettres familieres".

[2] Aristote, dans sa Poetique immortelle, ne balance pas a dire que la reconnaissance de Merope et de son fils etait le moment le plus interessant de toute la scene Grecque. Il donnait a ce coup de Theatre la preference sur tous les autres. Plutarque dit que les Grecs, ce peuple si sensible, fremissaient de crainte que le vieillard, qui devait arreter le bras de Merope, n'arrivat pas asseztot. Cette piece, qu'on jouait de son temps, et dont il nous reste tres peu de fragments, lui paraissait la plus touchante de toutes les tragedies d'Euripide etc. Lettre a Mr. Maffei.

[3] Dasjenige, welches Dacier anfuehret ("Poetique d'Aristote", Chap. XV. Rem. 23.), ohne sich zu erinnern, wo er es gelesen, stehet bei dem Plutarch in der Abhandlung: "Wie man seine Feinde nuetzen solle".

[4] Remarque 22. sur le Chapitre XV. de la Poet. d'Arist. Une Mere, qui va tuer son fils, comme Merope va tuer Cresphonte etc.

[5] Questa scoperta penso io d'aver fatta, nel leggere la Favola 184 d'Igino, la quale a mio credere altro non e, che l'Argomento di quella Tragedia, in cui si rappresenta interamente la condotta di essa. Sovvienmi, che al primo gettar gli occhi, ch'io feci gia in quell' Autore, mi apparve subito nella mente, altro non essere le piu di quelle Favole, che gli Argomenti delle Tragedie antiche: mi accertai di cio col confrontarne alcune poche con le Tragedie, che ancora abbiamo; e appunto in questi giorni, venuta a mano l'ultima edizione d'Igino, mi e stato caro di vedere in un passo addotto, come fu anche il Reinesio di tal sentimento. Una miniera e pero questa di Tragici Argomenti, che se fosse stata nota a' Poeti, non avrebbero penato tanto in rinvenir soggetti a lor fantasia: io la scopriro loro di buona voglia, perche rendano col loro ingegno alla nostra eta cio, che dal tempo invidioso le fu rapito. Merita dunque, almeno per questo capo, alquanto piu di considerazione quell' Operetta, anche tal qual l'abbiamo, che da gli Eruditi non e stato creduto: e quanto al discordar tal volta dagli altri Scrittori delle favolose Storie, questa avertenza ce ne addita la ragione, non avendole costui narrate, secondo la tradizione, ma conforme i Poeti in proprio uso convertendole, le avean ridotte.

——Fussnote

Vierzigstes Stueck
Den 15. September 1767

Damit will ich jedoch nicht sagen, dass, weil ueber derhundertundvierund-
Achtzigsten Fabel Der Name Des Euripides Nicht Stehe, Sie Auch Nicht Aus
Dem "Kresphont" Desselben Koenne Gezogen Sein. Vielmehr Bekenne Ich, Dass
Sie Wirklich Den Gang Und Die Verwickelung Eines Trauerspieles Hat; So
Dass, Wenn Sie Keines Gewesen Ist, Sie Doch Leicht Eines Werden Koennte,
Und Zwar Eines, Dessen Plan Der Alten Simplizitaet Weit Naeher Kaeme, Als
Alle Neuere Meropen. Man Urteile Selbst: Die Erzaehlung Des Hyginus, Die
Ich Oben Nur Verkuerzt Angefuehrt, Ist Nach Allen Ihren Umstaenden Folgende.

Kresphontes war Koenig von Messenien und hatte mit seiner Gemahlin Merope drei Soehne, als Polyphontes einen Aufstand gegen ihn erregte, in welchem er, nebst seinen beiden aeltesten Soehnen, das Leben verlor. Polyphontes bemaechtigte sich hierauf des Reichs und der Hand der Merope, welche waehrend dem Aufruhre Gelegenheit gefunden hatte, ihren dritten Sohn, namens Telephontes, zu einem Gastfreunde in Aetolien in Sicherheit bringen zu lassen. Je mehr Telephontes heranwuchs, desto unruhiger ward Polyphontes. Er konnte sich nichts Gutes von ihm gewaertigen und versprach also demjenigen eine grosse Belohnung, der ihn aus dem Wege raeumen wuerde. Dieses erfuhr Telephontes; und da er sich nunmehr faehig fuehlte, seine Rache zu unternehmen, so machte er sich heimlich aus Aetolien weg, ging nach Messenien, kam zu dem Tyrannen, sagte, dass er den Telephontes umgebracht habe, und verlangte die von ihm dafuer ausgesetzte Belohnung. Polyphontes nahm ihn auf und befahl, ihn so lange in seinem Palaste zu bewirten, bis er ihn weiter ausfragen koenne. Telephontes ward also in das Gastzimmer gebracht, wo er vor Muedigkeit einschlief. Indes kam der alte Diener, welchen bisher Mutter und Sohn zu ihren wechselseitigen Botschaften gebraucht, weinend zu Meropen und meldete ihr, dass Telephontes aus Aetolien weg sei, ohne dass man wisse, wo er hingekommen. Sogleich eilet Merope, der es nicht unbekannt geblieben, wessen sich der angekommene Fremde ruehme, mit einer Axt nach dem Gastzimmer und haette ihn im Schlafe unfehlbar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr dahin nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten Zeit erkannt und die Mutter an der Freveltat verhindert haette. Nunmehr machten beide gemeinschaftliche Sache, und Merope stellte sich gegen ihren Gemahl ruhig und versoehnt. Polyphontes duenkte sich aller seiner Wuensche gewaehret und wollte den Goettern durch ein feierliches Opfer seinen Dank bezeigen. Als sie aber alle um den Altar versammelt waren, fuehrte Telephontes den Streich, mit dem er das Opfertier faellen zu wollen sich stellte, auf den Koenig; der Tyrann fiel, und Telephontes gelangte zu dem Besitze seines vaeterlichen Reiches.[1]

Auch hatten, schon in dem sechzehnten Jahrhunderte, zwei italienische Dichter, Joh. Bapt. Liviera und Pomponio Torelli, den Stoff zu ihren Trauerspielen, "Kresphont" und "Merope", aus dieser Fabel des Hyginus genommen und waren sonach, wie Maffei meinet, in die Fusstapfen des Euripides getreten, ohne es zu wissen. Doch dieser Ueberzeugung ohngeachtet wollte Maffei selbst sein Werk so wenig zu einer blossen

Divination ueber den Euripides machen und den verlornen "Kresphont" in seiner "Merope" wieder aufleben lassen, dass er vielmehr mit Fleiss von verschiednen Hauptzuegen dieses vermeintlichen Euripidischen Planes abging und nur die einzige Situation, die ihn vornehmlich darin geruehrt hatte, in aller ihrer Ausdehnung zu nutzen suchte.

Die Mutter naemlich, die ihren Sohn so feurig liebte, dass sie sich an dem Moerder desselben mit eigner Hand raechen wollte, brachte ihn auf den Gedanken, die muetterliche Zaertlichkeit ueberhaupt zu schildern und mit Ausschliessung aller andern Liebe, durch diese einzige reine und tugendhafte Leidenschaft sein ganzes Stueck zu beleben. Was dieser Absicht also nicht vollkommen zusprach, ward veraendert; welches besonders die Umstaende von Meropens zweiter Verheiratung und von des Sohnes auswaertiger Erziehung treffen musste. Merope musste nicht die Gemahlin des Polyphonts sein; denn es schien dem Dichter mit der Gewissenhaftigkeit einer so frommen Mutter zu streiten, sich den Umarmungen eines zweiten Mannes ueberlassen zu haben, in dem sie den Moerder ihres ersten kannte, und dessen eigene Erhaltung es erforderte, sich durchaus von allen, welche naehere Ansprueche auf den Thron haben koennten, zu befreien. Der Sohn musste nicht bei einem vornehmen Gastfreunde seines vaeterlichen Hauses, in aller Sicherheit und Gemaechlichkeit, in der voelligen Kenntnis seines Standes und seiner Bestimmung, erzogen sein: denn die muetterliche Liebe erkaltet natuerlicherweise, wenn sie nicht durch die bestaendigen Vorstellungen des Ungemachs, der immer neuen Gefahren, in welche ihr abwesender Gegenstand geraten kann, gereizet und angestrenget wird. Er musste nicht in der ausdruecklichen Absicht kommen, sich an dem Tyrannen zu raechen; er muss nicht von Meropen fuer den Moerder ihres Sohnes gehalten werden, weil er sich selbst dafuer ausgibt, sondern weil eine gewisse Verbindung von Zufaellen diesen Verdacht auf ihn ziehet: denn kennt er seine Mutter, so ist ihre Verlegenheit bei der ersten muendlichen Erklaerung aus, und ihr ruehrender Kummer, ihre zaertliche Verzweiflung hat nicht freies Spiel genug.

Und diesen Veraenderungen zufolge kann man sich den Maffeischen Plan ungefaehr vorstellen. Polyphontes regieret bereits fuenfzehn Jahre, und doch fuehlet er sich auf dem Throne noch nicht befestiget genug. Denn das Volk ist noch immer dem Hause seines vorigen Koeniges zugetan und rechnet auf den letzten geretteten Zweig desselben. Die Missvergnuegten zu beruhigen, faellt ihm ein, sich mit Meropen zu verbinden. Er traegt ihr seine Hand an, unter dem Vorwande einer wirklichen Liebe. Doch Merope weiset ihn mit diesem Vorwande zu empfindlich ab; und nun sucht er durch Drohungen und Gewalt zu erlangen, wozu ihn seine Verstellung nicht verhelfen koennen. Eben dringt er am schaerfsten in sie, als ein Juengling vor ihn gebracht wird, den man auf der Landstrasse ueber einem Morde ergriffen hat. Aegisth, so nannte sich der Juengling, hatte nichts getan, als sein eignes Leben gegen einen Raeuber verteidiget; sein Ansehen verraet so viel Adel und Unschuld, seine Rede so viel Wahrheit, dass Merope, die noch ausserdem eine gewisse Falte seines Mundes bemerkt, die ihr Gemahl mit ihm gemein hatte, bewogen wird, den Koenig fuer ihn zu bitten; und der Koenig begnadiget ihn. Doch gleich darauf vermisst Merope ihren juengsten Sohn, den sie einem alten Diener, namens Polydor, gleich nach dem Tode ihres Gemahls anvertrauet hatte, mit dem Befehle, ihn als sein eigenes Kind zu erziehen. Er hat den Alten, den er fuer seinen Vater haelt, heimlich verlassen, um die Welt zu sehen; aber er ist nirgends wieder aufzufinden. Dem Herze einer Mutter ahnet immer das Schlimmste; auf der Landstrasse ist jemand ermordet worden; wie, wenn es ihr Sohn gewesen waere? So denkt sie und wird in ihrer bangen Vermutung durch verschiedene Umstaende, durch die Bereitwilligkeit des Koenigs, den Moerder zu begnadigen, vornehmlich aber durch einen Ring bestaerket, den man bei dem Aegisth gefunden, und von dem ihr gesagt wird, dass ihn Aegisth dem Erschlagenen abgenommen habe. Es ist dieses der Siegelring ihres Gemahls, den sie dem Polydor mitgegeben hatte, um ihn ihrem Sohne einzuhaendigen, wenn er erwachsen, und es Zeit sein wuerde, ihm seinen Stand zu entdecken. Sogleich laesst sie den Juengling, fuer den sie vorher selbst gebeten, an eine Saeule binden und will ihm das Herz mit eigner Hand durchstossen. Der Juengling erinnert sich in diesem Augenblicke seiner Eltern; ihm entfaehrt der Name Messene; er gedenkt des Verbots seines Vaters, diesen Ort sorgfaeltig zu vermeiden; Merope verlangt hierueber Erklaerung: indem koemmt der Koenig dazu, und der Juengling wird befreiet. So nahe Merope der Erkennung ihres Irrtums war, so tief verfaellt sie wiederum darein zurueck, als sie siehet, wie hoehnisch der Koenig ueber ihre Verzweiflung triumphiert. Nun ist Aegisth unfehlbar der Moerder ihres Sohnes, und nichts soll ihn vor ihrer Rache schuetzen. Sie erfaehrt mit einbrechender Nacht, dass er in dem Vorsaale sei, wo er eingeschlafen, und koemmt mit einer Axt, ihm den Kopf zu spalten; und schon hat sie die Axt zu dem Streiche erhoben, als ihr Polydor, der sich kurz zuvor in eben den Vorsaal eingeschlichen und den schlafenden Aegisth erkannt hatte, in die Arme faellt. Aegisth erwacht und fliehet, und Polydor entdeckt Meropen ihren eigenen Sohn in dem vermeinten Moerder ihres Sohnes. Sie will ihm nach und wuerde ihn leicht durch ihre stuermische Zaertlichkeit dem Tyrannen entdeckt haben, wenn sie der Alte nicht auch hiervon zurueckgehalten haette. Mit fruehem Morgen soll ihre Vermaehlung mit dem Koenige vollzogen werden; sie muss zu dem Altare, aber sie will eher sterben, als ihre Einwilligung erteilen. Indes hat Polydor auch den Aegisth sich kennen gelehrt; Aegisth eilet in den Tempel, draenget sich durch das Volk, und—das uebrige wie bei dem Hyginus.

——Fussnote

[1] In der 184. Fabel des Hyginus, aus welcher obige Erzaehlung genommen, sind offenbar Begebenheiten ineinander geflossen, die nicht die geringste Verbindung unter sich haben. Sie faengt an mit dem Schicksale des Pentheus und der Agave und endet sich mit der Geschichte der Merope. Ich kann gar nicht begreifen, wie die Herausgeber diese Verwirrung unangemerkt lassen koennen; es waere denn, dass sie sich bloss in derjenigen Ausgabe, welche ich vor mir habe (Johannis Schefferi, Hamburgi 1674), befaende. Diese Untersuchung ueberlasse ich dem, der die Mittel dazu bei der Hand hat. Genug, dass hier, bei mir, die 184. Fabel mit den Worten: quam Licoterses excepit, aus sein muss. Das uebrige macht entweder eine besondere Fabel, von der die Anfangsworte verloren gegangen, oder gehoeret, welches mir das Wahrscheinlichste ist, zu der 137., so dass, beides miteinander verbunden, ich die ganze Fabel von der Merope, man mag sie nun zu der 137. oder zu der 184. machen wollen, folgendermassen zusammenlegen wurde. Es versteht sich, dass in der letztern die Worte: cum qua Polyphontes, occiso Cresphonte, regnum occupavit, als eine unnoetige Wiederholung, mitsamt dem darauffolgenden ejus, welches auch so schon ueberfluessig ist, wegfallen muesste. Merope.

[2] Polyphontes, Messeniae rex, Cresphontem Aristomachi filium cum interfecisset, ejus imperium et Meropem uxorem possedit. Filium autem infantem Merope mater, quem ex Cresphonte habebat, absconse ad hospitem in Aetoliam mandavit. Hunc Polyphontes maxima cum industria quaerebat, aurumque pollicebatur, si quis eum necasset. Qui postquam ad puberem aetatem venit, capit consilium, ut exequatur patris et fratrum mortem. Itaque venit ad regem Polyphontem, aurum petitum, dicens se Cresphontis interfecisse filium et Meropis, Telephontem. Interim rex eum jussit in hospitio manere, ut amplius de eo perquireret. Qui cum per lassitudinem obdormisset, senex qui inter matrem et filium internuncius erat, flens ad Meropem venit, negans eum apud hospitem esse, nec comparere. Merope credens eum esse filii sui interfectorem, qui dormiebat, in Chalcidicum cum securi venit, inscia ut filium suum interficeret, quem senex cognovit, et matrem a scelere retraxit. Merope postquam invenit, occasionem sibi datam esse, ab inimico se ulciscendi, redit cum Polyphonte in gratiam. Rex laetus cum rem divinam faceret, hospes falso simulavit se hostiam percussisse, eumque interfecit, patriumque regnum adeptus est.

——Fussnote

Einundvierzigstes Stueck
Den 18. September 1767

Je schlechter es zu Anfange dieses Jahrhunderts mit dem italienischen
Theater ueberhaupt aussahe, desto groesser war der Beifall und das
Zujauchzen, womit die "Merope" des Maffei aufgenommen wurde.

    Cedite Romani scriptores, cedite Graii,
    Nescio quid majus nascitur Oedipode:

schrie Leonardo Adami, der nur noch die ersten zwei Akte in Rom davon gesehen hatte. In Venedig ward 1714, das ganze Karneval hindurch, fast kein anderes Stueck gespielt als "Merope"; die ganze Welt wollte die neue Tragoedie sehen und wieder sehen; und selbst die Opernbuehnen fanden sich darueber verlassen. Sie ward in einem Jahre viermal gedruckt; und in sechzehn Jahren (von 1714-1730) sind mehr als dreissig Ausgaben, in und ausser Italien, zu Wien, zu Paris, zu London davon gemacht worden. Sie ward ins Franzoesische, ins Englische, ins Deutsche uebersetzt; und man hatte vor, sie mit allen diesen Uebersetzungen zugleich drucken zu lassen. Ins Franzoesische war sie bereits zweimal uebersetzt, als der Herr von Voltaire sich nochmals daruebermachen wollte, um sie auch wirklich auf die franzoesische Buehne zu bringen. Doch er fand bald, dass dieses durch eine eigentliche Uebersetzung nicht geschehen koennte, wovon er die Ursachen in dem Schreiben an den Marquis, welches er nachher seiner eignen "Merope" vorsetzte, umstaendlich angibt.

Der Ton, sagt er, sei in der italienischen "Merope" viel zu naiv und buergerlich, und der Geschmack des franzoesischen Parterrs viel zu fein, viel zu verzaertelt, als dass ihm die blosse simple Natur gefallen koenne. Es wolle die Natur nicht anders als unter gewissen Zuegen der Kunst sehen; und diese Zuege muessten zu Paris weit anders als zu Verona sein. Das ganze Schreiben ist mit der aeussersten Politesse abgefasst; Maffei hat nirgends gefehlt; alle seine Nachlaessigkeiten und Maengel werden auf die Rechnung seines Nationalgeschmacks geschrieben; es sind wohl noch gar Schoenheiten, aber leider nur Schoenheiten fuer Italien. Gewiss, man kann nicht hoeflicher kritisieren! Aber die verzweifelte Hoeflichkeit! Auch einem Franzosen wird sie gar bald zu Last, wenn seine Eitelkeit im geringsten dabei leidet. Die Hoeflichkeit macht, dass wir liebenswuerdig scheinen, aber nicht gross; und der Franzose will ebenso gross, als liebenswuerdig scheinen.

Was folgt also auf die galante Zueignungsschrift des Hrn. von Voltaire? Ein Schreiben eines gewissen de la Lindelle, welcher dem guten Maffei ebensoviel Grobheiten sagt, als ihm Voltaire Verbindliches gesagt hatte. Der Stil dieses de la Lindelle ist ziemlich der Voltairische Stil; es ist schade, dass eine so gute Feder nicht mehr geschrieben hat und uebrigens so unbekannt geblieben ist. Doch Lindelle sei Voltaire, oder sei wirklich Lindelle: wer einen franzoesischen Januskopf sehen will, der vorne auf die einschmeichelndste Weise laechelt und hinten die haemischsten Grimassen schneidet, der lese beide Briefe in einem Zuge. Ich moechte keinen geschrieben haben; am wenigsten aber beide. Aus Hoeflichkeit bleibet Voltaire diesseits der Wahrheit stehen, und aus Verkleinerungssucht schweifet Lindelle bis jenseit derselben. Jener haette freimuetiger, und dieser gerechter sein muessen, wenn man nicht auf den Verdacht geraten sollte, dass der naemliche Schriftsteller sich hier unter einem fremden Namen wieder einbringen wollen, was er sich dort unter seinem eigenen vergeben habe.

Voltaire rechne es dem Marquis immer so hoch an, als er will, dass er einer der erstern unter den Italienern sei, welcher Mut und Kraft genug gehabt, eine Tragoedie ohne Galanterie zu schreiben, in welcher die ganze Intrige auf der Liebe einer Mutter beruhe und das zaertlichste Interesse aus der reinsten Tugend entspringe. Er beklage es, so sehr als ihm beliebt, dass die falsche Delikatesse seiner Nation ihm nicht erlauben wollen, von den leichtesten natuerlichsten Mitteln, welche die Umstaende zur Verwicklung darbieten, von den unstudierten wahren Reden, welche die Sache selbst in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Das Pariser Parterr hat unstreitig sehr unrecht, wenn es seit dem koeniglichen Ringe, ueber den Boileau in seinen Satiren spottet, durchaus von keinem Ringe auf dem Theater mehr hoeren will;[1] wenn es seine Dichter daher zwingt, lieber zu jedem andern, auch dem allerunschicklichsten Mittel der Erkennung seine Zuflucht zu nehmen, als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Versicherung der Person, verbunden hat. Es hat sehr unrecht, wenn es nicht will, dass ein junger Mensch, der sich fuer den Sohn gemeiner Eltern haelt und in dem Lande auf Abenteuer ganz allein herumschweift, nachdem er einen Mord veruebt, demohngeachtet nicht soll fuer einen Raeuber gehalten werden duerfen, weil es voraussieht, dass er der Held des Stueckes werden muesse, [2] wenn es beleidiget wird, dass man einem solchen Menschen keinen kostbaren Ring zutrauen will, da doch kein Faehndrich in des Koenigs Armee sei, der nicht de belles nippes besitze. Das Pariser Parterr, sage ich, hat in diesen und aehnlichen Faellen unrecht; aber warum muss Voltaire auch in andern Faellen, wo es gewiss nicht unrecht hat, dennoch lieber ihm als dem Maffei unrecht zu geben scheinen wollen? Wenn die franzoesische Hoeflichkeit gegen Auslaender darin besteht, dass man ihnen auch in solchen Stuecken recht gibt, wo sie sich schaemen muessten, recht zu haben, so weiss ich nicht, was beleidigender und einem freien Menschen unanstaendiger sein kann, als diese franzoesische Hoeflichkeit. Das Geschwaetz, welches Maffei seinem alten Polydor von lustigen Hochzeiten, von praechtigen Kroenungen, denen er vor diesen beigewohnt, in den Mund legt, und zu einer Zeit in den Mund legt, wenn das Interesse aufs hoechste gestiegen und die Einbildungskraft der Zuschauer mit ganz andern Dingen beschaeftiget ist: dieses nestorische, aber am unrechten Orte nestorische Geschwaetz kann durch keine Verschiedenheit des Geschmacks unter verschiedenen kultivierten Voelkern entschuldiget werden; hier muss der Geschmack ueberall der naemliche sein, und der Italiener hat nicht seinen eigenen, sondern hat gar keinen Geschmack, wenn er nicht ebensowohl dabei gaehnet und darueber unwillig wird, als der Franzose. "Sie haben", sagt Voltaire zu dem Marquis, "in Ihrer Tragoedie jene schoene und ruehrende Vergleichung des Virgils:

    Qualis populea moerens Philomela sub umbra
    Amissos queritur foetus—

uebersetzen und anbringen duerfen. Wenn ich mir so eine Freiheit nehmen wollte, so wuerde man mich damit in die Epopee verweisen. Denn Sie glauben nicht, wie streng der Herr ist, dem wir zu gefallen suchen muessen; ich meine unser Publikum. Dieses verlangt, dass in der Tragoedie ueberall der Held und nirgends der Dichter sprechen soll, und meinet, dass bei kritischen Vorfaellen, in Ratsversammlungen, bei einer heftigen Leidenschaft, bei einer dringenden Gefahr kein Koenig, kein Minister poetische Vergleichungen zu machen pflege." Aber verlangt denn dieses Publikum etwas Unrechtes, meinet es nicht, was die Wahrheit ist? Sollte nicht jedes Publikum ebendieses verlangen? ebendieses meinen? Ein Publikum, das anders richtet, verdient diesen Namen nicht: und muss Voltaire das ganze italienische Publikum zu so einem Publico machen wollen, weil er nicht Freimuetigkeit genug hat, dem Dichter geradeheraus zu sagen, dass er hier und an mehrern Stellen luxuriere und seinen eignen Kopf durch die Tapete stecke? Auch unerwogen, dass ausfuehrliche Gleichnisse ueberhaupt schwerlich eine schickliche Stelle in dem Trauerspiele finden koennen, haette er anmerken sollen, dass jenes Virgilische von dem Maffei aeusserst gemissbrauchet worden. Bei dem Virgil vermehret es das Mitleiden, und dazu ist es eigentlich geschickt; bei dem Maffei aber ist es in dem Munde desjenigen, der ueber das Unglueck, wovon es das Bild sein soll, triumphieret, und muesste nach der Gesinnung des Polyphonts mehr Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wichtigere und auf das Ganze noch groessern Einfluss habende Fehler scheuet sich Voltaire nicht, lieber dem Geschmacke der Italiener ueberhaupt, als einem einzeln Dichter aus ihnen zur Last zu legen, und duenkt sich von der allerfeinsten Lebensart, wenn er den Maffei damit troestet, dass es seine ganze Nation nicht besser verstehe, als er; dass seine Fehler die Fehler seiner Nation waeren; dass aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Fehler waeren, weil es ja eben nicht darauf ankomme, was an und fuer sich gut oder schlecht sei, sondern was die Nation dafuer wolle gelten lassen. "Wie haette ich es wagen duerfen", faehrt er mit einem tiefen Buecklinge, aber auch zugleich mit einem Schnippchen in der Tasche, gegen den Marquis fort, "blosse Nebenpersonen so oft miteinander sprechen zu lassen, als Sie getan haben? Sie dienen bei Ihnen, die interessanten Szenen zwischen den Hauptpersonen vorzubereiten; es sind die Zugaenge zu einem schoenen Palaste; aber unser ungeduldiges Publikum will sich auf einmal in diesem Palaste befinden. Wir muessen uns also schon nach dem Geschmacke eines Volks richten, welches sich an Meisterstuecken sattgesehen hat und also aeusserst verwoehnt ist." Was heisst dieses anders, als: "Mein Herr Marquis, Ihr Stueck hat sehr, sehr viel kalte, langweilige, unnuetze Szenen. Aber es sei fern von mir, dass ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen sollte! Behuete der Himmel! ich bin ein Franzose; ich weiss zu leben; ich werde niemanden etwas Unangenehmes unter die Nase reiben. Ohne Zweifel haben Sie diese kalten, langweiligen, unnuetzen Szenen mit Vorbedacht, mit allem Fleisse gemacht; weil sie gerade so sind, wie sie Ihre Nation braucht. Ich wuenschte, dass ich auch so wohlfeil davonkommen koennte; aber leider ist meine Nation so weit, so weit, dass ich noch viel weiter sein muss, um meine Nation zu befriedigen. Ich will mir darum eben nicht viel mehr einbilden, als Sie; aber da jedoch meine Nation, die Ihre Nation so sehr uebersieht"—Weiter darf ich meine Paraphrasis wohl nicht fortsetzen; denn sonst,

Desinit in piscem mulier formosa superne:

aus der Hoeflichkeit wird Persiflage (ich brauche dieses franzoesische Wort, weil wir Deutschen von der Sache nichts wissen), und aus der Persiflage dummer Stolz.

——Fussnote

[1] Je n'ai pu me servir, comme Mr. Maffei, d'un anneau, parce que depuis l'anneau royal dont Boileau se moque dans ses satyres, cela semblerait trop petit sur notre theatre.

[2] Je n'oserais hazarder de faire prendre un heros pour un voleur, quoique la circonstance ou il se trouve autorise cette meprise.

——Fussnote

Zweiundvierzigstes Stueck
Den 22. September 1767

Es ist nicht zu leugnen, dass ein guter Teil der Fehler, welche Voltaire als Eigentuemlichkeiten des italienischen Geschmacks nur deswegen an seinem Vorgaenger zu entschuldigen scheinet, um sie der italienischen Nation ueberhaupt zur Last zu legen, dass, sage ich, diese, und noch mehrere, und noch groessere, sich in der "Merope" des Maffei befinden. Maffei hatte in seiner Jugend viel Neigung zur Poesie; er machte mit vieler Leichtigkeit Verse, in allen verschiednen Stilen der beruehmtesten Dichter seines Landes: doch diese Neigung und diese Leichtigkeit beweisen fuer das eigentliche Genie, welches zur Tragoedie erfodert wird, wenig oder nichts. Hernach legte er sich auf die Geschichte, auf Kritik und Altertuemer; und ich zweifle, ob diese Studien die rechte Nahrung fuer das tragische Genie sind. Er war unter Kirchenvaeter und Diplomen vergraben und schrieb wider die Pfaffe und Basnagen, als er, auf gesellschaftliche Veranlassung, seine "Merope" vor die Hand nahm, und sie in weniger als zwei Monaten zustande brachte. Wenn dieser Mann unter solchen Beschaeftigungen, in so kurzer Zeit, ein Meisterstueck gemacht haette, so muesste er der ausserordentlichste Kopf gewesen sein; oder eine Tragoedie ueberhaupt ist ein sehr geringfuegiges Ding. Was indes ein Gelehrter von gutem klassischen Geschmacke, der so etwas mehr fuer eine Erholung als fuer eine Arbeit ansieht, die seiner wuerdig waere, leisten kann, das leistete auch er. Seine Anlage ist gesuchter und ausgedrechselter, als gluecklich; seine Charaktere sind mehr nach den Zergliederungen des Moralisten, oder nach bekannten Vorbildern in Buechern, als nach dem Leben geschildert; sein Ausdruck zeugt von mehr Phantasie, als Gefuehl; der Literator und der Versifikateur laesst sich ueberall spueren, aber nur selten das Genie und der Dichter.

Als Versifikateur laeuft er den Beschreibungen und Gleichnissen zu sehr nach. Er hat verschiedene ganz vortreffliche, wahre Gemaelde, die in seinem Munde nicht genug bewundert werden koennten, aber in dem Munde seiner Personen unertraeglich sind und in die laecherlichsten Ungereimtheiten ausarten. So ist es z.E. zwar sehr schicklich, dass Aegisth seinen Kampf mit dem Raeuber, den er umgebracht, umstaendlich beschreibet, denn auf diesen Umstaenden beruhet seine Verteidigung; dass er aber auch, wenn er den Leichnam in den Fluss geworfen zu haben bekennet, alle, selbst die allerkleinsten Phaenomena malet, die den Fall eines schweren Koerpers ins Wasser begleiten, wie er hineinschiesst, mit welchem Geraeusche er das Wasser zerteilet, das hoch in die Luft spritzet, und wie sich die Flut wieder ueber ihn zuschliesst:[1] das wuerde man auch nicht einmal einem kalten geschwaetzigen Advokaten, der fuer ihn spraeche, verzeihen, geschweige ihm selbst. Wer vor seinem Richter stehet und sein Leben zu verteidigen hat, dem liegen andere Dinge am Herzen, als dass er in seiner Erzaehlung so kindisch genau sein koennte.

Als Literator hat er zu viel Achtung fuer die Simplizitaet der alten griechischen Sitten und fuer das Kostuem bezeugt, mit welchem wir sie bei dem Homer und Euripides geschildert finden, das aber allerdings um etwas, ich will nicht sagen veredelt, sondern unserm Kostueme naeher gebracht werden muss, wenn es der Ruehrung im Trauerspiele nicht mehr schaedlich als zutraeglich sein soll. Auch hat er zu geflissentlich schoene Stellen aus den Alten nachzuahmen gesucht, ohne zu unterscheiden, aus was fuer einer Art von Werken er sie entlehnt und in was fuer eine Art von Werken er sie uebertraegt. Nestor ist in der Epopee ein gespraechiger freundlicher Alte; aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der Tragoedie ein alter ekler Salbader. Wenn Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides haette folgen wollen: so wuerde uns der Literator vollends etwas zu lachen gemacht haben. Er haette es sodann fuer seine Schuldigkeit geachtet, alle die kleinen Fragmente, die uns von dem Kresphontes uebrig sind, zu nutzen und seinem Werke getreulich einzuflechten.[2] Wo er also geglaubt haette, dass sie sich hinpassten, haette er sie als Pfaehle aufgerichtet, nach welchen sich der Weg seines Dialogs richten und schlingen muessen. Welcher pedantische Zwang! Und wozu? Sind es nicht diese Sittensprueche, womit man seine Luecken fuellet, so sind es andere.

Demohngeachtet moechten sich wiederum Stellen finden, wo man wuenschen duerfte, dass sich der Literator weniger vergessen haette. Z.E. Nachdem die Erkennung vorgegangen und Merope einsieht, in welcher Gefahr sie zweimal gewesen sei, ihren eignen Sohn umzubringen, so laesst er die Ismene voller Erstaunen ausrufen: "Welche wunderbare Begebenheit, wunderbarer, als sie jemals auf einer Buehne erdichtet worden!"

    Con cosi strani avvenimenti uom' forse
    Non vide mai favoleggiar le scene.

Maffei hat sich nicht erinnert, dass die Geschichte seines Stuecks in eine Zeit faellt, da noch an kein Theater gedacht war; in die Zeit vor dem Homer, dessen Gedichte den ersten Samen des Drama ausstreuten. Ich wuerde diese Unachtsamkeit niemanden als ihm aufmutzen, der sich in der Vorrede entschuldigen zu muessen glaubte, dass er den Namen Messene zu einer Zeit brauche, da ohne Zweifel noch keine Stadt dieses Namens gewesen, weil Homer keiner erwaehne. Ein Dichter kann es mit solchen Kleinigkeiten halten, wie er will; nur verlangt man, dass er sich immer gleichbleibet und dass er sich nicht einmal ueber etwas Bedenken macht, worueber er ein andermal kuehnlich weggeht; wenn man nicht glauben soll, dass er den Anstoss vielmehr aus Unwissenheit nicht gesehen, als nicht sehen wollen. Ueberhaupt wuerden mir die angefuehrten Zeilen nicht gefallen, wenn sie auch keinen Anachronismus enthielten. Der tragische Dichter sollte alles vermeiden, was die Zuschauer an ihre Illusion erinnern kann; denn sobald sie daran erinnert sind, so ist sie weg. Hier scheinet es zwar, als ob Maffei die Illusion eher noch bestaerken wollen, indem er das Theater ausdruecklich ausser dem Theater annehmen laesst; doch die blossen Worte "Buehne" und "erdichten" sind der Sache schon nachteilig und bringen uns geraden Weges dahin, wovon sie uns abbringen sollen. Dem komischen Dichter ist es eher erlaubt, auf diese Weise seiner Vorstellung Vorstellungen entgegenzusetzen; denn unser Lachen zu erregen, braucht es des Grades der Taeuschung nicht, den unser Mitleiden erfordert.

Ich habe schon gesagt, wie hart de la Lindelle dem Maffei mitspielt. Nach seinem Urteile hat Maffei sich mit dem begnuegt, was ihm sein Stoff von selbst anbot, ohne die geringste Kunst dabei anzuwenden; sein Dialog ist ohne alle Wahrscheinlichkeit, ohne allen Anstand und Wuerde; da ist so viel Kleines und Kriechendes, das kaum in einem Possenspiele, in der Bude des Harlekins, zu dulden waere; alles wimmelt von Ungereimtheiten und Schulschnitzern. "Mit einem Worte", schliesst er, "das Werk des Maffei enthaelt einen schoenen Stoff, ist aber ein sehr elendes Stueck. Alle Welt koemmt in Paris darin ueberein, dass man die Vorstellung desselben nicht wuerde haben aushalten koennen; und in Italien selbst wird von verstaendigen Leuten sehr wenig daraus gemacht. Vergebens hat der Verfasser auf seinen Reisen die elendesten Schriftsteller in Sold genommen, seine Tragoedie zu uebersetzen; er konnte leichter einen Uebersetzer bezahlen, als sein Stueck verbessern."

So wie es selten Komplimente gibt ohne alle Luegen, so finden sich auch selten Grobheiten ohne alle Wahrheit. Lindelle hat in vielen Stuecken wider den Maffei recht, und moechte er doch hoeflich oder grob sein, wenn er sich begnuegte, ihn bloss zu tadeln. Aber er will ihn unter die Fuesse treten, vernichten, und gehet mit ihm so blind als treulos zu Werke. Er schaemt sich nicht, offenbare Luegen zu sagen, augenscheinliche Verfaelschungen zu begehen, um nur ein recht haemisches Gelaechter aufschlagen zu koennen. Unter drei Streichen, die er tut, geht immer einer in die Luft, und von den andern zweien, die seinen Gegner streifen oder treffen, trifft einer unfehlbar den zugleich mit, dem seine Klopffechterei Platz machen soll, Voltairen selbst. Voltaire scheinet dieses auch zum Teil gefuehlt zu haben und ist daher nicht saumselig, in der Antwort an Lindellen den Maffei in allen Stuecken zu verteidigen, in welchen er sich zugleich mitverteidigen zu muessen glaubt. Dieser ganzen Korrespondenz mit sich selbst, duenkt mich, fehlt das interessanteste Stueck; die Antwort des Maffei. Wenn uns doch auch diese der Hr. von Voltaire haette mitteilen wollen. Oder war sie etwa so nicht, wie er sie durch seine Schmeichelei zu erschleichen hoffte? Nahm sich Maffei etwa die Freiheit, ihm hinwiederum die Eigentuemlichkeiten des franzoesischen Geschmacks ins Licht zu stellen, ihm zu zeigen, warum die franzoesische "Merope" ebensowenig in Italien, als die italienische in Frankreich gefallen koenne?—

——Fussnote

[1]
    ———In core
    Pero mi venne di lanciar nel fiume
    Il morto, o semivivio; e con fatica
    (Ch' inutil' era per riuscire, e vana)
    L' alzai da terra, e in terra rimaneva
    Una pozza di sangue: a mezzo il ponte
    Portailo in fretta, di vermiglia striscia
    Sempre rigando il suol; quinci cadere
    Col capo in giu il lasciai; piombo, e gran tonfo
    S' udi nel profondarsi: in alto salse
    Lo spruzzo, e l'onda sopra lui si chiuse.

[2] Non essende dunque stato mio pensiero di seguir la Tragedia d'Euripide, non ho cercato per consequenza di porre nella mia que' sentimenti di essa, che son rimasti qua e la; avendone tradotti cinque versi Cicerone, e recati tre passi Plutarco, e due versi Gellio, e alcuni trovandosene ancora, se la memoria non m'inganna, presso Stobeo.

——Fussnote

Dreiundvierzigstes Stueck
Den 25. September 1767

So etwas laesst sich vermuten. Doch ich will lieber beweisen, was ich selbst gesagt habe, als vermuten, was andere gesagt haben koennten.

Lindern, vors erste, liesse sich der Tadel des Lindelle fast in allen Punkten. Wenn Maffei gefehlt hat, so hat er doch nicht immer so plump gefehlt, als uns Lindelle will glauben machen. Er sagt z.E., Aegisth, wenn ihn Merope nunmehr erstechen wolle, rufe aus: "O mein alter Vater!" und die Koenigin werde durch dieses Wort "alter Vater" so geruehret, dass sie von ihrem Vorsatze ablasse und auf die Vermutung komme, Aegisth koenne wohl ihr Sohn sein. "Ist das nicht", setzt er hoehnisch hinzu, "eine sehr gegruendete Vermutung! Denn freilich ist es ganz etwas Sonderbares, dass ein junger Mensch einen alten Vater hat. Maffei", faehrt er fort, "hat mit diesem Fehler, diesem Mangel von Kunst und Genie, einen andern Fehler verbessern wollen, den er in der ersten Ausgabe seines Stueckes begangen hatte. Aegisth rief da: 'Ach, Polydor, mein Vater!' Und dieser Polydor war eben der Mann, dem Merope ihren Sohn anvertrauet hatte. Bei dem Namen Polydor haette die Koenigin gar nicht mehr zweifeln muessen, dass Aegisth ihr Sohn sei; und das Stueck waere ausgewesen. Nun ist dieser Fehler zwar weggeschafft, aber seine Stelle hat ein noch weit groeberer eingenommen." Es ist wahr, in der ersten Ausgabe nennt Aegisth den Polydor seinen Vater; aber in den nachherigen Ausgaben ist von gar keinem Vater mehr die Rede. Die Koenigin stutzt bloss bei dem Namen Polydor, der den Aegisth gewarnet habe, ja keinen Fuss in das messenische Gebiete zu setzen. Sie gibt auch ihr Vorhaben darum nicht auf; sie fodert bloss naehere Erklaerung, und ehe sie diese erhalten kann, koemmt der Koenig dazu. Der Koenig laesst den Aegisth wieder losbinden, und da er die Tat, weswegen Aegisth eingebracht worden, billiget und ruehmet und sie als eine wahre Heldentat zu belohnen verspricht, so muss wohl Merope in ihren ersten Verdacht wieder zurueckfallen. Kann der ihr Sohn sein, den Polyphontes eben darum belohnen will, weil er ihren Sohn umgebracht habe? Dieser Schluss muss notwendig bei ihr mehr gelten, als ein blosser Name. Sie bereuet es nunmehr auch, dass sie eines blossen Namens wegen, den ja wohl mehrere fuehren koennen, mit der Vollziehung ihrer Rache gezaudert habe:

    Che dubitar? misera, ed io da un nome
    Trattener mi lasciai, quasi un tal nome
    Altri aver non potesse—

und die folgenden Aeusserungen des Tyrannen koennen sie nicht anders als in der Meinung vollends bestaerken, dass er von dem Tode ihres Sohnes die allerzuverlaessigste, gewisseste Nachricht haben muesse. Ist denn das also nun so gar abgeschmackt? Ich finde es nicht. Vielmehr muss ich gestehen, dass ich die Verbesserung des Maffei nicht einmal fuer sehr noetig halte. Lasst es den Aegisth immerhin sagen, dass sein Vater Polydor heisse! Ob es sein Vater oder sein Freund war, der so hiesse und ihn vor Messene warnte, das nimmt einander nicht viel. Genug, dass Merope, ohne alle Widerrede, das fuer wahrscheinlicher halten muss, was der Tyrann von ihm glaubet, da sie weiss, dass er ihrem Sohne so lange, so eifrig nachgestellt, als das, was sie aus der blossen Uebereinstimmung eines Namens schliessen koennte. Freilich, wenn sie wuesste, dass sich die Meinung des Tyrannen, Aegisth sei der Moerder ihres Sohnes, auf weiter nichts als ihre eigene Vermutung gruende, so waere es etwas anders. Aber dieses weiss sie nicht; vielmehr hat sie allen Grund, zu glauben, dass er seiner Sache werde gewiss sein.—Es versteht sich, dass ich das, was man zur Not entschuldigen kann, darum nicht fuer schoen ausgebe; der Poet haette unstreitig seine Anlage viel feiner machen koennen. Sondern ich will nur sagen, dass auch so, wie er sie gemacht hat, Merope noch immer nicht ohne zureichenden Grund handelt; und dass es gar wohl moeglich und wahrscheinlich ist, dass Merope in ihrem Vorsatze der Rache verharren und bei der ersten Gelegenheit einen neuen Versuch, sie zu vollziehen, wagen koennen. Worueber ich mich also beleidiget finden moechte, waere nicht dieses, dass sie zum zweitenmale ihren Sohn als den Moerder ihres Sohnes zu ermorden koemmt, sondern dieses, dass sie zum zweitenmale durch einen gluecklichen ungefaehren Zufall daran verhindert wird. Ich wuerde es dem Dichter verzeihen, wenn er Meropen auch nicht eigentlich nach den Gruenden der groessern Wahrscheinlichkeit sich bestimmen liesse; denn die Leidenschaft, in der sie ist, koennte auch den Gruenden der schwaechern das Uebergewicht erteilen. Aber das kann ich ihm nicht verzeihen, dass er sich so viel Freiheit mit dem Zufalle nimmt und mit dem Wunderbaren desselben so verschwenderisch ist, als mit den gemeinsten ordentlichsten Begebenheiten. Dass der Zufall einmal der Mutter einen so frommen Dienst erweiset, das kann sein; wir wollen es umso viel lieber glauben, je mehr uns die Ueberraschung gefaellt. Aber dass er zum zweiten Male die naemliche Uebereilung auf die naemliche Weise verhindern werde, das sieht dem Zufalle nicht aehnlich; ebendieselbe Ueberraschung wiederholt, hoert auf, Ueberraschung zu sein; ihre Einfoermigkeit beleidiget, und wir aergern uns ueber den Dichter, der zwar ebenso abenteuerlich, aber nicht ebenso mannigfaltig zu sein weiss, als der Zufall.

Von den augenscheinlichen und vorsaetzlichen Verfaelschungen des Lindelle will ich nur zwei anfuehren.—"Der vierte Akt", sagt er, "faengt mit einer kalten und unnoetigen Szene zwischen dem Tyrannen und der Vertrauten der Merope an; hierauf begegnet diese Vertraute, ich weiss selbst nicht wie, dem jungen Aegisth und beredet ihn, sich in dem Vorhause zur Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeschlafen waere, ihn die Koenigin mit aller Gemaechlichkeit umbringen koenne. Er schlaeft auch wirklich ein, so wie er es versprochen hat. O schoen! und die Koenigin koemmt zum zweiten Male, mit einer Axt in der Hand, um den jungen Menschen umzubringen, der ausdruecklich deswegen schlaeft. Diese naemliche Situation, zweimal wiederholt verraet die aeusserste Unfruchtbarkeit; und dieser Schlaf des jungen Menschen ist so laecherlich, dass in der Welt nichts laecherlicher sein kann." Aber ist es denn auch wahr, dass ihn die Vertraute zu diesem Schlafe beredet? Das luegt Lindelle.[1] Aegisth trifft die Vertraute an und bittet sie, ihm doch die Ursache zu entdecken, warum die Koenigin so ergrimmt auf ihn sei. Die Vertraute antwortet, sie wolle ihm gern alles sagen; aber ein wichtiges Geschaefte rufe sie itzt woanders hin; er solle einen Augenblick hier verziehen; sie wolle gleich wieder bei ihm sein. Allerdings hat die Vertraute die Absicht, ihn der Koenigin in die Haende zu liefern; sie beredet ihn, zu bleiben, aber nicht zu schlafen; und Aegisth, welcher seinem Versprechen nach bleibet, schlaeft, nicht seinem Versprechen nach, sondern schlaeft, weil er muede ist, weil es Nacht ist, weil er nicht siehet, wo er die Nacht sonst werde zubringen koennen als hier.[2]—Die zweite Luege des Lindelle ist von eben dem Schlage. "Merope", sagt er, "nachdem sie der alte Polydor an der Ermordung ihres Sohnes verhindert, fragt ihn, was fuer eine Belohnung er dafuer verlange; und der alte Narr bittet sie, ihn zu verjuengen." Bittet sie, ihn zu verjuengen? "Die Belohnung meines Dienstes", antwortet der Alte, "ist dieser Dienst selbst; ist dieses, dass ich dich vergnuegt sehe. Was koenntest du mir auch geben? Ich brauche nichts, ich verlange nichts. Eines moechte ich mir wuenschen, aber das stehet weder in deiner; noch in irgendeines Sterblichen Gewalt, mir zu gewaehren; dass mir die Last meiner Jahre, unter welcher ich erliege, erleichtert wuerde usw."[3] Heisst das: Erleichtere du mir diese Last? Gib du mir Staerke und Jugend wieder? Ich will gar nicht sagen, dass eine solche Klage ueber die Ungemaechlichkeiten des Alters hier an dem schicklichsten Orte stehe, ob sie schon vollkommen in dem Charakter des Polydors ist. Aber ist denn jede Unschicklichkeit Wahnwitz? Und mussten nicht Polydor und sein Dichter im eigentlichsten Verstande wahnwitzig sein, wenn dieser jenem die Bitte wirklich in den Mund legte, die Lindelle ihnen anluegt?—Anluegt! Luegen! Verdienen solche Kleinigkeiten wohl so harte Worte?—Kleinigkeiten? Was dem Lindelle wichtig genug war, darum zu luegen, soll das einem dritten nicht wichtig genug sein, ihm zu sagen, dass er gelogen hat?—

——Fussnote

[1] Und der Herr von Voltaire gleichfalls. Denn nicht allein Lindelle sagt: Ensuite cette suivante rencontre le jeune Egiste, je ne sais comment, et lui persuade de se reposer dans le vestibule, afin que, quand il sera endormi, la reine puisse le tuer tout a son aise, sondern auch der Hr. von Voltaire selbst: La confidente de Merope engage le jeune Egiste a dormir sur la scene, afin de donner le temps a la reine de venir l'y assassiner. Was aus dieser Uebereinstimmung zu schliessen ist, brauche ich nicht erst zu sagen. Selten stimmt ein Luegner mit sich selbst ueberein; und wenn zwei Luegner miteinander uebereinstimmen, so ist es gewiss abgeredete Karte.

[2]
    Egi. Ma di tanto furor, di tanto affanno
      Qual' ebbe mai cagion?—
    Ism. Il tutto
      Scoprirti io non ricuso; ma egli e d'uopo
      Che qui t'arresti per brev' ora: urgente
      Cura or mi chiama altrove.
    Egi. Io volontieri
      T'attendo quanto vuoi. Ism. Ma non partire
      E non far si, ch' io qua ritorni indarno.
    Egi. Mia fe do in pegno; e dove gir dovrei?—

    [3]
    Mer. Ma quale, o mio fedel, qual potro io
      Darti gia mai merce, che i merti agguagli?
    Pol. Il mio stesso servir fu premio; ed ora
      M'e, il vederti contenta, ampia mercede.
      Che vuoi tu darmi? io nulla bramo: caro
      Sol mi saria cio, ch' altri dar non puote;
      Che scemato mi fosse il grave incarco
      De gli anni, che mi sta su'l capo, e a terra
      Il curva, e prime si, che parmi un monte.—

——Fussnote

Vierundvierzigstes Stueck
Den 29. September 1767

Ich komme auf den Tadel des Lindelle, welcher den Voltaire so gut als den
Maffei trifft, dem er doch nur allein zugedacht war.

Ich uebergehe die beiden Punkte, bei welchen es Voltaire selbst fuehlte, dass der Wurf auf ihn zurueckpralle.—Lindelle hatte gesagt, dass es sehr schwache und unedle Merkmale waeren, aus welchen Merope bei Maffei schliesse, dass Aegisth der Moerder ihres Sohnes sei. Voltaire antwortet: "Ich kann es Ihnen nicht bergen; ich finde, das Maffei es viel kuenstlicher angelegt hat, als ich, Meropen glauben zu machen, dass ihr Sohn der Moerder ihres Sohnes sei. Er konnte sich eines Ringes dazu bedienen, und das durfte ich nicht; denn seit dem koeniglichen Ringe, ueber den Boileau in seinen Satiren spottet, wuerde das auf unserm Theater sehr klein scheinen." Aber musste denn Voltaire eben eine alte Ruestung anstatt des Ringes waehlen? Als Narbas das Kind mit sich nahm, was bewog ihn denn, auch die Ruestung des ermordeten Vaters mitzunehmen? Damit Aegisth, wenn er erwachsen waere, sich keine neue Ruestung kaufen duerfe und sich mit der alten seines Vaters behelfen koenne? Der vorsichtige Alte! Liess er sich nicht auch ein paar alte Kleider von der Mutter mitgeben? Oder geschah es, damit Aegisth einmal an dieser Ruestung erkannt werden koenne? So eine Ruestung gab es wohl nicht mehr? Es war wohl eine Familienruestung, die Vulkan selbst dem Grossgrossvater gemacht hatte? Eine undurchdringliche Ruestung? Oder wenigstens mit schoenen Figuren und Sinnbildern versehen, an welchen sie Eurikles und Merope nach funfzehn Jahren sogleich wieder erkannten? Wenn das ist: so musste sie der Alte freilich mitnehmen; und der Hr. von Voltaire hat Ursache, ihm verbunden zu sein, dass er unter den blutigen Verwirrungen, bei welchen ein anderer nur an das Kind gedacht haette, auch zugleich an eine so nuetzliche Moebel dachte. Wenn Aegisth schon das Reich seines Vaters verlor, so musste er doch nicht auch die Ruestung seines Vaters verlieren, in der er jenes wiedererobern konnte. —Zweitens hatte sich Lindelle ueber den Polyphont des Maffei aufgehalten, der die Merope mit aller Gewalt heiraten will. Als ob der Voltairische das nicht auch wollte! Voltaire antwortet ihm daher: "Weder Maffei noch ich haben die Ursachen dringend genug gemacht, warum Polyphont durchaus Meropen zu seiner Gemahlin verlangt. Das ist vielleicht ein Fehler des Stoffes; aber ich bekenne Ihnen, dass ich einen solchen Fehler fuer sehr gering halte, wenn das Interesse, welches er hervorbringt, betraechtlich ist." Nein, der Fehler liegt nicht in dem Stoffe. Denn in diesem Umstande eben hat Maffei den Stoff veraendert. Was brauchte Voltaire diese Veraenderung anzunehmen, wenn er seinen Vorteil nicht dabei sahe?—

Der Punkte sind mehrere, bei welchen Voltaire eine aehnliche Ruecksicht auf sich selbst haette nehmen koennen: aber welcher Vater sieht alle Fehler seines Kindes? Der Fremde, dem sie in die Augen fallen, braucht darum gar nicht scharfsichtiger zu sein, als der Vater; genug, dass er nicht der Vater ist. Gesetzt also, ich waere dieser Fremde!

Lindelle wirft dem Maffei vor, dass er seine Szenen oft nicht verbinde, dass er das Theater oft leer lasse, dass seine Personen oft ohne Ursache auftreten und abgingen; alles wesentliche Fehler, die man heutzutage auch dem armseligsten Poeten nicht mehr verzeihe.—Wesentliche Fehler dieses? Doch das ist die Sprache der franzoesischen Kunstrichter ueberhaupt; die muss ich ihm schon lassen, wenn ich nicht ganz von vorne mit ihm anfangen will. So wesentlich oder unwesentlich sie aber auch sein moegen; wollen wir es Lindellen auf sein Wort glauben, dass sie bei den Dichtern seines Volks so selten sind? Es ist wahr, sie sind es, die sich der groessten Regelmaessigkeit ruehmen; aber sie sind es auch, die entweder diesen Regeln eine solche Ausdehnung geben, dass es sich kaum mehr der Muehe verlohnet, sie als Regeln vorzutragen oder sie auf eine solche linke und gezwungene Art beobachten, dass es weit mehr beleidiget, sie so beobachtet zu sehen, als gar nicht.[1] Besonders ist Voltaire ein Meister, sich die Fesseln der Kunst so leicht, so weit zu machen, dass er alle Freiheit behaelt, sich zu bewegen, wie er will; und doch bewegt er sich oft so plump und schwer und macht so aengstliche Verdrehungen, dass man meinen sollte, jedes Glied von ihm sei an ein besonderes Klotz geschmiedet. Es kostet mir Ueberwindung, ein Werk des Genies aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten; doch da es bei der gemeinen Klasse von Kunstrichtern noch so sehr Mode ist, es fast aus keinem andern als aus diesem zu betrachten; da es der ist, aus welchem die Bewunderer des franzoesischen Theaters das lauteste Geschrei erheben: so will ich doch erst genauer hinsehen, ehe ich in ihr Geschrei mit einstimme.

1. Die Szene ist zu Messene, in dem Palaste der Merope. Das ist, gleich anfangs, die strenge Einheit des Ortes nicht, welche, nach den Grundsaetzen und Beispielen der Alten, ein Hedelin verlangen zu koennen glaubte. Die Szene muss kein ganzer Palast, sondern nur ein Teil des Palastes sein, wie ihn das Auge aus einem und ebendemselben Standorte zu uebersehen faehig ist. Ob sie ein ganzer Palast oder eine ganze Stadt oder eine ganze Provinz ist, das macht im Grunde einerlei Ungereimtheit. Doch schon Corneille gab diesem Gesetze, von dem sich ohnedem kein ausdrueckliches Gebot bei den Alten findet, die weitere Ausdehnung und wollte, dass eine einzige Stadt zur Einheit des Ortes hinreichend sei. Wenn er seine besten Stuecke von dieser Seite rechtfertigen wollte, so musste er wohl so nachgebend sein. Was Corneillen aber erlaubt war, das muss Voltairen recht sein. Ich sage also nichts dagegen, dass eigentlich die Szene bald in dem Zimmer der Koenigin, bald in dem oder jenem Saale, bald in dem Vorhofe, bald nach dieser, bald nach einer andern Aussicht muss gedacht werden. Nur haette er bei diesen Abwechselungen auch die Vorsicht brauchen sollen, die Corneille dabei empfahl: sie muessen nicht in dem naemlichen Akte, am wenigsten in der naemlichen Szene angebracht werden. Der Ort, welcher zu Anfange des Akts ist, muss durch diesen ganzen Akt dauern; und ihn vollends in ebenderselben Szene abaendern oder auch nur erweitern oder verengern, ist die aeusserste Ungereimtheit von der Welt.—Der dritte Akt der "Merope" mag auf einem freien Platze, unter einem Saeulengange oder in einem Saale spielen, in dessen Vertiefung das Grabmal des Kresphontes zu sehen, an welchem die Koenigin den Aegisth mit eigener Hand hinrichten will: Was kann man sich armseliger vorstellen, als dass, mitten in der vierten Szene, Eurikles, der den Aegisth wegfuehret, diese Vertiefung hinter sich zuschliessen muss? Wie schliesst er sie zu? Faellt ein Vorhang hinter ihm nieder? Wenn jemals auf einen Vorhang das, was Hedelin von dergleichen Vorhaengen ueberhaupt sagt, gepasst hat, so ist es auf diesen;[2] besonders wenn man zugleich die Ursache erwaegt, warum Aegisth so ploetzlich abgefuehrt, durch diese Maschinerie so augenblicklich aus dem Gesichte gebracht werden muss, von der ich hernach reden will.—Ebenso ein Vorhang wird in dem fuenften Akte aufgezogen. Die ersten sechs Szenen spielen in einem Saale des Palastes: und mit der siebenten erhalten wir auf einmal die offene Aussicht in den Tempel, um einen toten Koerper in einem blutigen Rocke sehen zu koennen. Durch welches Wunder? Und war dieser Anblick dieses Wunders wohl wert? Man wird sagen, die Tueren dieses Tempels oeffnen sich auf einmal, Merope bricht auf einmal mit dem ganzen Volke heraus, und dadurch erlangen wir die Einsicht in denselben. Ich verstehe; dieser Tempel war Ihro verwitweten Koeniglichen Majestaet Schlosskapelle, die gerade an den Saal stiess und mit ihm Kommunikation hatte, damit Allerhoechstdieselben jederzeit trocknes Fusses zu dem Orte ihrer Andacht gelangen konnten. Nur sollten wir sie dieses Weges nicht allein herauskommen, sondern auch hereingehen sehen; wenigstens den Aegisth, der am Ende der vierten Szene zu laufen hat und ja den kuerzesten Weg nehmen muss, wenn er, acht Zeilen darauf, seine Tat schon vollbracht haben soll.

——Fussnote

[1] Dieses war zum Teil schon das Urteil unsers Schlegels. "Die Wahrheit zu gestehen", sagt er in seinen Gedanken zur Aufnahme des daenischen Theaters, "beobachten die Englaender, die sich keiner Einheit des Ortes ruehmen, dieselbe grossenteils viel besser als die Franzosen, die sich damit viel wissen, dass sie die Regeln des Aristoteles so genau beobachten. Darauf koemmt gerade am allerwenigsten an, dass das Gemaelde der Szenen nicht veraendert wird. Aber wenn keine Ursache vorhanden ist, warum die auftretenden Personen sich an dem angezeigten Orte befinden und nicht vielmehr an demjenigen geblieben sind, wo sie vorhin waren; wenn eine Person sich als Herr und Bewohner eben des Zimmers auffuehrt, wo kurz vorher eine andere, als ob sie ebenfalls Herr vom Hause waere, in aller Gelassenheit mit sich selbst oder mit einem Vertrauten gesprochen, ohne dass dieser Umstand auf eine wahrscheinliche Weise entschuldiget wird; kurz, wenn die Personen nur deswegen in den angezeigten Saal oder Garten kommen, um auf die Schaubuehne zu treten: so wuerde der Verfasser des Schauspiels am besten getan haben, anstatt der Worte 'der Schauplatz ist ein Saal in Climenens Hause' unter das Verzeichnis seiner Personen zu setzen: 'der Schauplatz ist auf dem Theater'. Oder, im Ernste zu reden, es wuerde weit besser gewesen sein, wenn der Verfasser nach dem Gebrauche der Englaender die Szene aus dem Hause des einen in das Haus eines andern verlegt und also den Zuschauer seinem Helden nachgefuehret haette, als dass er seinem Helden die Muehe macht, den Zuschauern zu Gefallen an einen Platz zu kommen, wo er nichts zu tun hat."

[2] On met des rideaux qui se tirent et retirent, pour faire que les Acteurs paraissent ei disparaissent selon la necessite du Sujet—ces rideaux ne sont bons qu'a faire des couvertures pour berner ceux qui les ont inventes, et ceux qui les approuvent. Pratique du Theatre. Liv. II. chap. 6.

——Fussnote

Fuenfundvierzigstes Stueck
Den 2. Oktober 1767

2. Nicht weniger bequem hat es sich der Herr von Voltaire mit der Einheit der Zeit gemacht. Man denke sich einmal alles das, was er in seiner "Merope" vorgehen laesst, an einem Tage geschehen, und sage, wieviel Ungereimtheiten man sich dabei denken muss. Man nehme immer einen voelligen, natuerlichen Tag; man gebe ihm immer die dreissig Stunden, auf die Corneille ihn auszudehnen erlauben will. Es ist wahr, ich sehe zwar keine physikalische Hindernisse, warum alle die Begebenheiten in diesem Zeitraume nicht haetten geschehen koennen; aber desto mehr moralische. Es ist freilich nicht unmoeglich, dass man innerhalb zwoelf Stunden um ein Frauenzimmer anhalten und mit ihr getrauet sein kann; besonders wenn man es mit Gewalt vor den Priester schleppen darf. Aber wenn es geschieht, verlangt man nicht eine so gewaltsame Beschleunigung durch die allertriftigsten und dringendsten Ursachen gerechtfertiget zu wissen? Findet sich hingegen auch kein Schatten von solchen Ursachen, wodurch soll uns, was bloss physikalischer Weise moeglich ist, denn wahrscheinlich werden? Der Staat will sich einen Koenig waehlen; Polyphont und der abwesende Aegisth koennen allein dabei in Betrachtung kommen; um die Ansprueche des Aegisth zu vereiteln, will Polyphont die Mutter desselben heiraten; an ebendemselben Tage, da die Wahl geschehen soll, macht er ihr den Antrag; sie weiset ihn ab; die Wahl geht vor sich und faellt fuer ihn aus; Polyphont ist also Koenig, und man sollte glauben, Aegisth moege nunmehr erscheinen, wenn er wolle, der neuerwaehlte Koenig koenne es vors erste mit ihm ansehen. Nichts weniger; er bestehet auf der Heirat, und bestehet darauf, dass sie noch desselben Tages vollzogen werden soll; eben des Tages, an dem er Meropen zum ersten Male seine Hand angetragen; eben des Tages, da ihn das Volk zum Koenige ausgerufen. Ein so alter Soldat, und ein so hitziger Freier! Aber seine Freierei ist nichts als Politik. Desto schlimmer; diejenige, die er in sein Interesse verwickeln will, so zu misshandeln! Merope hatte ihm ihre Hand verweigert, als er noch nicht Koenig war, als sie glauben musste, dass ihn ihre Hand vornehmlich auf den Thron verhelfen sollte; aber nun ist er Koenig und ist es geworden, ohne sich auf den Titel ihres Gemahls zu gruenden; er wiederhole seinen Antrag, und vielleicht gibt sie es naeher; er lasse ihr Zeit, den Abstand zu vergessen, der sich ehedem zwischen ihnen befand, sich zu gewoehnen, ihn als ihresgleichen zu betrachten, und vielleicht ist nur kurze Zeit dazu noetig. Wenn er sie nicht gewinnen kann, was hilft es ihn, sie zu zwingen? Wird es ihren Anhaengern unbekannt bleiben, dass sie gezwungen worden? Werden sie ihn nicht auch darum hassen zu muessen glauben? Werden sie nicht auch darum dem Aegisth, sobald er sich zeigt, beizutreten und in seiner Sache zugleich die Sache seiner Mutter zu betreiben sich fuer verbunden achten? Vergebens, dass das Schicksal dem Tyrannen, der ganzer funfzehn Jahr sonst so bedaechtig zu Werke gegangen, diesen Aegisth nun selbst in die Haende liefert und ihm dadurch ein Mittel, den Thron ohne alle Ansprueche zu besitzen, anbietet, das weit kuerzer, weit unfehlbarer ist, als die Verbindung mit seiner Mutter: es soll und muss geheiratet sein, und noch heute, und noch diesen Abend; der neue Koenig will bei der alten Koenigin noch diese Nacht schlafen, oder es geht nicht gut. Kann man sich etwas Komischeres denken? In der Vorstellung, meine ich; denn dass es einem Menschen, der nur einen Funken von Verstande hat, einkommen koenne, wirklich so zu handeln, widerlegt sich von selbst. Was hilft es nun also dem Dichter, dass die besondern Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen Eraeugung ungefaehr nicht viel mehr Zeit brauchen wuerden, als auf die Vorstellung dieses Aktes geht; und dass diese Zeit mit der, welche auf die Zwischenakte gerechnet werden muss, noch lange keinen voelligen Umlauf der Sonne erfodert: hat er darum die Einheit der Zeit beobachtet? Die Worte dieser Regel hat er erfuellt, aber nicht ihren Geist. Denn was er an einem Tage tun laesst, kann zwar an einem Tage getan werden, aber kein vernuenftiger Mensch wird es an einem Tage tun. Es ist an der physischen Einheit der Zeit nicht genug; es muss auch die moralische dazu kommen, deren Verletzung allen und jeden empfindlich ist, anstatt dass die Verletzung der erstern, ob sie gleich meistens eine Unmoeglichkeit involvieret, dennoch nicht immer so allgemein anstoessig ist, weil diese Unmoeglichkeit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z.E. in einem Stuecke von einem Orte zum andern gereiset wird, und diese Reise allein mehr als einen ganzen Tag erfodert, so ist der Fehler nur denen merklich, welche den Abstand des einen Ortes von dem andern wissen. Nun aber wissen nicht alle Menschen die geographischen Distanzen; aber alle Menschen koennen es an sich selbst merken, zu welchen Handlungen man sich einen Tag, und zu welchen man sich mehrere nehmen sollte. Welcher Dichter also die physische Einheit der Zeit nicht anders als durch Verletzung der moralischen zu beobachten verstehet und sich kein Bedenken macht, diese jener aufzuopfern, der verstehet sich sehr schlecht auf seinen Vorteil und opfert das Wesentlichere dem Zufaelligen auf.—Maffei nimmt doch wenigstens noch eine Nacht zu Hilfe; und die Vermaehlung, die Polyphont der Merope heute andeutet, wird erst den Morgen darauf vollzogen. Auch ist es bei ihm nicht der Tag, an welchem Polyphont den Thron besteiget; die Begebenheiten pressen sich folglich weniger; sie eilen, aber sie uebereilen sich nicht. Voltairens Polyphont ist ein Ephemeron von einem Koenige, der schon darum den zweiten Tag nicht zu regieren verdienet, weil er den ersten seine Sache so gar albern und dumm anfaengt.

3. Maffei, sagt Lindelle, verbinde oefters die Szenen nicht, und das Theater bleibe leer; ein Fehler, den man heutzutage auch den geringsten Poeten nicht verzeihe. "Die Verbindung der Szenen", sagt Corneille, "ist eine grosse Zierde eines Gedichts, und nichts kann uns von der Stetigkeit der Handlung besser versichern, als die Stetigkeit der Vorstellung. Sie ist aber doch nur eine Zierde und keine Regel; denn die Alten haben sich ihr nicht immer unterworfen usw." Wie? ist die Tragoedie bei den Franzosen seit ihrem grossen Corneille so viel vollkommener geworden, dass das, was dieser bloss fuer eine mangelnde Zierde hielt, nunmehr ein unverzeihlicher Fehler ist? Oder haben die Franzosen seit ihm das Wesentliche der Tragoedie noch mehr verkennen gelernt, dass sie auf Dinge einen so grossen Wert legen, die im Grunde keinen haben? Bis uns diese Frage entschieden ist, mag Corneille immer wenigstens ebenso glaubwuerdig sein, als Lindelle; und was, nach jenem, also eben noch kein ausgemachter Fehler bei dem Maffei ist, mag gegen den minder streitigen des Voltaire aufgehen, nach welchem er das Theater oefters laenger voll laesst, als es bleiben sollte. Wenn z.E., in dem ersten Akte, Polyphont zu der Koenigin koemmt, und die Koenigin mit der dritten Szene abgeht, mit was fuer Recht kann Polyphont in dem Zimmer der Koenigin verweilen? Ist dieses Zimmer der Ort, wo er sich gegen seinen Vertrauten so frei herauslassen sollte? Das Beduerfnis des Dichters verraet sich in der vierten Szene gar zu deutlich, in der wir zwar Dinge erfahren, die wir notwendig wissen muessen, nur dass wir sie an einem Orte erfahren, wo wir es nimmermehr erwartet haetten.

4. Maffei motiviert das Auftreten und Abgehen seiner Personen oft gar nicht:—und Voltaire motiviert es ebensooft falsch; welches wohl noch schlimmer ist. Es ist nicht genug, dass eine Person sagt, warum sie koemmt, man muss auch aus der Verbindung einsehen, dass sie darum kommen muessen. Es ist nicht genug, dass sie sagt, warum sie abgeht, man muss auch in dem Folgenden sehen, dass sie wirklich darum abgegangen ist. Denn sonst ist das, was ihr der Dichter desfalls in den Mund legt, ein blosser Vorwand und keine Ursache. Wenn z.E. Eurikles in der dritten Szene des zweiten Akts abgeht, um, wie er sagt, die Freunde der Koenigin zu versammeln, so muesste man von diesen Freunden und von dieser ihrer Versammlung auch hernach etwas hoeren. Da wir aber nichts davon zu hoeren bekommen, so ist sein Vorgeben ein schuelerhaftes Peto veniam exeundi, mit der ersten besten Luegen, die dem Knaben einfaellt. Er geht nicht ab, um das zu tun, was er sagt, sondern um, ein paar Zeilen darauf, mit einer Nachricht wiederkommen zu koennen, die der Poet durch keinen andern erteilen zu lassen wusste. Noch ungeschickter geht Voltaire mit dem Schlusse ganzer Akte zu Werke. Am Ende des dritten sagt Polyphont zu Meropen, dass der Altar ihrer erwarte, dass zu ihrer feierlichen Verbindung schon alles bereit sei; und so geht er mit einem Venez, Madame ab. Madame aber folgt ihm nicht, sondern geht mit einer Exklamation zu einer andern Kulisse hinein, worauf Polyphont den vierten Akt wieder anfaengt, und nicht etwa seinen Unwillen aeussert, dass ihm die Koenigin nicht in den Tempel gefolgt ist (denn er irrte sich, es hat mit der Trauung noch Zeit), sondern wiederum mit seinem Erox Dinge plaudert, ueber die er nicht hier, ueber die er zu Hause in seinem Gemache mit ihm haette schwatzen sollen. Nun schliesst auch der vierte Akt, und schliesst vollkommen wie der dritte. Polyphont zitiert die Koenigin nochmals nach dem Tempel, Merope selbst schreiet,

Courons tous vers le temple ou m'attend mon outrage;

und zu den Opferpriestern, die sie dahin abholen sollen, sagt sie,

Vous venez a l'autel entrainer la victime.

Folglich werden sie doch gewiss zu Anfange des fuenften Akts in dem Tempel sein, wo sie nicht schon gar wieder zurueck sind? Keines von beiden; gut Ding will Weile haben; Polyphont hat noch etwas vergessen, und koemmt noch einmal wieder, und schickt auch die Koenigin noch einmal wieder. Vortrefflich! Zwischen dem dritten und vierten, und zwischen dem vierten und fuenften Akte geschieht demnach nicht allein das nicht, was geschehen sollte, sondern es geschieht auch, platterdings, gar nichts, und der dritte und vierte Akt schliessen bloss, damit der vierte und fuenfte wieder anfangen koennen.

Sechsundvierzigstes Stueck
Den 6. Oktober 1767

Ein anderes ist, sich mit den Regeln abfinden; ein anderes, sie wirklich beobachten. Jenes tun die Franzosen; dieses scheinen nur die Alten verstanden zu haben.

Die Einheit der Handlung war das erste dramatische Gesetz der Alten; die Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes waren gleichsam nur Folgen aus jener, die sie schwerlich strenger beobachtet haben wuerden, als es jene notwendig erfordert haette, wenn nicht die Verbindung des Chors dazu gekommen waere. Da naemlich ihre Handlungen eine Menge Volks zum Zeugen haben mussten und diese Menge immer die naemliche blieb, welche sich weder weiter von ihren Wohnungen entfernen, noch laenger aus denselben wegbleiben konnte, als man gewoehnlichermassen der blossen Neugierde wegen zu tun pflegt: so konnten sie fast nicht anders, als den Ort auf einen und ebendenselben individuellen Platz, und die Zeit auf einen und ebendenselben Tag einschraenken. Dieser Einschraenkung unterwarfen sie sich denn auch bona fide; aber mit einer Biegsamkeit, mit einem Verstande, dass sie, unter neun Malen, siebenmal weit mehr dabei gewannen, als verloren. Denn sie liessen sich diesen Zwang einen Anlass sein, die Handlung selbst so zu simplifizieren, alles Ueberfluessige so sorgfaeltig von ihr abzusondern, dass sie, auf ihre wesentlichsten Bestandteile gebracht, nichts als ein Ideal von dieser Handlung ward, welches sich gerade in derjenigen Form am gluecklichsten ausbildete, die den wenigsten Zusatz von Umstaenden der Zeit und des Ortes verlangte.

Die Franzosen hingegen, die an der wahren Einheit der Handlung keinen Geschmack fanden, die durch die wilden Intrigen der spanischen Stuecke schon verwoehnt waren, ehe sie die griechische Simplizitaet kennenlernten, betrachteten die Einheiten der Zeit und des Orts nicht als Folgen jener Einheit, sondern als fuer sich zur Vorstellung einer Handlung unumgaengliche Erfordernisse, welche sie auch ihren reichern und verwickeltern Handlungen in eben der Strenge anpassen muessten, als es nur immer der Gebrauch des Chors erfordern koennte, dem sie doch gaenzlich entsagt hatten. Da sie aber fanden, wie schwer, ja wie unmoeglich oefters dieses sei: so trafen sie mit den tyrannischen Regeln, welchen sie ihren voelligen Gehorsam aufzukuendigen nicht Mut genug hatten, ein Abkommen. Anstatt eines einzigen Ortes fuehrten sie einen unbestimmten Ort ein, unter dem man sich bald den, bald jenen einbilden koenne; genug, wenn diese Orte zusammen nur nicht gar zu weit auseinanderlaegen und keiner eine besondere Verzierung beduerfe, sondern die naemliche Verzierung ungefaehr dem einen so gut als dem andern zukommen koenne. Anstatt der Einheit des Tages schoben sie die Einheit der Dauer unter; und eine gewisse Zeit, in der man von keinem Aufgehen und Untergehen der Sonne hoerte, in der niemand zu Bette ging, wenigstens nicht oefterer als einmal zu Bette ging, mochte sich doch sonst noch so viel und mancherlei darin ereignen, liessen sie fuer einen Tag gelten.

Niemand wuerde ihnen dieses verdacht haben; denn unstreitig lassen sich auch so noch vortreffliche Stuecke machen; und das Sprichwort sagt, bohre das Brett, wo es am duennsten ist.—Aber ich muss meinen Nachbar nur auch da bohren lassen. Ich muss ihm nicht immer nur die dickeste Kante, den astigsten Teil des Brettes zeigen und schreien. da bohre mir durch! da pflege ich durchzubohren!—Gleichwohl schreien die franzoesischen Kunstrichter alle so; besonders wenn sie auf die dramatischen Stuecke der Englaender kommen. Was fuer ein Aufhebens machen sie von der Regelmaessigkeit, die sie sich so unendlich erleichtert haben!—Doch mir ekelt, mich bei diesen Elementen laenger aufzuhalten.

Moechten meinetwegen Voltairens und Maffeis "Merope" acht Tage dauern und an sieben Orten in Griechenland spielen! Moechten sie aber auch nur die Schoenheiten haben, die mich diese Pedanterien vergessen machen!

Die strengste Regelmaessigkeit kann den kleinsten Fehler in den Charakteren nicht aufwiegen. Wie abgeschmackt Polyphont bei dem Maffei oefters spricht und handelt, ist Lindellen nicht entgangen. Er hat recht, ueber die heillosen Maximen zu spotten, die Maffei seinem Tyrannen in den Mund legt. Die Edelsten und Besten des Staats aus dem Wege zu raeumen; das Volk in alle die Wollueste zu versenken, die es entkraeften und weibisch machen koennen; die groessten Verbrechen, unter dem Scheine des Mitleids und der Gnade, ungestraft zu lassen usw., wenn es einen Tyrannen gibt, der diesen unsinnigen Weg zu regieren einschlaegt, wird er sich dessen auch ruehmen? So schildert man die Tyrannen in einer Schuluebung; aber so hat noch keiner von sich selbst gesprochen.[1]—Es ist wahr, so gar frostig und wahnwitzig laesst Voltaire seinen Polyphont nicht deklamieren; aber mitunter laesst er ihn doch auch Dinge sagen, die gewiss kein Mann von dieser Art ueber die Zunge bringt. Z.E.

    —Des Dieux quelquefois la longue patience
    Fait sur nous a pas lents descendre la vengeance—

Ein Polyphont sollte diese Betrachtung wohl machen; aber er macht sie nie. Noch weniger wird er sie in dem Augenblicke machen, da er sich zu neuen Verbrechen aufmuntert:

Eh bien, encor ce crime!—

Wie unbesonnen und in den Tag hinein er gegen Meropen handelt, habe ich schon beruehrt. Sein Betragen gegen den Aegisth sieht einem ebenso verschlagenen als entschlossenen Manne, wie ihn uns der Dichter von Anfange schildert, noch weniger aehnlich. Aegisth haette bei dem Opfer gerade nicht erscheinen muessen. Was soll er da? Ihm Gehorsam schwoeren? In den Augen des Volks? Unter dem Geschrei seiner verzweifelnden Mutter? Wird da nicht unfehlbar geschehen, was er zuvor selbst besorgte?[2] Er hat sich fuer seine Person alles von dem Aegisth zu versehen; Aegisth verlangt nur sein Schwert wieder, um den ganzen Streit zwischen ihnen mit eins zu entscheiden; und diesen tollkuehnen Aegisth laesst er sich an dem Altare, wo das erste das beste, was ihm in die Hand faellt, ein Schwert werden kann, so nahe kommen? Der Polyphont des Maffei ist von diesen Ungereimtheiten frei; denn dieser kennt den Aegisth nicht und haelt ihn fuer seinen Freund. Warum haette Aegisth sich ihm also bei dem Altare nicht naehern duerfen? Niemand gab auf seine Bewegungen acht; der Streich war geschehen und er zu dem zweiten schon bereit, ehe es noch einem Menschen einkommen konnte, den ersten zu raechen.

"Merope", sagt Lindelle, "wenn sie bei dem Maffei erfaehrt, dass ihr Sohn ermordet sei, will dem Moerder das Herz aus dem Leibe reissen und es mit ihren Zaehnen zerfleischen.[3] Das heisst, sich wie eine Kannibalin und nicht wie eine betruebte Mutter ausdruecken; das Anstaendige muss ueberall beobachtet werden." Ganz recht; aber obgleich die franzoesische Merope delikater ist, als dass sie so in ein rohes Herz, ohne Salz und Schmalz, beissen sollte: so duenkt mich doch, ist sie im Grunde ebensogut Kannibalin, als die italienische.—

——Fussnote

[1] Atto III. Sc. I.

    ——Quando
    Saran da poi sopiti alquanto, e queti
    Gli animi, l'arte del regnar mi giovi.
    Per mute oblique vie n'andranno a Stige
    L'alme piu audaci, e generose. A i vizi
    I'er cui vigor si abbatte, ardir si toglie
    Il freno allarghero. Lunga clemenza
    Con pompa di pieta faro, che splenda
    Su i delinquenti; a i gran delitti invito,
    Onde restino i buoni esposti, e paghi
    Renda gl' iniqui la licenza; ed onde
    Poi fra se distruggendosi, in crudeli
    Gare private il lor furor si stempri.
    Udrai sovente risonar gli editti.
    E raddopiar le leggi, che al sovrano
    Giovan servate, e transgredite. Udrai
    Correr minaccia ognor di guerra esterna;
    Ond' io n'andro su l'atterrita plebe
    Sempre crescendo i pesi, e peregrine
    Milizie introdurro.—

[2]
    Si ce fils, tant pleure, dans Messene est produit,
    De quinze ans de travaux j'ai perdu tout le fruit.
    Crois-moi, ces prejuges de sang et de naissance
    Revivront dans les coeurs, y prendront sa defense.
    Le souvenir du pere, et cent rois pour aieux,
    Cet honneur pretendu d'etre issu de nos Dieux;
    Les cris, le desespoir d'une mere eploree.
    Detruiront ma puissance encor mal assuree.

[3]
    Quel scelerato in mio poter vorrei
    Per trarne prima, s'ebbe parte in questo
    Assassinio il tiranno; io voglio poi
    Con una scure spalancargli il petto,
    Voglio strappargli il cor, vogho co' denti
    Lacerarlo, e sbranarlo—

——Fussnote

Siebenundvierzigstes Stueck
Den 9. Oktober 1767

Und wie das?—Wenn es unstreitig ist, dass man den Menschen mehr nach seinen Taten, als nach seinen Reden richten muss; dass ein rasches Wort, in der Hitze der Leidenschaft ausgestossen, fuer seinen moralischen Charakter wenig, eine ueberlegte kalte Handlung aber alles beweiset: so werde ich wohl recht haben. Merope, die sich in der Ungewissheit, in welcher sie von dem Schicksale ihres Sohnes ist, dem bangsten Kummer ueberlaesst, die immer das Schrecklichste besorgt, und in der Vorstellung, wie ungluecklich ihr abwesender Sohn vielleicht sei, ihr Mitleid ueber alle Unglueckliche erstrecket: ist das schoene Ideal einer Mutter. Merope, die in dem Augenblicke, da sie den Verlust des Gegenstandes ihrer Zaertlichkeit erfaehrt, von ihrem Schmerze betaeubt dahinsinkt, und ploetzlich, sobald sie den Moerder in ihrer Gewalt hoeret, wieder aufspringt und tobet und wuetet und die blutigste schrecklichste Rache an ihm zu vollziehen drohet und wirklich vollziehen wuerde, wenn er sich eben unter ihren Haenden befaende: ist eben dieses Ideal, nur in dem Stande einer gewaltsamen Handlung, in welchem es an Ausdruck und Kraft gewinnet, was es an Schoenheit und Ruehrung verloren hat. Aber Merope, die sich zu dieser Rache Zeit nimmt, Anstalten dazu vorkehret, Feierlichkeiten dazu anordnet und selbst die Henkerin sein, nicht toeten, sondern martern, nicht strafen, sondern ihre Augen an der Strafe weiden will: ist das auch noch eine Mutter? Freilich wohl; aber eine Mutter, wie wir sie uns unter den Kannibalinnen denken; eine Mutter, wie es jede Baerin ist.—Diese Handlung der Merope gefalle wem da will; mir sage er es nur nicht, dass sie ihm gefaellt, wenn ich ihn nicht ebensosehr verachten, als verabscheuen soll.

Vielleicht duerfte der Herr von Voltaire auch dieses zu einem Fehler des Stoffes machen; vielleicht duerfte er sagen, Merope muesse ja wohl den Aegisth mit eigner Hand umbringen wollen, oder der ganze coup de theatre, den Aristoteles so sehr anpreise, der die empfindlichen Athenienser ehedem so sehr entzueckt habe, falle weg. Aber der Herr von Voltaire wuerde sich wiederum irren und die willkuerlichen Abweichungen des Maffei abermals fuer den Stoff selbst nehmen. Der Stoff erfordert zwar, dass Merope den Aegisth mit eigner Hand ermorden will, allein er erfordert nicht, dass sie es mit aller Ueberlegung tun muss. Und so scheinet sie es auch bei dem Euripides nicht getan zu haben, wenn wir anders die Fabel des Hyginus fuer den Auszug seines Stuecks annehmen duerfen. Der Alte koemmt und sagt der Koenigin weinend, dass ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte sie gehoert, dass ein Fremder angelangt sei, der sich ruehme, ihn umgebracht zu haben, und dass dieser Fremde ruhig unter ihrem Dache schlafe; sie ergreift das erste das beste, was ihr in die Haende faellt, eilet voller Wut nach dem Zimmer des Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Erkennung geschieht in dem Augenblicke, da das Verbrechen geschehen sollte. Das war sehr simpel und natuerlich, sehr ruehrend und menschlich! Die Athenienser zitterten fuer den Aegisth, ohne Meropen verabscheuen zu duerfen. Sie zitterten fuer Meropen selbst, die durch die gutartigste Uebereilung Gefahr lief, die Moerderin ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire aber machen mich bloss fuer den Aegisth zittern; denn auf ihre Merope bin ich so ungehalten, dass ich es ihr fast goennen moechte, sie vollfuehrte den Streich. Moechte sie es doch haben! Kann sie sich Zeit zur Rache nehmen, so haette sie sich auch Zeit zur Untersuchung nehmen sollen. Warum ist sie so eine blutduerstige Bestie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; sie mache in der ersten Hitze mit dem Moerder, was sie will, ich verzeihe ihr, sie ist Mensch und Mutter; auch will ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn sie finden sollte, wie sehr sie ihre erste rasche Hitze zu verwuenschen habe. Aber, Madame, einen jungen Menschen, der Sie kurz zuvor so sehr interessierte, an dem Sie so viele Merkmale der Aufrichtigkeit und Unschuld erkannten, weil man eine alte Ruestung bei ihm findet, die nur Ihr Sohn tragen sollte, als den Moerder Ihres Sohnes, an dem Grabmale seines Vaters, mit eigner Hand abschlachten zu wollen, Leibwache und Priester dazu zu Hilfe zu nehmen—O pfui, Madame! Ich muesste mich sehr irren, oder Sie waeren in Athen ausgepfiffen worden.

Dass die Unschicklichkeit, mit welcher Polyphont nach funfzehn Jahren die veraltete Merope zur Gemahlin verlangt, ebensowenig ein Fehler des Stoffes ist, habe ich schon beruehrt. Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Polyphont Meropen gleich nach der Ermordung des Kresphonts geheiratet; und es ist sehr glaublich, dass selbst Euripides diesen Umstand so angenommen hatte. Warum sollte er auch nicht? Eben die Gruende, mit welchen Eurikles, beim Voltaire, Meropen itzt nach funfzehn Jahren bereden will, dem Tyrannen ihre Hand zu geben,[1] haetten sie auch vor funfzehn Jahren dazu vermoegen koennen. Es war sehr in der Denkungsart der alten griechischen Frauen, dass sie ihren Abscheu gegen die Moerder ihrer Maenner ueberwanden und sie zu ihren zweiten Maennern annahmen, wenn sie sahen, dass den Kindern ihrer ersten Ehe Vorteil daraus erwachsen koenne. Ich erinnere mich etwas Aehnliches in dem griechischen Roman des Charitons, den d'Orville herausgegeben, ehedem gelesen zu haben, wo eine Mutter das Kind selbst, welches sie noch unter ihrem Herzen traegt, auf eine sehr ruehrende Art darueber zum Richter nimmt. Ich glaube, die Stelle verdiente angefuehrt zu werden; aber ich habe das Buch nicht bei der Hand. Genug, dass das, was dem Eurikles Voltaire selbst in den Mund legt, hinreichend gewesen waere, die Auffuehrung seiner "Merope" zu rechtfertigen, wenn er sie als die Gemahlin des Polyphonts eingefuehret haette. Die kalten Szenen einer politischen Liebe waeren dadurch weggefallen; und ich sehe mehr als einen Weg, wie das Interesse durch diesen Umstand selbst noch weit lebhafter und die Situationen noch weit intriganter haetten werden koennen.

Doch Voltaire wollte durchaus auf dem Wege bleiben, den ihm Maffei gebahnet hatte, und weil es ihm gar nicht einmal einfiel, dass es einen bessern geben koenne, dass dieser bessere eben der sei, der schon vor Alters befahren worden, so begnuegte er sich, auf jenem ein paar Sandsteine aus dem Gleise zu raeumen, ueber die er meinet, dass sein Vorgaenger fast umgeschmissen haette. Wuerde er wohl sonst auch dieses von ihm beibehalten haben, dass Aegisth, unbekannt mit sich selbst, von ungefaehr nach Messene geraten, und daselbst durch kleine zweideutige Merkmale in den Verdacht kommen muss, dass er der Moerder seiner selbst sei? Bei dem Euripides kannte sich Aegisth vollkommen, kam in dem ausdruecklichen Vorsatze, sich zu raechen, nach Messene und gab sich selbst fuer den Moerder des Aegisth aus: nur dass er sich seiner Mutter nicht entdeckte, es sei aus Vorsicht, oder aus Misstrauen, oder aus was sonst fuer Ursache, an der es ihm der Dichter gewiss nicht wird haben mangeln lassen. Ich habe zwar oben dem Maffei einige Gruende zu allen den Veraenderungen, die er mit dem Plane des Euripides gemacht hat, von meinem Eigenen geliehen. Aber ich bin weit entfernt, die Gruende fuer wichtig und die Veraenderungen fuer gluecklich genug auszugeben. Vielmehr behaupte ich, dass jeder Tritt, den er aus den Fusstapfen des Griechen zu tun gewagt, ein Fehltritt geworden. Dass sich Aegisth nicht kennet, dass er von ungefaehr nach Messene kommt und per combinazione d'accidenti (wie Maffei es ausdrueckt) fuer den Moerder des Aegisth gehalten wird, gibt nicht allein der ganzen Geschichte ein sehr verwirrtes, zweideutiges und romanenhaftes Ansehen, sondern schwaecht auch das Interesse ungemein. Bei dem Euripides wusste es der Zuschauer von dem Aegisth selbst, dass er Aegisth sei, und je gewisser er es wusste, dass Merope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, desto groesser musste notwendig das Schrecken sein, das ihn darueber befiel, desto quaelender das Mitleid, welches er voraus sahe, falls Merope an der Vollziehung nicht zu rechter Zeit verhindert wuerde. Bei dem Maffei und Voltaire hingegen vermuten wir es nur, dass der vermeinte Moerder des Sohnes der Sohn wohl selbst sein koenne, und unser groesstes Schrecken ist auf den einzigen Augenblick versparet, in welchem es Schrecken zu sein aufhoeret. Das Schlimmste dabei ist noch dieses, dass die Gruende, die uns in dem jungen Fremdlinge den Sohn der Merope vermuten lassen, eben die Gruende sind, aus welchen es Merope selbst vermuten sollte, und dass wir ihn, besonders bei Voltairen, nicht in dem allergeringsten Stuecke naeher und zuverlaessiger kennen, als sie ihn selbst kennen kann. Wir trauen also diesen Gruenden entweder ebensoviel, als ihnen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr. Trauen wir ihnen ebensoviel, so halten wir den Juengling mit ihr fuer einen Betrieger, und das Schicksal, das sie ihm zugedacht, kann uns nicht sehr ruehren. Trauen wir ihnen mehr, so tadeln wir Meropen, dass sie nicht besser darauf merket und sich von weit seichtern Gruenden hinreissen laesst. Beides aber taugt nicht.

——Fussnote

[1] Acte II. Sc. 1.

    —Mer. Non, mon fils ne le souffrirait pas.
      L'exil ou son enfance a langui condamnee
      Lui serait moins affreux que ce lache hymenee.
    Eur. Il le condamnerait, si, paisible en son rang,
      Il n'en croyait ici que les droits de son sang;
      Mais si par les malheurs son ame etait instruite,
      Sur ses vrais interets s'il reglait sa conduite,
      De ses tristes amis s'il consultait la voix,
      Et la necessite souveraine des loix,
      Il verrait que jamais sa malheureuse mere
      Ne lui donna d'amour une marque plus chere.
    Mer. Ah que me dites-vous? Eur. De dures verites
      Que m'arrachent mon zele et vos calamites.
    Mer. Quoi! Vous me demandez que l'interet surmonte
      Cette invincible horreur que j'ai pour Polifonte!
      Vous qui me l'avez peint de si noires couleurs!
    Eur. Je l'ai peint dangereux, je connais ses fureurs;
      Mais il est tout-puissant; mais rien ne lui resiste;
      Il est sans heritier, et vous aimez Egiste.—.

——Fussnote

Achtundvierzigstes Stueck
Den 13. Oktober 1767

Es ist wahr, unsere Ueberraschung ist groesser, wenn wir es nicht eher mit voelliger Gewissheit erfahren, dass Aegisth Aegisth ist, als bis es Merope selbst erfaehrt. Aber das armselige Vergnuegen einer Ueberraschung! Und was braucht der Dichter uns zu ueberraschen? Er ueberrasche seine Personen, soviel er will; wir werden unser Teil schon davon zu nehmen wissen, wenn wir, was sie ganz unvermutet treffen muss, auch noch so lange vorausgesehen haben. Ja, unser Anteil wird um so lebhafter und staerker sein, je laenger und zuverlaessiger wir es vorausgesehen haben.

Ich will, ueber diesen Punkt, den besten franzoesischen Kunstrichter fuer mich sprechen lassen. "In den verwickelten Stuecken", sagt Diderot,[1] "ist das Interesse mehr die Wirkung des Plans, als der Reden; in den einfachen Stuecken hingegen ist es mehr die Wirkung der Reden, als des Plans. Allein worauf muss sich das Interesse beziehen? Auf die Personen? Oder auf die Zuschauer? Die Zuschauer sind nichts als Zeugen, von welchen man nichts weiss. Folglich sind es die Personen, die man vor Augen haben muss. Ohnstreitig! Diese lasse man den Knoten schuerzen, ohne dass sie es wissen; fuer diese sei alles undurchdringlich; diese bringe man, ohne dass sie es merken, der Aufloesung immer naeher und naeher. Sind diese nur in Bewegung, so werden wir Zuschauer den naemlichen Bewegungen schon auch nachgeben, sie schon auch empfinden muessen.—Weit gefehlt, dass ich mit den meisten, die von der dramatischen Dichtkunst geschrieben haben, glauben sollte, man muesse die Entwicklung vor dem Zuschauer verbergen. Ich daechte vielmehr, es sollte meine Kraefte nicht uebersteigen, wenn ich mir ein Werk zu machen versetzte, wo die Entwicklung gleich in der ersten Szene verraten wuerde und aus diesem Umstande selbst das allerstaerkeste Interesse entspraenge.—Fuer den Zuschauer muss alles klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiss alles, was vorgeht, alles was vorgegangen ist; und es gibt hundert Augenblicke, wo man nichts Bessers tun kann, als dass man ihm gerade voraussagt, was noch vorgehen soll. —O ihr Verfertiger allgemeiner Regeln, wie wenig versteht ihr die Kunst, und wie wenig besitzt ihr von dem Genie, das die Muster hervorgebracht hat, auf welche ihr sie bauet, und das sie uebertreten kann, sooft es ihm beliebt!—Meine Gedanken moegen so paradox scheinen, als sie wollen: soviel weiss ich gewiss, dass fuer eine Gelegenheit, wo es nuetzlich ist, dem Zuschauer einen wichtigen Vorfall so lange zu verhehlen, bis er sich ereignet, es immer zehn und mehrere gibt, wo das Interesse gerade das Gegenteil erfodert.—Der Dichter bewerkstelliget durch sein Geheimnis eine kurze Ueberraschung; und in welche anhaltende Unruhe haette er uns stuerzen koennen, wenn er uns kein Geheimnis daraus gemacht haette!—Wer in einem Augenblicke getroffen und niedergeschlagen wird, den kann ich auch nur einen Augenblick bedauern. Aber, wie steht es alsdenn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte, wenn ich sehe, dass sich das Ungewitter ueber meinem oder eines andern Haupte zusammenziehet und lange Zeit darueber verweilet?—Meinetwegen moegen die Personen alle einander nicht kennen; wenn sie nur der Zuschauer alle kennet.—Ja, ich wollte fast behaupten, dass der Stoff, bei welchem die Verschweigungen notwendig sind, ein undankbarer Stoff ist; dass der Plan, in welchem man seine Zuflucht zu ihnen nimmt, nicht so gut ist, als der, in welchem man sie haette entuebrigen koennen. Sie werden nie zu etwas Starkem Anlass geben. Immer werden wir uns mit Vorbereitungen beschaeftigen muessen, die entweder allzu dunkel oder allzu deutlich sind. Das ganze Gedicht wird ein Zusammenhang von kleinen Kunstgriffen werden, durch die man weiter nichts als eine kurze Ueberraschung hervorzubringen vermag. Ist hingegen alles, was die Personen angeht, bekannt: so sehe ich in dieser Voraussetzung die Quelle der allerheftigsten Bewegungen.—Warum haben gewisse Monologen eine so grosse Wirkung? Darum, weil sie mir die geheimen Anschlaege einer Person vertrauen, und diese Vertraulichkeit mich den Augenblick mit Furcht oder Hoffnung erfuellet.—Wenn der Zustand der Personen unbekannt ist, so kann sich der Zuschauer fuer die Handlung nicht staerker interessieren, als die Personen. Das Interesse aber wird sich fuer den Zuschauer verdoppeln, wenn er Licht genug hat und es fuehlet, dass Handlung und Reden ganz anders sein wuerden, wenn sich die Personen kennten. Alsdenn nur werde ich es kaum erwarten koennen, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was sie wirklich sind, mit dem, was sie tun oder tun wollen, vergleichen kann."

Dieses auf den Aegisth angewendet, ist es klar, fuer welchen von beiden Planen sich Diderot erklaeren wuerde: ob fuer den alten des Euripides, wo die Zuschauer gleich vom Anfange den Aegisth ebensogut kennen, als er sich selbst; oder fuer den neuern des Maffei, den Voltaire so blindlings angenommen, wo Aegisth sich und den Zuschauern ein Raetsel ist und dadurch das ganze Stueck "zu einem Zusammenhange von kleinen Kunstgriffen" macht, die weiter nichts als eine kurze Ueberraschung hervorbringen.

Diderot hat auch nicht ganz unrecht, seine Gedanken ueber die Entbehrlichkeit und Geringfuegigkeit aller ungewissen Erwartungen und ploetzlichen Ueberraschungen, die sich auf den Zuschauer beziehen, fuer ebenso neu als gegruendet auszugeben. Sie sind neu, in Ansehung ihrer Abstraktion, aber sehr alt, in Ansehung der Muster, aus welchen sie abstrahieret worden. Sie sind neu, in Betrachtung, dass seine Vorgaenger nur immer auf das Gegenteil gedrungen; aber unter diese Vorgaenger gehoert weder Aristoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts entfahren ist, was ihre Ausleger und Nachfolger in ihrer Praedilektion fuer dieses Gegenteil haette bestaerken koennen, dessen gute Wirkung sie weder den meisten noch den besten Stuecken der Alten abgesehen hatten.

Unter diesen war besonders Euripides seiner Sache so gewiss, dass er fast immer den Zuschauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er sie fuehren wollte. Ja, ich waere sehr geneigt, aus diesem Gesichtspunkte die Verteidigung seiner Prologen zu uebernehmen, die den neuern Kriticis so sehr missfallen. "Nicht genug", sagt Hedelin, "dass er meistenteils alles, was vor der Handlung des Stuecks vorhergegangen, durch eine von seinen Hauptpersonen den Zuhoerern geradezu erzaehlen laesst, um ihnen auf diese Weise das Folgende verstaendlich zu machen: er nimmt auch wohl oefters einen Gott dazu, von dem wir annehmen muessen, dass er alles weiss, und durch den er nicht allein was geschehen ist, sondern auch alles, was noch geschehen soll, uns kundmacht. Wir erfahren sonach gleich anfangs die Entwicklung und die ganze Katastrophe und sehen jeden Zufall schon von weiten kommen. Dieses aber ist ein sehr merklicher Fehler, welcher der Ungewissheit und Erwartung, die auf dem Theater bestaendig herrschen sollen, gaenzlich zuwider ist und alle Annehmlichkeiten des Stueckes vernichtet, die fast einzig und allein auf der Neuheit und Ueberraschung beruhen."[2] Nein. der tragischste von allen tragischen Dichtern dachte so geringschaetzig von seiner Kunst nicht; er wusste, dass sie einer weit hoehern Vollkommenheit faehig waere, und dass die Ergoetzung einer kindischen Neugierde das Geringste sei, worauf sie Anspruch mache. Er liess seine Zuhoerer also, ohne Bedenken, von der bevorstehenden Handlung ebensoviel wissen, als nur immer ein Gott davon wissen konnte; und versprach sich die Ruehrung, die er hervorbringen wollte, nicht sowohl von dem, was geschehen sollte, als von der Art, wie es geschehen sollte. Folglich muesste den Kunstrichtern hier eigentlich weiter nichts anstoessig sein, als nur dieses, dass er uns die noetige Kenntnis des Vergangnen und des Zukuenftigen nicht durch einen feinern Kunstgriff beizubringen gesucht; dass er ein hoeheres Wesen, welches wohl noch dazu an der Handlung keinen Anteil nimmt, dazu gebrauchet und dass er dieses hoehere Wesen sich geradezu an die Zuschauer wenden lassen, wodurch die dramatische Gattung mit der erzaehlenden vermischt werde. Wenn sie aber ihren Tadel sodann bloss hierauf einschraenkten, was waere denn ihr Tadel? Ist uns das Nuetzliche und Notwendige niemals willkommen, als wenn es uns verstohlnerweise zugeschanzt wird? Gibt es nicht Dinge, besonders in der Zukunft, die durchaus niemand anders als ein Gott wissen kann? Und wenn das Interesse auf solchen Dingen beruht, ist es nicht besser, dass wir sie durch die Darzwischenkunft eines Gottes vorher erfahren, als gar nicht? Was will man endlich mit der Vermischung der Gattungen ueberhaupt? In den Lehrbuechern sondre man sie so genau voneinander ab, als moeglich: aber wenn ein Genie, hoeherer Absichten wegen, mehrere derselben in einem und ebendemselben Werke zusammenfliessen laesst, so vergesse man das Lehrbuch und untersuche bloss, ob es diese hoehere Absichten erreicht hat. Was geht mich es an, ob so ein Stueck des Euripides weder ganz Erzaehlung, noch ganz Drama ist? Nennt es immerhin einen Zwitter; genug, dass mich dieser Zwitter mehr vergnuegt, mehr erbauet, als die gesetzmaessigsten Geburten eurer korrekten Racinen, oder wie sie sonst heissen. Weil der Maulesel weder Pferd noch Esel ist, ist er darum weniger eines von den nutzbarsten lasttragenden Tieren?—

——Fussnote

[1] In seiner dramatischen Dichtkunst, hinter dem Hausvater, S. 327 die Uebers.

[2] "Pratique du Theatre", Liv. III. chap. 1.

——Fussnote

Neunundvierzigstes Stueck
Den 16. Oktober 1767

Mit einem Worte; wo die Tadler des Euripides nichts als den Dichter zu sehen glauben, der sich aus Unvermoegen, oder aus Gemaechlichkeit, oder aus beiden Ursachen, seine Arbeit so leicht machte, als moeglich; wo sie die dramatische Kunst in ihrer Wiege zu finden vermeinen: da glaube ich diese in ihrer Vollkommenheit zu sehen, und bewundere in jenem den Meister, der im Grunde ebenso regelmaessig ist, als sie ihn zu sein verlangen, und es nur dadurch weniger zu sein scheinet, weil er seinen Stuecken eine Schoenheit mehr erteilen wollen, von der sie keinen Begriff haben.

Denn es ist klar, dass alle die Stuecke, deren Prologe ihnen so viel Aergernis machen, auch ohne diese Prologe vollkommen ganz, und vollkommen verstaendlich sind. Streichet z.E. vor dem "Ion" den Prolog des Merkurs, vor der "Hekuba" den Prolog des Polydors weg; lasst jenen sogleich mit der Morgenandacht des Ion und diese mit den Klagen der Hekuba anfangen: sind beide darum im geringsten verstuemmelt? Woher wuerdet ihr, was ihr weggestrichen habt, vermissen, wenn es gar nicht da waere? Behaelt nicht alles den naemlichen Gang, den naemlichen Zusammenhang? Bekennet sogar, dass die Stuecke, nach eurer Art zu denken, desto schoener sein wuerden, wenn wir aus den Prologen nicht wuessten, dass der Ion, welchen Kreusa will vergiften lassen, der Sohn dieser Kreusa ist; dass die Kreusa, welche Ion von dem Altar zu einem schmaehlichen Tode reissen will, die Mutter dieses Ion ist; wenn wir nicht wuessten, dass an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum Opfer hingeben muss, die alte unglueckliche Frau auch den Tod ihres letzten einzigen Sohnes erfahren solle. Denn alles dieses wuerde die trefflichsten Ueberraschungen geben, und diese Ueberraschungen wuerden noch dazu vorbereitet genug sein: ohne dass ihr sagen koenntet, sie braechen auf einmal gleich einem Blitze aus der hellesten Wolke hervor; sie erfolgten nicht, sondern sie entstaenden; man wolle euch nicht auf einmal etwas entdecken, sondern etwas aufheften. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Mangel der Kunst vor? Vergebt ihm doch immer einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der Feder gut zu machen ist. Einen wolluestigen Schoessling schneidet der Gaertner in der Stille ab, ohne auf den gesunden Baum zu schelten, der ihn getrieben hat. Wollt ihr aber einen Augenblick annehmen,—es ist wahr, es heisst sehr viel annehmen—dass Euripides vielleicht ebensoviel Einsicht, ebensoviel Geschmack koenne gehabt haben, als ihr; und es wundert euch um soviel mehr, wie er bei dieser grossen Einsicht, bei diesem feinen Geschmacke, dennoch einen so groben Fehler begehen koennen: so tretet zu mir her und betrachtet, was ihr Fehler nennt, aus meinem Standorte. Euripides sahe es so gut, als wir, dass z.E. sein "Ion" ohne den Prolog bestehen koenne; dass er, ohne denselben, ein Stueck sei, welches die Ungewissheit und Erwartung des Zuschauers bis an das Ende unterhalte: aber eben an dieser Ungewissheit und Erwartung war ihm nichts gelegen. Denn erfuhr es der Zuschauer erst in dem fuenften Akte, dass Ion der Sohn der Kreusa sei: so ist es fuer ihn nicht ihr Sohn, sondern ein Fremder, ein Feind, den sie in dem dritten Akte aus dem Wege raeumen will; so ist es fuer ihn nicht die Mutter des Ion, an welcher sich Ion in dem vierten Akte raechen will, sondern bloss die Meuchelmoerderin. Wo sollten aber alsdenn Schrecken und Mitleid herkommen? Die blosse Vermutung, die sich etwa aus uebereintreffenden Umstaenden haette ziehen lassen, dass Ion und Kreusa einander wohl naeher angehen koennten, als sie meinen, wuerde dazu nicht hinreichend gewesen sein. Diese Vermutung musste zur Gewissheit werden; und wenn der Zuhoerer diese Gewissheit nur von aussen erhalten konnte, wenn es nicht moeglich war, dass er sie einer von den handelnden Personen selbst zu danken haben konnte: war es nicht immer besser, dass der Dichter sie ihm auf die einzige moegliche Weise erteilte, als gar nicht? Sagt von dieser Weise, was ihr wollt: genug, sie hat ihn sein Ziel erreichen helfen; seine Tragoedie ist dadurch, was eine Tragoedie sein soll; und wenn ihr noch unwillig seid, dass er die Form dem Wesen nachgesetzet hat, so versorge euch eure gelehrte Kritik mit nichts als Stuecken, wo das Wesen der Form aufgeopfert ist, und ihr seid belohnt! Immerhin gefalle euch Whiteheads "Kreusa", wo euch kein Gott etwas voraussagt, wo ihr alles von einem alten plauderhaften Vertrauten erfahrt, den eine verschlagne Zigeunerin ausfragt, immerhin gefalle sie euch besser, als des Euripides "Ion": und ich werde euch nie beneiden!

Wenn Aristoteles den Euripides den tragischsten von allen tragischen Dichtern nennet, so sahe er nicht bloss darauf, dass die meisten seiner Stuecke eine unglueckliche Katastrophe haben; ob ich schon weiss, dass viele den Stagiriten so verstehen. Denn das Kunststueck waere ihm ja wohl bald abgelernt; und der Stuemper, der brav wuergen und morden und keine von seinen Personen gesund oder lebendig von der Buehne kommen liesse, wuerde sich ebenso tragisch duenken duerfen, als Euripides. Aristoteles hatte unstreitig mehrere Eigenschaften im Sinne, welchen zufolge er ihm diesen Charakter erteilte; und ohne Zweifel, dass die eben beruehrte mit dazu gehoerte, vermoege der er naemlich den Zuschauern alle das Unglueck, welches seine Personen ueberraschen sollte, lange vorher zeigte, um die Zuschauer auch dann schon mit Mitleiden fuer die Personen einzunehmen, wenn diese Personen selbst sich noch weit entfernt glaubten, Mitleid zu verdienen. —Sokrates war der Lehrer und Freund des Euripides; und wie mancher duerfte der Meinung sein, dass der Dichter dieser Freundschaft des Philosophen weiter nichts zu danken habe, als den Reichtum von schoenen Sittenspruechen, den er so verschwendrisch in seinen Stuecken ausstreuet. Ich denke, dass er ihr weit mehr schuldig war; er haette, ohne sie, ebenso spruchreich sein koennen; aber vielleicht wuerde er, ohne sie, nicht so tragisch geworden sein. Schoene Sentenzen und Moralen sind ueberhaupt gerade das, was wir von einem Philosophen, wie Sokrates, am seltensten hoeren; sein Lebenswandel ist die einzige Moral, die er prediget. Aber den Menschen und uns selbst kennen; auf unsere Empfindungen aufmerksam sein; in allen die ebensten und kuerzesten Wege der Natur ausforschen und lieben; jedes Ding nach seiner Absicht beurteilen: das ist es, was wir in seinem Umgange lernen; das ist es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was ihn zu dem Ersten in seiner Kunst machte. Gluecklich der Dichter, der so einen Freund hat—und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rate ziehen kann!—

Auch Voltaire scheinet es empfunden zu haben, dass es gut sein wuerde, wenn er uns mit dem Sohn der Merope gleich anfangs bekannt machte; wenn er uns mit der Ueberzeugung, dass der liebenswuerdige unglueckliche Juengling, den Merope erst in Schutz nimmt, und den sie bald darauf als den Moerder ihres Aegisth hinrichten will, der naemliche Aegisth sei, sofort koenne aussetzen lassen. Aber der Juengling kennt sich selbst nicht; auch ist sonst niemand da, der ihn besser kennte, und durch den wir ihn koennten kennen lernen. Was tut also der Dichter? Wie faengt er es an, dass wir es gewiss wissen, Merope erhebe den Dolch gegen ihren eignen Sohn, noch ehe es ihr der alte Narbas zuruft?—Oh, das faengt er sehr sinnreich an! Auf so einen Kunstgriff konnte sich nur ein Voltaire besinnen!—Er laesst, sobald der unbekannte Juengling auftritt, ueber das erste, was er sagt, mit grossen, schoenen, leserlichen Buchstaben den ganzen, vollen Namen "Aegisth" setzen; und so weiter ueber jede seiner folgenden Reden. Nun wissen wir es; Merope hat in dem Vorhergehenden ihren Sohn schon mehr wie einmal bei diesem Namen genannt; und wenn sie das auch nicht getan haette, so duerften wir ja nur das vorgedruckte Verzeichnis der Personen nachsehen; da steht es lang und breit! Freilich ist es ein wenig laecherlich, wenn die Person, ueber deren Reden wir nun schon zehnmal den Namen "Aegisth" gelesen haben, auf die Frage:

    —Narbas vous est connu?
    Le nom d'Egiste au moins jusqu'a vous est venu?
    Quel etait votre etat, votre rang, votre pere?

antwortet:

    Mon pere est un vieillard accable de misere;
    Policlete est son nom; mais Egiste, Narbas,
    Ceux dont vous me parlez, je ne les connais pas.

Freilich ist es sehr sonderbar, dass wir von diesem Aegisth, der nicht Aegisth heisst, auch keinen andern Namen hoeren; dass, da er der Koenigin antwortet, sein Vater heisse Polyklet, er nicht auch hinzusetzt, er heisse so und so. Denn einen Namen muss er doch haben; und den haette der Herr von Voltaire ja wohl schon mit erfinden koennen, da er so viel erfunden hat! Leser, die den Rummel einer Tragoedie nicht recht gut verstehen, koennen leicht darueber irre werden. Sie lesen, dass hier ein Bursche gebracht wird, der auf der Landstrasse einen Mord begangen hat; dieser Bursche, sehen sie, heisst Aegisth, aber er sagt, er heisse nicht so, und sagt doch auch nicht, wie er heisse: oh, mit dem Burschen, schliessen sie, ist es nicht richtig; das ist ein abgefeimter Strassenraeuber, so jung er ist, so unschuldig er sich stellt. So, sage ich, sind unerfahrne Leser zu denken in Gefahr; und doch glaube ich in allem Ernste, dass es fuer die erfahrnen Leser besser ist, auch so, gleich anfangs, zu erfahren, wie der unbekannte Juengling ist, als gar nicht. Nur dass man mir nicht sage, dass diese Art sie davon zu unterrichten, im geringsten kuenstlicher und feiner sei, als ein Prolog im Geschmacke des Euripides!—

Funfzigstes Stueck
Den 20. Oktober 1767

Bei dem Maffei hat der Juengling seine zwei Namen, wie es sich gehoert; Aegisth heisst er, als der Sohn des Polydor, und Kresphont, als der Sohn der Merope. In dem Verzeichnisse der handelnden Personen wird er auch nur unter jenem eingefuehrt; und Becelli rechnet es seiner Ausgabe des Stuecks als kein geringes Verdienst an, dass dieses Verzeichnis den wahren Stand des Aegisth nicht voraus verrate.[1] Das ist, die Italiener sind von den Ueberraschungen noch groessere Liebhaber, als die Franzosen.—

Aber noch immer "Merope"!—Wahrlich, ich bedaure meine Leser, die sich an diesem Blatte eine theatralische Zeitung versprochen haben, so mancherlei und bunt, so unterhaltend und schnurrig, als eine theatralische Zeitung nur sein kann. Anstatt des Inhalts der hier gangbaren Stuecke, in kleine lustige oder ruehrende Romane gebracht; anstatt beilaeufiger Lebensbeschreibungen drolliger, sonderbarer, naerrischer Geschoepfe, wie die doch wohl sein muessen, die sich mit Komoedienschreiben abgeben; anstatt kurzweiliger, auch wohl ein wenig skandaloeser Anekdoten von Schauspielern und besonders Schauspielerinnen: anstatt aller dieser artigen Saechelchen, die sie erwarteten, bekommen sie lange, ernsthafte, trockne Kritiken ueber alte bekannte Stuecke; schwerfaellige Untersuchungen ueber das, was in einer Tragoedie sein sollte und nicht sein sollte; mitunter wohl gar Erklaerungen des Aristoteles. Und das sollen sie lesen? Wie gesagt, ich bedauere sie; sie sind gewaltig angefuehrt!—Doch im Vertrauen: besser, dass sie es sind, als ich. Und ich wuerde es sehr sein, wenn ich mir ihre Erwartungen zum Gesetze machen muesste. Nicht dass ihre Erwartungen sehr schwer zu erfuellen waeren; wirklich nicht; ich wuerde sie vielmehr sehr bequem finden, wenn sie sich mit meinen Absichten nur besser vertragen wollten.

Ueber die "Merope" indes muss ich freilich einmal wegzukommen suchen.—Ich wollte eigentlich nur erweisen, dass die "Merope" des Voltaire im Grunde nichts als die "Merope" des Maffei sei; und ich meine, dieses habe ich erwiesen. Nicht ebenderselbe Stoff, sagt Aristoteles, sondern ebendieselbe Verwicklung und Aufloesung machen, dass zwei oder mehrere Stuecke fuer ebendieselben Stuecke zu halten sind. Also, nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerlei Geschichte behandelt hat, sondern weil er sie mit ihm auf ebendieselbe Art behandelt hat, ist er hier fuer weiter nichts, als fuer den Uebersetzer und Nachahmer desselben zu erklaeren. Maffei hat die "Merope" des Euripides nicht bloss wieder hergestellet; er hat eine eigene "Merope" gemacht: denn er ging voellig von dem Plane des Euripides ab; und in dem Vorsatze, ein Stueck ohne Galanterie zu machen, in welchem das ganze Interesse bloss aus der muetterlichen Zaertlichkeit entspringe, schuf er die ganze Fabel um; gut oder uebel, das ist hier die Frage nicht; genug, er schuf sie doch um. Voltaire aber entlehnte von Maffei die ganze so umgeschaffene Fabel; er entlehnte von ihm, dass Merope mit dem Polyphont nicht vermaehlt ist; er entlehnte von ihm die politischen Ursachen, aus welchen der Tyrann nun erst, nach funfzehn Jahren, auf diese Vermaehlung dringen zu muessen glaubet; er entlehnte von ihm, dass der Sohn der Merope sich selbst nicht kennet; er entlehnte von ihm, wie und warum dieser von seinem vermeintlichen Vater entkoemmt; er entlehnte von ihm den Vorfall, der den Aegisth als einen Moerder nach Messene bringt; er entlehnte von ihm die Missdeutung, durch die er fuer den Moerder seiner selbst gehalten wird; er entlehnte von ihm die dunkeln Regungen der muetterlichen Liebe, wenn Merope den Aegisth zum erstenmale erblickt; er entlehnte von ihm den Vorwand, warum Aegisth vor Meropens Augen, von ihren eignen Haenden sterben soll, die Entdeckung seiner Mitschuldigen: mit einem Worte, Voltaire entlehnte vom Maffei die ganze Verwicklung. Und hat er nicht auch die ganze Aufloesung von ihm entlehnt, indem er das Opfer, bei welchem Polyphont umgebracht werden sollte, von ihm mit der Handlung verbinden lernte? Maffei machte es zu einer hochzeitlichen Feier, und vielleicht, dass er, bloss darum, seinen Tyrannen itzt erst auf die Verbindung mit Meropen fallen liess, um dieses Opfer desto natuerlicher anzubringen. Was Maffei erfand, tat Voltaire nach.

Es ist wahr, Voltaire gab verschiedenen von den Umstaenden, die er vom Maffei entlehnte, eine andere Wendung. z.E. Anstatt dass, beim Maffei, Polyphont bereits funfzehn Jahre regieret hat, laesst er die Unruhen in Messene ganzer funfzehn Jahre dauern, und den Staat so lange in der unwahrscheinlichsten Anarchie verharren. Anstatt dass, beim Maffei, Aegisth von einem Raeuber auf der Strasse angefallen wird, laesst er ihn in einem Tempel des Herkules von zwei Unbekannten ueberfallen werden, die es ihm uebel nehmen, dass er den Herkules fuer die Herakliden, den Gott des Tempels fuer die Nachkommen desselben anfleht. Anstatt dass beim Maffei Aegisth durch einen Ring in Verdacht geraet, laesst Voltaire diesen Verdacht durch eine Ruestung entstehen usw. Aber alle diese Veraenderungen betreffen die unerheblichsten Kleinigkeiten, die fast alle ausser dem Stuecke sind und auf die Oekonomie des Stueckes selbst keinen Einfluss haben. Und doch wollte ich sie Voltairen noch gern als Aeusserungen seines schoepferischen Genies anrechnen, wenn ich nur faende, dass er das, was er aendern zu muessen vermeinte, in allen seinen Folgen zu aendern verstanden haette. Ich will mich an dem mitte1sten von den angefuehrten Beispielen erklaeren. Maffei laesst seinen Aegisth von einem Raeuber angefallen werden, der den Augenblick abpasst, da er sich mit ihm auf dem Wege allein sieht, ohnfern einer Bruecke ueber die Pamise; Aegisth erlegt den Raeuber und wirft den Koerper in den Fluss, aus Furcht, wenn der Koerper auf der Strasse gefunden wuerde, dass man den Moerder verfolgen und ihn dafuer erkennen duerfte. Ein Raeuber, dachte Voltaire, der einem Prinzen den Rock ausziehen und den Beutel nehmen will, ist fuer mein feines, edles Parterr ein viel zu niedriges Bild; besser, aus diesem Raeuber einen Missvergnuegten gemacht, der dem Aegisth als einem Anhaenger der Herakliden zu Leibe will. Und warum nur einen? Lieber zwei; so ist die Heldentat des Aegisths desto groesser, und der, welcher von diesen zweien entrinnt, wenn er zu dem aeltrern gemacht wird, kann hernach fuer den Narbas genommen werden. Recht gut, mein lieber Johann Ballhorn; aber nun weiter. Wenn Aegisth den einen von diesen Missvergnuegten erlegt hat, was tut er alsdenn? Er traegt den toten Koerper auch ins Wasser. Auch? Aber wie denn? warum denn? Von der leeren Landstrasse in den nahen Fluss; das ist ganz begreiflich: aber aus dem Tempel in den Fluss, dieses auch? War denn ausser ihnen niemand in diesem Tempel? Es sei so; auch ist das die groesste Ungereimtheit noch nicht. Das Wie liesse sich noch denken: aber das Warum gar nicht. Maffeis Aegisth traegt den Koerper in den Fluss, weil er sonst verfolgt und erkannt zu werden fuerchtet; weil er glaubt, wenn der Koerper beiseite geschafft sei, dass sodann nichts seine Tat verraten koenne; dass diese sodann, mitsamt dem Koerper, in der Flut begraben sei. Aber kann das Voltairens Aegisth auch glauben? Nimmermehr; oder der zweite haette nicht entkommen muessen. Wird sich dieser begnuegen, sein Leben davongetragen zu haben? Wird er ihn nicht, wenn er auch noch so furchtsam ist, von weiten beobachten? Wird er ihn nicht mit seinem Geschrei verfolgen, bis ihn andere festhalten? Wird er ihn nicht anklagen und wider ihn zeugen? Was hilft es dem Moerder also, das corpus delicti weggebracht zu haben? Hier ist ein Zeuge, welcher es nachweisen kann. Diese vergebene Muehe haette er sparen und dafuer eilen sollen, je eher je lieber ueber die Grenze zu kommen. Freilich musste der Koerper, des Folgenden wegen, ins Wasser geworfen werden; es war Voltairen ebenso noetig als dem Maffei, dass Merope nicht durch die Besichtigung desselben aus ihrem Irrtume gerissen werden konnte; nur dass, was bei diesem Aegisth sich selber zum Besten tut, er bei jenem bloss dem Dichter zu Gefallen tun muss. Denn Voltaire korrigierte die Ursache weg, ohne zu ueberlegen, dass er die Wirkung dieser Ursache brauche, die nunmehr von nichts als von seiner Beduerfnis abhaengt.

Eine einzige Veraenderung, die Voltaire in dem Plane des Maffei gemacht hat, verdient den Namen einer Verbesserung. Die naemlich, durch welche er den wiederholten Versuch der Merope, sich an dem vermeinten Moerder ihres Sohnes zu raechen, unterdrueckt und dafuer die Erkennung von seiten des Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geschehen laesst. Hier erkenne ich den Dichter, und besonders ist die zweite Szene des vierten Akts ganz vortrefflich. Ich wuenschte nur, dass die Erkennung ueberhaupt, die in der vierten Szene des dritten Akts von beiden Seiten erfolgen zu muessen das Ansehen hat, mit mehrerer Kunst haette geteilet werden koennen. Denn dass Aegisth mit einmal von dem Eurikles weggefuehret wird und die Vertiefung sich hinter ihm schliesst, ist ein sehr gewaltsames Mittel. Es ist nicht ein Haar besser, als die uebereilte Flucht, mit der sich Aegisth bei dem Maffei rettet, und ueber die Voltaire seinen Lindelle so spotten laesst. Oder vielmehr, diese Flucht ist um vieles natuerlicher; wenn der Dichter nur hernach Sohn und Mutter einmal zusammen gebracht und uns nicht gaenzlich die ersten ruehrenden Ausbrueche ihrer beiderseitigen Empfindungen gegeneinander vorenthalten haette. Vielleicht wuerde Voltaire die Erkennung ueberhaupt nicht geteilet haben, wenn er seine Materie nicht haette dehnen muessen, um fuenf Akte damit voll zu machen. Er jammert mehr als einmal ueber cette longue carriere de cinq actes qui est prodigieusement difficile a remplir sans episodes—Und nun fuer diesesmal genug von der "Merope"!

——Fussnote

[1] Fin ne i nomi de' Personaggi si e levato quell' errore, comunissimo alle stampe d'ogni drama, di scoprire il secreto nel premettergli, e per conseguenza di levare il piacere a chi legge, overo ascolta, essendosi messo Egisto, dove era, Cresfonte sotto nome d'Egisto.

——Fussnote

Einundfunfzigstes Stueck
Den 23. Oktober 1767

Den neununddreissigsten Abend (mittewochs, den 8. Julius) wurden "Der verheiratete Philosoph" und "Die neue Agnese" wiederholt.[1]

Chevrier sagt,[2] dass Destouches sein Stueck aus einem Lustspiele des Campistron geschoepft habe, und dass, wenn dieser nicht seinen "Jaloux desabuse" geschrieben haette, wir wohl schwerlich einen "Verheirateten Philosophen" haben wuerden. Die Komoedie des Campistron ist unter uns wenig bekannt; ich wuesste nicht, dass sie auf irgendeinem deutschen Theater waere gespielt worden; auch ist keine Uebersetzung davon vorhanden. Man duerfte also vielleicht um so viel lieber wissen wollen, was eigentlich an dem Vorgeben des Chevrier sei.

Die Fabel des Campistronschen Stuecks ist kurz diese: Ein Bruder hat das ansehnliche Vermoegen seiner Schwester in Haenden, und um dieses nicht herausgeben zu duerfen, moechte er sie lieber gar nicht verheiraten. Aber die Frau dieses Bruders denkt besser, oder wenigstens anders, und um ihren Mann zu vermoegen, seine Schwester zu versorgen, sucht sie ihn auf alle Weise eifersuechtig zu machen, indem sie verschiedne junge Mannspersonen sehr guetig aufnimmt, die alle Tage unter dem Vorwande, sich um ihre Schwaegerin zu bewerben, zu ihr ins Haus kommen. Die List gelingt; der Mann wird eifersuechtig; und williget endlich, um seiner Frau den vermeinten Vorwand, ihre Anbeter um sich zu haben, zu benehmen, in die Verbindung seiner Schwester mit Clitandern, einem Anverwandten seiner Frau, dem zu Gefallen sie die Rolle der Kokette gespielt hatte. Der Mann sieht sich berueckt, ist aber sehr zufrieden, weil er zugleich von dem Ungrunde seiner Eifersucht ueberzeugt wird.

Was hat diese Fabel mit der Fabel des "Verheirateten Philosophen" Aehnliches? Die Fabel nicht das geringste. Aber hier ist eine Stelle aus dem zweiten Akte des Campistronschen Stuecks, zwischen Dorante, so heisst der Eifersuechtige, und Dubois, seinem Sekretaer. Diese wird gleich zeigen, was Chevrier gemeiner hat.

"Dubois. Und was fehlt Ihnen denn?

Dorante. Ich bin verdruesslich, aergerlich; alle meine ehemalige Heiterkeit ist weg; alle meine Freude hat ein Ende. Der Himmel hat mir einen Tyrannen, einen Henker gegeben, der nicht aufhoeren wird, mich zu martern, zu peinigen—

Dubois. Und wer ist denn dieser Tyrann, dieser Henker?

Dorante. Meine Frau.

Dubois. Ihre Frau, mein Herr?

Dorante. Ja, meine Frau, meine Frau.—Sie bringt mich zur
Verzweiflung.

Dubois. Hassen Sie sie denn?

Dorante. Wollte Gott! So waere ich ruhig.—Aber ich liebe sie, und liebe sie so sehr—Verwuenschte Qual!

Dubois. Sie sind doch wohl nicht eifersuechtig?

Dorante. Bis zur Raserei.

Dubois. Wie? Sie, mein Herr? Sie eifersuechtig? Sie, der Sie von jeher ueber alles, was Eifersucht heisst,—

Dorante. Gelacht und gespottet. Desto schlimmer bin ich nun daran! Ich Geck, mich von den elenden Sitten der grossen Welt so hinreissen zu lassen! In das Geschrei der Narren einzustimmen, die sich ueber die Ordnung und Zucht unserer ehrlichen Vorfahren so lustig machen! Und ich stimmte nicht bloss ein; es waehrte nicht lange, so gab ich den Ton. Um Witz, um Lebensart zu zeigen, was fuer albernes Zeug habe ich nicht gesprochen! Eheliche Treue, bestaendige Liebe, pfui, wie schmeckt das nach dem kleinstaedtischen Buerger! Der Mann, der seiner Frau nicht allen Willen laesst, ist ein Baer! Der es ihr uebel nimmt, wenn sie auch andern gefaellt und zu gefallen sucht, gehoert ins Tollhaus. So sprach ich, und mich haette man da sollen ins Tollhaus schicken.—

Dubois. Aber warum sprachen Sie so?

Dorante. Hoerst du nicht? Weil ich ein Geck war und glaubte, es liesse noch so galant und weise.—Inzwischen wollte mich meine Familie verheiratet wissen. Sie schlugen mir ein junges, unschuldiges Maedchen vor; und ich nahm es. Mit der, dachte ich, soll es gute Wege haben; die soll in meiner Denkungsart nicht viel aendern; ich liebe sie itzt nicht besonders, und der Besitz wird mich noch gleichgueltiger gegen sie machen. Aber wie sehr habe ich mich betrogen! Sie ward taeglich schoener, taeglich reizender. Ich sah es und entbrannte, und entbrannte je mehr und mehr; und itzt bin ich so verliebt, so verliebt in sie—

Dubois. Nun, das nenne ich gefangen werden!

Dorante. Denn ich bin so eifersuechtig!—Dass ich mich schaeme, es auch nur dir zu bekennen.—Alle meine Freunde sind mir zuwider—und verdaechtig; die ich sonst nicht ofte genug um mich haben konnte, sehe ich itzt lieber gehen als kommen. Was haben sie auch in meinem Hause zu suchen? Was wollen die Muessiggaenger? Wozu alle die Schmeicheleien, die sie meiner Frau machen? Der eine lobt ihren Verstand; der andere erhebt ihr gefaelliges Wesen bis in den Himmel. Den entzuecken ihre himmlischen Augen, und den ihre schoenen Zaehne. Alle finden sie hoechst reizend, hoechst anbetungswuerdig; und immer schliesst sich ihr verdammtes Geschwaetze mit der verwuenschten Betrachtung, was fuer ein gluecklicher, was fuer ein beneidenswuerdiger Mann ich bin.

Dubois. Ja, ja, es ist wahr, so geht es zu.

Dorante. Oh, sie treiben ihre unverschaemte Kuehnheit wohl noch weiter! Kaum ist sie aus dem Bette, so sind sie um ihre Toilette. Da solltest du erst sehen und hoeren! Jeder will da seine Aufmerksamkeit und seinen Witz mit dem andern um die Wette zeigen. Ein abgeschmackter Einfall jagt den andern, eine boshafte Spoetterei die andere, ein kitzelndes Histoerchen das andere. Und das alles mit Zeichen, mit Mienen, mit Liebaeugeleien, die meine Frau so leutselig annimmt, so verbindlich erwidert, dass—dass mich der Schlag oft ruehren moechte! Kannst du glauben, Dubois? ich muss es wohl mit ansehen, dass sie ihr die Hand kuessen.

Dubois. Das ist arg!

Dorante. Gleichwohl darf ich nicht mucksen. Denn was wuerde die Welt
dazu sagen? Wie laecherlich wuerde ich mich machen, wenn ich meinen
Verdruss auslassen wollte? Die Kinder auf der Strasse wuerden mit
Fingern auf mich weisen. Alle Tage wuerde ein Epigramm, ein
Gassenhauer auf mich zum Vorscheine kommen usw."

Diese Situation muss es sein, in welcher Chevrier das Aehnliche mit dem "Verheirateten Philosophen" gefunden hat. So wie der Eifersuechtige des Campistron sich schaemet, seine Eifersucht auszulassen, weil er sich ehedem ueber diese Schwachheit allzu lustig gemacht hat: so schaemt sich auch der Philosoph des Destouches, seine Heirat bekannt zu machen, weil er ehedem ueber alle ernsthafte Liebe gespottet und den ehelosen Stand fuer den einzigen erklaert hatte, der einem freien und weisen Manne anstaendig sei. Es kann auch nicht fehlen, dass diese aehnliche Scham sie nicht beide in mancherlei aehnliche Verlegenheiten bringen sollte. So ist, z.E., die, in welcher sich Dorante beim Campistron siehet, wenn er von seiner Frau verlangt, ihm die ueberlaestigen Besucher vom Halse zu schaffen, diese aber ihn bedeutet, dass das eine Sache sei, die er selbst bewerkstelligen muesse, fast die naemliche mit der bei dem Destouches, in welcher sich Arist befindet, wenn er es selbst dem Marquis sagen soll, dass er sich auf Meliten keine Rechnung machen koenne. Auch leidet dort der Eifersuechtige, wenn seine Freunde in seiner Gegenwart ueber die Eifersuechtigen spotten und er selbst sein Wort dazu geben muss, ungefaehr auf gleiche Weise, als hier der Philosoph, wenn er sich muss sagen lassen, dass er ohne Zweifel viel zu klug und vorsichtig sei, als dass er sich zu so einer Torheit, wie das Heiraten, sollte haben verleiten lassen.

Demohngeachtet aber sehe ich nicht, warum Destouches bei seinem Stuecke notwendig das Stueck des Campistron vor Augen gehabt haben muesste; und mir ist es ganz begreiflich, dass wir jenes haben koennten, wenn dieses auch nicht vorhanden waere. Die verschiedensten Charaktere koennen in aehnliche Situationen geraten; und da in der Komoedie die Charaktere das Hauptwerk, die Situationen aber nur die Mittel sind, jene sich aeussern zu lassen und ins Spiel zu setzen: so muss man nicht die Situationen, sondern die Charaktere in Betrachtung ziehen, wenn man bestimmen will, ob ein Stueck Original oder Kopie genannt zu werden verdiene. Umgekehrt ist es in der Tragoedie, wo die Charaktere weniger wesentlich sind und Schrecken und Mitleid vornehmlich aus den Situationen entspringt. Aehnliche Situationen geben also aehnliche Tragoedien, aber nicht aehnliche Komoedien. Hingegen geben aehnliche Charaktere aehnliche Komoedien, anstatt dass sie in den Tragoedien fast gar nicht in Erwaegung kommen.

Der Sohn unsers Dichters, welcher die praechtige Ausgabe der Werke seines Vaters besorgt hat, die vor einigen Jahren in vier Quartbaenden aus der Koeniglichen Druckerei zu Paris erschien, meldet uns, in der Vorrede zu dieser Ausgabe, eine besondere, dieses Stueck betreffende Anekdote. Der Dichter naemlich habe sich in England verheiratet und aus gewissen Ursachen seine Verbindung geheim halten muessen. Eine Person aus der Familie seiner Frau aber habe das Geheimnis frueher ausgeplaudert, als ihm lieb gewesen; und dieses habe Gelegenheit zu dem "Verheirateten Philosophen" gegeben. Wenn dieses wahr ist,—und warum sollten wir es seinem Sohne nicht glauben?—so duerfte die vermeinte Nachahmung des Campistron um so eher wegfallen.

——Fussnote

[1] S. den 5. und 7. Abend

[2] "L'Observateur des Spectacles.", T. II. p. 135.

——Fussnote

Zweiundfunfzigstes Stueck Den 27. Oktober 1767

Den vierzigsten Abend (donnerstags, den 9. Julius) ward Schlegels
"Triumph der guten Frauen" aufgefuehret.

Dieses Lustspiel ist unstreitig eines der besten deutschen Originale. Es war, soviel ich weiss, das letzte komische Werk des Dichters, das seine fruehern Geschwister unendlich uebertrifft und von der Reife seines Urhebers zeuget. "Der geschaeftige Muessiggaenger" war der erste jugendliche Versuch und fiel aus, wie alle solche jugendliche Versuche ausfallen. Der Witz verzeihe es denen und raeche sich nie an ihnen, die allzuviel Witz darin gefunden haben! Er enthaelt das kalteste, langweiligste Alltagsgewaesche, das nur immer in dem Hause eines meissnischen Pelzhaendlers vorfallen kann. Ich wuesste nicht, dass er jemals waere aufgefuehrt worden, und ich zweifle, dass seine Vorstellung duerfte auszuhalten sein. "Der Geheimnisvolle" ist um vieles besser; ob es gleich der Geheimnisvolle gar nicht geworden ist, den Moliere in der Stelle geschildert hat, aus welcher Schlegel den Anlass zu diesem Stuecke wollte genommen haben.[1] Molieres Geheimnisvoller ist ein Geck, der sich ein wichtiges Ansehen geben will; Schlegels Geheimnisvoller aber ein gutes ehrliches Schaf, das den Fuchs spielen will, um von den Woelfen nicht gefressen zu werden. Daher koemmt es auch, dass er so viel Aehnliches mit dem Charakter des Misstrauischen hat, den Cronegk hernach auf die Buehne brachte. Beide Charaktere aber, oder vielmehr beide Nuancen des naemlichen Charakters, koennen nichts anders als in einer so kleinen und armseligen, oder so menschenfeindlichen und haesslichen Seele sich finden, dass ihre Vorstellungen notwendig mehr Mitleiden oder Abscheu erwecken muessen, als Lachen. "Der Geheimnisvolle" ist wohl sonst hier aufgefuehret worden; man versichert mich aber auch durchgaengig, und aus der eben gemachten Betrachtung ist mir es sehr begreiflich, dass man ihn laeppischer gefunden habe, als lustig.

"Der Triumph der guten Frauen" hingegen hat, wo er noch aufgefuehret worden, und sooft er noch aufgefuehret worden, ueberall und jederzeit einen sehr vorzueglichen Beifall erhalten; und dass sich dieser Beifall auf wahre Schoenheiten gruenden muesse, dass er nicht das Werk einer ueberraschenden blendenden Vorstellung sei, ist daher klar, weil ihn noch niemand, nach Lesung des Stuecks, zurueckgenommen. Wer es zuerst gelesen, dem gefaellt es um so viel mehr, wenn er es spielen sieht: und wer es zuerst spielen gesehen, dem gefaellt es um so viel mehr, wenn er es lieset. Auch haben es die strengesten Kunstrichter ebensosehr seinen uebrigen Lustspielen, als diese ueberhaupt dem gewoehnlichen Prasse deutscher Komoedien vorgezogen.

"Ich las", sagt einer von ihnen,[2] "den 'Geschaeftigen Muessiggaenger': die Charaktere schienen mir vollkommen nach dem Leben; solche Muessiggaenger, solche in ihre Kinder vernarrte Muetter, solche schalwitzige Besuche und solche dumme Pelzhaendler sehen wir alle Tage. So denkt, so lebt, so handelt der Mittelstand unter den Deutschen. Der Dichter hat seine Pflicht getan, er hat uns geschildert, wie wir sind. Allein ich gaehnte vor Langeweile.—Ich las darauf den 'Triumph der guten Frauen'. Welcher Unterschied! Hier finde ich Leben in den Charakteren, Feuer in ihren Handlungen, echten Witz in ihren Gespraechen und den Ton einer feinen Lebensart in ihrem ganzen Umgange."

Der vornehmste Fehler, den ebenderselbe Kunstrichter daran bemerkt hat, ist der, dass die Charaktere an sich selbst nicht deutsch sind. Und leider muss man diesen zugestehen. Wir sind aber in unsern Lustspielen schon zu sehr an fremde, und besonders an franzoesische Sitten gewoehnt, als dass er eine besonders ueble Wirkung auf uns haben koennte.

"Nikander", heisst es, "ist ein franzoesischer Abenteurer, der auf Eroberungen ausgeht, allem Frauenzimmer nachstellt, keinem im Ernste gewogen ist, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit zu stuerzen, aller Frauen Verfuehrer und aller Maenner Schrecken zu werden sucht, und der bei allem diesen kein schlechtes Herz hat. Die herrschende Verderbnis der Sitten und Grundsaetze scheinet ihn mit fortgerissen zu haben. Gottlob! dass ein Deutscher, der so leben will, das verderbteste Herz von der Welt haben muss.—Hilaria, des Nikanders Frau, die er vier Wochen nach der Hochzeit verlassen und nunmehr in zehn Jahren nicht gesehen hat, koemmt auf den Einfall, ihn aufzusuchen. Sie kleidet sich als eine Mannsperson und folgt ihm, unter dem Namen Philint, in alle Haeuser nach, wo er Avanturen sucht. Philint ist witziger, flatterhafter und unverschaemter als Nikander. Das Frauenzimmer ist dem Philint mehr gewogen, und sobald er mit seinem frechen, aber doch artigen Wesen sich sehen laesst, stehet Nikander da wie verstummt. Dieses gibt Gelegenheit zu sehr lebhaften Situationen. Die Erfindung ist artig, der zweifache Charakter wohl gezeichnet und gluecklich in Bewegung gesetzt; aber das Original zu diesem nachgeahmten Petitmaitre ist gewiss kein Deutscher."

"Was mir", faehrt er fort, "sonst an diesem Lustspiele missfaellt, ist der Charakter des Agenors. Den Triumph der guten Frauen vollkommen zu machen, zeigt dieser Agenor den Ehemann von einer gar zu haesslichen Seite. Er tyrannisierst seine unschuldige Christiane auf das unwuerdigste und hat recht seine Lust, sie zu quaelen. Graemlich, sooft er sich sehen laesst, spoettisch bei den Traenen seiner gekraenkten Frau, argwoehnisch bei ihren Liebkosungen, boshaft genug, ihre unschuldigsten Reden und Handlungen durch eine falsche Wendung zu ihrem Nachteile auszulegen, eifersuechtig, hart, unempfindlich, und, wie Sie sich leicht einbilden koennen, in seiner Frauen Kammermaedchen verliebt.—Ein solcher Mann ist gar zu verderbt, als dass wir ihm eine schleunige Besserung zutrauen koennten. Der Dichter gibt ihm eine Nebenrolle, in welcher sich die Falten seines nichtswuerdigen Herzens nicht genug entwickeln koennen. Er tobt, und weder Juliane noch die Leser wissen recht, was er will. Ebensowenig hat der Dichter Raum gehabt, seine Besserung gehoerig vorzubereiten und zu veranstalten. Er musste sich begnuegen, dieses gleichsam im Vorbeigehen zu tun, weil die Haupthandlung mit Nikander und Philinten zu schaffen hatte. Kathrine, dieses edelmuetige Kammermaedchen der Juliane, das Agenor verfolgt hatte, sagt gar recht am Ende des Lustspiels: 'Die geschwindesten Bekehrungen sind nicht allemal die aufrichtigsten!' Wenigstens solange dieses Maedchen im Hause ist, moechte ich nicht fuer die Aufrichtigkeit stehen."

Ich freue mich, dass die beste deutsche Komoedie dem richtigsten deutschen Beurteiler in die Haende gefallen ist. Und doch war es vielleicht die erste Komoedie, die dieser Mann beurteilte.

——Fussnote

[1] "Misanthrope", Acte II, Sc. 4.

    C'est de la tete aux pieds un homme tout mystere,
    Qui vous jette, en passant, un coup d'oeil egare,
    Et sans aucune affaire est toujours affaire.
    Tous ce qu'il vous debite en grimaces abonde.
    A force de facons il assomme le monde.
    Sans cesse il a tout bas, pour rompre l'entretien,
    Un secret a vous dire, et ce secret n'est rien.
    De la moindre vetille il fait une merveille,
    Et, jusqu' au bon jour, il dit tout a l'oreille.

[2] "Briefe, die neueste Literatur betreffend", T. XXI. S. 133.

——Fussnote

Ende des ersten Bandes

Zweyter Band

Dreiundfunfzigstes Stueck
Den 3. November 1767

Den einundvierzigsten Abend (freitags, den 10. Julius) wurden "Cenie" und "Der Mann nach der Uhr" wiederholt.[1] "Cenie", sagt Chevrier gerade heraus,[2] "fuehret den Namen der Frau von Graffigny, ist aber ein Werk des Abts von Voisenon. Es war anfangs in Versen; weil aber die Frau von Graffigny, der es erst in ihrem vierundfunfzigsten Jahre einfiel, die Schriftstellerin zu spielen, in ihrem Leben keinen Vers gemacht hatte, so ward 'Cenie' in Prosa gebracht. Mais l'auteur, fuegt er hinzu, y a laisse 81 vers qui y existent dans leur entier." Das ist, ohne Zweifel, von einzeln hin und wieder zerstreuten Zeilen zu verstehen, die den Reim verloren, aber die Silbenzahl beibehalten haben. Doch wenn Chevrier keinen andern Beweis hatte, dass das Stueck in Versen gewesen: so ist es sehr erlaubt, daran zu zweifeln. Die franzoesischen Verse kommen ueberhaupt der Prosa so nahe, dass es Muehe kosten soll, nur in einem etwas gesuchteren Stile zu schreiben, ohne dass sich nicht von selbst ganze Verse zusammenfinden, denen nichts wie der Reim mangelt. Und gerade denjenigen, die gar keine Verse machen, koennen dergleichen Verse am ersten entwischen; eben weil sie gar kein Ohr fuer das Metrum haben und es also ebensowenig zu vermeiden, als zu beobachten verstehen.

Was hat "Cenie" sonst fuer Merkmale, dass sie nicht aus der Feder eines Frauenzimmers koenne geflossen sein? "Das Frauenzimmer ueberhaupt", sagt Rousseau,[3] "liebt keine einzige Kunst, versteht sich auf keine einzige, und an Genie fehlt es ihm ganz und gar. Es kann in kleinen Werken gluecklich sein, die nichts als leichten Witz, nichts als Geschmack, nichts als Anmut, hoechstens Gruendlichkeit und Philosophie verlangen. Es kann sich Wissenschaft, Gelehrsamkeit und alle Talente erwerben, die sich durch Muehe und Arbeit erwerben lassen. Aber jenes himmlische Feuer, welches die Seele erhitzet und entflammt, jenes um sich greifende verzehrende Genie, jene brennende Beredsamkeit, jene erhabene Schwuenge, die ihr Entzueckendes dem Innersten unseres Herzens mitteilen, werden den Schriften des Frauenzimmers allezeit fehlen."

Also fehlen sie wohl auch der "Cenie"? Oder, wenn sie ihr nicht fehlen, so muss "Cenie" notwendig das Werk eines Mannes sein? Rousseau selbst wuerde so nicht schliessen. Er sagt vielmehr, was er dem Frauenzimmer ueberhaupt absprechen zu muessen glaube, wolle er darum keiner Frau insbesondere streitig machen. (Ce n'est pas a une femme, mais aux femmes que je refuse les talents des hommes.[4]) Und dieses sagt er eben auf Veranlassung der "Cenie"; ebenda, wo er die Graffigny als die Verfasserin derselben anfuehrt. Dabei merke man wohl, dass Graffigny seine Freundin nicht war, dass sie Uebels von ihm gesprochen hatte, dass er sich an eben der Stelle ueber sie beklagt. Demohngeachtet erklaert er sie lieber fuer eine Ausnahme seines Satzes, als dass er im geringsten auf das Vorgeben des Chevrier anspielen sollte, welches er zu tun, ohne Zweifel, Freimuetigkeit genug gehabt haette, wenn er nicht von dem Gegenteile ueberzeugt gewesen waere.

Chevrier hat mehr solche verkleinerliche geheime Nachrichten. Eben dieser Abt, wie Chevrier wissen will, hat fuer die Favart gearbeitet. Er hat die komische Oper "Annette und Lubin" gemacht; und nicht sie, die Aktrice, von der er sagt, dass sie kaum lesen koenne. Sein Beweis ist ein Gassenhauer, der in Paris darueber herumgegangen; und es ist allerdings wahr, dass die Gassenhauer in der franzoesischen Geschichte ueberhaupt unter die glaub- wuerdigsten Dokumente gehoeren.

Warum ein Geistlicher ein sehr verliebtes Singspiel unter fremdem Namen in die Welt schicke, liesse sich endlich noch begreifen. Aber warum er sich zu einer "Cenie" nicht bekennen wolle, der ich nicht viele Predigten vorziehen moechte, ist schwerlich abzusehen. Dieser Abt hat ja sonst mehr als ein Stueck auffuehren und drucken lassen, von welchen ihn jedermann als den Verfasser kennet und die der "Cenie" bei weitem nicht gleichkommen. Wenn er einer Frau von vierundfunfzig Jahren eine Galanterie machen wollte, ist es wahrscheinlich, dass er es gerade mit seinem besten Werke wuerde getan haben?—

Den zweiundvierzigsten Abend (montags, den 13. Julius) ward "Die
Frauenschule" von Moliere aufgefuehrt.

Moliere hatte bereits seine "Maennerschule" gemacht, als er im Jahre 1662 diese "Frauenschule" darauf folgen liess. Wer beide Stuecke nicht kennet, wuerde sich sehr irren, wenn er glaubte, dass hier den Frauen, wie dort den Maennern, ihre Schuldigkeit geprediget wuerde. Es sind beides witzige Possenspiele, in welchen ein Paar junge Maedchen, wovon das eine in aller Strenge erzogen und das andere in aller Einfalt aufgewachsen, ein Paar alte Laffen hintergehen; und die beide "Die Maennerschule" heissen muessten, wenn Moliere weiter nichts darin haette lehren wollen, als dass das duemmste Maedchen noch immer Verstand genug habe, zu betruegen, und dass Zwang und Aufsicht weit weniger fruchte und nutze, als Nachsicht und Freiheit. Wirklich ist fuer das weibliche Geschlecht in der "Frauenschule" nicht viel zu lernen; es waere denn, dass Moliere mit diesem Titel auf die Ehestandsregeln, in der zweiten Szene des dritten Akts, gesehen haette, mit welchen aber die Pflichten der Weiber eher laecherlich gemacht werden.

"Die zwei gluecklichsten Stoffe zur Tragoedie und Komoedie", sagt Trublet, [5] "sind der 'Cid' und die 'Frauenschule'. Aber beide sind vom Corneille und Moliere bearbeitet worden, als diese Dichter ihre voellige Staerke noch nicht hatten. Diese Anmerkung", fuegt er hinzu, "habe ich von dem Hrn. von Fontenelle."

Wenn doch Trublet den Hrn. von Fontenelle gefragt haette, wie er dieses meine. Oder falls es ihm so schon verstaendlich genug war, wenn er es doch auch seinen Lesern mit ein paar Worten haette verstaendlich machen wollen. Ich wenigstens bekenne, dass ich gar nicht absehe, wo Fontenelle mit diesem Raetsel hingewollt. Ich glaube, er hat sich versprochen; oder Trublet hat sich verhoert.

Wenn indes, nach der Meinung dieser Maenner, der Stoff der "Frauenschule" so besonders gluecklich ist und Moliere in der Ausfuehrung desselben nur zu kurz gefallen: so haette sich dieser auf das ganze Stueck eben nicht viel einzubilden gehabt. Denn der Stoff ist nicht von ihm; sondern teils aus einer spanischen Erzaehlung, die man bei dem Scarron unter dem Titel "Die vergebliche Vorsicht" findet, teils aus den "Spasshaften Naechten" des Straparolle genommen, wo ein Liebhaber einem seiner Freunde alle Tage vertrauet, wie weit er mit seiner Geliebten gekommen, ohne zu wissen, dass dieser Freund sein Nebenbuhler ist.

"Die Frauenschule", sagt der Herr von Voltaire, "war ein Stueck von einer ganz neuen Gattung, worin zwar alles nur Erzaehlung, aber doch so kuenstliche Erzaehlung ist, dass alles Handlung zu sein scheinet."

Wenn das Neue hierin bestand, so ist es sehr gut, dass man die neue Gattung eingehen lassen. Mehr oder weniger kuenstlich, Erzaehlung bleibt immer Erzaehlung, und wir wollen auf dem Theater wirkliche Handlungen sehen.—Aber ist es denn auch wahr, dass alles darin erzaehlt wird? dass alles nur Handlung zu sein scheint? Voltaire haette diesen alten Einwurf nicht wieder aufwaermen sollen; oder, anstatt ihn in ein anscheinendes Lob zu verkehren, haette er wenigstens die Antwort beifuegen sollen, die Moliere selbst darauf erteilte, und die sehr passend ist. Die Erzaehlungen naemlich sind in diesem Stuecke, vermoege der innern Verfassung desselben, wirkliche Handlung; sie haben alles, was zu einer komischen Handlung erforderlich ist; und es ist blosse Wortklauberei, ihnen diesen Namen hier streitig zu machen.[6] Denn es koemmt ja weit weniger auf die Vorfaelle an, welche erzaehlt werden, als auf den Eindruck, welchen diese Vorfaelle auf den betrognen Alten machen, wenn er sie erfaehrt. Das Laecherliche dieses Alten wollte Moliere vornehmlich schildern; ihn muessen wir also vornehmlich sehen, wie er sich bei dem Unfalle, der ihm drohet, gebaerdet; und dieses haetten wir so gut nicht gesehen, wenn der Dichter das, was er erzaehlen laesst, vor unsern Augen haette vorgehen lassen, und das, was er vorgehen laesst, dafuer haette erzaehlen lassen. Der Verdruss, den Arnolph empfindet; der Zwang, den er sich antut, diesen Verdruss zu verbergen; der hoehnische Ton, den er annimmt, wenn er dem weitern Progresse des Horaz nun vorgebauet zu haben glaubet; das Erstaunen, die stille Wut, in der wir ihn sehen, wenn er vernimmt, dass Horaz demohngeachtet sein Ziel gluecklich verfolgt: das sind Handlungen, und weit komischere Handlungen, als alles, was ausser der Szene vorgeht. Selbst in der Erzaehlung der Agnese, von ihrer mit dem Horaz gemachten Bekanntschaft, ist mehr Handlung, als wir finden wuerden, wenn wir diese Bekanntschaft auf der Buehne wirklich machen saehen.

Also, anstatt von der "Frauenschule" zu sagen, dass alles darin Handlung scheine, obgleich alles nur Erzaehlung sei, glaubte ich mit mehrerm Rechte sagen zu koennen, dass alles Handlung darin sei, obgleich alles nur Erzaehlung zu sein scheine.

——Fussnote

[1] S. den 23. und 29. Abend

[2] "Observateur des Spectacles", Tome I. p. 211.

[3] a d'Alembert, p. 133.

[4] a d'Alembert, p. 78.

[5] "Essais de Litt. et de Morale", T. IV. p. 295.

[6] In der "Kritik der Frauenschule", in der Person des Dorante: Les recits eux-memes y sont des actions suivant la constitution du sujet.

——Fussnote

Vierundfunfzigstes Stueck
Den 6. November 1767

Den dreiundvierzigsten Abend (dienstags, den 14. Julius) ward "Die Muetterschule" des La Chaussee, und den vierundvierzigsten Abend (als den 15.) "Der Graf von Essex" wiederholt.[1]

Da die Englaender von jeher so gern domestica facta auf ihre Buehne gebracht haben, so kann man leicht vermuten, dass es ihnen auch an Trauerspielen ueber diesen Gegenstand nicht fehlen wird. Das aelteste ist das von Joh. Banks, unter dem Titel "Der unglueckliche Liebling, oder Graf von Essex". Es kam 1682 aufs Theater und erhielt allgemeinen Beifall. Damals aber hatten die Franzosen schon drei Essexe: des Calprenede von 1638; des Boyer von 1678, und des juengern Corneille von ebendiesem Jahre. Wollten indes die Englaender, dass ihnen die Franzosen auch hierin nicht moechten zuvorgekommen sein, so wuerden sie sich vielleicht auf Daniels "Philotas" beziehen koennen; ein Trauerspiel von 1611, in welchem man die Geschichte und den Charakter des Grafen, unter fremden Namen, zu finden glaubte.[2]

Banks scheinet keinen von seinen franzoesischen Vorgaengern gekannt zu haben. Er ist aber einer Novelle gefolgt, die den Titel "Geheime Geschichte der Koenigin Elisabeth und des Grafen von Essex" fuehret,[3] wo er den ganzen Stoff sich so in die Haende gearbeitet fand, dass er ihn bloss zu dialogieren, ihm bloss die aeussere dramatische Form zu erteilen brauchte. Hier ist der ganze Plan, wie er von dem Verfasser der unten angefuehrten Schrift, zum Teil, ausgezogen worden. Vielleicht, dass es meinen Lesern nicht unangenehm ist, ihn gegen das Stueck des Corneille halten zu koennen.

"Um unser Mitleid gegen den ungluecklichen Grafen desto lebhafter zu machen und die heftige Zuneigung zu entschuldigen, welche die Koenigin fuer ihn aeussert, werden ihm alle die erhabensten Eigenschaften eines Helden beigelegt; und es fehlt ihm zu einem vollkommenen Charakter weiter nichts, als dass er seine Leidenschaften nicht besser in seiner Gewalt hat. Burleigh, der erste Minister der Koenigin, der auf ihre Ehre sehr eifersuechtig ist und den Grafen wegen der Gunstbezeigungen beneidet, mit welchen sie ihn ueberhaeuft, bemueht sich unablaessig, ihn verdaechtig zu machen. Hierin steht ihm Sir Walter Raleigh, welcher nicht minder des Grafen Feind ist, treulich bei; und beide werden von der boshaften Graefin von Nottingham noch mehr verhetzt, die den Grafen sonst geliebt hatte, nun aber, weil sie keine Gegenliebe von ihm erhalten koennen, was sie nicht besitzen kann, zu verderben sucht. Die ungestueme Gemuetsart des Grafen macht ihnen allzu gutes Spiel, und sie erreichen ihre Absicht auf folgende Weise.

Die Koenigin hatte den Grafen, als ihren Generalissimus, mit einer sehr ansehnlichen Armee gegen den Tyrone geschickt, welcher in Irland einen gefaehrlichen Aufstand erregt hatte. Nach einigen nicht viel bedeutenden Scharmuetzeln sahe sich der Graf genoetiget, mit dem Feinde in Unterhandlung zu treten, weil seine Truppen durch Strapazen und Krankheiten sehr abgemattet waren, Tyrone aber mit seinen Leuten sehr vorteilhaft postieret stand. Da diese Unterhandlung zwischen den Anfuehrern muendlich betrieben ward und kein Mensch dabei zugegen sein durfte: so wurde sie der Koenigin als ihrer Ehre hoechst nachteilig und als ein gar nicht zweideutiger Beweis vorgestellet, dass Essex mit den Rebellen in einem heimlichen Verstaendnisse stehen muesse. Burleigh und Raleigh, mit einigen andern Parlamentsgliedern, treten sie daher um Erlaubnis an, ihn des Hochverrats anklagen zu duerfen, welches sie aber so wenig zu verstatten geneigt ist, dass sie sich vielmehr ueber ein dergleichen Unternehmen sehr aufgebracht bezeiget. Sie wiederholt die vorigen Dienste, welche der Graf der Nation erwiesen, und erklaert, dass sie die Undankbarkeit und den boshaften Neid seiner Anklaeger verabscheue. Der Graf von Southampton, ein aufrichtiger Freund des Essex, nimmt sich zugleich seiner auf das lebhafteste an; er erhebt die Gerechtigkeit der Koenigin, einen solchen Mann nicht unterdruecken zu lassen; und seine Feinde muessen vor diesesmal schweigen. (Erster Akt.)

Indes ist die Koenigin mit der Auffuehrung des Grafen nichts weniger als zufrieden, sondern laesst ihm befehlen, seine Fehler wieder gutzumachen, und Irland nicht eher zu verlassen, als bis er die Rebellen voellig zu Paaren getrieben und alles wieder beruhiget habe. Doch Essex, dem die Beschuldigungen nicht unbekannt geblieben, mit welchen ihn seine Feinde bei ihr anzuschwaerzen suchen, ist viel zu ungeduldig, sich zu rechtfertigen, und koemmt, nachdem er den Tyrone zu Niederlegung der Waffen vermocht, des ausdruecklichen Verbots der Koenigin ungeachtet, nach England ueber. Dieser unbedachtsame Schritt macht seinen Feinden ebensoviel Vergnuegen, als seinen Freunden Unruhe; besonders zittert die Graefin von Rutland, mit welcher er insgeheim verheiratet ist, vor den Folgen. Am meisten aber betruebt sich die Koenigin, da sie sieht, dass ihr durch dieses rasche Betragen aller Vorwand benommen ist, ihn zu vertreten, wenn sie nicht eine Zaertlichkeit verraten will, die sie gern vor der ganzen Welt verbergen moechte. Die Erwaegung ihrer Wuerde, zu welcher ihr natuerlicher Stolz koemmt, und die heimliche Liebe, die sie zu ihm traegt, erregen in ihrer Brust den grausamsten Kampf. Sie streitet lange mit sich selbst, ob sie den verwegnen Mann nach dem Tower schicken oder den geliebten Verbrecher vor sich lassen und ihm erlauben soll, sich gegen sie selbst zu rechtfertigen. Endlich entschliesst sie sich zu dem letztern, doch nicht ohne alle Einschraenkung; sie will ihn sehen, aber sie will ihn auf eine Art empfangen, dass er die Hoffnung wohl verlieren soll, fuer seine Vergehungen so bald Vergebung zu erhalten. Burleigh, Raleigh und Nottingham sind bei dieser Zusammenkunft gegenwaertig. Die Koenigin ist auf die letztere gelehnet und scheinet tief im Gespraeche zu sein, ohne den Grafen nur ein einziges Mal anzusehen. Nachdem sie ihn eine Weile vor sich knien lassen, verlaesst sie auf einmal das Zimmer und gebietet allen, die es redlich mit ihr meinen, ihr zu folgen und den Verraeter allein zu lassen. Niemand darf es wagen, ihr ungehorsam zu sein; selbst Southampton gehet mit ihr ab, koemmt aber bald, mit der trostlosen Rutland, wieder, ihren Freund bei seinem Unfalle zu beklagen. Gleich darauf schicket die Koenigin den Burleigh und Raleigh zu dem Grafen, ihm den Kommandostab abzunehmen; er weigert sich aber, ihn in andere, als in der Koenigin eigene Haende, zurueckzuliefern, und beiden Ministern wird, sowohl von ihm, als von dem Southampton, sehr veraechtlich begegnet. (Zweiter Akt.)

Die Koenigin, der dieses sein Betragen sogleich hinterbracht wird, ist aeusserst gereizt, aber doch in ihren Gedanken noch immer uneinig. Sie kann weder die Verunglimpfungen, deren sich die Nottingham gegen ihn erkuehnt, noch die Lobsprueche vertragen, die ihm die unbedachtsame Rutland aus der Fuelle ihres Herzens erteilet; ja, diese sind ihr noch mehr zuwider als jene, weil sie daraus entdeckt, dass die Rutland ihn liebet. Zuletzt befiehlt sie, demohngeachtet, dass er vor sie gebracht werden soll. Er koemmt, und versucht es, seine Auffuehrung zu verteidigen. Doch die Gruende, die er desfalls beibringt, scheinen ihr viel zu schwach, als dass sie ihren Verstand von seiner Unschuld ueberzeugen sollten. Sie verzeihet ihm, um der geheimen Neigung, die sie fuer ihn hegt, ein Genuege zu tun; aber zugleich entsetzt sie ihn aller seiner Ehrenstellen, in Betrachtung dessen, was sie sich selbst, als Koenigin, schuldig zu sein glaubt. Und nun ist der Graf nicht laenger vermoegend, sich zu maessigen; seine Ungestuemheit bricht los; er wirft den Stab zu ihren Fuessen und bedient sich verschiedner Ausdruecke, die zu sehr wie Vorwuerfe klingen, als dass sie den Zorn der Koenigin nicht aufs hoechste treiben sollten. Auch antwortet sie ihm darauf, wie es Zornigen sehr natuerlich ist; ohne sich um Anstand und Wuerde, ohne sich um die Folgen zu bekuemmern: naemlich, anstatt der Antwort, gibt sie ihm eine Ohrfeige. Der Graf greift nach dem Degen; und nur der einzige Gedanke, dass es seine Koenigin, dass es nicht sein Koenig ist, der ihn geschlagen, mit einem Worte, dass es eine Frau ist, von der er die Ohrfeige hat, haelt ihn zurueck, sich taetlich an ihr zu vergehen. Southampton beschwoert ihn, sich zu fassen; aber er wiederholt seine ihr und dem Staate geleisteten Dienste nochmals und wirft dem Burleigh und Raleigh ihren niedertraechtigen Neid, sowie der Koenigin ihre Ungerechtigkeit vor. Sie verlaesst ihn in der aeussersten Wut; und niemand als Southampton bleibt bei ihm, der Freundschaft genug hat, sich itzt eben am wenigsten von ihm trennen zu lassen. (Dritter Akt.)

Der Graf geraet ueber sein Unglueck in Verzweiflung; er laeuft wie unsinnig in der Stadt herum, schreiet ueber das ihm angetane Unrecht und schmaehet auf die Regierung. Alles das wird der Koenigin, mit vielen Uebertreibungen, wiedergesagt, und sie gibt Befehl, sich der beiden Grafen zu versichern. Es wird Mannschaft gegen sie ausgeschickt, sie werden gefangengenommen und in den Tower in Verhaft gesetzt, bis dass ihnen der Prozess gemacht werden kann. Doch indes hat sich der Zorn der Koenigin gelegt und guenstigern Gedanken fuer den Essex wiederum Raum gemacht. Sie will ihn also, ehe er zum Verhoere geht, allem, was man ihr dawider sagt, ungeachtet, nochmals sehen; und da sie besorgt, seine Verbrechen moechten zu strafbar befunden werden, so gibt sie ihm, um sein Leben wenigstens in Sicherheit zu setzen, einen Ring, mit dem Versprechen, ihm gegen diesen Ring, sobald er ihn ihr zuschicke, alles, was er verlangen wuerde, zu gewaehren. Fast aber bereuet sie es wieder, dass sie so guetig gegen ihn gewesen, als sie gleich darauf erfaehrt, dass er mit der Rutland vermaehlt ist; und es von der Rutland selbst erfaehrt, die fuer ihn um Gnade zu bitten koemmt. (Vierter Akt.)

——Fussnote

[1] S. den 26. und 30. Abend.

[2] "Cibber's Lives of the Engl. Poets", Vol. I. p. 147.

[3] "The Companion to the Theatre", Vol. II. p. 99.

——Fussnote

Fuenfundfunfzigstes Stueck
Den 10. November 1767

Was die Koenigin gefuerchtet hatte, geschieht; Essex wird nach den Gesetzen schuldig befunden und verurteilet, den Kopf zu verlieren; sein Freund Southampton desgleichen. Nun weiss zwar Elisabeth, dass sie, als Koenigin, den Verbrecher begnadigen kann; aber sie glaubt auch, dass eine solche freiwillige Begnadigung auf ihrer Seite eine Schwaeche verraten wuerde, die keiner Koenigin gezieme; und also will sie so lange warten, bis er ihr den Ring senden und selbst um sein Leben bitten wird. Voller Ungeduld indes, dass es je eher je lieber geschehen moege, schickt sie die Nottingham zu ihm und laesst ihn erinnern, an seine Rettung zu denken. Nottingham stellt sich, das zaertlichste Mitleid fuer ihn zu fuehlen; und er vertrauet ihr das kostbare Unterpfand seines Lebens, mit der demuetigsten Bitte an die Koenigin, es ihm zu schenken. Nun hat Nottingham alles, was sie wuenschet; nun steht es bei ihr, sich wegen ihrer verachteten Liebe an dem Grafen zu raechen. Anstatt also das auszurichten, was er ihr aufgetragen, verleumdet sie ihn auf das boshafteste und malt ihn so stolz, so trotzig, so fest entschlossen ab, nicht um Gnade zu bitten, sondern es auf das Aeusserste ankommen zu lassen, dass die Koenigin dem Berichte kaum glauben kann, nach wiederholter Versicherung aber, voller Wut und Verzweiflung den Befehl erteilet, das Urteil ohne Anstand an ihm zu vollziehen. Dabei gibt ihr die boshafte Nottingham ein, den Grafen von Southampton zu begnadigen, nicht weil ihr das Unglueck desselben wirklich nahe geht, sondern weil sie sich einbildet, dass Essex die Bitterkeit seiner Strafe um so viel mehr empfinden werde, wenn er sieht, dass die Gnade, die man ihm verweigert, seinem mitschuldigen Freunde nicht entstehe. In eben dieser Absicht raet sie der Koenigin auch, seiner Gemahlin, der Graefin von Rutland, zu erlauben, ihn noch vor seiner Hinrichtung zu sehen. Die Koenigin williget in beides, aber zum Ungluecke fuer die grausame Ratgeberin; denn der Graf gibt seiner Gemahlin einen Brief an die Koenigin, die sich eben in dem Tower befindet und ihn kurz darauf, als man den Grafen abgefuehret, erhaelt. Aus diesem Briefe ersieht sie, dass der Graf der Nottingham den Ring gegeben und sie durch diese Verraeterin um sein Leben bitten lassen. Sogleich schickt sie und laesst die Vollstreckung des Urteils untersagen; doch Burleigh und Raleigh, denen sie aufgetragen war, hatten so sehr damit geeilet, dass die Botschaft zu spaet koemmt. Der Graf ist bereits tot. Die Koenigin geraet vor Schmerz ausser sich, verbannt die abscheuliche Nottingham auf ewig aus ihren Augen und gibt allen, die sich als Feinde des Grafen erwiesen hatten, ihren bittersten Unwillen zu erkennen."

Aus diesem Plane ist genugsam abzunehmen, dass der "Essex" des Banks ein Stueck von weit mehr Natur, Wahrheit und Uebereinstimmung ist, als sich in dem "Essex" des Corneille findet. Banks hat sich ziemlich genau an die Geschichte gehalten, nur dass er verschiedne Begebenheiten naeher zusammen gerueckt, und ihnen einen unmittelbarem Einfluss auf das endliche Schicksal seines Helden gegeben hat. Der Vorfall mit der Ohrfeige ist ebensowenig erdichtet, als der mit dem Ringe; beide finden sich, wie ich schon angemerkt, in der Historie, nur jener weit frueher und bei einer ganz andern Gelegenheit; so wie es auch von diesem zu vermuten. Denn es ist begreiflicher, dass die Koenigin dem Grafen den Ring zu einer Zeit gegeben, da sie mit ihm vollkommen zufrieden war, als dass sie ihm dieses Unterpfand ihrer Gnade itzt erst sollte geschenkt haben, da er sich ihrer eben am meisten verlustig gemacht hatte und der Fall, sich dessen zu gebrauchen, schon wirklich da war. Dieser Ring sollte sie erinnern, wie teuer ihr der Graf damals gewesen, als er ihn von ihr erhalten; und diese Erinnerung sollte ihm alsdann alle das Verdienst wiedergeben, welches er ungluecklicherweise in ihren Augen etwa koennte verloren haben. Aber was braucht es dieses Zeichens, dieser Erinnerung von heute bis auf morgen? Glaubt sie ihrer guenstigen Gesinnungen auch auf so wenige Stunden nicht maechtig zu sein, dass sie sich mit Fleiss auf eine solche Art fesseln will? Wenn sie ihm im Ernste vergeben hat, wenn ihr wirklich an seinem Leben gelegen ist: wozu das ganze Spiegelgefechte? Warum konnte sie es bei den muendlichen Versicherungen nicht bewenden lassen? Gab sie den Ring, bloss um den Grafen zu beruhigen; so verbindet er sie, ihm ihr Wort zu halten, er mag wieder in ihre Haende kommen oder nicht. Gab sie ihn aber, um durch die Wiedererhaltung desselben von der fortdauernden Reue und Unterwerfung des Grafen versichert zu sein: wie kann sie in einer so wichtigen Sache seiner toedlichsten Feindin glauben? Und hatte sich die Nottingham nicht kurz zuvor gegen sie selbst als eine solche bewiesen?

So wie Banks also den Ring gebraucht hat, tut er nicht die beste Wirkung. Mich duenkt, er wuerde eine weit bessere tun, wenn ihn die Koenigin ganz vergessen haette und er ihr ploetzlich, aber auch zu spaet, eingehaendiget wuerde, indem sie eben von der Unschuld oder wenigstens geringern Schuld des Grafen noch aus andern Gruenden ueberzeugt wuerde. Die Schenkung des Ringes haette vor der Handlung des Stuecks lange muessen vorhergegangen sein, und bloss der Graf haette darauf rechnen muessen, aber aus Edelmut nicht eher Gebrauch davon machen wollen, als bis er gesehen, dass man auf seine Rechtfertigung nicht achte, dass die Koenigin zu sehr wider ihn eingenommen sei, als dass er sie zu ueberzeugen hoffen koenne, dass er sie also zu bewegen suchen muesse. Und indem sie so bewegt wuerde, muesste die Ueberzeugung dazu kommen; die Erkennung seiner Unschuld und die Erinnerung ihres Versprechens, ihn auch dann, wenn er schuldig sein sollte, fuer unschuldig gelten zu lassen, muessten sie auf einmal ueberraschen, aber nicht eher ueberraschen, als bis es nicht mehr in ihrem Vermoegen stehet, gerecht und erkenntlich zu sein.

Viel gluecklicher hat Banks die Ohrfeige in sein Stueck eingeflochten.— Aber eine Ohrfeige in einem Trauerspiele! Wie englisch, wie unanstaendig! Ehe meine feinern Leser zu sehr darueber spotten, bitte ich sie, sich der Ohrfeige im "Cid" zu erinnere. Die Anmerkung, die der Hr. von Voltaire darueber gemacht hat, ist in vielerlei Betrachtung merkwuerdig. "Heutzutage", sagt er, "duerfte man es nicht wagen, einem Helden eine Ohrfeige geben zu lassen. Die Schauspieler selbst wissen nicht, wie sie sich dabei anstellen sollen; sie tun nur, als ob sie eine gaeben. Nicht einmal in der Komoedie ist so etwas mehr erlaubt; und dieses ist das einzige Exempel, welches man auf der tragischen Buehne davon hat. Es ist glaublich, dass man unter andern mit deswegen den 'Cid' eine Tragikomoedie betitelte; und damals waren fast alle Stuecke des Scudery und des Boisrobert Tragikomoedien. Man war in Frankreich lange der Meinung gewesen, dass sich das ununterbrochne Tragische, ohne alle Vermischung mit gemeinen Zuegen, gar nicht aushalten lasse. Das Wort Tragikomoedie selbst ist sehr alt; Plautus braucht es, seinen 'Amphitruo' damit zu bezeichnen, weil das Abenteuer des Sosias zwar komisch, Amphitruo selbst aber in allem Ernste betruebt ist."—Was der Herr von Voltaire nicht alles schreibt! Wie gern er immer ein wenig Gelehrsamkeit zeigen will, und wie sehr er meistenteils damit verunglueckt!

Es ist nicht wahr, dass die Ohrfeige im "Cid" die einzige auf der tragischen Buehne ist. Voltaire hat den "Essex" des Banks entweder nicht gekannt, oder vorausgesetzt, dass die tragische Buehne seiner Nation allein diesen Namen verdiene. Unwissenheit verraet beides; und nur das letztere noch mehr Eitelkeit, als Unwissenheit. Was er von dem Namen der Tragikomoedie hinzufuegt, ist ebenso unrichtig. Tragikomoedie hiess die Vorstellung einer wichtigen Handlung unter vornehmen Personen, die einen vergnuegten Ausgang hat; das ist der "Cid", und die Ohrfeige kam dabei gar nicht in Betrachtung; denn dieser Ohrfeige ungeachtet, nannte Corneille hernach sein Stueck eine Tragoedie, sobald er das Vorurteil abgelegt hatte, dass eine Tragoedie notwendig eine unglueckliche Katastrophe haben muesse. Plautus braucht zwar das Wort Tragicocomoedia: aber er braucht es bloss im Scherze; und gar nicht, um eine besondere Gattung damit zu bezeichnen. Auch hat es ihm in diesem Verstande kein Mensch abgeborgt, bis es in dem sechzehnten Jahrhunderte den spanischen und italienischen Dichtem einfiel, gewisse von ihren dramatischen Missgeburten so zu nennen.[1] Wenn aber auch Plautus seinen "Amphitruo" im Ernste so genannt haette, so waere es doch nicht aus der Ursache geschehen, die ihm Voltaire andichtet. Nicht weil der Anteil, den Sosias an der Handlung nimmt, komisch, und der, den Amphitruo daran nimmt, tragisch ist: nicht darum haette Plautus sein Stueck lieber eine Tragikomoedie nennen wollen. Denn sein Stueck ist ganz komisch, und wir belustigen uns an der Verlegenheit des Amphitruo ebensosehr, als an des Sosias seiner. Sondern darum, weil diese komische Handlung groesstenteils unter hoehern Personen vorgehet, als man in der Komoedie zu sehen gewohnt ist. Plautus selbst erklaert sich darueber deutlich genug:

    Faciam ut commixta sit Tragico-comoedia:
    Nam me perpetuo facere ut sit Comoedia
    Reges quo veniant et di, non par arbitror.
    Quid igitur? quoniam hic servus quoque partes habet,
    Faciam hanc, proinde ut dixi, Tragico-comoediam.

——Fussnote

[1] Ich weiss zwar nicht, wer diesen Namen eigentlich zuerst gebraucht hat; aber das weiss ich gewiss, dass es Garnier nicht ist. Hedelin sagte: Je ne sais, si Garnier fut le premier qui s'en servit, mais il a fait porter ce titre a sa "Bradamante", ce que depuis plusieurs ont imite. (Prat. du Th. Liv. II. ch. 10.) Und dabei haetten es die Geschichtschreiber des franzoesischen Theaters auch nur sollen bewenden lassen. Aber sie machen die leichte Vermutung des Hedelins zur Gewissheit und gratulieren ihrem Landsmanne zu einer so schoenen Erfindung. Voici la premiere Tragi-Comedie, ou, pour mieux dire, le premier poeme du Theatre qui a porte ce titre—Garnier ne connaissait pas assez les finesses de l'art qu'il professait; tenons-lui cependant compte d'avoir le premier, et sans les secours des Anciens, ni de ses contemporains, fait entrevoir une idee, qui n'a pas ete inutile a beaucoup d'Auteurs du dernier siecle. Garniers "Bradamante" ist von 1582, und ich kenne eine Menge weit fruehere spanische und italienische Stuecke, die diesen Titel fuehren.

——Fussnote

Sechsundfunfzigstes Stueck
Den 13. November 1767

Aber wiederum auf die Ohrfeige zu kommen.—Einmal ist es doch nun so, dass eine Ohrfeige, die ein Mann von Ehre von seinesgleichen oder von einem Hoehern bekoemmt, fuer eine so schimpfliche Beleidigung gehalten wird, dass alle Genugtuung, die ihm die Gesetze dafuer verschaffen koennen, vergebens ist. Sie will nicht von einem dritten bestraft, sie will von dem Beleidigten selbst geraechet, und auf eine ebenso eigenmaechtige Art geraechet sein, als sie erwiesen worden. Ob es die wahre oder die falsche Ehre ist, die dieses gebietet, davon ist hier die Rede nicht. Wie gesagt, es ist nun einmal so. Und wenn es nun einmal in der Welt so ist: warum soll es nicht auch auf dem Theater so sein? Wenn die Ohrfeigen dort im Gange sind: warum nicht auch hier?

"Die Schauspieler", sagt der Herr von Voltaire, "wissen nicht, wie sie sich dabei anstellen sollen." Sie wuessten es wohl; aber man will eine Ohrfeige auch nicht einmal gern im fremden Namen haben. Der Schlag setzt sie in Feuer; die Person erhaelt ihn, aber sie fuehlen ihn; das Gefuehl hebt die Verstellung auf; sie geraten aus ihrer Fassung; Scham und Verwirrung aeussert sich wider Willen auf ihrem Gesichte; sie sollten zornig aussehen, und sie sehen albern aus; und jeder Schauspieler, dessen eigene Empfindungen mit seiner Rolle in Kollision kommen, macht uns zu lachen.

Es ist dieses nicht der einzige Fall, in welchem man die Abschaffung der Masken bedauern moechte. Der Schauspieler kann ohnstreitig unter der Maske mehr Kontenance halten; seine Person findet weniger Gelegenheit auszubrechen; und wenn sie ja ausbricht, so werden wir diesen Ausbruch weniger gewahr.

Doch der Schauspieler verhalte sich bei der Ohrfeige, wie er will: Der dramatische Dichter arbeitet zwar fuer den Schauspieler, aber er muss sich darum nicht alles versagen, was diesem weniger tulich und bequem ist. Kein Schauspieler kann rot werden, wenn er will: aber gleichwohl darf es ihm der Dichter vorschreiben; gleichwohl darf er den einen sagen lassen, dass er es den andern werden sieht. Der Schauspieler will sich nicht ins Gesichte schlagen lassen; er glaubt, es mache ihn veraechtlich; es verwirrt ihn; es schmerzt ihn: recht gut! Wenn er es in seiner Kunst so weit noch nicht gebracht hat, dass ihn so etwas nicht verwirret; wenn er seine Kunst so sehr nicht liebet, dass er sich, ihr zum Besten, eine kleine Kraenkung will gefallen lassen: so suche er ueber die Stelle so gut wegzukommen, als er kann; er weiche dem Schlage aus; er halte die Hand vor; nur verlange er nicht, dass sich der Dichter seinetwegen mehr Bedenklichkeiten machen soll, als er sich der Person wegen macht, die er ihn vorstellen laesst. Wenn der wahre Diego, wenn der wahre Essex eine Ohrfeige hinnehmen muss: was wollen ihre Repraesentanten dawider einzuwenden haben?

Aber der Zuschauer will vielleicht keine Ohrfeige geben sehen? Oder hoechstens nur einem Bedienten, den sie nicht besonders schimpft, fuer den sie eine seinem Stande angemessene Zuechtigung ist? Einem Helden hingegen, einem Helden eine Ohrfeige! wie klein, wie unanstaendig!—Und wenn sie das nun eben sein soll? Wenn eben diese Unanstaendigkeit die Quelle der gewaltsamsten Entschliessungen, der blutigsten Rache werden soll, und wird? Wenn jede geringere Beleidigung diese schreckliche Wirkungen nicht haette haben koennen? Was in seinen Folgen so tragisch werden kann, was unter gewissen Personen notwendig so tragisch werden muss, soll dennoch aus der Tragoedie ausgeschlossen sein, weil es auch in der Komoedie, weil es auch in dem Possenspiele Platz findet? Worueber wir einmal lachen, sollen wir ein andermal nicht erschrecken koennen?

Wenn ich die Ohrfeige aus einer Gattung des Drama verbannt wissen moechte, so waere es aus der Komoedie. Denn was fuer Folgen kann sie da haben? Traurige? die sind ueber ihrer Sphaere. Laecherliche? die sind unter ihr und gehoeren dem Possenspiele. Gar keine? so verlohnte es nicht der Muehe, sie geben zu lassen. Wer sie gibt, wird nichts als poebelhafte Hitze, und wer sie bekoemmt, nichts als knechtische Kleinmut verraten. Sie verbleibt also den beiden Extremis, der Tragoedie und dem Possenspiele; die mehrere dergleichen Dinge gemein haben, ueber die wir entweder spotten oder zittern wollen.

Und ich frage jeden, der den "Cid" vorstellen sehen oder ihn mit einiger Aufmerksamkeit auch nur gelesen, ob ihn nicht ein Schauder ueberlaufen, wenn der grosssprecherische Gormas den alten wuerdigen Diego zu schlagen sich erdreistet? Ob er nicht das empfindlichste Mitleid fuer diesen, und den bittersten Unwillen gegen jenen empfunden? Ob ihm nicht auf einmal alle die blutigen und traurigen Folgen, die diese schimpfliche Begegnung nach sich ziehen muesse, in die Gedanken geschossen und ihn mit Erwartung und Furcht erfuellet? Gleichwohl soll ein Vorfall, der alle diese Wirkung auf ihn hat, nicht tragisch sein?

Wenn jemals bei dieser Ohrfeige gelacht worden, so war es sicherlich von einem auf der Galerie, der mit den Ohrfeigen zu bekannt war und eben itzt eine von seinem Nachbar verdient haette. Wen aber die ungeschickte Art, mit der sich der Schauspieler etwa dabei betrug, wider Willen zu laecheln machte, der biss sich geschwind in die Lippe und eilte, sich wieder in die Taeuschung zu versetzen, aus der fast jede gewaltsamere Handlung den Zuschauer mehr oder weniger zu bringen pflegt.

Auch frage ich, welche andere Beleidigung wohl die Stelle der Ohrfeige vertreten koennte? Fuer jede andere wuerde es in der Macht des Koenigs stehen, dem Beleidigten Genugtunung zu schaffen; fuer jede andere wuerde sich der Sohn weigern duerfen, seinem Vater den Vater seiner Geliebten aufzuopfern. Fuer diese einzige laesst das Pundonor weder Entschuldigung noch Abbitte gelten; und alle guetliche Wege, die selbst der Monarch dabei einleiten will, sind fruchtlos. Corneille liess nach dieser Denkungsart den Gormas, wenn ihm der Koenig andeuten laesst, den Diego zufriedenzustellen, sehr wohl antworten:

    Ces satisfactions n'apaisent point une ame:
    Qui les recoit n'a rien, qui les fait se diffame.
    Et de tous ces accords l'effet le plus commun,
    C'est de deshonorer deux hommes au lieu d'un.

Damals war in Frankreich das Edikt wider die Duelle nicht lange ergangen, dem dergleichen Maximen schnurstracks zuwiderliefen. Corneille erhielt also zwar Befehl, die ganzen Zeilen wegzulassen; und sie wurden aus dem Munde der Schauspieler verbannt. Aber jeder Zuschauer ergaenzte sie aus dem Gedaechtnisse und aus seiner Empfindung.

In dem "Essex" wird die Ohrfeige dadurch noch kritischer, dass sie eine Person gibt, welche die Gesetze der Ehre nicht verbinden. Sie ist Frau und Koenigin; was kann der Beleidigte mit ihr anfangen? Ueber die handfertige wehrhafte Frau wuerde er spotten; denn eine Frau kann weder schimpfen noch schlagen. Aber diese Frau ist zugleich der Souveraen, dessen Beschimpfungen unausloeschlich sind, da sie von seiner Wuerde eine Art von Gesetzmaessigkeit erhalten. Was kann also natuerlicher scheinen, als dass Essex sich wider diese Wuerde selbst auflehnet und gegen die Hoehe tobet, die den Beleidiger seiner Rache entzieht? Ich wuesste wenigstens nicht, was seine letzten Vergehungen sonst wahrscheinlich haette machen koennen. Die blosse Ungnade, die blosse Entsetzung seiner Ehrenstellen konnte und durfte ihn so weit nicht treiben. Aber durch eine so knechtische Behandlung ausser sich gebracht, sehen wir ihn alles, was ihm die Verzweiflung eingibt, zwar nicht mit Billigung, doch mit Entschuldigung unternehmen. Die Koenigin selbst muss ihn aus diesem Gesichtspunkte ihrer Verzeihung wuerdig erkennen; und wir haben so ungleich mehr Mitleid mit ihm, als er uns in der Geschichte zu verdienen scheinet, wo das, was er hier in der ersten Hitze der gekraenkten Ehre tut, aus Eigennutz und andern niedrigen Absichten geschieht.

Der Streit, sagt die Geschichte, bei welchem Essex die Ohrfeige erhielt, war ueber die Wahl eines Koenigs von Irland. Als er sahe, dass die Koenigin auf ihrer Meinung beharrte, wandte er ihr mit einer sehr veraechtlichen Gebaerde den Ruecken. In dem Augenblicke fuehlte er ihre Hand, und seine fuhr nach dem Degen. Er schwur, dass er diesen Schimpf weder leiden koenne noch wolle; dass er ihn selbst von ihrem Vater Heinrich nicht wuerde erduldet haben: und so begab er sich vom Hofe. Den Brief, den er an den Kanzler Egerton ueber diesen Vorfall schrieb, ist mit dem wuerdigsten Stolze abgefasst, und er schien fest entschlossen, sich der Koenigin nie wieder zu naehern. Gleichwohl finden wir ihn bald darauf wieder in ihrer voelligen Gnade und in der voelligen Wirksamkeit eines ehrgeizigen Lieblings. Diese Versoehnlichkeit, wenn sie ernstlich war, macht uns eine sehr schlechte Idee von ihm; und keine viel bessere, wenn sie Verstellung war. In diesem Falle war er wirklich ein Verraeter, der sich alles gefallen liess, bis er den rechten Zeitpunkt gekommen zu sein glaubte. Ein elender Weinpacht, den ihm die Koenigin nahm, brachte ihn am Ende weit mehr auf, als die Ohrfeige; und der Zorn ueber diese Verschmaelerung seiner Einkuenfte verblendete ihn so, dass er ohne alle Ueberlegung losbrach. So finden wir ihn in der Geschichte, und verachten ihn. Aber nicht so bei dem Banks, der seinen Aufstand zu der unmittelbaren Folge der Ohrfeige macht und ihm weiter keine treulosen Absichten gegen seine Koenigin beilegt. Sein Fehler ist der Fehler einer edeln Hitze, den er bereuet, der ihm vergeben wird, und der bloss durch die Bosheit seiner Feinde der Strafe nicht entgeht, die ihm geschenkt war.

Siebenundfunfzigstes Stueck
Den 17. November 1767

Banks hat die naemlichen Worte beibehalten, die Essex ueber die Ohrfeige ausstiess. Nur dass er ihn dem einen Heinriche noch alle Heinriche in der Welt, mitsamt Alexandern, beifuegen laesst.[1] Sein Essex ist ueberhaupt zuviel Prahler; und es fehlet wenig, dass er nicht ein ebenso grosser Gasconier ist als der Essex des Gasconiers Calprenede. Dabei ertraegt er sein Unglueck viel zu kleinmuetig und ist bald gegen die Koenigin ebenso kriechend, als er vorher vermessen gegen sie war. Banks hat ihn zu sehr nach dem Leben geschildert. Ein Charakter, der sich so leicht vergisst, ist kein Charakter, und eben daher der dramatischen Nachahmung unwuerdig. In der Geschichte kann man dergleichen Widersprueche mit sich selbst fuer Verstellung halten, weil wir in der Geschichte doch selten das Innerste des Herzens kennenlernen: aber in dem Drama werden wir mit dem Helden allzu vertraut, als dass wir nicht gleich wissen sollten, ob seine Gesinnungen wirklich mit den Handlungen, die wir ihm nicht zugetrauet haetten, uebereinstimmen oder nicht. Ja, sie moegen es, oder sie moegen es nicht: der tragische Dichter kann ihn in beiden Faellen nicht recht nutzen. Ohne Verstellung faellt der Charakter weg; bei der Verstellung die Wuerde desselben.

Mit der Elisabeth hat er in diesen Fehler nicht fallen koennen. Diese Frau bleibt sich in der Geschichte immer so vollkommen gleich, als es wenige Maenner bleiben. Ihre Zaertlichkeit selbst, ihre heimliche Liebe zu dem Essex hat er mit vieler Anstaendigkeit behandelt; sie ist auch bei ihm gewissermassen noch ein Geheimnis. Seine Elisabeth klagt nicht, wie die Elisabeth des Corneille, ueber Kaelte und Verachtung, ueber Glut und Schicksal; sie spricht von keinem Gifte, das sie verzehre; sie jammert nicht, dass ihr der Undankbare eine Suffolk vorziehe, nachdem sie ihm doch deutlich genug zu verstehen gegeben, dass er um sie allein seufzen solle, usw. Keine von diesen Armseligkeiten koemmt ueber ihre Lippen. Sie spricht nie als eine Verliebte; aber sie handelt so. Man hoert es nie, aber man sieht es, wie teuer ihr Essex ehedem gewesen, und noch ist. Einige Funken Eifersucht verraten sie; sonst wuerde man sie schlechterdings fuer nichts, als fuer seine Freundin halten koennen.

Mit welcher Kunst aber Banks ihre Gesinnungen gegen den Grafen in Aktion zu setzen gewusst, das koennen folgende Szenen des dritten Aufzuges zeigen. —Die Koenigin glaubt sich allein und ueberlegt den ungluecklichen Zwang ihres Standes, der ihr nicht erlaube, nach der wahren Neigung ihres Herzens zu handeln. Indem wird sie die Nottingham gewahr, die ihr nachgekommen.—

"Die Koenigin. Du hier, Nottingham? Ich glaubte, ich sei allein.

Nottingham. Verzeihe, Koenigin, dass ich so kuehn bin. Und doch befiehlt mir meine Pflicht, noch kuehner zu sein.—Dich bekuemmert etwas. Ich muss fragen,—aber erst auf meinen Knien Dich um Verzeihung bitten, dass ich es frage—Was ist's, das Dich bekuemmert? Was ist es, das diese erhabene Seele so tief herabbeuget?—Oder ist Dir nicht wohl?

Die Koenigin. Steh auf, ich bitte dich.—Mir ist ganz wohl.—Ich danke dir fuer deine Liebe.—Nur unruhig, ein wenig unruhig bin ich,—meines Volkes wegen. Ich habe lange regiert, und ich fuerchte, ihm nur zu lange. Es faengt an, meiner ueberdruessig zu werden.—Neue Kronen sind wie neue Kraenze; die frischesten sind die lieblichsten. Meine Sonne neiget sich; sie hat in ihrem Mittage zu sehr gewaermet; man fuehlet sich zu heiss; man wuenscht, sie waere schon untergegangen.—Erzaehle mir doch, was sagt man von der Ueberkunft des Essex?

Nottingham.—Von seiner Ueberkunft—sagt man—nicht das Beste. Aber von ihm—er ist fuer einen so tapfern Mann bekannt—

Die Koenigin. Wie? tapfer? da er mir so dienet?—Der Verraeter!

Nottingham. Gewiss, es war nicht gut—

Die Koenigin. Nicht gut! nicht gut?—Weiter nichts?

Nottingham. Es war eine verwegene, frevelhafte Tat.

Die Koenigin. Nicht wahr, Nottingham?—Meinen Befehl so gering zu schaetzen! Er haette den Tod dafuer verdient.—Weit geringere Verbrechen haben hundert weit geliebtern Lieblingen den Kopf gekostet.—

Nottingham. Jawohl.—Und doch sollte Essex, bei soviel groesserer
Schuld, mit geringerer Strafe davonkommen? Er sollte nicht sterben?

Die Koenigin. Er soll!—Er soll sterben, und in den empfindlichsten Martern soll er sterben!—Seine Pein sei, wie seine Verraeterei, die groesste von allen!—Und dann will ich seinen Kopf und seine Glieder, nicht unter den finstern Toren, nicht auf den niedrigen Bruecken, auf den hoechsten Zinnen will ich sie aufgesteckt wissen, damit jeder, der voruebergeht, sie erblicke und ausrufe: Siehe da, den stolzen, undankbaren Essex! Diesen Essex, welcher der Gerechtigkeit seiner Koenigin trotzte!—Wohl getan! Nicht mehr, als er verdiente!—Was sagst du, Nottingham? Meinest du nicht auch?—du schweigst?—Warum schweigst du? Willst du ihn noch vertreten?

Nottingham. Weil Du es denn befiehlst, Koenigin, so will ich Dir alles sagen, was die Welt von diesem stolzen, undankbaren Manne spricht.—

Die Koenigin. Tu das!—Lass hoeren: was sagt die Welt von ihm und mir?

Nottingham. Von Dir, Koenigin?—Wer ist es, der von Dir nicht mit Entzuecken und Bewunderung spraeche? Der Nachruhm eines verstorbenen Heiligen ist nicht lauterer, als Dein Lob, von dem aller Zungen ertoenen. Nur dieses einzige wuenschet man, und wuenschet es mit den heissesten Traenen, die aus der reinsten Liebe gegen Dich entspringen, —dieses einzige, dass Du geruhen moechtest, ihren Beschwerden gegen diesen Essex abzuhelfen, einen solchen Verraeter nicht laenger zu schuetzen, ihn nicht laenger der Gerechtigkeit und der Schande vorzuenthalten, ihn endlich der Rache zu ueberliefern—

Die Koenigin. Wer hat mir vorzuschreiben?

Nottingham. Dir vorzuschreiben!—Schreibet man dem Himmel vor, wenn man ihn in tiefester Unterwerfung anflehet?—Und so flehet Dich alles wider den Mann an, dessen Gemuetsart so schlecht, so boshaft ist, dass er es auch nicht der Muehe wert achtet, den Heuchler zu spielen.—Wie stolz! wie aufgeblasen! Und wie unartig, poebelhaft stolz; nicht anders als ein elender Lakai auf seinen bunten verbraemten Rock!—Dass er tapfer ist, raeumt man ihm ein; aber so, wie es der Wolf oder der Baer ist, blind zu, ohne Plan und Vorsicht. Die wahre Tapferkeit, welche eine edle Seele ueber Glueck und Unglueck erhebt, ist fern von ihm. Die geringste Beleidigung bringt ihn auf; er tobt und raset ueber ein Nichts; alles soll sich vor ihm schmiegen; ueberall will er allein glaenzen, allein hervorragen. Luzifer selbst, der den ersten Samen des Lasters in dem Himmel ausstreuete, war nicht ehrgeiziger und herrschsuechtiger, als er. Aber, so wie dieser aus dem Himmel stuerzte—

Die Koenigin. Gemach, Nottingham, gemach!—Du eiferst dich ja ganz aus dem Atem.—Ich will nichts mehr hoeren—(beiseite) Gift und Blattern auf ihre Zunge!—Gewiss, Nottingham, du solltest dich schaemen, so etwas auch nur nachzusagen; dergleichen Niedertraechtigkeiten des boshaften Poebels zu wiederholen. Und es ist nicht einmal wahr, dass der Poebel das sagt. Er denkt es auch nicht. Aber ihr, ihr wuenscht, dass er es sagen moechte.

Nottingham. Ich erstaune, Koenigin—

Die Koenigin. Worueber?

Nottingham. Du gebotest mir selbst, zu reden—

Die Koenigin. Ja, wenn ich es nicht bemerkt haette, wie gewuenscht dir dieses Gebot kam! wie vorbereitet du darauf warest! Auf einmal gluehte dein Gesicht, flammte dein Auge; das volle Herz freute sich, ueberzufliessen, und jedes Wort, jede Gebaerde hatte seinen laengst abgezielten Pfeil, deren jeder mich mit trifft.

Nottingham. Verzeihe, Koenigin, wenn ich in dem Ausdrucke meine
Schuldigkeit gefehlet habe. Ich mass ihn nach Deinem ab.

Die Koenigin. Nach meinem?—Ich bin seine Koenigin. Mir steht es frei, dem Dinge, das ich geschaffen habe, mitzuspielen, wie ich will.—Auch hat er sich der graesslichsten Verbrechen gegen meine Person schuldig gemacht. Mich hat er beleidiget; aber nicht dich.—Womit koennte dich der arme Mann beleidiget haben? Du hast keine Gesetze, die er uebertreten, keine Untertanen, die er bedruecken, keine Krone, nach der er streben koennte. Was findest du denn also fuer ein grausames Vergnuegen, einen Elenden, der ertrinken will, lieber noch auf den Kopf zu schlagen, als ihm die Hand zu reichen?

Nottingham. Ich bin zu tadeln—

Die Koenigin. Genug davon!—Seine Koenigin, die Welt, das Schicksal selbst erklaert sich wider diesen Mann, und doch scheinet er dir kein Mitleid, keine Entschuldigung zu verdienen?—

Nottingham. Ich bekenne es, Koenigin,

Die Koenigin. Geh, es sei dir vergeben!—Rufe mir gleich die Rutland her.—"

——Fussnote

[1] Act. III.

    —By all
    The Subtilty, and Woman in your Sex,
    I swear, that had you been a Man, you durst not,
    Nay, your bold Father Harry durst not this
    Have done—Why say I him? Not all the Harrys,
    Not Alexander self, were he alive,
    Should boast of such a deed on Essex done
    Without revenge.—

——Fussnote

Achtundfunfzigstes Stueck
Den 20. November 1767

Nottingham geht, und bald darauf erscheinet Rutland. Man erinnere sich, dass Rutland, ohne Wissen der Koenigin, mit dem Essex vermaehlt ist.

"Die Koenigin. Koemmst du, liebe Rutland? Ich habe nach dir geschickt. —Wie ist's? Ich finde dich seit einiger Zeit so traurig. Woher diese truebe Wolke, die dein holdes Auge umziehet? Sei munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern Mann suchen.

Rutland. Grossmuetige Frau!—Ich verdiene es nicht, dass meine Koenigin so gnaedig auf mich herabsiehet.

Die Koenigin. Wie kannst du so reden?—Ich liebe dich; jawohl liebe
ich dich.—Du sol1st es daraus schon sehen!—Eben habe ich mit der
Nottingham, der widerwaertigen!—einen Streit gehabt; und zwar—ueber
Mylord Essex.

Rutland. Ha!

Die Koenigin. Sie hat mich recht sehr geaergert. Ich konnte sie nicht laenger vor Augen sehen.

Rutland (beiseite). Wie fahre ich bei diesem teuern Namen zusammen! Mein Gesicht wird mich verraten. Ich fuehl' es; ich werde blass—und wieder rot.—

Die Koenigin. Was ich dir sage, macht dich erroeten?—

Rutland. Dein so ueberraschendes, guetiges Vertrauen, Koenigin,—

Die Koenigin. Ich weiss, dass du mein Vertrauen verdienest.—Komm, Rutland, ich will dir alles sagen. Du sol1st mir raten.—Ohne Zweifel, liebe Rutland, wirst du es auch gehoert haben, wie sehr das Volk wider den armen, ungluecklichen Mann schreiet; was fuer Verbrechen es ihm zur Last leget. Aber das Schlimmste weisst du vielleicht noch nicht? Er ist heute aus Irland angekommen; wider meinen ausdruecklichen Befehl; und hat die dortigen Angelegenheiten in der groessten Verwirrung gelassen.

Rutland. Darf ich Dir, Koenigin, wohl sagen, was ich denke?—Das Geschrei des Volkes ist nicht immer die Stimme der Wahrheit. Sein Hass ist oefters so ungegruendet—

Die Koenigin. Du sprichst die wahren Gedanken meiner Seele.—Aber, liebe Rutland, er ist demohngeachtet zu tadeln.—Komm her, meine Liebe; lass mich an deinen Busen mich lehnen.—O gewiss, man legt mir es zu nahe! Nein, so will ich mich nicht unter ihr Joch bringen lassen. Sie vergessen, dass ich ihre Koenigin bin.—Ah, Liebe; so ein Freund hat mir laengst gefehlt, gegen den ich so meinen Kummer ausschuetten kann!—

Rutland. Siehe meine Traenen, Koenigin—Dich so leiden zu sehen, die ich so bewundere!—Oh, dass mein guter Engel Gedanken in meine Seele, und Worte auf meine Zunge legen wollte, den Sturm in Deiner Brust zu beschwoeren, und Balsam in Deine Wunden zu giessen!

Die Koenigin. Oh, so waerest du mein guter Engel! mitleidige, beste Rutland!—Sage, ist es nicht schade, dass so ein braver Mann ein Verraeter sein soll? dass so ein Held, der wie ein Gott verehret ward, sich so erniedrigen kann, mich um einen kleinen Thron bringen zu wollen?

Rutland. Das haette er gewollt? das koennte er wollen? Nein, Koenigin, gewiss nicht, gewiss nicht! Wie oft habe ich ihn von Dir sprechen hoeren! mit welcher Ergebenheit, mit welcher Bewunderung, mit welchem Entzuecken habe ich ihn von Dir sprechen hoeren!

Die Koenigin. Hast du ihn wirklich von mir sprechen hoeren?

Rutland. Und immer als einen Begeisterten, aus dem nicht kalte Ueberlegung, aus dem ein inneres Gefuehl spricht, dessen er nicht maechtig ist. Sie ist, sagte er, die Goettin ihres Geschlechts, so weit ueber alle andere Frauen erhaben, dass das, was wir in diesen am meisten bewundern, Schoenheit und Reiz, in ihr nur die Schatten sind, ein groesseres Licht dagegen abzusetzen. Jede weibliche Vollkommenheit verliert sich in ihr, wie der schwache Schimmer eines Sternes in dem alles ueberstroemenden Glanze des Sonnenlichts. Nichts uebersteigt ihre Guete; die Huld selbst beherrschet, in ihrer Person, diese glueckliche Insel; ihre Gesetze sind aus dem ewigen Gesetzbuche des Himmels gezogen und werden dort von Engeln wieder aufgezeichnet.—Oh, unterbrach er sich dann mit einem Seufzer, der sein ganzes getreues Herz ausdrueckte, oh, dass sie nicht unsterblich sein kann! Ich wuensche ihn nicht zu erleben, den schrecklichen Augenblick, wenn die Gottheit diesen Abglanz von sich zurueckruft und mit eins sich Nacht und Verwirrung ueber Britannien verbreiten.

Die Koenigin. Sagte er das, Rutland?

Rutland. Das, und weit mehr. Immer so neu, als wahr in Deinem Lobe, dessen unversiegene Quelle von den lautersten Gesinnungen gegen Dich ueberstroemte—

Die Koenigin. Oh, Rutland, wie gern glaube ich dem Zeugnisse, das du ihm gibst!

Rutland. Und kannst ihn noch fuer einen Verraeter halten?

Die Koenigin. Nein;—aber doch hat er die Gesetze uebertreten.—Ich muss mich schaemen, ihn laenger zu schuetzen.—Ich darf es nicht einmal wagen, ihn zu sehen.

Rutland. Ihn nicht zu sehen, Koenigin? nicht zu sehen?—Bei dem
Mitleid, das seinen Thron in Deiner Seele aufgeschlagen, beschwoere
ich Dich,—Du musst ihn sehen! Schaemen? wessen? dass Du mit einem
Ungluecklichen Erbarmen hast?—Gott hat Erbarmen: und Erbarmen sollte
Koenige schimpfen?—Nein, Koenigin; sei auch hier Dir selbst gleich.
Ja, Du wirst es; Du wirst ihn sehen, wenigstens einmal sehen—

Die Koenigin. Ihn, der meinen ausdruecklichen Befehl so geringschaetzen koennen? Ihn, der sich so eigenmaechtig vor meine Augen draengen darf? Warum blieb er nicht, wo ich ihm zu bleiben befahl?

Rutland. Rechne ihm dieses zu keinem Verbrechen! Gib die Schuld der Gefahr, in der er sich sahe. Er hoerte, was hier vorging; wie sehr man ihn zu verkleinern, ihn Dir verdaechtig zu machen suche. Er kam also, zwar ohne Erlaubnis, aber in der besten Absicht; in der Absicht, sich zu rechtfertigen und Dich nicht hintergehen zu lassen.

Die Koenigin. Gut; so will ich ihn denn sehen, und will ihn gleich sehen.—Oh, meine Rutland, wie sehr wuensche ich es, ihn noch immer ebenso rechtschaffen zu finden, als tapfer ich ihn kenne!

Rutland. Oh, naehre diese guenstige Gedanke! Deine koenigliche Seele kann keine gerechtere hegen.—Rechtschaffen! So wirst Du ihn gewiss finden. Ich wollte fuer ihn schwoeren; bei aller Deiner Herrlichkeit fuer ihn schwoeren, dass er es nie aufgehoeret zu sein. Seine Seele ist reiner als die Sonne, die Flecken hat und irdische Duenste an sich ziehet und Geschmeiss ausbruetet.—Du sagst, er ist tapfer; und wer sagt es nicht? Aber ein tapferer Mann ist keiner Niedertraechtigkeit faehig. Bedenke, wie er die Rebellen gezuechtiget; wie furchtbar er Dich dem Spanier gemacht, der vergebens die Schaetze seiner Indien wider Dich verschwendete. Sein Name floh vor Deinen Flotten und Voelkern vorher, und ehe diese noch eintrafen, hatte oefters schon sein Name gesiegt.

Die Koenigin (beiseite). Wie beredt sie ist!—Ha! dieses Feuer, diese Innigkeit,—das blosse Mitleid gehet so weit nicht.—Ich will es gleich hoeren!—(Zu ihr.) Und dann, Rutland, seine Gestalt—

Rutland. Recht, Koenigin; seine Gestalt.—Nie hat eine Gestalt den innern Vollkommenheiten mehr entsprochen!—Bekenn' es, Du, die Du selbst so schoen bist, dass man nie einen schoenern Mann gesehen! So wuerdig, so edel, so kuehn und gebieterisch die Bildung! Jedes Glied, in welcher Harmonie mit dem andern! Und doch das ganze von einem so sanften lieblichen Umrisse! Das wahre Modell der Natur, einen vollkommenen Mann zu bilden! Das seltene Muster der Kunst, die aus hundert Gegenstaenden zusammensuchen muss, was sie hier beieinander findet!

Die Koenigin (beiseite). Ich dacht' es!—Das ist nicht laenger auszuhalten.—(Zu ihr.) Wie ist dir, Rutland? Du geraetst ausser dir. Ein Wort, ein Bild ueberjagt das andere. Was spielt so den Meister ueber dich? Ist es bloss deine Koenigin, ist es Essex selbst, was diese wahre, oder diese erzwungene Leidenschaft wirket?—(Beiseite.) Sie schweigt; ganz gewiss, sie liebt ihn.—Was habe ich getan? Welchen neuen Sturm habe ich in meinem Busen erregt?" usw.

Hier erscheinen Burleigh und die Nottingham wieder, der Koenigin zu sagen, dass Essex ihren Befehl erwarte. Er soll vor sie kommen. "Rutland", sagt die Koenigin, "wir sprechen einander schon weiter; geh nur.—Nottingham, tritt du naeher." Dieser Zug der Eifersucht ist vortrefflich. Essex koemmt; und nun erfolgt die Szene mit der Ohrfeige. Ich wuesste nicht, wie sie verstaendiger und gluecklicher vorbereitet sein koennte. Essex anfangs, scheinet sich voellig unterwerfen zu wollen; aber, da sie ihm befiehlt, sich zu rechtfertigen, wird er nach und nach hitzig; er prahlt, er pocht, er trotzt. Gleichwohl haette alles das die Koenigin so weit nicht aufbringen koennen, wenn ihr Herz nicht schon durch Eifersucht erbittert gewesen waere. Es ist eigentlich die eifersuechtige Liebhaberin, welche schlaegt, und die sich nur der Hand der Koenigin bedienet. Eifersucht ueberhaupt schlaegt gern.—

Ich, meinesteils, moechte diese Szenen lieber auch nur gedacht, als den ganzen "Essex" des Corneille gemacht haben. Sie sind so charakteristisch, so voller Leben und Wahrheit, dass das Beste des Franzosen eine sehr armselige Figur dagegen macht.

Neunundfunfzigstes Stueck
Den 24. November 1767

Nur den Stil des Banks muss man aus meiner Uebersetzung nicht beurteilen. Von seinem Ausdrucke habe ich gaenzlich abgehen muessen. Er ist zugleich so gemein und so kostbar, so kriechend und so hochtrabend, und das nicht von Person zu Person, sondern ganz durchaus, dass er zum Muster dieser Art von Misshelligkeit dienen kann. Ich habe mich zwischen beide Klippen, so gut als moeglich, durchzuschleichen gesucht; dabei aber doch an der einen lieber, als an der andern, scheitern wollen.

Ich habe mich mehr vor dem Schwuelstigen gehuetet, als vor dem Platten. Die mehresten haetten vielleicht gerade das Gegenteil getan; denn schwuelstig und tragisch halten viele so ziemlich fuer einerlei. Nicht nur viele der Leser: auch viele der Dichter selbst. Ihre Helden sollten wie andere Menschen sprechen? Was waeren das fuer Helden? Ampullae et sesquipedalia verba, Sentenzen und Blasen und ellenlange Worte: das macht ihnen den wahren Ton der Tragoedie.

"Wir haben es an nichts fehlen lassen", sagt Diderot,[1] (man merke, dass er vornehmlich von seinen Landsleuten spricht), "das Drama aus dem Grunde zu verderben. Wir haben von den Alten die volle praechtige Versifikation beibehalten, die sich doch nur fuer Sprachen von sehr abgemessenen Quantitaeten und sehr merklichen Akzenten, nur fuer weitlaeufige Buehnen, nur fuer eine in Noten gesetzte und mit Instrumenten begleitete Deklamation so wohl schickt: ihre Einfalt aber in der Verwickelung und dem Gespraeche, und die Wahrheit ihrer Gemaelde haben wir fahren lassen."

Diderot haette noch einen Grund hinzufuegen koennen, warum wir uns den Ausdruck der alten Tragoedien nicht durchgaengig zum Muster nehmen duerfen. Alle Personen sprechen und unterhalten sich da auf einem freien, oeffentlichen Platze, in Gegenwart einer neugierigen Menge Volks. Sie muessen also fast immer mit Zurueckhaltung und Ruecksicht auf ihre Wuerde sprechen; sie koennen sich ihrer Gedanken und Empfindungen nicht in den ersten den besten Worten entladen; sie muessen sie abmessen und waehlen. Aber wir Neuern, die wir den Chor abgeschafft, die wir unsere Personen groesstenteils zwischen ihren vier Waenden lassen: was koennen wir fuer Ursache haben, sie demohngeachtet immer eine so geziemende, so ausgesuchte, so rhetorische Sprache fuehren zu lassen? Sie hoert niemand, als dem sie es erlauben wollen, sie zu hoeren; mit ihnen spricht niemand als Leute, welche in die Handlung wirklich mit verwickelt, die also selbst im Affekte sind und weder Lust noch Musse haben, Ausdruecke zu kontrollieren. Das war nur von dem Chore zu besorgen, der, so genau er auch in das Stueck eingeflochten war, dennoch niemals misshandelte und stets die handelnden Personen mehr richtete, als an ihrem Schicksale wirklichen Anteil nahm. Umsonst beruft man sich desfalls auf den hoehern Rang der Personen. Vornehme Leute haben sich besser ausdruecken gelernt als der gemeine Mann: aber sie affektieren nicht unaufhoerlich, sich besser auszudruecken als er. Am wenigsten in Leidenschaften; deren jede ihre eigene Beredsamkeit hat, mit der allein die Natur begeistert, die in keiner Schule gelernt wird, und auf die sich der Unerzogenste so gut verstehet, als der Polierteste.

Bei einer gesuchten, kostbaren, schwuelstigen Sprache kann niemals Empfindung sein. Sie zeugt von keiner Empfindung, und kann keine hervorbringen. Aber wohl vertraegt sie sich mit den simpelsten, gemeinsten, plattesten Worten und Redensarten.

Wie ich Banks' Elisabeth sprechen lasse, weiss ich wohl, hat noch keine Koenigin auf dem franzoesischen Theater gesprochen. Den niedrigen vertraulichen Ton, in dem sie sich mit ihren Frauen unterhaelt, wuerde man in Paris kaum einer guten adligen Landfrau angemessen finden. "Ist dir nicht wohl?—Mir ist ganz wohl. Steh auf, ich bitte dich.—Nur unruhig; ein wenig unruhig bin ich.—Erzaehle mir doch.—Nicht wahr, Nottingham? Tu das! Lass hoeren!—Gemach, gemach!—Du eiferst dich aus dem Atem.—Gift und Blattern auf ihre Zunge!—Mir steht es frei, dem Dinge, das ich geschaffen habe, mitzuspielen, wie ich will.—Auf den Kopf schlagen.—Wie ist's? Sei munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern Mann suchen.—Wie kannst du so reden?—Du sollst es schon sehen.—Sie hat mich recht sehr geaergert. Ich konnte sie nicht laenger vor Augen sehen.—Komm her, meine Liebe; lass mich an deinen Busen mich lehnen.—Ich dacht' es!—Das ist nicht laenger auszuhalten."—Jawohl ist es nicht auszuhalten! wuerden die feinen Kunstrichter sagen—

Werden vielleicht auch manche von meinen Lesern sagen.—Denn leider gibt es Deutsche, die noch weit franzoesischer sind, als die Franzosen. Ihnen zu gefallen, habe ich diese Brocken auf einen Haufen getragen. Ich kenne ihre Art zu kritisieren. Alle die kleinen Nachlaessigkeiten, die ihr zaertliches Ohr so unendlich beleidigen, die dem Dichter so schwer zu finden waren, die er mit so vieler Ueberlegung dahin und dorthin streuete, um den Dialog geschmeidig zu machen und den Reden einen wahrern Anschein der augenblicklichen Eingebung zu erteilen, reihen sie sehr witzig zusammen auf einen Faden und wollen sich krank darueber lachen. Endlich folgt ein mitleidiges Achselzucken: "Man hoert wohl, dass der gute Mann die grosse Welt nicht kennet; dass er nicht viele Koeniginnen reden gehoert; Racine verstand das besser; aber Racine lebte auch bei Hofe."

Demohngeachtet wuerde mich das nicht irre machen. Desto schlimmer fuer die Koeniginnen, wenn sie wirklich nicht so sprechen, nicht so sprechen duerfen. Ich habe es lange schon geglaubt, dass der Hof der Ort eben nicht ist, wo ein Dichter die Natur studieren kann. Aber wenn Pomp und Etikette aus Menschen Maschinen macht, so ist es das Werk des Dichters, aus diesen Maschinen wieder Menschen zu machen. Die wahren Koeniginnen moegen so gesucht und affektiert sprechen, als sie wollen: seine Koeniginnen muessen natuerlich sprechen. Er hoere der Hekuba des Euripides nur fleissig zu; und troeste sich immer, wenn er schon sonst keine Koeniginnen gesprochen hat.

Nichts ist zuechtiger und anstaendiger als die simple Natur. Grobheit und Wust ist ebenso weit von ihr entfernt, als Schwulst und Bombast von dem Erhabnen. Das naemliche Gefuehl, welches die Grenzscheidung dort wahrnimmt, wird sie auch hier bemerken. Der schwuelstige Dichter ist daher unfehlbar auch der poebelhafteste. Beide Fehler sind unzertrennlich; und keine Gattung gibt mehrere Gelegenheit, in beide zu verfallen, als die Tragoedie.

Gleichwohl scheinet die Englaender vornehmlich nur der eine in ihrem Banks beleidiget zu haben. Sie tadelten weniger seinen Schwulst, als die poebelhafte Sprache, die er so edle und in der Geschichte ihres Landes so glaenzende Personen fuehren lasse; und wuenschten lange, dass sein Stueck von einem Manne, der den tragischen Ausdruck mehr in seiner Gewalt habe, moechte umgearbeitet werden.[2] Dieses geschah endlich auch. Fast zu gleicher Zeit machten sich Jones und Brook darueber. Heinrich Jones, von Geburt ein Irlaender, war seiner Profession nach ein Maurer und vertauschte, wie der alte Ben Jonson, seine Kelle mit der Feder. Nachdem er schon einen Band Gedichte auf Subskription drucken lassen, die ihn als einen Mann von grossem Genie bekannt machten, brachte er seinen "Essex" 1753 aufs Theater. Als dieser zu London gespielt ward, hatte man bereits den von Heinrich Brook in Dublin gespielt. Aber Brook liess seinen erst einige Jahre hernach drucken; und so kann es wohl sein, dass er, wie man ihm Schuld gibt, ebensowohl den "Essex" des Jones als den vom Banks, genutzt hat. Auch muss noch ein "Essex" von einem James Ralph vorhanden sein. Ich gestehe, dass ich keinen gelesen habe, und alle drei nur aus den gelehrten Tagebuechern kenne. Von dem "Essex" des Brook sagt ein franzoesischer Kunstrichter, dass er das Feuer und das Pathetische des Banks mit der schoenen Poesie des Jones zu verbinden gewusst habe. Was er ueber die Rolle der Rutland und ueber derselben Verzweiflung bei der Hinrichtung ihres Gemahls hinzufuegt,[3] ist merkwuerdig; man lernt auch daraus das Pariser Parterr auf einer Seite kennen, die ihm wenig Ehre macht.

Aber einen spanischen "Essex" habe ich gelesen, der viel zu sonderbar ist, als dass ich nicht im Vorbeigehen etwas davon sagen sollte.—

——Fussnote

[1] Zweite Unterredung hinter dem "Natuerlichen Sohne". S.d. Uebers. 247.

[2] ("Companion to the Theatre", Vol. II. p. 105.)—The Diction is every where very bad, and in some Places so low, that it even becomes unnatural.—And I think, there cannot be a greater Proof of the little Encouragement this Age affords to Merit, than that no Gentleman possest of a true Genius and Spirit of Poetry, thinks it worth his Attention to adorn so celebrated a Part of History with that Dignity of Expression befitting Tragedy in general, but more particularly, where the Characters are perhaps the greatest the World ever produced.

[3] ("Journal Encycl.", Mars 1761.) Il a aussi fait tomber en demence la Comtesse de Rutland au moment que cet illustre epoux est conduit a l'echafaud; ce moment ou cette Comtesse est un objet bien digne de pitie, a produit une tres grande sensation, et a ete trouve admirable a Londres: en France il eut paru ridicule, il aurait ete siffle et l'on aurait envoye la Comtesse avec l'Auteur aux Petites-Maisons.

——Fussnote

Sechzigstes Stueck
Den 27. November 1767

Er ist von einem Ungenannten und fuehret den Titel: "Fuer seine Gebieterin sterben"[1]. Ich finde ihn in einer Sammlung von Komoedien, die Joseph Padrino zu Sevilien gedruckt hat, und in der er das vierundsiebzigste Stueck ist. Wenn er verfertiget worden, weiss ich nicht; ich sehe auch nichts, woraus es sich ungefaehr abnehmen liesse. Das ist klar, dass sein Verfasser weder die franzoesischen und englischen Dichter, welche die naemliche Geschichte bearbeitet haben, gebraucht hat, noch von ihnen gebraucht worden. Er ist ganz original. Doch ich will dem Urteile meiner Leser nicht vorgreifen.

Essex kommt von seiner Expedition wider die Spanier zurueck und will der Koenigin in London Bericht davon abstatten. Wie er anlangt, hoert er, dass sie sich zwei Meilen von der Stadt auf dem Landgute einer ihrer Hofdamen, namens Blanca, befinde. Diese Blanca ist die Geliebte des Grafen, und auf diesem Landgute hat er, noch bei Lebszeiten ihres Vaters, viele heimliche Zusammenkuenfte mit ihr gehabt. Sogleich begibt er sich dahin und bedient sich des Schluessels, den er noch von der Gartentuere bewahret, durch die er ehedem zu ihr gekommen. Es ist natuerlich, dass er sich seiner Geliebten eher zeigen will, als der Koenigin. Als er durch den Garten nach ihren Zimmern schleichet, wird er an dem schattichten Ufer eines durch denselben geleiteten Armes der Themse ein Frauenzimmer gewahr, (es ist ein schwueler Sommerabend), das mit den blossen Fuessen in dem Wasser sitzt und sich abkuehlet. Er bleibt voller Verwunderung ueber ihre Schoenheit stehen, ob sie schon das Gesicht mit einer halben Maske bedeckt hat, um nicht erkannt zu werden. (Diese Schoenheit, wie billig, wird weitlaeuftig beschrieben, und besonders werden ueber die allerliebsten weissen Fuesse in dem klaren Wasser sehr spitzfindige Dinge gesagt. Nicht genug, dass der entzueckte Graf zwei kristallene Saeulen in einem fliessenden Kristalle stehen sieht; er weiss vor Erstaunen nicht, ob das Wasser der Kristall ihrer Fuesse ist, welcher in Fluss geraten, oder ob ihre Fuesse der Kristall des Wassers sind, der sich in diese Form kondensiert hat.[2]) Noch verwirrter macht ihn die halbe schwarze Maske auf dem weissen Gesichte: er kann nicht begreifen, in welcher Absicht die Natur ein so goettliches Monstrum gebildet und auf seinem Gesichte so schwarzen Basalt mit so glaenzendem Helfenbeine gepaaret habe; ob mehr zur Bewunderung, oder mehr zur Verspottung?[3] Kaum hat sich das Frauenzimmer wieder angekleidet, als, unter der Ausrufung: Stirb, Tyrannin! ein Schuss auf sie geschieht, und gleich darauf zwei maskierte Maenner mit blossem Degen auf sie losgehen, weil der Schuss sie nicht getroffen zu haben scheinet. Essex besinnt sich nicht lange, ihr zu Hilfe zu eilen. Er greift die Moerder an, und sie entfliehen. Er will ihnen nach; aber die Dame ruft ihn zurueck und bittet ihn, sein Leben nicht in Gefahr zu setzen. Sie sieht, dass er verwundet ist, knuepft ihre Schaerpe los und gibt sie ihm, sich die Wunde damit zu verbinden. Zugleich, sagt sie, soll diese Schaerpe dienen, mich Euch zu seiner Zeit zu erkennen zu geben; itzt muss ich mich entfernen, ehe ueber den Schuss mehr Laermen entsteht; ich moechte nicht gern, dass die Koenigin den Zufall erfuehre, und ich beschwoere Euch daher um Eure Verschwiegenheit. Sie geht, und Essex bleibt voller Erstaunen ueber diese sonderbare Begebenheit, ueber die er mit seinem Bedienten, namens Cosme, allerlei Betrachtungen anstellt. Dieser Cosme ist die lustige Person des Stuecks; er war vor dem Garten geblieben, als sein Herr hereingegangen, und hatte den Schuss zwar gehoert, aber ihm doch nicht zu Hilfe kommen duerfen. Die Furcht hielt an der Tuere Schildwache und versperrte ihm den Eingang. Furchtsam ist Cosme fuer viere;[4] und das sind die spanischen Narren gemeiniglich alle. Essex bekennt, dass er sich unfehlbar in die schoene Unbekannte verliebt haben wuerde, wenn Blanca nicht schon so voellig Besitz von seinem Herzen genommen haette, dass sie durchaus keiner andern Leidenschaft darin Raum lasse. "Aber", sagt er, "wer mag sie wohl gewesen sein? Was duenkt dich, Cosme?"—"Wer wird's gewesen sein", antwortet Cosme, "als des Gaertners Frau, die sich die Beine gewaschen?"[5] Aus diesem Zuge kann man leicht auf das uebrige schliessen. Sie gehen endlich beide wieder fort; es ist zu spaet geworden; das Haus koennte ueber den Schuss in Bewegung geraten sein; Essex getraut sich daher nicht, unbemerkt zur Blanca zu kommen, und verschiebt seinen Besuch auf ein andermal.

Nun tritt der Herzog von Alanzon auf, mit Flora, der Blanca Kammermaedchen. (Die Szene ist noch auf dem Landgute, in einem Zimmer der Blanca; die vorigen Auftritte waren in dem Garten. Es ist des folgenden Tages.) Der Koenig von Frankreich hatte der Elisabeth eine Verbindung mit seinem juengsten Bruder vorgeschlagen. Dieses ist der Herzog von Alanzon. Er ist, unter dem Vorwande einer Gesandtschaft, nach England gekommen, um diese Verbindung zustande zu bringen. Es laesst sich alles, sowohl von seiten des Parlaments als der Koenigin, sehr wohl dazu an: aber indes erblickt er die Blanca und verliebt sich in sie. Itzt koemmt er und bittet Floren, ihm in seiner Liebe behilflich zu sein. Flora verbirgt ihm nicht, wie wenig er zu erwarten habe; doch ohne ihm das geringste von der Vertraulichkeit, in welcher der Graf mit ihr stehet, zu entdecken. Sie sagt bloss, Blanca suche sich zu verheiraten, und da sie hierauf sich mit einem Manne, dessen Stand so weit ueber den ihrigen erhaben sei, doch keine Rechnung machen koenne, so duerfte sie schwerlich seiner Liebe Gehoer geben.—(Man erwartet, dass der Herzog auf diesen Einwurf die Lauterkeit seiner Absichten beteuern werde: aber davon kein Wort! Die Spanier sind in diesem Punkte lange so strenge und delikat nicht, als die Franzosen.) Er hat einen Brief an die Blanca geschrieben, den Flora uebergeben soll. Er wuenscht, es selbst mit anzusehen, was dieser Brief fuer Eindruck auf sie machen werde. Er schenkt Floren eine gueldne Kette, und Flora versteckt ihn in eine anstossende Galerie, indem Blanca mit Cosme hereintritt, welcher ihr die Ankunft seines Herrn meldet.

Essex koemmt. Nach den zaertlichsten Bewillkommungen der Blanca, nach den teuersten Versicherungen des Grafen, wie sehr er ihrer Liebe sich wuerdig zu zeigen wuensche, muessen sich Flora und Cosme entfernen, und Blanca bleibt mit dem Grafen allein. Sie erinnert ihn, mit welchem Eifer und mit welcher Standhaftigkeit er sich um ihre Liebe beworben habe. Nachdem sie ihm drei Jahre widerstanden, habe sie endlich sich ihm ergeben und ihn, unter Versicherung sie zu heiraten, zum Eigentuemer ihrer Ehre gemacht. (Te hice dueno de mi honor: der Ausdruck sagt im Spanischen ein wenig viel.) Nur die Feindschaft, welche unter ihren beiderseitigen Familien obgewaltet, habe nicht erlaubt, ihre Verbindung zu vollziehen. Essex ist nichts in Abrede und fuegt hinzu, dass, nach dem Tode ihres Vaters und Bruders, nur die ihm aufgetragene Expedition wider die Spanier dazwischen gekommen sei. Nun aber habe er diese gluecklich vollendet; nun wolle er unverzueglich die Koenigin um Erlaubnis zu ihrer Vermaehlung antreten.—"Und so kann ich dir denn", sagt Blanca, "als meinem Geliebten, als meinem Braeutigam, als meinem Freunde, alle meine Geheimnisse sicher anvertrauen."[6]—

——Fussnote

[1] "Dar la vida por su Dama o el Conde de Sex"; de un Ingenio de esta Corte.

[2]
    Las dos columnas bellas
    Metio dentro del rio, y como al verlas
    Vi un cristal en el rio desatado,
    Y vi cristal en ellas condensado,
    No supe si las aguas que se vian
    Eran sus pies, que liquidos corrian,
    O si sus dos columnas se formaban
    De las aguas, que alli se conjelaban.

Diese Aehnlichkeit treibt der Dichter noch weiter, wenn er beschreiben will, wie die Dame, das Wasser zu kosten, es mit ihrer hohlen Hand geschoepft und nach dem Munde gefuehrt habe. Diese Hand, sagt er, war dem klaren Wasser so aehnlich, dass der Fluss selbst fuer Schrecken zusammenfuhr, weil er befuerchtete, sie moechte einen Teil ihrer eignen Hand mittrinken.

    Quiso probar a caso
    El agua, y fueron cristalino vaso
    Sus manos, acercolas a los labios,
    Y entonces el arroyo lloro agravios,
    Y como tanto, en fin, se parecia
    A sus manos aquello que bebia,
    Temi con sobresalto (y no fue en vano)
    Que se bebiera parte de la mano.

[3]
    Yo, que al principio vi, ciego, y turbado,
    A una parte nevado
    Y en otra negro el rostro,
    Juzgue, mirando tan divino monstruo,
    Que la naturaleza cuidadosa
    Desigualdad uniendo tau hermosa,
    Quiso hacer por asombro, o por ultraje,
    De azabache y marfil un maridaie.

[4]
    Ruido de armas en la Quinta,
    Y dentro el Conde? Que aguardo,
    Que no voy a socorrerle?
    Que aguardo? Lindo recado:
    Aguardo a que quiera el miedo
    Dejarme entrar:—
    ———
    Cosme, que ha temido un miedo
    Que puede valer por cuatro.

[5]
    La mujer del hortelano,
    Que se lavaba las piernas.

[6]
    Bien podre seguramente
    Revelarte intentos mios,
    Como a galan, como a dueno,
    Como a esposo, y como a amigo.

——Fussnote

Einundsechzigstes Stueck
Den 1. Dezember 1767

Hierauf beginnt sie eine lange Erzaehlung von dem Schicksale der Maria von Schottland. Wir erfahren (denn Essex selbst muss alles das, ohne Zweifel, laengst wissen), dass ihr Vater und Bruder dieser ungluecklichen Koenigin sehr zugetan gewesen; dass sie sich geweigert, an der Unterdrueckung der Unschuld teilzunehmen; dass Elisabeth sie daher gefangensetzen und in dem Gefaengnisse heimlich hinrichten lassen. Kein Wunder, dass Blanca die Elisabeth hasst; dass sie fest entschlossen ist, sich an ihr zu raechen. Zwar hat Elisabeth nachher sie unter ihre Hofdamen aufgenommen und sie ihres ganzen Vertrauens gewuerdiget. Aber Blanca ist unversoehnlich. Umsonst waehlte die Koenigin, nur kuerzlich, vor allen andern das Landgut der Blanca, um die Jahreszeit einige Tage daselbst ruhig zu geniessen. —Diesen Vorzug selbst wollte Blanca ihr zum Verderben gereichen lassen. Sie hatte an ihren Oheim geschrieben, welcher, aus Furcht, es moechte ihm wie seinem Bruder, ihrem Vater, ergehen, nach Schottland geflohen war, wo er sich im Verborgnen aufhielt. Der Oheim war gekommen; und kurz, dieser Oheim war es gewesen, welcher die Koenigin in dem Garten ermorden wollen. Nun weiss Essex, und wir mit ihm, wer die Person ist, der er das Leben gerettet hat. Aber Blanca weiss nicht, dass es Essex ist, welcher ihren Anschlag vereiteln muessen. Sie rechnet vielmehr auf die unbegrenzte Liebe, deren sie Essex versichert, und wagt es, ihn nicht bloss zum Mitschuldigen machen zu wollen, sondern ihm voellig die gluecklichere Vollziehung ihrer Rache zu uebertragen. Er soll sogleich an ihren Oheim, der wieder nach Schottland geflohen ist, schreiben und gemeinschaftliche Sache mit ihm machen. Die Tyrannin muesse sterben; ihr Name sei allgemein verhasst; ihr Tod sei eine Wohltat fuer das Vaterland, und niemand verdiene es mehr als Essex, dem Vaterlande diese Wohltat zu verschaffen.

Essex ist ueber diesen Antrag aeusserst betroffen. Blanca, seine teure Blanca, kann ihm eine solche Verraeterei zumuten? Wie sehr schaemt er sich in diesem Augenblicke seiner Liebe! Aber was soll er tun? Soll er ihr, wie es billig waere, seinen Unwillen zu erkennen geben? Wird sie darum weniger bei ihren schaendlichen Gesinnungen bleiben? Soll er der Koenigin die Sache hinterbringen? Das ist unmoeglich: Blanca, seine ihm noch immer teure Blanca, laeuft Gefahr. Soll er sie, durch Bitten und Vorstellungen, von ihrem Entschlusse abzubringen suchen? Er muesste nicht wissen, was fuer ein rachsuechtiges Geschoepf eine beleidigte Frau ist; wie wenig es sich durch Flehen erweichen und durch Gefahr abschrecken laesst. Wie leicht koennte sie seine Abratung, sein Zorn zur Verzweiflung bringen, dass sie sich einem andern entdeckte, der so gewissenhaft nicht waere und ihr zuliebe alles unternaehme?[1]—Dieses in der Geschwindigkeit ueberlegt, fasst er den Vorsatz, sich zu verstellen, um den Roberto, so heisst der Oheim der Blanca, mit allen seinen Anhaengern in die Falle zu locken.

Blanca wird ungeduldig, dass ihr Essex nicht sogleich antwortet. "Graf", sagt sie, "wenn du erst lange mit dir zu Rate gehst, so liebst du mich nicht. Auch nur zweifeln ist Verbrechen. Undankbarer!"[2]—"Sei ruhig, Blanca!" erwidert Essex: "ich bin entschlossen."—"Und wozu?"—"Gleich will ich dir es schriftlich geben."

Essex setzt sich nieder, an ihren Oheim zu schreiben, und indem tritt der Herzog aus der Galerie naeher. Er ist neugierig, zu sehen, wer sich mit der Blanca so lange unterhaelt; und erstaunt, den Grafen von Essex zu erblicken. Aber noch mehr erstaunt er ueber das, was er gleich darauf zu hoeren bekoemmt. Essex hat an den Roberto geschrieben und sagt der Blanca den Inhalt seines Schreibens, das er sofort durch den Cosme abschicken will. Roberto soll mit allen seinen Freunden einzeln nach London kommen; Essex will ihn mit seinen Leuten unterstuetzen; Essex hat die Gunst des Volks; nichts wird leichter sein, als sich der Koenigin zu bemaechtigen; sie ist schon so gut als tot.—"Erst muesst' ich sterben!" ruft auf einmal der Herzog und koemmt auf sie los. Blanca und der Graf erstaunen ueber diese ploetzliche Erscheinung; und das Erstaunen des letztern ist nicht ohne Eifersucht. Er glaubt, dass Blanca den Herzog bei sich verborgen gehalten. Der Herzog rechtfertiget die Blanca und versichert, dass sie von seiner Anwesenheit nichts gewusst; er habe die Galerie offen gefunden und sei von selbst hereingegangen, die Gemaelde darin zu betrachten.[3]

"Der Herzog. Bei dem Leben meines Bruders, bei dem mir noch kostbarern
Leben der Koenigin, bei—Aber genug, dass ich es sage: Blanca ist
unschuldig. Und nur ihr, Mylord, haben Sie diese Erklaerung zu danken.
Auf Sie ist im geringsten nicht dabei gesehen. Denn mit Leuten, wie
Sie, machen Leute, wie ich—

Der Graf. Prinz, Sie kennen mich ohne Zweifel nicht recht?—

Der Herzog. Freilich habe ich Sie nicht recht gekannt. Aber ich kenne Sie nun. Ich hielt Sie fuer einen ganz andern Mann: und ich finde, Sie sind ein Verraeter.

Der Graf. Wer darf das sagen?

Der Herzog. Ich!—Nicht ein Wort mehr! Ich will kein Wort mehr hoeren,
Graf!

Der Graf. Meine Absicht mag auch gewesen sein—

Der Herzog. Denn kurz: ich bin ueberzeugt, dass ein Verraeter kein Herz hat. Ich treffe Sie als einen Verraeter: ich muss Sie fuer einen Mann ohne Herz halten. Aber um so weniger darf ich mich dieses Vorteils ueber Sie bedienen. Meine Ehre verzeiht Ihnen, weil Sie der Ihrigen verlustig sind. Waeren Sie so unbescholten, als ich Sie sonst geglaubt, so wuerde ich Sie zu zuechtigen wissen.

Der Graf. Ich bin der Graf von Essex. So hat mir noch niemand begegnen duerfen, als der Bruder des Koenigs von Frankreich.

Der Herzog. Wenn ich auch der nicht waere, der ich bin; wenn nur Sie der waeren, der Sie nicht sind, ein Mann von Ehre: so sollten Sie wohl empfinden, mit wem Sie zu tun haetten.—Sie, der Graf von Essex? Wenn Sie dieser berufene Krieger sind: wie koennen Sie so viele grosse Taten durch eine so unwuerdige Tat vernichten wollen?—"

——Fussnote

[1]
    Ay tal traicion! vive el Cielo,
    Que de amarla estoy corrido.
    Blanca, que es mi dulce dueno,
    Blanca, a quien quiero, y estimo,
    Me propone tal traicion!
    Que hare, porque si ofendido,
    Respondiendo, como es justo,
    Contra su traicion me irrito,
    No por eso ha de evitar
    So resuelto desatino.
    Pues darle cuenta a la Reina
    Es imposible, pues quiso
    Mi suerte, que tenga parte
    Blanca en aqueste delito.
    Pues si procuro con ruegos
    Disuadirla, es desvario,
    Que es una mujer resuelta
    Animal tan vengativo,
    Que no se dobla a los riesgos:
    Antes con afecto impio,
    En el mismo rendimiento
    Suelen aguzar los filos;
    Y quiza desesperada
    De mi enojo, o mi desvio,
    Se declarara con otro
    Menos leal, menos fino,
    Que quiza por ella intente
    Lo que yo hacer no he querido.

[2]
    Si estas consultando, Conde,
    Alla dentro de ti mismo
    Lo que has de hacer, no me quieres,
    Ya el dudarlo fue delito.
    Vive Dios, que eres ingrato!

[3]
      Por vida del Rey mi hermano,
      Y por la que mas estimo,
      De la Reina mi senora,
      Y por—pero yo lo digo,
      Que en mi es el mayor empeno
      De la verdad del decirlo,
      Que no tiene Blanca parte
      De estar yo aqui—
    ———
      Y estad muy agradecido
      A Blanca, de que yo os de,
      No satisfaccion, aviso
      De esta verdad, porque a vos,
      Hombres como yo—Cond. Imagino
      Que no me conoceis bien.
    Duq. No os habia conocido
      Hasta aqui; mas ya os conozco,
      Pues ya tan otro os he visto
      Que os reconozco traidor.
    Cond. Quien dijere—Duq. Yo lo digo
      No pronuncieis algo, Conde,
      Que ya no puedo sufriros.
    Cond. Cualquier cosa que yo intente—
    Duq. Mirad que estoy persuadido
      Que hace la traicion cobardes;
      Y asi cuando os he cogido
      En un lance que me da
      De que sois cobarde indicios,
      No he de aprovecharme de esto,
      Y asi os perdona mi brio
      Ese rato que teneis
      El valor desminuido;
      Que a estar todo vos entero,
      Supiera daros castigo.
    Cond. Yo soy el Conde de Sex
      Y nadie se me ha atrevido
      Sino el hermano del Rey
      De Francia. Duq. Yo tengo brio
      Para que sin ser quien soy,
      Pueda mi valor invicto
      Castigar, no digo yo
      Solo a vos, mas a vos mismo,
      Siendo leal, que es lo mas
      Con que queda encarecido.
      Y pues sois tan gran Soldado,
      No echeis a perder, os pido
      Tantas heroicas hazanas
      Con un hecho tan indigno—

——Fussnote

Zweiundsechzigstes Stueck
Den 4. Dezember 1767

Der Herzog faehrt hierauf fort, ihm sein Unrecht in einem etwas gelindern Tone vorzuhalten. Er ermahnt ihn, sich eines Bessern zu besinnen; er will es vergessen, was er gehoert habe; er ist versichert, dass Blanca mit dem Grafen nicht einstimmen und dass sie selbst ihm eben das wuerde gesagt haben, wenn er, der Herzog, ihr nicht zuvorgekommen waere. Er schliesst endlich: "Noch einmal, Graf; gehen Sie in sich! Stehen Sie von einem so schaendlichen Vorhaben ab! Werden Sie wieder Sie selbst! Wollen Sie aber meinem Rate nicht folgen: so erinnern Sie sich, dass Sie einen Kopf haben, und London einen Henker!"[1]—Hiermit entfernt sich der Herzog. Essex ist in der aeussersten Verwirrung; es schmerzt ihn, sich fuer einen Verraeter gehalten zu wissen; gleichwohl darf er es itzt nicht wagen, sich gegen den Herzog zu rechtfertigen; er muss sich gedulden, bis es der Ausgang lehre, dass er da seiner Koenigin am getreuesten gewesen sei, als er es am wenigsten zu sein geschienen.[2] So spricht er mit sich selbst: zur Blanca aber sagt er, dass er den Brief sogleich an ihren Oheim senden wolle, und geht ab. Blanca desgleichen; nachdem sie ihren Unstern verwuenscht, sich aber noch damit getroestet, dass es kein Schlimmerer als der Herzog sei, welcher von dem Anschlage des Grafen wisse.

Die Koenigin erscheinet mit ihrem Kanzler, dem sie es vertrauet hat, was ihr in dem Garten begegnet. Sie befiehlt, dass ihre Leibwache alle Zugaenge wohl besetzt; und morgen will sie nach London zurueckkehren. Der Kanzler ist der Meinung, die Meuchelmoerder aufsuchen zu lassen und durch ein oeffentliches Edikt demjenigen, der sie anzeigen werde, eine ansehnliche Belohnung zu verheissen, sollte er auch selbst ein Mitschuldiger sein. "Denn da es ihrer zwei waren", sagt er, "die den Anfall taten, so kann leicht einer davon ein ebenso treuloser Freund sein, als er ein treuloser Untertan ist."[3] Aber die Koenigin missbilliget diesen Rat; sie haelt es fuer besser, den ganzen Vorfall zu unterdruecken und es gar nicht bekannt werden zu lassen, dass es Menschen gegeben, die sich einer solchen Tat erkuehnen duerfen. "Man muss", sagt sie, "die Welt glauben machen, dass die Koenige so wohl bewacht werden, dass es der Verraeterei unmoeglich ist, an sie zu kommen. Ausserordentliche Verbrechen werden besser verschwiegen, als bestraft. Denn das Beispiel der Strafe ist von dem Beispiele der Suende unzertrennlich; und dieses kann oft ebensosehr anreizen, als jenes abschrecken."[4]

Indem wird Essex gemeldet und vorgelassen. Der Bericht, den er von dem gluecklichen Erfolge seiner Expedition abstattet, ist kurz. Die Koenigin sagt ihm auf eine sehr verbindliche Weise: "Da ich Euch wieder erblicke, weiss ich von dem Ausgange des Krieges schon genug."[5] Sie will von keinen naehern Umstaenden hoeren, bevor sie seine Dienste nicht belohnt, und befiehlt dem Kanzler, dem Grafen sogleich das Patent als Admiral von England auszufertigen. Der Kanzler geht; die Koenigin und Essex sind allein; das Gespraech wird vertraulicher; Essex hat die Schaerpe um; die Koenigin bemerkt sie, und Essex wuerde es aus dieser blossen Bemerkung schliessen, dass er sie von ihr habe, wenn er es aus den Reden der Blanca nicht schon geschlossen haette. Die Koenigin hat den Grafen schon laengst heimlich geliebt; und nun ist sie ihm sogar das Leben schuldig.[6] Es kostet ihr alle Muehe, ihre Neigung zu verbergen. Sie tut verschiedne Fragen, ihn auszulocken und zu hoeren, ob sein Herz schon eingenommen, und ob er es vermute, wem er das Leben in dem Garten gerettet. Das letzte gibt er ihr durch seine Antworten gewissermassen zu verstehen, und zugleich, dass er fuer ebendiese Person mehr empfinde, als er derselben zu entdecken sich erkuehnen duerfe. Die Koenigin ist auf dem Punkte, sich ihm zu erkennen zu geben: doch siegt noch ihr Stolz ueber ihre Liebe. Ebensosehr hat der Graf mit seinem Stolze zu kaempfen: er kann sich des Gedankens nicht entwehren, dass ihn die Koenigin liebe, ob er schon die Vermessenheit dieses Gedankens erkennet. (Dass diese Szene groesstenteils aus Reden bestehen muesse, die jedes seitab fuehret, ist leicht zu erachten.) Sie heisst ihn gehen und heisst ihn wieder so lange warten, bis der Kanzler ihm das Patent bringe. Er bringt es; sie ueberreicht es ihm; er bedankt sich, und das Seitab faengt mit neuem Feuer an.

"Die Koenigin. Toerichte Liebe!—

Essex. Eitler Wahnsinn!—

Die Koenigin. Wie blind!—

Essex. Wie verwegen!—

Die Koenigin. So tief willst du, dass ich mich herabsetze?—

Essex. So hoch willst Du, dass ich mich versteige?—

Die Koenigin. Bedenke, dass ich Koenigin bin!

Essex. Bedenke, dass ich Untertan bin!

Die Koenigin. Du stuerzest mich bis in den Abgrund,—

Essex. Du erhebest mich bis zur Sonne,—

Die Koenigin. Ohne auf meine Hoheit zu achten.

Essex. Ohne meine Niedrigkeit zu erwaegen.

Die Koenigin. Aber, weil du meines Herzens dich bemeistert:—

Essex. Aber, weil Du meiner Seele Dich bemaechtiget:—

Die Koenigin. So stirb da, und komm' nie auf die Zunge!

Essex. So stirb da, und komm' nie ueber die Lippen!"[7]

(Ist das nicht eine sonderbare Art von Unterhaltung? Sie reden miteinander und reden auch nicht miteinander. Der eine hoert, was der andere nicht sagt, und antwortet auf das, was er nicht gehoert hat. Sie nehmen einander die Worte nicht aus dem Munde, sondern aus der Seele. Man sage jedoch nicht, dass man ein Spanier sein muss, um an solchen unnatuerlichen Kuensteleien Geschmack zu finden. Noch vor einige dreissig Jahre fanden wir Deutsche ebensoviel Geschmack daran; denn unsere Staats-und Heldenaktionen wimmelten davon, die in allem nach den spanischen Mustern zugeschnitten waren.)

Nachdem die Koenigin den Essex beurlaubet und ihm befohlen, ihr bald wieder aufzuwarten, gehen beide auf verschiedene Seiten ab und machen dem ersten Aufzuge ein Ende.—Die Stuecke der Spanier, wie bekannt, haben deren nur drei, welche sie Jornadas, Tagewerke, nennen. Ihre alleraeltesten Stuecke hatten viere: sie krochen, sagt Lope de Vega, auf allen vieren, wie Kinder; denn es waren auch wirklich noch Kinder von Komoedien. Virves war der erste, welcher die vier Aufzuege auf drei brachte; und Lope folgte ihm darin, ob er schon die ersten Stuecke seiner Jugend, oder vielmehr seiner Kindheit, ebenfalls in vieren gemacht hatte. Wir lernen dieses aus einer Stelle in des letztern "Neuen Kunst, Komoedien zu machen"[8]; mit der ich aber eine Stelle des Cervantes in Widerspruch finde[9], wo sich dieser den Ruhm anmasst, die spanische Komoedie von fuenf Akten, aus welchen sie sonst bestanden, auf drei gebracht zu haben. Der spanische Literator mag diesen Widerspruch entscheiden; ich will mich dabei nicht aufhalten.

——Fussnote

[1]
    Miradlo mejor, dejad
    Un intento tan indigno,
    Corresponded a quien sois,
    Y sino bastan avisos,
    Mirad que hay Verdugo en Londres,
    Y en vos cabeza, harto os digo.

[2]
    No he de responder al Duque
    Hasta que el suceso mismo
    Muestre como fueron falsos
    De mi traicion los indicios,
    Y que soy mas leal, cuando
    Mas traidor he parecido.

[3]
    Y pues son dos los culpados
    Podra ser, que alguno de ellos
    Entregue al otro; que es llano,
    Que sera traidor amigo
    Quien fue desleal vasallo.

[4]
    Y es gran materia de estado
    Dar a entender, que los Reyes
    Estan en si tan guardados
    Que aunque la traicion los busque,
    Nunca ha de poder hallarlos;
    Y asi el secreto averiguee
    Enormes delitos, cuando
    Mas que el castigo, escarmientos
    De ejemplares el pecado.

[5]
    Que ya solo con miraros
    Se el suceso de la guerra.

[6]
    No bastaba, amor tirano,
    Una inclinacion tan fuerte,
    Sin que te hayas ayudado
    Del deberle yo la vida?

[7]
    Rein. Loco Amor—Cond. Necio imposible—
    Rein. Que ciego—Cond. Que temerario—
    Rein. Me abates a tal bajeza—
    Cond. Me quieres subir tan alto—
    Rein. Advierte, que soy la Reina—
    Cond. Advierte, que soy vasallo—
    Rein. Pues me humillas al abismo—
    Cond. Pues me acercas a los rayos—
    Rein. Sin reparar mi grandeza—
    Cond. Sin mirar mi humilde estado—
    Rein. Ya que te miro aca dentro—
    Cond. Ya que en mi te vas entrando—
    Rein. Muere entre el pecho, y la voz.
    Cond. Muere entre el alma, y los labios.

[8]
"Arte nuevo de hazer Comedias", die sich hinter des Lope "Rimas"
befindet.
    El Capitan Virues; insigne ingenio,
    Puso en tres actos la Comedia, que antes
    Andaba en cuatro, como pies de nino,
    Que eran entonces ninas las Comedias,
    Y yo las escribi de once, y doce anos,
    De a cuatro actos, y de a cuatro pliegos,
    Porque cada acto un pliego contenia.

[9] In der Vorrede zu seinen Komoedien: Donde me atrevi a reducir las Comedias a tres Jornadas, de cinco que tenian.

——Fussnote

Dreiundsechzigstes Stueck
Den 8. Dezember 1767

Die Koenigin ist von dem Landgute zurueckgekommen; und Essex gleichfalls. Sobald er in London angelangt, eilte er nach Hofe, um sich keinen Augenblick vermissen zu lassen. Er eroeffnet mit seinem Cosme den zweiten Akt, der in dem koeniglichen Schlosse spielt. Cosme hat, auf Befehl des Grafen, sich mit Pistolen versehen muessen; der Graf hat heimliche Feinde; er besorgt, wenn er des Nachts spaet vom Schlosse gehe, ueberfallen zu werden. Er heisst den Cosme, die Pistolen nur indes in das Zimmer der Blanca zu tragen und sie von Floren aufheben zu lassen. Zugleich bindet er die Schaerpe los, weil er zur Blanca gehen will. Blanca ist eifersuechtig; die Schaerpe koennte ihr Gedanken machen; sie koennte sie haben wollen; und er wuerde sie ihr abschlagen muessen. Indem er sie dem Cosme zur Verwahrung uebergibt, koemmt Blanca dazu. Cosme will sie geschwind verstecken: aber es kann so geschwind nicht geschehen, dass es Blanca nicht merken sollte. Blanca nimmt den Grafen mit sich zur Koenigin; und Essex ermahnt im Abgehen den Cosme, wegen der Schaerpe reinen Mund zu halten und sie niemanden zu zeigen.

Cosme hat, unter seinen andern guten Eigenschaften, auch diese, dass er ein Erzplauderer ist. Er kann kein Geheimnis eine Stunde bewahren; er fuerchtet ein Geschwaer im Leibe davon zu bekommen; und das Verbot des Grafen hat ihn zu rechter Zeit erinnert, dass er sich dieser Gefahr bereits sechsunddreissig Stunden ausgesetzt habe.[1] Er gibt Floren die Pistolen und hat den Mund schon auf, ihr auch die ganze Geschichte von der maskierten Dame und der Schaerpe zu erzaehlen. Doch eben besinnt er sich, dass es wohl eine wuerdigere Person sein muesse, der er sein Geheimnis zuerst mitteile. Es wuerde nicht lassen, wenn sich Flora ruehmen koennte, ihn dessen defloriert zu haben.[2] (Ich muss von allerlei Art des spanischen Witzes eine kleine Probe einzuflechten suchen.)

Cosme darf auf diese wuerdigere Person nicht lange warten. Blanca wird von ihrer Neugierde viel zu sehr gequaelt, dass sie sich nicht, sobald als moeglich, von dem Grafen losmachen sollen, um zu erfahren, was Cosme vorhin so hastig vor ihr zu verbergen gesucht. Sie koemmt also sogleich zurueck, und nachdem sie ihn zuerst gefragt, warum er nicht schon nach Schottland abgegangen, wohin ihn der Graf schicken wollen, und er ihr geantwortet, dass er mit anbrechendem Tage abreisen werde: verlangt sie zu wissen, was er da versteckt halte? Sie dringt in ihn; doch Cosme laesst nicht lange in sich dringen. Er sagt ihr alles, was er von der Schaerpe weiss; und Blanca nimmt sie ihm ab. Die Art, mit der er sich seines Geheimnisses entlediget, ist aeusserst ekel. Sein Magen will es nicht laenger bei sich behalten; es stoesst ihm auf; es kneipt ihn; er steckt den Finger in den Hals; er gibt es von sich, und um einen bessern Geschmack wieder in den Mund zu bekommen, laeuft er geschwind ab, eine Quitte oder Olive darauf zu kauen.[3] Blanca kann aus seinem verwirrten Geschwaetze zwar nicht recht klug werden: sie versteht aber doch so viel daraus, dass die Schaerpe das Geschenk einer Dame ist, in die Essex verliebt werden koennte, wenn er es nicht schon sei. "Denn er ist doch nur ein Mann", sagt sie. "Und wehe der, die ihre Ehre einem Manne anvertrauet hat! Der beste ist noch so schlimm! "[4]—Um seiner Untreue also zuvorzukommen, will sie ihn je eher je lieber heiraten.

Die Koenigin tritt herein und ist aeusserst niedergeschlagen. Blanca fragt, ob sie die uebrigen Hofdamen rufen soll: aber die Koenigin will lieber allein sein; nur Irene soll kommen und vor dem Zimmer singen. Blanca geht auf der einen Seite nach Irenen ab, und von der andern koemmt der Graf.

Essex liebt die Blanca: aber er ist ehrgeizig genug, auch der Liebhaber der Koenigin sein zu wollen. Er wirft sich diesen Ehrgeiz selbst vor; er bestraft sich deswegen; sein Herz gehoert der Blanca; eigennuetzige Absichten muessen es ihr nicht entziehen wollen; unechte Konvenienz muss keinen echten Affekt besiegen.[5] Er will sich also lieber wieder entfernen, als er die Koenigin gewahr wird: und die Koenigin, als sie ihn erblickt, will ihm gleichfalls ausweichen. Aber sie bleiben beide. Indem faengt Irene vor dem Zimmer an zu singen. Sie singt eine Redondilla, ein kleines Lied von vier Zeilen, dessen Sinn dieser ist: "Sollten meine verliebten Klagen zu deiner Kenntnis gelangen: oh, so lass das Mitleid, welches sie verdienen, den Unwillen ueberwaeltigen, den du darueber empfindest, dass ich es bin, der sie fuehret." Der Koenigin gefaellt das Lied; und Essex findet es bequem, ihr durch dasselbe, auf eine versteckte Weise, seine Liebe zu erklaeren. Er sagt, er habe es glossieret[6] und bittet um Erlaubnis, ihr seine Glosse vorsagen zu duerfen. In dieser Glosse beschreibt er sich als den zaertlichsten Liebhaber, dem es aber die Ehrfurcht verbiete, sich dem geliebten Gegenstande zu entdecken. Die Koenigin lobt seine Poesie: aber sie missbilliget seine Art zu lieben. "Eine Liebe", sagt sie unter andern, "die man verschweigt, kann nicht gross sein; denn Liebe waechst nur durch Gegenliebe, und der Gegenliebe macht man sich durch das Schweigen mutwillig verlustig."

——Fussnote

[1]
    —Yo no me acordaba
    De decirlo, y lo callaba.
    Y como me lo entrego,
    Ya por decirlo reviento,
    Que tengo tal propiedad,
    Que en un hora, o la mitad,
    Se me hace postema un cuento.

[2]
    Alla va Flora; mas no,
    Sera persona mas grave—
    No es bien que Flora se alabe
    Que el cuento me desfloro.

[3]
    Ya se me viene a la boca
    La purga.—
    O que regueeldos tan secos
    Me vienen! terrible aprieto.—
    Mi estomago no lo lleva;
    Protesto que es gran trabajo,
    Meto los dedos.—
    Y pues la purga he trocado,
    Y el secreto he vomitado
    Desde el principio hasta el fin,
    Y sin dejar cosa alguna,
    Tal asco me dio al decillo,
    Voy a probar de en membrillo,
    O a morder de una accituna.—

[4]
    Es hombre al fin, y ay! de aquella
    Que a un hombre fio su honor,
    Siendo tan malo, el mejor.

[5]
    Abate, abate las alas
    No subas tanto, busquemos
    Mas proporcionada esfera
    A tan limitado vuelo.
    Blanca me quiere, y a Blanca
    Adoro yo ya en mi dueno;
    Pues como de amor tan noble
    Por una ambicion me alejo?
    No conveniencia bastarda
    Venza un legitimo afecto.

[6] Die Spanier haben eine Art von Gedichten, welche sie Glosas nennen. Sie nehmen eine oder mehrere Zeilen gleichsam zum Texte und erklaeren oder umschreiben diesen Text so, dass sie die Zeilen selbst in diese Erklaerung oder Umschreibung wiederum einflechten. Den Text heissen sie Mote oder Letra, und die Auslegung insbesondere Glosa, welches denn aber auch der Name des Gedichts ueberhaupt ist. Hier laesst der Dichter den Essex das Lied der Irene zum Mote machen, das aus vier Zeilen besteht, deren jede er in einer besondern Stanze umschreibt, die sich mit der umschriebenen Zeile schliesst. Das Ganze sieht so aus:

Mote.

      Si acaso mis desvarios
      Llegaren a tus umbrales,
      La lastima de ser males
      Quite el horror de ser mios.

Glosa.

      Aunque el dolor me provoca
      Decir mis quejas no puedo,
      Que es mi osadia tan poca,
      Que entre el respeto, y el miedo
      Se me mueren en la boca;
      Y asi no llegan tan mios
      Mis males a tus orejas,
      Porque no han de ser oidos
      Si acaso digo mis quejas,
    Si acaso mis desvarios.
      El ser tan mal explicados
      Sea su mayor indicio,
      Que trocando en mis cuidados
      El silencio, y vos su oficio,
      Quedaran mas ponderados:
      Desde hoy por estas senales
      Sean de ti conocidos,
      Que sin duda son mis males
      Si algunos mal repetidos
    Llegaren a tus umbrales.
      Mas ay Dies! que mis cuidados
      De tu crueldad conocidos,
      Aunque mas acreditados,
      Seran menos adquiridos.
      Que con los otros mezclados:
      Porque no sabiendo a cuales
      Mas tu ingratitud se deba
      Viendolos todos iguales
      Fuerza es que en comun te mueva
    La lastima de ser males.
      En mi este afecto violento
      Tu hermoso desden le causa;
      Tuyo, y mio es mi tormento;
      Tuyo, porque eres la causa;
      Y mio, porque yo le siento:
      Sepan, Laura, tus desvios
      Que mis males son tan suyos,
      Y en mis cuerdos desvarios
      Esto que tienen de tuyos
    Quite el horror de ser mios.

Es muessen aber eben nicht alle Glossen so symmetrisch sein als diese. Man hat alle Freiheit, die Stanzen, die man mit den Zeilen des Mote schliesst, so ungleich zu machen, als man will. Man braucht auch nicht alle Zeilen einzuflechten; man kann sich auf eine einzige einschraenken und diese mehr als einmal wiederholen. uebrigens gehoeren diese Glossen unter die aelteren Gattungen der spanischen Poesie, die nach dem Boscan und Garcilasso ziemlich aus der Mode gekommen.

——Fussnote

Vierundsechzigstes Stueck
Den 11. Dezember 1767

Der Graf versetzt, dass die vollkommenste Liebe die sei, welche keine Belohnung erwarte; und Gegenliebe sei Belohnung. Sein Stillschweigen selbst mache sein Glueck: denn solange er seine Liebe verschweige, sei sie noch unverworfen, koenne er sich noch von der suessen Vorstellung taeuschen lassen, dass sie vielleicht duerfe genehmiget werden. Der Unglueckliche sei gluecklich, solange er noch nicht wisse, wie ungluecklich er sei.[1] Die Koenigin widerlegt diese Sophistereien als eine Person, der selbst daran gelegen ist, dass Essex nicht laenger darnach handle: und Essex, durch diese Widerlegung erdreistet, ist im Begriff, das Bekenntnis zu wagen, von welchem die Koenigin behauptet, dass es ein Liebhaber auf alle Weise wagen muesse; als Blanca hereintritt, den Herzog anzumelden. Diese Erscheinung der Blanca bewirkt einen von den sonderbarsten Theaterstreichen. Denn Blanca hat die Schaerpe um, die sie dem Cosme abgenommen, welches zwar die Koenigin, aber nicht Essex gewahr wird.[2]

"Essex. So sei es gewagt!—Frisch! Sie ermuntert mich selbst. Warum will ich an der Krankheit sterben, wenn ich an dem Hilfsmittel sterben kann? Was fuerchte ich noch?—Koenigin, wann denn also,—

Blanca. Der Herzog, Ihre Majestaet,—

Essex. Blanca koennte nicht ungelegener kommen.

Blanca. Wartet in dem Vorzimmer,—

Die Koenigin. Ah! Himmel!

Blanca. Auf Erlaubnis,—

Die Koenigin. Was erblicke ich?

Blanca. Hereintreten zu duerfen.

Die Koenigin. Sag ihm—Was seh' ich!—Sag ihm, er soll warten.—Ich komme von Sinnen!—Geh, sag ihm das.

Blanca. Ich gehorche.

Die Koenigin. Bleib! Komm her! naeher!

Blanca. Was befehlen Ihro Majestaet?—

Die Koenigin. Oh, ganz gewiss!—Sage ihm—Es ist kein Zweifel mehr!— Geh, unterhalte ihn einen Augenblick,—Weh, mir!—Bis ich selbst zu ihm herauskomme. Geh, lass mich!

Blanca. Was ist das?—Ich gehe.

Essex. Blanca ist weg. Ich kann nun wieder fortfahren,—

Die Koenigin. Ha, Eifersucht!

Essex. Mich zu erklaeren.—Was ich wage, wage ich auf ihre eigene
Ueberredung.

Die Koenigin. Mein Geschenk in fremden Haenden! Bei Gott!—Aber ich muss mich schaemen, dass eine Leidenschaft so viel ueber mich vermag!

Essex. Wenn denn also,—wie Ihre Majestaet gesagt, und wie ich einraeumen muss,—das Glueck, welches man durch Furcht erkauft,—sehr teuer zu stehen koemmt; wenn man viel edler stirbt:—so will auch ich,—

Die Koenigin. Warum sagen Sie das, Graf?

Essex. Weil ich hoffe, dass, wann ich—Warum fuerchte ich mich noch?— wann ich Ihre Majestaet meine Leidenschaft bekannte,—dass einige Liebe—

Die Koenigin. Was sagen Sie da, Graf? An mich richtet sich das? Wie?
Tor! Unsinniger! Kennen Sie mich auch? Wissen Sie, wer ich bin?
Und wer Sie sind? Ich muss glauben, dass Sie den Verstand verloren.—"

Und so fahren Ihre Majestaet fort, den armen Grafen auszufenstern, dass es eine Art hat! Sie fragt ihn, ob er nicht wisse, wie weit der Himmel ueber alle menschliche Erfrechungen erhaben sei? Ob er nicht wisse, dass der Sturmwind, der in den Olymp dringen wolle, auf halbem Wege zurueckbrausen muesse? Ob er nicht wisse, dass die Duenste, welche sich zur Sonne erhueben, von ihren Strahlen zerstreuet wuerden?—Wer vom Himmel gefallen zu sein glaubt, ist Essex. Er zieht sich beschaemt zurueck und bittet um Verzeihung. Die Koenigin befiehlt ihm, ihr Angesicht zu meiden, nie ihren Palast wieder zu betreten und sich gluecklich zu schaetzen, dass sie ihm den Kopf lasse, in welchem sich so eitle Gedanken erzeugen koennen.[3] Er entfernt sich; und die Koenigin geht gleichfalls ab, nicht ohne uns merken zu lassen, wie wenig ihr Herz mit ihren Reden uebereinstimme.

Blanca und der Herzog kommen an ihrer Statt, die Buehne zu fuellen. Blanca hat dem Herzog es frei gestanden, auf welchem Fusse sie mit dem Grafen stehe; dass er notwendig ihr Gemahl werden muesse, oder ihre Ehre sei verloren. Der Herzog fasst den Entschluss, den er wohl fassen muss; er will sich seiner Liebe entschlagen: und ihr Vertrauen zu vergelten, verspricht er sogar, sich bei der Koenigin ihrer anzunehmen, wenn sie ihr die Verbindlichkeit, die der Graf gegen sie habe, entdecken wolle.

Die Koenigin kommt bald, in tiefen Gedanken, wieder zurueck. Sie ist mit sich selbst im Streit, ob der Graf auch wohl so schuldig sei, als er scheine. Vielleicht, dass es eine andere Schaerpe war, die der ihrigen nur so aehnlich ist.—Der Herzog tritt sie an. Er sagt, er komme, sie um eine Gnade zu bitten, um welche sie auch zugleich Blanca bitte. Blanca werde sich naeher darueber erklaeren; er wolle sie zusammen allein lassen: und so laesst er sie.

Die Koenigin wird neugierig, und Blanca verwirrt. Endlich entschliesst sich Blanca, zu reden. Sie will nicht laenger von dem veraenderlichen Willen eines Mannes abhangen; sie will es seiner Rechtschaffenheit nicht laenger anheimstellen, was sie durch Gewalt erhalten kann. Sie flehet die Elisabeth um Mitleid an: die Elisabeth, die Frau, nicht die Koenigin. Denn da sie eine Schwachheit ihres Geschlechts bekennen muesse: so suche sie in ihr nicht die Koenigin, sondern nur die Frau.[4]

——Fussnote

[1]
    —El mas verdadero amor
    Es el que en si mismo quieto
    Descansa, sin atender
    A mas paga, o mas intento:
    La correspondencia es paga,
    Y tener por blanco el precio
    Es querer per granjeria.—
    ———
    Dentro esta del silencio, y del respeto
    Mi amor, y asi mi dicha esta segura,
    Presumiendo tal vez (dulce locura!)
    Que es admitido del mayor suieto.
    Dejandome enganar de este concepto,
    Dura mi bien, porque mi engano dura;
    Necia sera la lengua, si aventura
    Un bien que esta seguro en el secreto.—
    Que es feliz quien no siendo venturoso
    Nunca llega a saber, que es desdichado.

    [2]
    Por no morir de mal, cuando
    Puedo morir de remedio,
    Digo pues, ea, osadia,
    Ella me alento, que temo?—
    Que sera bien que a tu Alteza—
    (Sale Blanca con la banda puesta.)
    Bl. Senora, el duque—Cond. A mal tiempo
      Viene Blanca. Bl. Esta aguardando
      En la antecamara—Rein. Ay, cielo!
    Bl. Para entrar—Rein. Que es lo que miro!
    Bl. Licencia. Rein. Decid;—que veo!—
      Decid que espere;—estoy loca!
      Decid, andad. Bl. Ya obedezco.
    Rein. Venid aca, volved. Bl. Que manda
      Vuestra Alteza? Rein. Ei dano es cierto.
      Decidle—no hay que dudar—
      Entretenedle un momento—
      Ay de mi!—mientras yo salgo—
      Y dejadme. Bl. Que es aquesto?
      Y voy. Cond. Ya Blanca se fue,
      Quiero pues volver—Rein. Ha celos!
    Cond. A declararme atrevido,
      Pues si me atrevo, me atrevo
      En fe de sus pretensiones.
    Rein. Mi prenda en poder ajeno?
      Vive Dios, pero es vergueenza
      Que pueda tanto un afecto
      En mi. Cond. Segun lo que dijo
      Vuestra Alteza aqui, y supuesto,
      Que cuesta cara la dicha,
      Que se compra con el miedo,
      Quiero morir noblemente.
    Rein. Porque lo decis? Cond. Que espero
      Si a vuestra Alteza (que dudo!)
      Le declarase mi afecto,
      Algun amor—Rein. Que decis?
      A mi? como, loco, necio,
      Conoceisme? Quien soy yo?
      Decid, quien soy? que sospecho,
      Que se os huyo la memoria.—

    [3]
    —No me veais,
    Y agradeced el que os dejo
    Cabeza, en que se engendraron
    Tan livianos pensamientos.

    [4]
    —Ya estoy resuelta;
    No a la voluntad mudable
    De un hombre este yo sujeta,
    Que aunque no se que me olvide,
    Es necedad, que yo quiera
    Dejar a su cortesia
    Lo que puede hacer la fuerza.
    Gran Isabela, escuchadme,
    Y al escucharme tu Alteza,
    Ponga aun mas que la atencion,
    La piedad con las orejas.
    Isabela os he llamado
    En esta ocasion, no Reina,
    Que cuando vengo a deciros
    Del honor una flaqueza
    Que he hecho como mujer,
    Porque mejor os parezca,
    No Reina, mujer os busco.
    Solo mujer os quisiera.—

——Fussnote

Fuenfundsechzigstes Stueck
Den 15. Dezember 1767

Du? mir eine Schwachheit? fragt die Koenigin.

"Blanca. Schmeicheleien, Seufzer, Liebkosungen, und besonders Traenen, sind vermoegend, auch die reinste Tugend zu untergraben. Wie teuer koemmt mir diese Erfahrung zu stehen! Der Graf—

Die Koenigin. Der Graf? Was fuer ein Graf?—

Blanca. Von Essex.

Die Koenigin. Was hoere ich?

Blanca. Seine verfuehrerische Zaertlichkeit—

Die Koenigin. Der Graf von Essex?

Blanca. Er selbst, Koenigin.—

Die Koenigin (beiseite). Ich bin des Todes!—Nun? weiter!

Blanca. Ich zittere.—Nein, ich darf es nicht wagen—"

Die Koenigin macht ihr Mut und lockt ihr nach und nach mehr ab, als Blanca zu sagen brauchte; weit mehr, als sie selbst zu hoeren wuenscht. Sie hoeret, wo und wie der Graf gluecklich gewesen;[1] und als sie endlich auch hoeret, dass er ihr die Ehe versprochen, und dass Blanca auf die Erfuellung dieses Versprechens dringe: so bricht der so lange zurueckgehaltene Sturm auf einmal aus. Sie verhoehnet das leichtglaeubige Maedchen auf das empfindlichste und verbietet ihr schlechterdings, an den Grafen weiter zu denken. Blanca erraet ohne Muehe, dass dieser Eifer der Koenigin Eifersucht sein muesse: und gibt es ihr zu verstehen.

"Die Koenigin. Eifersucht?—Nein; bloss deine Auffuehrung entruestet mich. —Und gesetzt,—ja gesetzt, ich liebte den Grafen. Wenn ich,—ich ihn liebte, und eine andere waere so vermessen, so toericht, ihn neben mir zu lieben,—was sage ich, zu lieben?—ihn nur anzusehen,—was sage ich, anzusehen?—sich nur eine Gedanke von ihm in den Sinn kommen zu lassen: das sollte dieser andern nicht das Leben kosten?—Du siehest, wie sehr mich eine bloss vorausgesetzte, erdichtete Eifersucht aufbringt: urteile daraus, was ich bei einer wahren tun wuerde. Itzt stelle ich mich nur eifersuechtig. Huete dich, mich es wirklich zu machen!"[2]

Mit dieser Drohung geht die Koenigin ab und laesst die Blanca in der aeussersten Verzweiflung. Dieses fehlte noch zu den Beleidigungen, ueber die sich Blanca bereits zu beklagen hatte. Die Koenigin hat ihr Vater und Bruder und Vermoegen genommen: und nun will sie ihr auch den Grafen nehmen. Die Rache war schon beschlossen: aber warum soll Blanca noch erst warten, bis sie ein anderer fuer sie vollzieht? Sie will sie selbst bewerkstelligen, und noch diesen Abend. Als Kammerfrau der Koenigin muss sie sie auskleiden helfen; da ist sie mit ihr allein; und es kann ihr an Gelegenheit nicht fehlen.—Sie sieht die Koenigin mit dem Kanzler wiederkommen und geht, sich zu ihrem Vorhaben gefasst zu machen.

Der Kanzler haelt verschiedne Briefschaften, die ihm die Koenigin nur auf einen Tisch zu legen befiehlt; sie will sie vor Schlafengehen noch durchsehen. Der Kanzler erhebt die ausserordentliche Wachsamkeit, mit der sie ihren Reichsgeschaeften obliege; die Koenigin erkennt es fuer ihre Pflicht und beurlaubet den Kanzler. Nun ist sie allein und setzt sich zu den Papieren. Sie will sich ihres verliebten Kummers entschlagen und anstaendigern Sorgen ueberlassen. Aber das erste Papier, was sie in die Haende nimmt, ist die Bittschrift eines Grafen Felix. Eines Grafen! "Muss es denn eben", sagt sie, "von einem Grafen sein, was mir zuerst vorkoemmt!" Dieser Zug ist vortrefflich. Auf einmal ist sie wieder mit ihrer ganzen Seele bei demjenigen Grafen, an den sie itzt nicht denken wollte. Seine Liebe zu Blanca ist ein Stachel in ihrem Herzen, der ihr das Leben zur Last macht. Bis sie der Tod von dieser Marter befreie, will sie bei dem Bruder des Todes Linderung suchen: und so faellt sie in Schlaf.

Indem tritt Blanca herein und hat eine von den Pistolen des Grafen, die sie in ihrem Zimmer gefunden. (Der Dichter hatte sie, zu Anfange dieses Akts, nicht vergebens dahin tragen lassen.) Sie findet die Koenigin allein und entschlafen: was fuer einen bequemem Augenblick koennte sie sich wuenschen? Aber eben hat der Graf die Blanca gesucht und sie in ihrem Zimmer nicht getroffen. Ohne Zweifel erraet man, was nun geschieht. Er koemmt also, sie hier zu suchen; und koemmt eben noch zurecht, der Blanca in den moerderischen Arm zu fallen und ihr die Pistole, die sie auf die Koenigin schon gespannt hat, zu entreissen. Indem er aber mit ihr ringt, geht der Schuss los: die Koenigin erwacht, und alles koemmt aus dem Schlosse herzugelaufen.

"Die Koenigin (im Erwachen). Ha! Was ist das?

Der Kanzler. Herbei, herbei! Was war das fuer ein Knall in dem Zimmer der Koenigin? Was geschieht hier?

Essex (mit der Pistole in der Hand). Grausamer Zufall!

Die Koenigin. Was ist das, Graf?

Essex. Was soll ich tun?

Die Koenigin. Blanca, was ist das?

Blanca. Mein Tod ist gewiss!

Essex. In welcher Verwirrung befinde ich mich!

Der Kanzler. Wie? der Graf ein Verraeter?

Essex (beiseite). Wozu soll ich mich entschliessen? Schweige ich: so faellt das Verbrechen auf mich. Sage ich die Wahrheit: so werde ich der nichtswuerdige Verklaeger meiner Geliebten, meiner Blanca, meiner teuersten Blanca.

Die Koenigin. Sind Sie der Verraeter, Graf? Bist du es, Blanca? Wer von euch war mein Retter? wer mein Moerder? Mich duenkt, ich hoerte im Schlafe euch beide rufen: Verraeterin! Verraeter! Und doch kann nur eines von euch diesen Namen verdienen. Wenn eines von euch mein Leben suchte, so bin ich es dem andern schuldig. Wem bin ich es schuldig, Graf? Wer suchte es, Blanca? Ihr schweigt?—Wohl, schweigt nur! Ich will in dieser Ungewissheit bleiben; ich will den Unschuldigen nicht wissen, um den Schuldigen nicht zu kennen. Vielleicht duerfte es mich ebensosehr schmerzen, meinen Beschuetzer zu erfahren, als meinen Feind. Ich will der Blanca gern ihre Verraeterei vergeben, ich will sie ihr verdanken: wenn dafuer der Graf nur unschuldig war."[3]

Aber der Kanzler sagt: wenn es die Koenigin schon hierbei wolle bewenden lassen, so duerfe er es doch nicht; das Verbrechen sei zu gross; sein Amt erfodere, es zu ergruenden; besonders da aller Anschein sich wider den Grafen erklaere.

"Die Koenigin. Der Kanzler hat recht; man muss es untersuchen.—Graf,—

Essex. Koenigin!—

Die Koenigin. Bekennen Sie die Wahrheit.—(Beiseite.) Aber wie sehr fuerchtet meine Liebe, sie zu hoeren! War es Blanca?

Essex. Ich Ungluecklicher!

Die Koenigin. War es Blanca, die meinen Tod wollte?

Essex. Nein, Koenigin; Blanca war es nicht.

Die Koenigin. Sie waren es also?

Essex. Schreckliches Schicksal!—Ich weiss nicht.

Die Koenigin. Sie wissen es nicht?—Und wie koemmt dieses moerderische
Werkzeug in Ihre Hand?—"

Der Graf schweigt, und die Koenigin befiehlt, ihn nach dem Tower zu bringen. Blanca, bis sich die Sache mehr aufhellet, soll in ihrem Zimmer bewacht werden. Sie werden abgefuehrt, und der zweite Aufzug schliesst.

——Fussnote

[1]
    bl. le llame una noche obscura—
    rein. y vino a verte? bl. pluguiera
      a dios, que no fuera tanta
      mi desdicha, y su fineza.
      vino mas galan que nunca,
      y yo que dos veces ciega,
      por mi mal, estaba entonces
      del amor, y las tinieblas—

[2]
    rein. este es celo, blanca. bl. celos,
      anadiendole una letra.
    rein. que decis? bl. senora, que
      si acaso posible fuera,
      a no ser vos la que dice
      esas palabras, dijera,
      que eran celos. rein. que son celos?
      no son celos, es ofensa
      que me estais haciendo vos.
      supongamos, que quisiera
      al conde en esta ocasion;
      pues si yo al conde quisiera
      y alguna atrevida, loca
      presumida, descompuesta
      le quisiera, que es querer?
      que le mirara, o le viera;
      que es verle? no se que diga.
      no hay cosa que menos sea—
      no la quitara la vida?
      la sangre no le bebiera?—
      los celos, aunque fingidos,
      me arrebataron la lengua,
      y dispararon mi enojo—
      mirad que no me deis celos,
      que si fingidos se altera
      tanto mi enojo, ved vos,
      si fuera verdad, que hiciera—
      escarmentad en las burlas,
      no me deis celos de veras.

conde, vos traidor? vos, blanca? el juicio esta indiferente, cual me libra, cual me mata. conde, bianca, respondedme! tu a la reina? tu a la reina? oid, aunque confusamente: ha, traidora, dijo el conde. blanca, dijo: traidor eres. estas razones de entrambos a entrambas cosas convienen: uno de los dos me libra, otro de los me ofende. conde, cual me daba vida? blanca, cual me daba muerte? decidme!—no lo digais, que neutral mi valor quiere, per no saber el traidor, no saber el inocente. mejor es quedar confusa, en duda mi juicio quede, porque cuando mire a alguno, y de la traicion me acuerde, a pensar, que es el traidor, que es el leal tambien piense. yo le agradeciera a blanca, que ella la traidora fuese, solo a trueque de que el conde fuera el, que estaba inocente.—

——Fussnote

Sechsundsechzigstes Stueck
Den 18. Dezember 1767

Der dritte Aufzug faengt sich mit einer langen Monologe der Koenigin an, die allen Scharfsinn der Liebe aufbietet, den Grafen unschuldig zu finden. Die Vielleicht werden nicht gesparet, um ihn weder als ihren Moerder, noch als den Liebhaber der Blanca denken zu duerfen. Besonders geht sie mit den Voraussetzungen wider die Blanca ein wenig sehr weit; sie denkt ueber diesen Punkt ueberhaupt lange so zaertlich und sittsam nicht, als wir es wohl wuenschen moechten, und als sie auf unsern Theatern denken muesste.[1]

Es kommen der Herzog und der Kanzler: jener, ihr seine Freude ueber die glueckliche Erhaltung ihres Lebens zu bezeigen; dieser, ihr einen neuen Beweis, der sich wider den Essex aeussert, vorzulegen. Auf der Pistole, die man ihm aus der Hand genommen, steht sein Name; sie gehoert ihm; und wem sie gehoert, der hat sie unstreitig auch brauchen wollen.

Doch nichts scheinet den Essex unwidersprechlicher zu verdammen, als was nun erfolgt. Cosme hat, bei anbrechendem Tage, mit dem bewussten Briefe nach Schottland abgehen wollen und ist angehalten worden. Seine Reise sieht einer Flucht sehr aehnlich, und solche Flucht laesst vermuten, dass er an dem Verbrechen seines Herrn Anteil koenne gehabt haben. Er wird also vor den Kanzler gebracht, und die Koenigin befiehlt, ihn in ihrer Gegenwart zu verhoeren. Den Ton, in welchem sich Cosme rechtfertiget, kann man leicht erraten. Er weiss von nichts; und als er sagen soll, wo er hingewollt, laesst er sich um die Wahrheit nicht lange noetigen. Er zeigt den Brief, den ihm sein Graf an einen andern Grafen nach Schottland zu ueberbringen befohlen: und man weiss, was dieser Brief enthaelt. Er wird gelesen, und Cosme erstaunt nicht wenig, als er hoert, wohin es damit abgesehen gewesen. Aber noch mehr erstaunt er ueber den Schluss desselben, worin der Ueberbringer ein Vertrauter heisst, durch den Roberto seine Antwort sicher bestellen koenne. "Was hoere ich?" ruft Cosme. "Ich ein Vertrauter? Bei diesem und jenem! ich bin kein Vertrauter; ich bin niemals einer gewesen, und will auch in meinem Leben keiner sein.—Habe ich wohl das Ansehen zu einem Vertrauten? Ich moechte doch wissen, was mein Herr an mir gefunden haette, um mich dafuer zu nehmen. Ich, ein Vertrauter, ich, dem das geringste Geheimnis zur Last wird? Ich weiss zum Exempel, dass Blanca und mein Herr einander lieben, und dass sie heimlich miteinander verheiratet sind: es hat mir schon lange das Herz abdruecken wollen; und nun will ich es nur sagen, damit Sie huebsch sehen, meine Herren, was fuer ein Vertrauter ich bin. Schade, dass es nicht etwas viel Wichtigeres ist: ich wuerde es ebensowohl sagen."[2] Diese Nachricht schmerzt die Koenigin nicht weniger, als die Ueberzeugung, zu der sie durch den ungluecklichen Brief von der Verraeterei des Grafen gelangt. Der Herzog glaubt, nun auch sein Stillschweigen brechen zu muessen und der Koenigin nicht laenger zu verbergen, was er in dem Zimmer der Blanca zufaelligerweise angehoert habe. Der Kanzler dringt auf die Bestrafung des Verraeters, und sobald die Koenigin wieder allein ist, reizen sie sowohl beleidigte Majestaet, als gekraenkte Liebe, des Grafen Tod zu beschliessen.

Nunmehr bringt uns der Dichter zu ihm in das Gefaengnis. Der Kanzler koemmt und eroeffnet dem Grafen, dass ihn das Parlament fuer schuldig erkannt und zum Tode verurteilet habe, welches Urteil morgen des Tages vollzogen werden solle. Der Graf beteuert seine Unschuld.

"Der Kanzler. Ihre Unschuld, Mylord, wollte ich gern glauben: aber so viele Beweise wider Sie!—Haben Sie den Brief an den Roberto nicht geschrieben? Ist es nicht Ihr eigenhaendiger Name?

Essex. Allerdings ist er es.

Der Kanzler. Hat der Herzog von Alanzon Sie, in dem Zimmer der Blanca, nicht ausdruecklich den Tod der Koenigin beschliessen hoeren?

Essex. Was er gehoert hat, hat er freilich gehoert.

Der Kanzler. Sahe die Koenigin, als sie erwachte, nicht die Pistole in
Ihrer Hand? Gehoert die Pistole, auf der Ihr Name gestochen, nicht
Ihnen?

Essex. Ich kann es nicht leugnen.

Der Kanzler. So sind Sie ja schuldig.

Essex. Das leugne ich.

Der Kanzler. Nun, wie kamen Sie denn dazu, dass Sie den Brief an den
Roberto schrieben?

Essex. Ich weiss nicht.

Der Kanzler. Wie kam es denn, dass der Herzog den verraeterischen
Vorsatz aus Ihrem eignen Munde vernehmen musste?

Essex. Weil es der Himmel so wollte.

Der Kanzler. Wie kam es denn, dass sich das moerderische Werkzeug in
Ihren Haenden fand?

Essex. Weil ich viel Unglueck habe.

Der Kanzler. Wenn alles das Unglueck, und nicht Schuld ist: wahrlich, Freund, so spielst Ihnen Ihr Schicksal einen harten Streich. Sie werden ihn mit Ihrem Kopfe bezahlen muessen.

Essex. Schlimm genug."[3]

"Wissen Ihre Gnaden nicht", fragt Cosme, der dabei ist, "ob sie mich etwa mit haengen werden?" Der Kanzler antwortet Nein, weil ihn sein Herr hinlaenglich gerechtfertiget habe; und der Graf ersucht den Kanzler, zu verstatten, dass er die Blanca noch vor seinem Tode sprechen duerfe. Der Kanzler bedauert, dass er, als Richter, ihm diese Bitte versagen muesse; weil beschlossen worden, seine Hinrichtung so heimlich, als moeglich, geschehen zu lassen, aus Furcht vor den Mitverschwornen, die er vielleicht sowohl unter den Grossen, als unter dem Poebel in Menge haben moechte. Er ermahnt ihn, sich zum Tode zu bereiten, und geht ab. Der Graf wuenschte bloss deswegen die Blanca noch einmal zu sprechen, um sie zu ermahnen, von ihrem Vorhaben abzustehen. Da er es nicht muendlich tun duerfen, so will er es schriftlich tun. Ehre und Liebe verbinden ihn, sein Leben fuer sie hinzugeben; bei diesem Opfer, das die Verliebten alle auf der Zunge fuehren, das aber nur bei ihm zur Wirklichkeit gelangt, will er sie beschwoeren, es nicht fruchtlos bleiben zu lassen. Es ist Nacht; er setzt sich nieder zu schreiben, und befiehlt Cosmen, den Brief, den er ihm hernach geben werde, sogleich nach seinem Tode der Blanca einzuhaendigen. Cosme geht ab, um indes erst auszuschlafen.

——Fussnote

[1]
    No pudo ser que mintiera
    Blanca en lo que me conto
    De gozarla el Conde? No,
    Que Blanca no lo fingiera:
    No pudo haberla gozado,
    Sin estar enamorado,
    Y cuando tierno y rendido,
    Entonces la haya querido,
    No puede haberla olvidado?
    No le vieron mis antoios
    Entre acogimientos sabios,
    Muy callando con los labios,
    Muy bachiller con los ojos,
    Cuando al decir sus enojos
    Yo su despecho reni?

    [2]
    Que escucho? Senores mios,
    Dos mil demonios me lleven,
    Si yo confidente soy,
    Si lo he sido, o si lo fuere,
    Ni tengo intencion de serlo.
    —Tengo yo
    Cara de ser confidente?
    Yo no se que ha visto en mi
    Mi amo para tenerme
    En esta opinion; y a fe,
    Que me holgara de que fuese
    Cosa de mas importancia
    Un secretillo muy leve,
    Que rabio ya per decirlo,
    Que es que el Conde a Blanca quiere,
    Que estan casados los dos
    En secreto—

    [3]
    Con. Solo el descargo que tengo
      Es el estar inocente.
    Senescal. Aunque yo quiera creerlo
      No me dejan los indicios,
      Y advertid, que ya no es tiempo
      De dilacion, que manana
      Habeis de morir. Con. Yo muero
      Inocente. Sen. Pues decid:
      No escribisteis a Roberto
      Esta carta? Aquesta firma
      No es la vuestra? Con. No lo niego.
    Sen. El gran duque de Alanzon
      No os oyo en el aposento
      De Blanca trazar la muerte
      De la Reina? Con. Aqueso es cierto.
    Sen. Cuando desperto la Reina
      No os hallo, Conde, a vos mesmo
      Con la pistola en la mano?
      Y la pistola que vemos
      Vuestro nombre alli gravado
      No es vuestro? Con. Os lo concedo.
    Sen. Luego vos estais culpado.
    Con. Eso solamente niego.
    Sen. Pues como escribisteis, Conde,
      La carta al traidor Roberto?
    Con. No lo se. Sen. Pues como el Duque,
      Que escucho vuestros intentos,
      Os convence en la traicion?
    Con. Porque asi lo quiso el cielo.
    Sen. Como hallado en vuestra mano
      Os culpa el vil instrumento?
    Con. Porque tengo poca dicha.—
    Sen. Pues sabed, que si es desdicha
      Y no culpa, en tanto aprieto
      Os pone vuestra fortuna,
      Conde amigo, que supuesto
      Que no dais otro descargo,
      En fe de indicios tan ciertos,
      Manana vuestra cabeza
      Ha de pagar—

——Fussnote

Siebenundsechzigstes Stueck
Den 22. Dezember 1767

Nun folgt eine Szene, die man wohl schwerlich erwartet haette. Alles ist ruhig und stille, als auf einmal eben die Dame, welcher Essex in dem ersten Akte das Leben rettete, in eben dem Anzuge, die halbe Maske auf dem Gesichte, mit einem Lichte in der Hand, zu dem Grafen in das Gefaengnis hereintritt. Es ist die Koenigin. "Der Graf", sagt sie vor sich im Hereintreten, "hat mir das Leben erhalten: ich bin ihm dafuer verpflichtet. Der Graf hat mir das Leben nehmen wollen: das schreiet um Rache. Durch seine Verurteilung ist der Gerechtigkeit ein Genuege geschehen: nun geschehe es auch der Dankbarkeit und Liebe!"[1] Indem sie naeher kommt, wird sie gewahr, dass der Graf schreibt. "Ohne Zweifel", sagt sie, "an seine Blanca! Was schadet das? Ich komme aus Liebe, aus der feurigsten, uneigennuetzigsten Liebe: itzt schweige die Eifersucht!—Graf!" —Der Graf hoert sich rufen, sieht hinter sich und springt voller Erstaunen auf. "Was seh' ich!"—"Keinen Traum", faehrt die Koenigin fort, "sondern die Wahrheit. Eilen Sie, sich davon zu ueberzeugen, und lassen Sie uns kostbare Augenblicke nicht mit Zweifeln verlieren.—Sie erinnern sich doch meiner? Ich bin die, der Sie das Leben gerettet. Ich hoere, dass Sie morgen sterben sollen; und ich komme, Ihnen meine Schuld abzutragen, Ihnen Leben fuer Leben zu geben. Ich habe den Schluessel des Gefaengnisses zu bekommen gewusst. Fragen Sie mich nicht, wie? Hier ist er; nehmen Sie; er wird Ihnen die Pforte in den Park oeffnen; fliehen Sie, Graf, und erhalten Sie ein Leben, das mir so teuer ist."—

"Essex. Teuer? Ihnen, Madame?

Die Koenigin. Wuerde ich sonst soviel gewagt haben, als ich wage?

Essex. Wie sinnreich ist das Schicksal, das mich verfolgt! Es findet einen Weg, mich durch mein Glueck selbst ungluecklich zu machen. Ich scheine gluecklich, weil die mich zu befreien koemmt, die meinen Tod will: aber ich bin um so viel ungluecklicher, weil die meinen Tod will, die meine Freiheit mir anbietet."[2]—

Die Koenigin verstehet hieraus genugsam, dass sie Essex kennet. Er verweigert sich der Gnade, die sie ihm angetragen, gaenzlich; aber er bittet, sie mit einer andern zu vertauschen.

"Die Koenigin. Und mit welcher?

Essex. Mit der, Madame, von der ich weiss, dass sie in Ihrem Vermoegen steht,—mit der Gnade, mir das Angesicht meiner Koenigin sehen zu lassen. Es ist die einzige, um die ich es nicht zu klein halte, Sie an das zu erinnern, was ich fuer Sie getan habe. Bei dem Leben, das ich Ihnen gerettet, beschwoere ich Sie, Madame, mir diese Gnade zu erzeigen.

Die Koenigin (vor sich). Was soll ich tun? Vielleicht, wenn er mich sieht, dass er sich rechtfertiget! Das wuensche ich ja nur.

Essex. Verzoegern Sie mein Glueck nicht, Madame.

Die Koenigin. Wenn Sie es denn durchaus wollen, Graf; wohl: aber nehmen Sie erst diesen Schluessel; von ihm haengt Ihr Leben ab. Was ich itzt fuer Sie tun darf, koennte ich hernach vielleicht nicht duerfen. Nehmen Sie; ich will Sie gesichert wissen.[3]

Essex (indem er den Schluessel nimmt). Ich erkenne diese Vorsicht mit Dank.—Und nun, Madame,—ich brenne, mein Schicksal auf dem Angesichte der Koenigin, oder dem Ihrigen zu lesen.

Die Koenigin. Graf, ob beide gleich eines sind, so gehoert doch nur das, welches Sie noch sehen, mir ganz allein; denn das, welches Sie nun erblicken, (indem sie die Maske abnimmt) ist der Koenigin. Jenes, mit welchem ich Sie erst sprach, ist nicht mehr.

Essex. Nun sterbe ich zufrieden! Zwar ist es das Vorrecht des koeniglichen Antlitzes, dass es jeden Schuldigen begnadigen muss, der es erblickt; und auch mir muesste diese Wohltat des Gesetzes zustatten kommen. Doch ich will weniger hierzu, als zu mir selbst, meine Zuflucht nehmen. Ich will es wagen, meine Koenigin an die Dienste zu erinnern, die ich ihr und dem Staate geleistet—.[4]

Die Koenigin. An diese habe ich mich schon selbst erinnert. Aber Ihr
Verbrechen, Graf, ist groesser als Ihre Dienste.

Essex. Und ich habe mir nichts von der Huld meiner Koenigin zu versprechen?

Die Koenigin. Nichts.

Essex. Wenn die Koenigin so streng ist, so rufe ich die Dame an, der ich das Leben gerettet. Diese wird doch wohl guetiger mit mir verfahren?

Die Koenigin. Diese hat schon mehr getan, als sie sollte: sie hat
Ihnen den Weg geoeffnet, der Gerechtigkeit zu entfliehen.

Essex. Und mehr habe ich um Sie nicht verdient, um Sie, die mir ihr
Leben schuldig ist?

Die Koenigin. Sie haben schon gehoert, dass ich diese Dame nicht bin. Aber gesetzt, ich waere es: gebe ich Ihnen nicht ebensoviel wieder, als ich von Ihnen empfangen habe?

Essex. Wo das? Dadurch doch wohl nicht, dass Sie mir den Schluessel gegeben?

Die Koenigin. Dadurch allerdings.

Essex. Der Weg, den mir dieser Schluessel eroeffnen kann, ist weniger der Weg zum Leben, als zur Schande. Was meine Freiheit bewirken soll, muss nicht meiner Furchtsamkeit zu dienen scheinen. Und doch glaubt die Koenigin, mich mit diesem Schluessel fuer die Reiche, die ich ihr erfochten, fuer das Blut, das ich um sie vergossen, fuer das Leben, das ich ihr erhalten, mich mit diesem elenden Schluessel fuer alles das abzulohnen?[5] Ich will mein Leben einem anstaendigem Mittel zu danken haben, oder sterben (indem er nach dem Fenster geht).

Die Koenigin. Wo gehen Sie hin?

Essex. Nichtwuerdiges Werkzeug meines Lebens und meiner Entehrung! Wenn bei dir alle meine Hoffnung beruhet, so empfange die Flut, in ihrem tiefsten Abgrunde, alle meine Hoffnung! (Er eroeffnet das Fenster und wirft den Schluessel durch das Gitter in den Kanal.) Durch die Flucht waere mein Leben viel zu teuer erkauft.[6]

Die Koenigin. Was haben Sie getan, Graf?—Sie haben sehr uebel getan.

Essex. Wenn ich sterbe: so darf ich wenigstens laut sagen, dass ich eine undankbare Koenigin hinterlasse.—Will sie aber diesen Vorwurf nicht: so denke sie auf ein anderes Mittel, mich zu retten. Dieses unanstaendigere habe ich ihr genommen. Ich berufe mich nochmals auf meine Dienste: es steht bei ihr, sie zu belohnen oder mit dem Andenken derselben ihren Undank zu verewigen.

Die Koenigin. Ich muss das letztere Gefahr laufen.—Denn wahrlich, mehr konnte ich, ohne Nachteil meiner Wuerde, fuer Sie nicht tun.

Essex. So muss ich denn sterben?

Die Koenigin. Ohnfehlbar. Die Frau wollte Sie retten; die Koenigin muss dem Rechte seinen Lauf lassen. Morgen muessen Sie sterben; und es ist schon morgen. Sie haben mein ganzes Mitleid; die Wehmut bricht mir das Herz; aber es ist nun einmal das Schicksal der Koenige, dass sie viel weniger nach ihren Empfindungen handeln koennen, als andere. —Graf, ich empfehle Sie der Vorsicht!—"

——Fussnote

[1]
    el conde me dio la vida
    y asi obligada me veo;
    el conde me daba muerte,
    y asi ofendida me quejo.
    pues ya que con la sentencia
    esta parte he satisfecho,
    pues compli con la justicia,
    con el amor cumplir quiero.—

[2]
    ingeniosa mi fortuna
    hallo en la dicha mas nuevo
    modo de hacerme infeliz,
    pues cuando dichoso veo,
    que me libra quien me mata,
    tambien desdichado advierto,
    que me mata quien me libra.

[3]
    pues si esto ha de ser, primero
    tomad, conde, aquesta llave,
    que si ha de ser instrumento
    de vuestra vida, quiza
    tan otra, quitando el velo,
    sere, que no pueda entonces
    hacer lo que ahora puedo,
    y como a daros la vida
    me empene por lo que os debo,
    por si no puedo despues,
    de esta suerte me prevengo.

[4]
    morire yo consolado.
    aunque si por privilegio
    en viendo la cara al rey
    queda perdonado el reo;
    yo de este indulto, senora
    vida por ley me prometo:
    esto es en comun, que es
    lo que a todos da el derecho;
    pero si en particular
    merecer el perdon quiero,
    oid, vereis que me ayuda
    mayor indulto en mis hechos.
    mis hazanas—

[5]
    luego esta, que asi camino
    abrira a mi vida, abriendo,
    tambien lo abrira a mi infamia;
    luego esta, que instrumento
    de mi libertad, tambien
    lo habra de ser de mi miedo.
    esta, que solo me sirve
    de huir, es el desempeno
    de reinos, que os he ganado,
    de servicios, que os he hecho.
    y en fin, de esa vida, de esa,
    que teneis hoy por mi esfuerzo?
    en esta se cifra tanto?—

[6]
    vil instrumento
    de mi vida, y de mi infamia,
    por esta reja cayendo
    del parque, que bate el rio,
    entre sus cristales quiero,
    si sois mi esperanza, hundiros;
    caed al humido centro,
    donde el tamasis sepulte
    mi esperanza, y mi remedio.

——Fussnote

Achtundsechzigstes Stueck
Den 25. Dezember 1767

Noch einiger Wortwechsel zum Abschiede, noch einige Ausrufungen in der Stille: und beide, der Graf und die Koenigin, gehen ab; jedes von einer besondern Seite. Im Herausgehen, muss man sich einbilden, hat Essex Cosmen den Brief gegeben, den er an die Blanca geschrieben. Denn den Augenblick darauf koemmt dieser damit herein und sagt, dass man seinen Herrn zum Tode fuehre; sobald es damit vorbei sei, wolle er den Brief, so wie er es versprochen, uebergeben. Indem er ihn aber ansieht, erwacht seine Neugierde. "Was mag dieser Brief wohl enthalten? Eine Eheverschreibung? die kaeme ein wenig zu spaet. Die Abschrift von seinem Urteile? die wird er doch nicht der schicken, die es zur Witwe macht. Sein Testament? auch wohl nicht. Nun was denn?" Er wird immer begieriger; zugleich faellt ihm ein, wie es ihm schon einmal fast das Leben gekostet haette, dass er nicht gewusst, was in dem Briefe seines Herrn stuende. "Waere ich nicht", sagt er, "bei einem Haare zum Vertrauten darueber geworden? Hol' der Geier die Vertrautschaft! Nein, das muss mir nicht wieder begegnen!" Kurz, Cosme beschliesst den Brief zu erbrechen; und erbricht ihn. Natuerlich, dass ihn der Inhalt aeusserst betroffen macht; er glaubt, ein Papier, das so wichtige und gefaehrliche Dinge enthalte, nicht geschwind genug los werden zu koennen; er zittert ueber den blossen Gedanken, dass man es in seinen Haenden finden koenne, ehe er es freiwillig abgeliefert; und eilet, es geraden Weges der Koenigin zu bringen.

Eben koemmt die Koenigin mit dem Kanzler heraus. Cosme will sie den Kanzler nur erst abfertigen lassen; und tritt beiseite. Die Koenigin erteilt dem Kanzler den letzten Befehl zur Hinrichtung des Grafen; sie soll sogleich und ganz in der Stille vollzogen werden; das Volk soll nichts davon erfahren, bis der gekoepfte Leichnam ihm mit stummer Zunge Treue und Gehorsam zurufe.[1] Den Kopf soll der Kanzler in den Saal bringen und, nebst dem blutigen Beile, unter einen Teppich legen lassen; hierauf die Grossen des Reichs versammeln, um ihnen mit eins Verbrechen und Strafe zu zeigen, zugleich sie an diesem Beispiele ihrer Pflicht zu erinnern und ihnen einzuschaerfen, dass ihre Koenigin ebenso strenge zu sein wisse, als sie gnaedig sein zu koennen wuensche: und das alles, wie sie der Dichter sagen laesst, nach Gebrauch und Sitte des Landes.[2]

Der Kanzler geht mit diesen Befehlen ab, und Cosme tritt die Koenigin an. "Diesen Brief", sagt er, "hat mir mein Herr gegeben, ihn nach seinem Tode der Blanca einzuhaendigen. Ich habe ihn aufgemacht, ich weiss selbst nicht warum; und da ich Dinge darin finde, die Ihro Majestaet wissen muessen, und die dem Grafen vielleicht noch zustatten kommen koennen: so bringe ich ihn Ihro Majestaet, und nicht der Blanca." Die Koenigin nimmt den Brief und lieset: "Blanca, ich nahe mich meinem letzten Augenblicke; man will mir nicht vergoennen, mit dir zu sprechen: empfange also meine Ermahnung schriftlich. Aber vors erste lerne mich kennen; ich bin nie der Verraeter gewesen, der ich dir vielleicht geschienen; ich versprach, dir in der bewussten Sache behilflich zu sein, bloss um der Koenigin desto nachdrueck- licher zu dienen und den Roberto, nebst seinen Anhaengern, nach London zu locken. Urteile, wie gross meine Liebe ist, da ich demohngeachtet eher selbst sterben, als dein Leben in Gefahr setzen will. Und nun die Ermahnung: stehe von dem Vorhaben ab, zu welchem dich Roberto anreizet; du hast mich nun nicht mehr; und es moechte sich nicht alle Tage einer finden, der dich so sehr liebte, dass er den Tod des Verraeters fuer dich sterben wollte. "[3]—

"Mensch!" ruft die bestuerzte Koenigin, "was hast du mir da gebracht?" "Nun?" sagt Cosme, "bin ich noch ein Vertrauter?"—"Eile, fliehe, deinen Herrn zu retten! Sage dem Kanzler, einzuhalten!—Holla, Wache! bringt ihn augenblicklich vor mich,—den Grafen,—geschwind!"—Und eben wird er gebracht: sein Leichnam naemlich. So gross die Freude war, welche die Koenigin auf einmal ueberstroemte, ihren Grafen unschuldig zu wissen: so gross sind nunmehr Schmerz und Wut, ihn hingerichtet zu sehen. Sie verflucht die Eilfertigkeit, mit der man ihren Befehl vollzogen: und Blanca mag zittern!—

So schliesst sich dieses Stueck, bei welchem ich meine Leser vielleicht zu lange aufgehalten habe. Vielleicht auch nicht. Wir sind mit den dramatischen Werken der Spanier so wenig bekannt; ich wuesste kein einziges, welches man uns uebersetzt oder auch nur auszugsweise mitgeteilet haette. Denn die "Virginia" des Augustino de Montiano y Luyando ist zwar spanisch geschrieben; aber kein spanisches Stueck. ein blosser Versuch in der korrekten Manier der Franzosen, regelmaessig, aber frostig. Ich bekenne sehr gern, dass ich bei weiten so vorteilhaft nicht mehr davon denke, als ich wohl ehedem muss gedacht haben.[4] Wenn das zweite Stueck des naemlichen Verfassers nicht besser geraten ist; wenn die neueren Dichter der Nation, welche ebendiesen Weg betreten wollen, ihn nicht gluecklicher betreten haben: so moegen sie mir es nicht uebelnehmen, wenn ich noch immer lieber nach ihrem alten Lope und Calderon greife, als nach ihnen.

Die echten spanischen Stuecke sind vollkommen nach der Art dieses "Essex". In allen einerlei Fehler, und einerlei Schoenheiten: mehr oder weniger; das versteht sich. Die Fehler springen in die Augen: aber nach den Schoenheiten duerfte man mich fragen.—Eine ganze eigne Fabel; eine sehr sinnreiche Verwicklung; sehr viele, und sonderbare, und immer neue Theaterstreiche; die ausgespartesten Situationen; meistens sehr wohl angelegte und bis ans Ende erhaltene Charaktere; nicht selten viel Wuerde und Staerke im Ausdrucke.—

Das sind allerdings Schoenheiten: ich sage nicht, dass es die hoechsten sind; ich leugne nicht, dass sie zum Teil sehr leicht bis in das Romanenhafte, Abenteuerliche, Unnatuerliche koennen getrieben werden, dass sie bei den Spaniern von dieser Uebertreibung selten frei sind. Aber man nehme den meisten franzoesischen Stuecken ihre mechanische Regelmaessigkeit: und sage mir, ob ihnen andere, als Schoenheiten solcher Art, uebrig bleiben? Was haben sie sonst noch viel Gutes, als Verwicklung und Theaterstreiche und Situationen?

Anstaendigkeit: wird man sagen.—Nun ja; Anstaendigkeit. Alle ihre
Verwicklungen sind anstaendiger, und einfoermiger; alle ihre
Theaterstreiche anstaendiger, und abgedroschner; alle ihre Situationen
anstaendiger, und gezwungner. Das koemmt von der Anstaendigkeit!

Aber Cosme, dieser spanische Hanswurst; diese ungeheure Verbindung der poebelhaftesten Possen mit dem feierlichsten Ernste; diese Vermischung des Komischen und Tragischen, durch die das spanische Theater so beruechtiget ist? Ich bin weit entfernt, diese zu verteidigen. Wenn sie zwar bloss mit der Anstaendigkeit stritte,—man versteht schon, welche Anstaendigkeit ich meine;—wenn sie weiter keinen Fehler haette, als dass sie die Ehrfurcht beleidigte, welche die Grossen verlangen, dass sie der Lebensart, der Etikette, dem Zeremoniell und allen den Gaukeleien zuwiderlief, durch die man den groessern Teil der Menschen bereden will, dass es einen kleinern gaebe, der von weit besserm Stoffe sei, als er: so wuerde mir die unsinnigste Abwechslung von Niedrig auf Gross, von Aberwitz auf Ernst, von Schwarz auf Weiss, willkommner sein, als die kalte Einfoermigkeit, durch die mich der gute Ton, die feine Welt, die Hofmanier, und wie dergleichen Armseligkeiten mehr heissen, unfehlbar einschlaefert. Doch es kommen ganz andere Dinge hier in Betrachtung.

——Fussnote

[1]
    Hasta que el tronco cadaver
    Le sirva de muda lengua.

[2]
    Y asi al salon de palacio
    Hareis que llamados vengan
    Los Grandes y los Milordes,
    Y para que alli le vean,
    Debajo de una cortina
    Hareis poner la cabeza
    Con el sangriento cuchillo,
    Que amenaza junto a ella,
    Por simbolo de justicia,
    Costumbre de Inglaterra:
    Y en estando todos juntos,
    Monstrandome justiciera,
    Exhortandolos primero
    Con amor a la obediencia,
    Les mostrare luego al Conde,
    Para que todos atiendan,
    Que en mi hay rigor que los rinda,
    Si hay piedad que los atreva.

[3]
    Blanca, en el ultimo trance,
    Porque hablarte no me dejan,
    He de escribirte un consejo,
    Y tambien una advertencia;
    La advertencia es, que yo nunca
    Fui traidor, que la promesa
    De ayudar en lo que sabes,
    Fue por servir a la Reina,
    Cogiendo a Roberto en Londres,
    Y a los que seguirle intentan;
    Para aquesto fue la carta:
    Esto he querido que sepas,
    Porque adviertas el prodigio
    De mi amor, que asi se deja
    Morir, por guardar tu vida.
    Esta ha sido la advertencia:
    (Valgame dios!) el consejo
    Es, que desistas la empresa
    A que Roberto te incita.
    Mira que sin mi te quedas
    Y no ha de haber cada dia
    Quien, por mucho que te quiera,
    Por conservarte la vida
    Por traidor la suya pierda.—

[4] "Theatralische Bibliothek", erstes Stueck, S. 117.

——Fussnote

Neunundsechzigstes Stueck
Den 29. Dezember 1767

Lope de Vega, ob er schon als der Schoepfer des spanischen Theaters betrachtet wird, war es indes nicht, der jenen Zwitterton einfuehrte. Das Volk war bereits so daran gewoehnt, dass er ihn wider Willen mit anstimmen musste. In seinem Lehrgedichte ueber "die Kunst, neue Komoedien zu machen", dessen ich oben schon gedacht, jammert er genug darueber. Da er sahe, dass es nicht moeglich sei, nach den Regeln und Mustern der Alten fuer seine Zeitgenossen mit Beifall zu arbeiten: so suchte er der Regellosigkeit wenigstens Grenzen zu setzen; das war die Absicht dieses Gedichts. Er dachte, so wild und barbarisch auch der Geschmack der Nation sei, so muesse er doch seine Grundsaetze haben; und es sei besser, auch nur nach diesen mit einer bestaendigen Gleichfoermigkeit zu handeln, als nach gar keinen. Stuecke, welche die klassischen Regeln nicht beobachten, koennen doch noch immer Regeln beobachten und muessen dergleichen beobachten, wenn sie gefallen wollen. Diese also, aus dem blossen Nationalgeschmacke hergenommen, wollte er festsetzen; und so ward die Verbindung des Ernsthaften und Laecherlichen die erste.

"Auch Koenige", sagt er, "koennet ihr in euern Komoedien auftreten lassen. Ich hoere zwar, dass unser weiser Monarch (Philipp der Zweite) dieses nicht gebilliget; es sei nun, weil er einsahe, dass es wider die Regeln laufe, oder weil er es der Wuerde eines Koeniges zuwider glaubte, so mit unter den Poebel gemengt zu werden. Ich gebe auch gern zu, dass dieses wieder zur aeltesten Komoedie zurueckkehren heisst, die selbst Goetter einfuehrte; wie unter andern in dem "Amphitruo" des Plautus zu sehen: und ich weiss gar wohl, dass Plutarch, wenn er von Menandern redet, die aelteste Komoedie nicht sehr lobt. Es faellt mir also freilich schwer, unsere Mode zu billigen. Aber da wir uns nun einmal in Spanien so weit von der Kunst entfernen: so muessen die Gelehrten schon auch hierueber schweigen. Es ist wahr, das Komische mit dem Tragischen vermischet, Seneca mit dem Terenz zusammengeschmolzen, gibt kein geringeres Ungeheuer, als der Minotaurus der Pasiphae war. Doch diese Abwechselung gefaellt nun einmal; man will nun einmal keine andere Stuecke sehen, als die halb ernsthaft und halb lustig sind; die Natur selbst lehrt uns diese Mannigfaltigkeit, von der sie einen Teil ihrer Schoenheit entlehnet."[1]

Die letzten Worte sind es, weswegen ich diese Stelle anfuehre. Ist es wahr, dass uns die Natur selbst, in dieser Vermengung des Gemeinen und Erhabnen, des Possierlichen und Ernsthaften, des Lustigen und Traurigen, zum Muster dienet? Es scheinet so. Aber wenn es wahr ist, so hat Lope mehr getan, als er sich vornahm; er hat nicht bloss die Fehler seiner Buehne beschoeniget; er hat eigentlich erwiesen, dass wenigstens dieser Fehler keiner ist; denn nichts kann ein Fehler sein, was eine Nachahmung der Natur ist.

"Man tadelt", sagt einer von unsern neuesten Skribenten, "an Shakespeare —demjenigen unter allen Dichtern seit Homer, der die Menschen, vom Koenige bis zum Bettler, und von Julius Caesar bis zu Jack Fa1staff am besten gekannt und mit einer Art von unbegreiflicher Intuition durch und durch gesehen hat—dass seine Stuecke keinen, oder doch nur einen sehr fehlerhaften unregelmaessigen und schlecht ausgesonnenen Plan haben; dass Komisches und Tragisches darin auf die seltsamste Art durcheinander geworfen ist und oft ebendieselbe Person, die uns durch die ruehrende Sprache der Natur Traenen in die Augen gelockt hat, in wenigen Augenblicken darauf uns durch irgendeinen seltsamen Einfall oder barockischen Ausdruck ihrer Empfindungen, wo nicht zu lachen macht, doch dergestalt abkuehlt, dass es ihm hernach sehr schwer wird, uns wieder in die Fassung zu setzen, worin er uns haben moechte.—Man tadelt das und denkt nicht daran, dass seine Stuecke eben darin natuerliche Abbildungen des menschlichen Lebens sind."

"Das Leben der meisten Menschen, und (wenn wir es sagen duerfen) der Lebenslauf der grossen Staatskoerper selbst, insofern wir sie als ebensoviel moralische Wesen betrachten, gleicht den Haupt- und Staatsaktionen im alten gotischen Geschmacke in so vielen Punkten, dass man beinahe auf die Gedanken kommen moechte, die Erfinder dieser Letztern waeren klueger gewesen, als man gemeiniglich denkt, und haetten, wofern sie nicht gar die heimliche Absicht gehabt, das menschliche Leben laecherlich zu machen, wenigstens die Natur ebenso getreu nachahmen wollen, als die Griechen sich angelegen sein liessen, sie zu verschoenern. Um itzt nichts von der zufaelligen Aehnlichkeit zu sagen, dass in diesen Stuecken, sowie im Leben, die wichtigsten Rollen sehr oft gerade durch die schlechtesten Akteurs gespielt werden,—was kann aehnlicher sein, als es beide Arten der Haupt-und Staatsaktionen einander in der Anlage, in der Abteilung und Disposition der Szenen, im Knoten und in der Entwicklung zu sein pflegen? Wie selten fragen die Urheber der einen und der andern sich selbst, warum sie dieses oder jenes gerade so und nicht anders gemacht haben? Wie oft ueberraschen sie uns durch Begebenheiten, zu denen wir nicht im mindesten vorbereitet waren? Wie oft sehen wir Personen kommen und wieder abtreten, ohne dass sich begreifen laesst, warum sie kamen, oder warum sie wieder verschwinden? Wie viel wird in beiden dem Zufall ueberlassen? Wie oft sehen wir die groessesten Wirkungen durch die armseligsten Ursachen hervorgebracht? Wie oft das Ernsthafte und Wichtige mit einer leichtsinnigen Art, und das Nichtsbedeutende mit laecherlicher Gravitaet behandelt? Und wenn in beiden endlich alles so klaeglich verworren und durcheinander geschlungen ist, dass man an der Moeglichkeit der Entwicklung zu verzweifeln anfaengt: wie gluecklich sehen wir durch irgendeinen unter Blitz und Donner aus papiernen Wolken herabspringenden Gott oder durch einen frischen Degenhieb den Knoten auf einmal zwar nicht aufgeloeset, aber doch aufgeschnitten, welches insofern auf eines hinauslauft, dass auf die eine oder die andere Art das Stueck ein Ende hat und die Zuschauer klatschen oder zischen koennen, wie sie wollen oder—duerfen. Uebrigens weiss man, was fuer eine wichtige Person in den komischen Tragoedien, wovon wir reden, der edle Hanswurst vorstellt, der sich, vermutlich zum ewigen Denkmal des Geschmacks unserer Voreltern, auf dem Theater der Hauptstadt des deutschen Reiches, erhalten zu wollen scheinet. Wollte Gott, dass er seine Person allein auf dem Theater vorstellte! Aber wieviel grosse Aufzuege auf dem Schauplatze der Welt hat man nicht in allen Zeiten mit Hanswurst—oder, welches noch ein wenig aerger ist, durch Hanswurst —auffuehren gesehen? Wie oft haben die groessesten Maenner, dazu geboren, die schuetzenden Genii eines Throns, die Wohltaeter ganzer Voelker und Zeitalter zu sein, alle ihre Weisheit und Tapferkeit durch einen kleinen schnakischen Streich von Hanswurst oder solchen Leuten vereitelt sehen muessen, welche, ohne eben sein Wams und seine gelben Hosen zu tragen, doch gewiss seinen ganzen Charakter an sich trugen? Wie oft entsteht in beiden Arten der Tragikomoedien die Verwicklung selbst lediglich daher, dass Hanswurst durch irgendein dummes und schelmisches Stueckchen von seiner Arbeit den gescheiten Leuten, eh' sie sich's versehen koennen, ihr Spiel verderbt?"—

Wenn in dieser Vergleichung des grossen und kleinen, des urspruenglichen und nachgebildeten heroischen Possenspiels—(die ich mit Vergnuegen aus einem Werke abgeschrieben, welches unstreitig unter die vortrefflichsten unsers Jahrhunderts gehoert, aber fuer das deutsche Publikum noch viel zu frueh geschrieben zu sein scheinet. In Frankreich und England wuerde es das aeusserste Aufsehen gemacht haben; der Name seines Verfassers wuerde auf aller Zungen sein. Aber bei uns? Wir haben es, und damit gut. Unsere Grossen lernen vors erste an den kauen; und freilich ist der Saft aus einem franzoesischen Roman lieblicher und verdaulicher. Wenn ihr Gebiss schaerfer und ihr Magen staerker geworden, wenn sie indes Deutsch gelernt haben, so kommen sie auch wohl einmal ueber den "Agathon"[2]. Dieses ist das Werk, von welchem ich rede, von welchem ich es lieber nicht an dem schicklichsten Orte, lieber hier als gar nicht, sagen will, wie sehr ich es bewundere: da ich mit der aeussersten Befremdung wahrnehme, welches tiefe Stillschweigen unsere Kunstrichter darueber beobachten, oder in welchem kalten und gleichgueltigen Tone sie davon sprechen. Es ist der erste und einzige Roman fuer den denkenden Kopf, von klassischem Geschmacke. Roman? Wir wollen ihm diesen Titel nur geben, vielleicht, dass es einige Leser mehr dadurch bekoemmt. Die wenigen, die es darueber verlieren moechte, an denen ist ohnedem nichts gelegen.)

——Fussnote

[1]
    Eligese el sujeto, y no se mire,
    (Perdonen los preceptos) si es de Reyes,
    Aunque por esto entiendo, que el prudente,
    Filipo Rey de Espana, y Senor nuestro,
    En viendo un Rey en ellos se enfadaba,
    O fuese el ver, que al arte contradice,
    O que la autoridad real no debe
    Andar fingida entre la humilde plebe,
    Esto es volver a la Comedia antigua,
    Donde vemos que Plauto puso Dioses,
    Como en su Anfitrion lo muestra Jupiter.
    Sabe Dios, que me pesa de aprobarlo,
    Porque Plutarco hablando de Menandro,
    No siente bien de la Comedia antigua,
    Mas pues del arte vamos tan remotos,
    Y en Espana le hacemos mil agravios,
    Cierren los Doctos esta vez los labios.
    Lo Tragico, y lo Comico mezclado,
    Y Terencio con Seneca, aunque sea,
    Como otro Minotauro de Pasife,
    Haran grave una parte, otra ridicula,
    Que aquesta variedad deleita mucho,
    Buen ejemplo nos da naturaleza,
    Que por tal variedad tiene belleza.

[2] Zweiter Teil (S. 192).

——Fussnote

Siebzigstes Stueck
Den 1. Januar 1768

Wenn in dieser Vergleichung, sage ich, die satirische Laune nicht zu sehr vorstaeche: so wuerde man sie fuer die beste Schutzschrift des komisch- tragischen, oder tragisch-komischen Drama (Mischspiel habe ich es einmal auf irgendeinem Titel genannt gefunden), fuer die geflissentlichste Ausfuehrung des Gedankens beim Lope halten duerfen. Aber zugleich wuerde sie auch die Widerlegung desselben sein. Denn sie wuerde zeigen, dass eben das Beispiel der Natur, welches die Verbindung des feierlichen Ernstes mit der possenhaften Lustigkeit rechtfertigen soll, ebensogut jedes dramatische Ungeheuer, das weder Plan, noch Verbindung, noch Menschen- verstand hat, rechtfertigen koenne. Die Nachahmung der Natur muesste folglich entweder gar kein Grundsatz der Kunst sein; oder, wenn sie es doch bliebe, wuerde durch ihn selbst die Kunst, Kunst zu sein aufhoeren; wenigstens keine hoehere Kunst sein, als etwa die Kunst, die bunten Adern des Marmors in Gips nachzuahmen; ihr Zug und Lauf mag geraten, wie er will, der seltsamste kann so seltsam nicht sein, dass er nicht natuerlich scheinen koennte; bloss und allein der scheinet es nicht, bei welchem sich zu viel Symmetrie, zu viel Ebenmass und Verhaeltnis, zu viel von dem zeiget, was in jeder andern Kunst die Kunst ausmacht; der kuenstlichste in diesem Verstande ist hier der schlechteste, und der wildeste der beste.

Als Kritikus duerfte unser Verfasser ganz anders sprechen. Was er hier so sinnreich aufstuetzen zu wollen scheinet, wuerde er ohne Zweifel als eine Missgeburt des barbarischen Geschmacks verdammen, wenigstens als die ersten Versuche der unter ungeschlachteten Voelkern wieder auflebenden Kunst vorstellen, an deren Form irgendein Zusammenfluss gewisser aeusserlichen Ursachen oder das Ohngefaehr den meisten, Vernunft und Ueberlegung aber den wenigsten, auch wohl ganz und gar keinen Anteil hatte. Er wuerde schwerlich sagen, dass die ersten Erfinder des Mischspiels (da das Wort einmal da ist, warum soll ich es nicht brauchen?) "die Natur ebenso getreu nachahmen wollen, als die Griechen sich angelegen sein lassen, sie zu verschoenern".

Die Worte getreu und verschoenert, von der Nachahmung und der Natur, als dem Gegenstande der Nachahmung, gebraucht, sind vielen Missdeutungen unterworfen. Es gibt Leute, die von keiner Natur wissen wollen, welche man zu getreu nachahmen koenne; selbst was uns in der Natur missfalle, gefalle in der getreuen Nachahmung, vermoege der Nachahmung. Es gibt andere, welche die Verschoenerung der Natur fuer eine Grille halten; eine Natur, die schoener sein wolle, als die Natur, sei eben darum nicht Natur. Beide erklaeren sich fuer Verehrer der einzigen Natur, so wie sie ist: jene finden in ihr nichts zu vermeiden; diese nichts hinzuzusetzen. Jenen also muesste notwendig das gotische Mischspiel gefallen; so wie diese Muehe haben wuerden, an den Meisterstuecken der Alten Geschmack zu finden.

Wann dieses nun aber nicht erfolgte? Wann jene, so grosse Bewunderer sie auch von der gemeinsten und alltaeglichsten Natur sind, sich dennoch wider die Vermischung des Possenhaften und Interessanten erklaerten? Wann diese, so ungeheuer sie auch alles finden, was besser und schoener sein will als die Natur, dennoch das ganze griechische Theater, ohne den geringsten Anstoss von dieser Seite, durchwandelten? Wie wollten wir diesen Widerspruch erklaeren?

Wir wuerden notwendig zurueckkommen und das, was wir von beiden Gattungen erst behauptet, widerrufen muessen. Aber wie muessten wir widerrufen, ohne uns in neue Schwierigkeiten zu verwickeln? Die Vergleichung einer solchen Haupt-und Staatsaktion, ueber deren Guete wir streiten, mit dem menschlichen Leben, mit dem gemeinen Laufe der Welt, ist doch so richtig!

Ich will einige Gedanken herwerfen, die, wenn sie nicht gruendlich genug sind, doch gruendlichere veranlassen koennen.—Der Hauptgedanke ist dieser: Es ist wahr, und auch nicht wahr, dass die komische Tragoedie, gotischer Erfindung, die Natur getreu nachahmet; sie ahmet sie nur in einer Haelfte getreu nach und vernachlaessiget die andere Haelfte gaenzlich; sie ahmet die Natur der Erscheinungen nach, ohne im geringsten auf die Natur unserer Empfindungen und Seelenkraefte dabei zu achten.

In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles veraendert sich eines in das andere. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel fuer einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mussten diese das Vermoegen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermoegen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit nach Gutduenken lenken zu koennen.

Dieses Vermoegen ueben wir in allen Augenblicken des Lebens; ohne dasselbe wuerde es fuer uns gar kein Leben geben; wir wuerden vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir wuerden ein bestaendiger Raub des gegenwaertigen Eindruckes sein; wir wuerden traeumen, ohne zu wissen, was wir traeumten.

Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schoenen dieser Absonderung zu ueberheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder einer Verbindung verschiedener Gegenstaende, es sei der Zeit oder dem Raume nach, in unsern Gedanken absondern, oder absondern zu koennen wuenschen, sondert sie wirklich ab und gewaehrt uns diesen Gegenstand, oder diese Verbindung verschiedener Gegenstaende, so lauter und buendig, als es nur immer die Empfindung, die sie erregen sollen, verstattet.

Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und ruehrenden Begebenheit sind, und eine andere von nichtigem Belange laeuft quer ein: so suchen wir der Zerstreuung, die diese uns drohet, moeglichst auszuweichen. Wir abstrahieren von ihr; und es muss uns notwendig ekeln, in der Kunst das wieder zu finden, was wir aus der Natur wegwuenschten.

Nur wenn ebendieselbe Begebenheit in ihrem Fortgange alle Schattierungen des Interesse annimmt, und eine nicht bloss auf die andere folgt, sondern so notwendig aus der andern entspringt; wenn der Ernst das Lachen, die Traurigkeit die Freude, oder umgekehrt, so unmittelbar erzeugt, dass uns die Abstraktion des einen oder des andern unmoeglich faellt: nur alsdenn verlangen wir sie auch in der Kunst nicht, und die Kunst weiss aus dieser Unmoeglichkeit selbst Vorteil zu ziehen.—

Aber genug hiervon: man sieht schon, wo ich hinaus will.—

Den fuenfundvierzigsten Abend (freitags, den 17. Julius) wurden "Die
Brueder" des Herrn Romanus, und "Das Orakel" vom Saint-Foix gespielt.

Das erstere Stueck kann fuer ein deutsches Original gelten, ob es schon groesstenteils aus den "Bruedern" des Terenz genommen ist. Man hat gesagt, dass auch Moliere aus dieser Quelle geschoepft habe; und zwar seine "Maennerschule". Der Herr von Voltaire macht seine Anmerkungen ueber dieses Vorgeben: und ich fuehre Anmerkungen von dem Herrn von Voltaire so gern an! Aus seinen geringsten ist noch immer etwas zu lernen: wenn schon nicht allezeit das, was er darin sagt: wenigstens das, was er haette sagen sollen. Primus sapientiae gradus est, falsa intelligere (wo dieses Spruechelchen steht, will mir nicht gleich beifallen); und ich wuesste keinen Schriftsteller in der Welt, an dem man es so gut versuchen koennte, ob man auf dieser ersten Stufe der Weisheit stehe, als an dem Herrn von Voltaire: aber daher auch keinen, der uns, die zweite zu ersteigen, weniger behilflich sein koennte; secundus, vera cognoscere. Ein kritischer Schriftsteller, duenkt mich, richtet seine Methode auch am besten nach diesem Spruechelchen ein. Er suche sich nur erst jemanden, mit dem er streiten kann: so koemmt er nach und nach in die Materie, und das uebrige findet sich. Hierzu habe ich mir in diesem Werke, ich bekenne es aufrichtig, nun einmal die franzoesischen Skribenten vornehmlich erwaehlet, und unter diesen besonders den Hrn. von Voltaire. Also auch itzt, nach einer kleinen Verbeugung, nur darauf zu! Wem diese Methode aber etwan mehr mutwillig, als gruendlich scheinen wollte: der soll wissen, dass selbst der gruendliche Aristoteles sich ihrer fast immer bedient hat. Solet Aristoteles, sagt einer von seinen Auslegern, der mir eben zur Hand liegt, quaerere pugnam in suis libris. Atque hoc facit non temere et casu, sed certa ratione atque consilio: nam labefactatis aliorum opinionibus, usw. O des Pedanten! wuerde der Herr von Voltaire rufen. —Ich bin es bloss aus Misstrauen in mich selbst.

"'Die Brueder' des Terenz", sagt der Herr von Voltaire, "koennen hoechstens die Idee zu der Maennerschule, gegeben haben. In den 'Bruedern' sind zwei Alte von verschiedner Gemuetsart, die ihre Soehne ganz verschieden erziehen; ebenso sind in der 'Maennerschule' zwei Vormuender, ein sehr strenger und ein sehr nachsehender: das ist die ganze Aehnlichkeit. In den 'Bruedern' ist fast ganz und gar keine Intrige: die Intrige in der 'Maennerschule' hingegen ist fein und unterhaltend und komisch. Eine von den Frauenzimmern des Terenz, welche eigentlich die interessanteste Rolle spielen muesste, erscheinet bloss auf dem Theater, um niederzukommen. Die Isabelle des Moliere ist fast immer auf der Szene und zeigt sich immer witzig und reizend und verbindet sogar die Streiche, die sie ihrem Vormunde spielt, noch mit Anstand. Die Entwicklung In den 'Bruedern' ist ganz unwahrscheinlich; es ist wider die Natur, dass ein Alter, der sechzig Jahre aergerlich und streng und geizig gewesen, auf einmal lustig und hoeflich und freigebig werden sollte. Die Entwicklung in der 'Maennerschule' aber ist die beste von allen Entwicklungen des Moliere; wahrscheinlich, natuerlich, aus der Intrige selbst hergenommen, und was ohnstreitig nicht das Schlechteste daran ist, aeusserst komisch."

Einundsiebzigstes Stueck
Den 5. Januar 1768

Es scheinet nicht, dass der Herr von Voltaire, seitdem er aus der Klasse bei den Jesuiten gekommen, den Terenz viel wieder gelesen habe. Er spricht ganz so davon, als von einem alten Traume; es schwebt ihm nur noch sowas davon im Gedaechtnisse; und das schreibt er auf gut Glueck so hin, unbekuemmert, ob es gehauen oder gestochen ist. Ich will ihm nicht aufmutzen, was er von der Pamphila des Stuecks sagt, "dass sie bloss auf dem Theater erscheine, um niederzukommen". Sie erscheinet gar nicht auf dem Theater; sie kommt nicht auf dem Theater nieder; man vernimmt bloss ihre Stimme aus dem Hause; und warum sie eigentlich die interessanteste Rolle spielen muesste, das laesst sich auch gar nicht absehen. Den Griechen und Roemern war nicht alles interessant, was es den Franzosen ist. Ein gutes Maedchen, das mit ihrem Liebhaber zu tief in das Wasser gegangen und Gefahr laeuft, von ihm verlassen zu werden, war zu einer Hauptrolle ehedem sehr ungeschickt.—

Der eigentliche und grobe Fehler, den der Herr von Voltaire macht, betrifft die Entwicklung und den Charakter des Demea. Demea ist der muerrische strenge Vater, und dieser soll seinen Charakter auf einmal voellig veraendern. Das ist, mit Erlaubnis des Herrn von Voltaire, nicht wahr. Demea behauptet seinen Charakter bis ans Ende. Donatus sagt: Servatur autem per totam fabulam mitis Micio, saevus Demea, Leno avarus usw. Was geht mich Donatus an? duerfte der Herr von Voltaire sagen. Nach Belieben; wenn wir Deutsche nur glauben duerfen, dass Donatus den Terenz fleissiger gelesen und besser verstanden, als Voltaire. Doch es ist ja von keinem verlornen Stuecke die Rede; es ist noch da; man lese selbst.

Nachdem Micio den Demea durch die triftigsten Vorstellungen zu besaenftigen gesucht, bittet er ihn, wenigstens auf heute sich seines Aergernisses zu entschlagen, wenigstens heute lustig zu sein. Endlich bringt er ihn auch so weit; heute will Demea alles gut sein lassen; aber morgen, bei frueher Tageszeit, muss der Sohn wieder mit ihm aufs Land; da will er ihn nicht gelinder halten, da will er es wieder mit ihm anfangen, wo er es heute gelassen hat; die Saengerin, die diesem der Vetter gekauft, will er zwar mitnehmen, denn es ist doch immer eine Sklavin mehr, und eine, die ihm nichts kostet; aber zu singen wird sie nicht viel bekommen, sie soll kochen und backen. In der darauffolgenden vierten Szene des fuenften Akts, wo Demea allein ist, scheint es zwar, wenn man seine Worte nur so obenhin nimmt, als ob er voellig von seiner alten Denkungsart abgehen und nach den Grundsaetzen des Micio zu handeln anfangen wolle.[1] Doch die Folge zeigt es, dass man alles das nur von dem heutigen Zwange, den er sich antun soll, verstehen muss. Denn auch diesen Zwang weiss er hernach so zu nutzen, dass er zu der foermlichsten haemischsten Verspottung seines gefaelligen Bruders ausschlaegt. Er stellt sich lustig, um die andern wahre Ausschweifungen und Tollheiten begehen zu lassen; er macht in dem verbindlichsten Tone die bittersten Vorwuerfe; er wird nicht freigebig, sondern er spielt den Verschwender; und wohl zu merken, weder von dem Seinigen, noch in einer andern Absicht, als um alles, was er Verschwenden nennt, laecherlich zu machen. Dieses erhellet unwider- sprechlich aus dem, was er dem Micio antwortet, der sich durch den Anschein betriegen laesst, und ihn wirklich veraendert glaubt.[2] Hic ostendit Terentius, sagt Donatus, magis Demeam simulasse mutatos mores, quam mutavisse.

Ich will aber nicht hoffen, dass der Herr von Voltaire meinet, selbst diese Verstellung laufe wider den Charakter des Demea, der vorher nichts als geschmaelt und gepoltert habe: denn eine solche Verstellung erfodere mehr Gelassenheit und Kaelte, als man dem Demea zutrauen duerfe. Auch hierin ist Terenz ohne Tadel, und er hat alles so vortrefflich motivieret, bei jedem Schritte Natur und Wahrheit so genau beobachtet, bei dem geringsten Uebergange so feine Schattierungen in acht genommen, dass man nicht aufhoeren kann, ihn zu bewundern.

Nur ist oefters, um hinter alle Feinheiten des Terenz zu kommen, die Gabe sehr noetig, sich das Spiel des Akteurs dabei zu denken; denn dieses schrieben die alten Dichter nicht bei. Die Deklamation hatte ihren eignen Kuenstler, und in dem uebrigen konnten sie sich ohne Zweifel auf die Einsicht der Spieler verlassen, die aus ihrem Geschaefte ein sehr ernstliches Studium machten. Nicht selten befanden sich unter diesen die Dichter selbst; sie sagten, wie sie es haben wollten; und da sie ihre Stuecke ueberhaupt nicht eher bekannt werden liessen, als bis sie gespielt waren, als bis man sie gesehen und gehoert hatte: so konnten sie es um so mehr ueberhoben sein, den geschriebenen Dialog durch Einschiebsel zu unterbrechen, in welchen sich der beschreibende Dichter gewissermassen mit unter die handelnden Personen zu mischen scheinet. Wenn man sich aber einbildet, dass die alten Dichter, um sich diese Einschiebsel zu ersparen, in den Reden selbst, jede Bewegung, jede Gebaerde, jede Miene, jede besondere Abaenderung der Stimme, die dabei zu beobachten, mit anzudeuten gesucht: so irret man sich. In dem Terenz allein kommen unzaehlige Stellen vor, in welchen von einer solchen Andeutung sich nicht die geringste Spur zeiget, und wo gleichwohl der wahre Verstand nur durch die Erratung der wahren Aktion kann getroffen werden; ja in vielen scheinen die Worte gerade das Gegenteil von dem zu sagen, was der Schauspieler durch jene ausdruecken muss.

Selbst in der Szene, in welcher die vermeinte Sinnesaenderung des Demea vorgeht, finden sich dergleichen Stellen, die ich anfuehren will, weil auf ihnen gewissermassen die Missdeutung beruhet, die ich bestreite. Demea weiss nunmehr alles, er hat es mit seinen eignen Augen gesehen, dass es sein ehrbarer frommer Sohn ist, fuer den die Saengerin entfuehret worden, und stuerzt mit dem unbaendigsten Geschrei heraus. Er klagt es dem Himmel und der Erde und dem Meere; und eben bekommt er den Micio zu Gesicht.

"Demea. Ha! da ist er, der mir sie beide verdirbt meine Soehne, mir sie beide zugrunde richtet! Micio. Oh, so maessige dich, und komm wieder zu dir!

Demea. Gut, ich maessige mich, ich bin bei mir, es soll mir kein hartes Wort entfahren. Lass uns bloss bei der Sache bleiben. Sind wir nicht eins geworden, warest du es nicht selbst, der es zuerst auf die Bahn brachte, dass sich ein jeder nur um den seinen bekuemmern sollte? Antworte."[3] usw.

Wer sich hier nur an die Worte haelt und kein so richtiger Beobachter ist, als es der Dichter war, kann leicht glauben, dass Demea viel zu geschwind austobe, viel zu geschwind diesen gelassenem Ton anstimme. Nach einiger Ueberlegung wird ihm zwar vielleicht beifallen, dass jeder Affekt, wenn er aufs aeusserste gekommen, notwendig wieder sinken muesse; dass Demea, auf den Verweis seines Bruders, sich des ungestuemen Jachzorns nicht anders als schaemen koenne: das alles ist auch ganz gut, aber es ist doch noch nicht das rechte. Dieses lasse er sich also vom Donatus lehren, der hier zwei vortreffliche Anmerkungen hat. Videtur, sagt er, paulo citius destomachatus, quam res etiam incertae poscebant. Sed et hoc morale: nam juste irati, omissa saevitia ad ratiocinationes saepe festinant. Wenn der Zornige ganz offenbar recht zu haben glaubt, wenn er sich einbildet, dass sich gegen seine Beschwerden durchaus nichts einwenden lasse: so wird er sich bei dem Schelten gerade am wenigsten aufhalten, sondern zu den Beweisen eilen, um seinen Gegner durch eine so sonnenklare Ueberzeugung zu demuetigen. Doch da er ueber die Wallungen seines kochenden Gebluets nicht so unmittelbar gebieten kann, da der Zorn, der ueberfuehren will, doch noch immer Zorn bleibt, so macht Donatus die zweite Anmerkung: Non quid dicatur, sed quo gestu dicatur, specta: et videbis neque adhuc repressisse iracundiam, neque ad se rediisse Demeam. Demea sagte zwar: "Ich maessige mich, ich bin wieder bei mir": aber Gesicht und Gebaerde und Stimme verraten genugsam, dass er sich noch nicht gemaessiget hat, dass er noch nicht wieder bei sich ist. Er bestuermt den Micio mit einer Frage ueber die andere, und Micio hat alle seine Kaelte und gute Laune noetig, um nur zum Worte zu kommen.

——Fussnote

[1]
    —Nam ego vitam duram, quam vixi usque adhuc,
    Prope jam excurso spatio mitto—

[2]
    Mi. Quid istuc? quae res tam repente mores mutavit tuos?
    Quod prolubium, quae istaec subita est largitas? De. Dicam tibi:
    Ut id ostenderem, quod te isti facilem et festivum putant,
    Id non fieri ex vera vita, neque adeo ex aequo et bono,
    Sed ex assentando, indulgendo et largiendo, Micio.
    Nunc adeo, si ob eam rem vobis mea vita invisa est, Aeschine,
    Quia non justa injusta prorsus omnia, omnino obsequor;
    Missa facio; effundite, emite, facite quod vobis lubet!

[3]
    —De. Eccum adest
      Communis corruptela nostrum liberum.
    Mi. Tandem reprime iracundiam, atque ad te redi.
    De. Repressi, redii, mitto maledicta omnia:
      Rem ipsam putemus. Dictum hoc inter nos fuit,
      Et ex te adeo est ortum, ne te curares meum,
      Neve ego tuum? responde!—

——Fussnote

Zweiundsiebzigstes Stueck
Den 8. Januar 1768

Als er endlich dazukommt, wird Demea zwar eingetrieben, aber im geringsten nicht ueberzeugt. Aller Vorwand, ueber die Lebensart seiner Kinder unwillig zu sein, ist ihm benommen: und doch faengt er wieder von vorne an, zu nergeln. Micio muss auch nur abbrechen und sich begnuegen, dass ihm die muerrische Laune, die er nicht aendern kann, wenigstens auf heute Frieden lassen will. Die Wendungen, die ihn Terenz dabei nehmen laesst, sind meisterhaft.[1]

"Demea. Nun gib nur acht, Micio, wie wir mit diesen schoenen
Grundsaetzen, mit dieser deiner lieben Nachsicht am Ende fahren werden.

Micio. Schweig doch! Besser, als du glaubest.—Und nun genug davon!
Heute schenke dich mir. Komm, klaere dich auf.

Demea. Mag's doch nur heute sein! Was ich muss, das muss ich.—Aber morgen, sobald es Tag wird, geh' ich wieder aufs Dorf, und der Bursche geht mit.

Micio. Lieber, noch ehe es Tag wird; daechte ich. Sei nur heute lustig!

Demea. Auch das Mensch von einer Saengerin muss mit heraus.

Micio. Vortrefflich! So wird sich der Sohn gewiss nicht weg wuenschen.
Nur halte sie auch gut.

Demea. Da lass mich vor sorgen! Sie soll in der Muehle und vor dem Ofenloche Mehlstaubs und Kohlstaubs und Rauchs genug kriegen. Dazu soll sie mir am heissen Mittage stoppeln gehn, bis sie so trocken, so schwarz geworden, als ein Loeschbrand.

Micio. Das gefaellt mir! Nun bist du auf dem rechten Wege!—Und alsdenn, wenn ich wie du waere, muesste mir der Sohn bei ihr schlafen, er moechte wollen oder nicht.

Demea. Lachst du mich aus?—Bei so einer Gemuetsart freilich kannst du wohl gluecklich sein. Ich fuehl' es, leider—

Micio. Du faengst doch wieder an?

Demea. Nu, nu; ich hoere ja auch schon wieder auf."

Bei dem "Lachst du mich aus?" des Demea, merkt Donatus an: Hoc verbum vultu Demeae sic profertur, ut subrisisse videatur invitus. Sed rursus EGO SENTIO, amare severeque dicit. Unvergleichlich! Demea, dessen voller Ernst es war, dass er die Saengerin nicht als Saengerin, sondern als eine gemeine Sklavin halten und nutzen wollte, muss ueber den Einfall des Micio lachen. Micio selbst braucht nicht zu lachen: je ernsthafter er sich stellt, desto besser. Demea kann darum doch sagen: "Lachst du mich aus?" und muss sich zwingen wollen, sein eignes Lachen zu verbeissen. Er verbeisst es auch bald, denn das "Ich fuehl' es leider" sagt er wieder in einem aergerlichen und bittern Tone. Aber so ungern, so kurz das Lachen auch ist: so grosse Wirkung hat es gleichwohl. Denn einen Mann, wie Demea, hat man wirklich vors erste gewonnen, wenn man ihn nur zu lachen machen kann. Je seltner ihm diese wohltaetige Erschuetterung ist, desto laenger haelt sie innerlich an; nachdem er laengst alle Spur derselben auf seinem Gesichte vertilgt, dauert sie noch fort, ohne dass er es selbst weiss, und hat auf sein naechstfolgendes Betragen einen gewissen Einfluss.—

Aber wer haette wohl bei einem Grammatiker so feine Kenntnisse gesucht? Die alten Grammatiker waren nicht das, was wir itzt bei dem Namen denken. Es waren Leute von vieler Einsicht; das ganze weite Feld der Kritik war ihr Gebiete. Was von ihren Auslegungen klassischer Schriften auf uns gekommen, verdient daher nicht bloss wegen der Sprache studiert zu werden. Nur muss man die neuern Interpolationen zu unterscheiden wissen. Dass aber dieser Donatus (Aelius) so vorzueglich reich an Bemerkungen ist, die unsern Geschmack bilden koennen, dass er die verstecktesten Schoenheiten seines Autors mehr als irgendein anderer zu enthuellen weiss: das koemmt vielleicht weniger von seinen groessern Gaben, als von der Beschaffenheit seines Autors selbst. Das roemische Theater war, zur Zeit des Donatus, noch nicht gaenzlich verfallen; die Stuecke des Terenz wurden noch gespielt, und ohne Zweifel noch mit vielen von den Ueberlieferungen gespielt, die sich aus den bessern Zeiten des roemischen Geschmacks herschrieben: er durfte also nur anmerken, was er sahe und hoerte; er brauchte also nur Aufmerksamkeit und Treue, um sich das Verdienst zu machen, dass ihm die Nachwelt Feinheiten zu verdanken hat, die er selbst schwerlich duerfte ausgegruebelt haben. Ich wuesste daher auch kein Werk, aus welchem ein angehender Schauspieler mehr lernen koennte, als diesen Kommentar des Donatus ueber den Terenz: und bis das Latein unter unsern Schauspielern ueblicher wird, wuenschte ich sehr, dass man ihnen eine gute Uebersetzung davon in die Haende geben wollte. Es versteht sich, dass der Dichter dabei sein und aus dem Kommentar alles wegbleiben muesste, was die blosse Worterklaerung betrifft. Die Dacier hat in dieser Absicht den Donatus nur schlecht genutzt, und ihre Uebersetzung des Textes ist waessrig und steif. Eine neuere deutsche, die wir haben, hat das Verdienst der Richtigkeit so so, aber das Verdienst der komischen Sprache fehlt ihr gaenzlich;[2] und Donatus ist auch nicht weiter gebraucht, als ihn die Dacier zu brauchen fuer gut befunden. Es waere also keine getane Arbeit, was ich vorschlage: aber wer soll sie tun? Die nichts Bessers tun koennten, koennen auch dieses nicht: und die etwas Bessers tun koennten, werden sich bedanken.

Doch endlich vom Terenz auf unsern Nachahmer zu kommen—es ist doch sonderbar, dass auch Herr Romanus den falschen Gedanken des Voltaire gehabt zu haben scheinet. Auch er hat geglaubt, dass am Ende mit dem Charakter des Demea eine gaenzliche Veraenderung vorgehe; wenigstens laesst er sie mit dem Charakter seines Lysimons vorgehen. "Je, Kinder", laesst er ihn rufen, "schweigt doch! Ihr ueberhaeuft mich ja mit Liebkosungen. Sohn, Bruder, Vetter, Diener, alles schmeichelt mir, bloss weil ich einmal ein bisschen freundlich aussehe. Bin ich's denn, oder bin ich's nicht? Ich werde wieder recht jung, Bruder! Es ist doch huebsch, wenn man geliebt wird. Ich will auch gewiss so bleiben. Ich wuesste nicht, wenn ich so eine vergnuegte Stunde gehabt haette." Und Frontin sagt: "Nun, unser Alter stirbt gewiss bald.[3] Die Veraenderung ist gar zu ploetzlich." Jawohl; aber das Sprichwort und der gemeine Glaube von den unvermuteten Veraenderungen, die einen nahen Tod vorbedeuten, soll doch wohl nicht im Ernste hier etwas rechtfertigen?

——Fussnote

[1]
    —De. Ne nimium modo
      Bonae tuae istae nos rationes, Micio,
      Et tuus iste animus aequus subvertat. Mi. Tace;
      Non fiet. Mitte jam istaec; da te hodie mihi:
      Exporge frontem. De. Scilicet ita tempus fert,
      Faciendum est: ceterum rus cras cum filio
      Cum primo lucu ibo hinc. Mi. De nocte censeo:
      Hodie modo hilarum fac te. De. Et istam psaltriam
      Una illuc mecum hinc abstraham. Mi. Pugnaveris.
      Eo pacto prorsum illic alligaris filium.
      Modo facito, ut illam serves. De. Ego istuc videro,
      Atque ibi favillae plena, fumi, ac pollinis,
      Coquendo sit faxo et molendo; praeter haec
      Meridie ipso faciam ut stipulam colligat:
      Tam excoctam reddam atque atram, quam carbo est. Mi. Placet,
      Nunc mihi videre sapere. Atque equidem filium,
      Tum etiam si nolit, cogam, ut cum illa una cubet.
    De. Derides? fortunatus, qui istoc animo sies:
      Ego sentio. Mi. Ah pergisne? De. Jam jam desino.

[2] Halle 1753. Wunders halben erlaube man mir, die Stelle daraus anzufuehren, die ich eben itzt uebersetzt habe. Was mir hier aus der Feder geflossen, ist weit entfernt, so zu sein, wie es sein sollte; aber man wird doch ungefaehr daraus sehen koennen, worin das Verdienst besteht, das ich dieser Uebersetzung absprechen muss.

"Demea. Aber mein lieber Bruder, dass uns nur nicht deine schoenen Gruende, und dein gleichgueltiges Gemuete sie ganz und gar ins Verderben stuerzen.

Micio. Ach, schweig doch nur, das wird nicht geschehen. Lass das immer sein. Ueberlass dich heute einmal mir. Weg mit den Runzeln von der Stirne.

Demea. Ja, ja, die Zeit bringt es so mit sich, ich muss es wohl tun.
Aber mit anbrechendem Tage gehe ich wieder mit meinem Sohne aufs Land.

Micio. Ich werde dich nicht aufhalten, und wenn du die Nacht wieder gehn wil1st; sei doch heute nur einmal froehlich!

Demea. Die Saengerin will ich zugleich mit herausschleppen.

Micio. Da tust du wohl; dadurch wirst du machen, dass dein Sohn ohne sie nicht wird leben koennen. Aber sorge auch, dass du sie gut verhaeltst!

Demea. Dafuer werde ich schon sorgen. Sie soll mir kochen, und Rauch, Asche und Mehl sollen sie schon kenntlich machen. Ausserdem soll sie mir in der groessten Mittagshitze gehen und Aehren lesen, und dann will ich sie ihm so verbrannt und so schwarz, wie eine Kohle, ueberliefern.

Micio. Das gefaellt mir; nun seh' ich recht ein, dass du weislich hande1st; aber dann kannst du auch deinen Sohn mit Gewalt zwingen, dass er sie mit zu Bette nimmt.

Demea. Lachst du mich etwa aus? Du bist gluecklich, dass du ein solches Gemuet hast; aber ich fuehle.

Micio. Ach! haeltst du noch nicht inne?

Demea. Ich schweige schon."

So soll es ohne Zweifel heissen, und nicht: stirbt ohnmoeglich bald.
Fuer viele von unsern Schauspielern ist es noetig, auch solche
Druckfehler anzumerken.

——Fussnote

Dreiundsiebzigstes Stueck
Den 12. Januar 1768

Die Schlussrede des Demea bei dem Terenz geht aus einem ganz andern Tone. "Wenn euch nur das gefaellt: nun so macht, was ihr wollt, ich will mich um nichts mehr bekuemmern!" Er ist es ganz und gar nicht, der sich nach der Weise der andern, sondern die andern sind es, die sich nach seiner Weise kuenftig zu bequemen versprechen.—Aber wie koemmt es, duerfte man fragen, dass die letzten Szenen mit dem Lysimon in unsern deutschen "Bruedern" bei der Vorstellung gleichwohl immer so wohl aufgenommen werden? Der bestaendige Rueckfall des Lysimon in seinen alten Charakter macht sie komisch: aber bei diesem haette es auch bleiben muessen.—Ich verspare das Weitere, bis zu einer zweiten Vorstellung des Stuecks.

"Das Orakel" vom Saint-Foix, welches diesen Abend den Beschluss machte, ist allgemein bekannt, und allgemein beliebt.

Den sechsundvierzigsten Abend (montags, den 20. Julius) ward "Miss
Sara"[1], und den siebenundvierzigsten, Tages darauf, "Nanine"[2]
wiederholt. Auf die "Nanine" folgte "Der unvermutete Ausgang" vom
Marivaux, in einem Akte.

Oder, wie es woertlicher und besser heissen wuerde: "Die unvermutete Entwicklung". Denn es ist einer von denen Titeln, die nicht sowohl den Inhalt anzeigen, als vielmehr gleich anfangs gewissen Einwendungen vorbauen sollen, die der Dichter gegen seinen Stoff, oder dessen Behandlung, vorhersieht. Ein Vater will seine Tochter an einen jungen Menschen verheiraten, den sie nie gesehen hat. Sie ist mit einem andern schon halb richtig, aber dieses auch schon seit so langer Zeit, dass es fast gar nicht mehr richtig ist. Unterdessen moechte sie ihn doch noch lieber, als einen ganz Unbekannten, und spielt sogar, auf sein Angeben, die Rolle einer Wahnwitzigen, um den neuen Freier abzuschrecken. Dieser koemmt; aber zum Gluecke ist es ein so schoener liebenswuerdiger Mann, dass sie gar bald ihre Verstellung vergisst und in aller Geschwindigkeit mit ihm einig wird. Man gebe dem Stuecke einen andern Titel, und alle Leser und Zuschauer werden ausrufen: das ist auch sehr unerwartet! Einen Knoten, den man in zehn Szenen so muehsam geschuerzt hat, in einer einzigen nicht zu loesen, sondern mit eins zu zerhauen! Nun aber ist dieser Fehler in dem Titel selbst angekuendiget, und durch diese Ankuendigung gewissermassen gerechtfertiget. Denn, wenn es nun wirklich einmal so einen Fall gegeben hat: warum soll er nicht auch vorgestellt werden koennen? Er sahe ja in der Wirklichkeit einer Komoedie so aehnlich: und sollte er denn eben deswegen um so unschicklicher zur Komoedie sein?—Nach der Strenge, allerdings: denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen Leben wahre Komoedien nennet, findet man in der Komoedie wahren Begebenheiten nicht sehr gleich; und darauf kaeme es doch eigentlich an.

Aber Ausgang und Entwicklung, laufen beide Worte nicht auf eins hinaus? Nicht voellig. Der Ausgang ist, dass Jungfer Argante den Erast und nicht den Dorante heiratet, und dieser ist hinlaenglich vorbereitet. Denn ihre Liebe gegen Doranten ist so lau, so wetterlaeunisch; sie liebt ihn, weil sie seit vier Jahren niemanden gesehen hat als ihn; manchmal liebt sie ihn mehr, manchmal weniger, manchmal gar nicht, so wie es koemmt; hat sie ihn lange nicht gesehen, so koemmt er ihr liebenswuerdig genug vor; sieht sie ihn alle Tage, so macht er ihr Langeweile; besonders stossen ihr dann und wann Gesichter auf, gegen welche sie Dorantens Gesicht so kahl, so unschmackhaft, so ekel findet! Was brauchte es also weiter, um sie ganz von ihm abzubringen, als dass Erast, den ihr ihr Vater bestimmte, ein solches Gesicht ist? Dass sie diesen also nimmt, ist so wenig unerwartet, dass es vielmehr sehr unerwartet sein wuerde, wenn sie bei jenem bliebe. Entwicklung hingegen ist ein mehr relatives Wort; und eine unerwartete Entwicklung involvieret eine Verwicklung, die ohne Folgen bleibt, von der der Dichter auf einmal abspringt, ohne sich um die Verlegenheit zu bekuemmern, in der er einen Teil seiner Personen laesst. Und so ist es hier: Peter wird es mit Doranten schon ausmachen; der Dichter empfiehlt sich ihm.

Den achtundvierzigsten Abend (mittewochs, den 22. Julius) ward das
Trauerspiel des Herrn Weisse "Richard der Dritte" aufgefuehrt: zum
Beschlusse "Herzog Michel".

Dieses Stueck ist ohnstreitig eines von unsern betraechtlichsten Originalen; reich an grossen Schoenheiten, die genugsam zeigen, dass, die Fehler, mit welchen sie verwebt sind, zu vermeiden, im geringsten nicht ueber die Kraefte des Dichters gewesen waere, wenn er sich diese Kraefte nur selbst haette zutrauen wollen.

Schon Shakespeare hatte das Leben und den Tod des dritten Richards auf die Buehne gebracht: aber Herr Weisse erinnerte sich dessen nicht eher, als bis sein Werk bereits fertig war. "Sollte ich also", sagt er, "bei der Vergleichung schon viel verlieren: so wird man doch wenigstens finden, dass ich kein Plagium begangen habe;—aber vielleicht waere es ein Verdienst gewesen, an dem Shakespeare ein Plagium zu begehen."

Vorausgesetzt, dass man eines an ihm begehen kann. Aber was man von dem Homer gesagt hat, es lasse sich dem Herkules eher seine Keule, als ihm ein Vers abringen, das laesst sich vollkommen auch vom Shakespeare sagen. Auf die geringste von seinen Schoenheiten ist ein Stempel gedruckt, welcher gleich der ganzen Welt zuruft: ich bin Shakespeares! Und wehe der fremden Schoenheit, die das Herz hat, sich neben ihr zu stellen!

Shakespeare will studiert, nicht gepluendert sein. Haben wir Genie, so muss uns Shakespeare das sein, was dem Landschaftsmaler die Camera obscura ist: er sehe fleissig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen Faellen auf eine Flaeche projektieret; aber er borge nichts daraus.

Ich wuesste auch wirklich in dem ganzen Stuecke des Shakespeares keine einzige Szene, sogar keine einzige Tirade, die Herr Weisse so haette brauchen koennen, wie sie dort ist. Alle, auch die kleinsten Teile beim Shakespeare, sind nach den grossen Massen des historischen Schauspiels zugeschnitten, und dieses verhaelt sich zu der Tragoedie franzoesischen Geschmacks ungefaehr wie ein weitlaeuftiges Freskogemaelde gegen ein Miniaturbildchen fuer einen Ring. Was kann man zu diesem aus jenem nehmen, als etwa ein Gesicht, eine einzelne Figur, hoechstens eine kleine Gruppe, die man sodann als ein eigenes Ganze ausfuehren muss? Ebenso wuerden aus einzeln Gedanken beim Shakespeare ganze Szenen, und aus einzeln Szenen ganze Aufzuege werden muessen. Denn wenn man den Aermel aus dem Kleide eines Riesen fuer einen Zwerg recht nutzen will, so muss man ihm nicht wieder einen Aermel, sondern einen ganzen Rock daraus machen.

Tut man aber auch dieses, so kann man wegen der Beschuldigung des Plagiums ganz ruhig sein. Die meisten werden in dem Faden die Flocke nicht erkennen, woraus er gesponnen ist. Die wenigen, welche die Kunst verstehen, verraten den Meister nicht und wissen, dass ein Goldkorn so kuenstlich kann getrieben sein, dass der Wert der Form den Wert der Materie bei weitem uebersteiget.

Ich fuer mein Teil bedauere es also wirklich, dass unserm Dichter Shakespeares Richard so spaet beigefallen. Er haette ihn koennen gekannt haben und doch eben so original geblieben sein, als er itzt ist: er haette ihn koennen genutzt haben, ohne dass eine einzige uebergetragene Gedanke davon gezeugt haette.

Waere mir indes eben das begegnet, so wuerde ich Shakespeares Werk wenigstens nachher als einen Spiegel genutzt haben, um meinem Werke alle die Flecken abzuwischen, die mein Auge unmittelbar darin zu erkennen nicht vermoegend gewesen waere.—Aber woher weiss ich, dass Herr Weisse dieses nicht getan? Und warum sollte er es nicht getan haben?

Kann es nicht ebenso wohl sein, dass er das, was ich fuer dergleichen Flecken halte, fuer keine haelt? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er mehr recht hat, als ich? Ich bin ueberzeugt, dass das Auge des Kuenstlers groesstenteils viel scharfsichtiger ist, als das scharfsichtigste seiner Betrachter. Unter zwanzig Einwuerfen, die ihm diese machen, wird er sich von neunzehn erinnern, sie waehrend der Arbeit sich selbst gemacht und sie auch schon sich selbst beantwortet zu haben.

Gleichwohl wird er nicht ungehalten sein, sie auch von andern machen zu hoeren: denn er hat es gern, dass man ueber sein Werk urteilet; schal oder gruendlich, links oder rechts, gutartig oder haemisch, alles gilt ihm gleich; und auch das schalste, linkste, haemischste Urteil ist ihm lieber, als kalte Bewunderung. Jenes wird er auf die eine oder die andre Art in seinen Nutzen zu verwenden wissen: aber was faengt er mit dieser an? Verachten moechte er die guten ehrlichen Leute nicht gern, die ihn fuer so etwas Ausserordentliches halten: und doch muss er die Achseln ueber sie zucken. Er ist nicht eitel, aber er ist gemeiniglich stolz; und aus Stolz moechte er zehnmal lieber einen unverdienten Tadel als ein unverdientes Lob auf sich sitzen lassen.—

Man wird glauben, welche Kritik ich hiermit vorbereiten will.— Wenigstens nicht bei dem Verfasser,—hoechstens nur bei einem oder dem andern Mitsprecher. Ich weiss nicht, wo ich es juengst gedruckt lesen musste, dass ich die "Amalia" meines Freundes auf Unkosten seiner uebrigen Lustspiele gelobt haette.[3]—Auf Unkosten? aber doch wenigstens der fruehern? Ich goenne es Ihnen, mein Herr, dass man niemals Ihre aeltern Werke so moege tadeln koennen. Der Himmel bewahre Sie vor dem tueckischen Lobe: dass Ihr letztes immer Ihr bestes ist!—

——Fussnote

[1] S. den 11. Abend.

[2] S. den 27. und 33. und 37. Abend.

[3] Eben erinnere ich mich noch: in des Herrn Schmids "Zusaetzen zu seiner Theorie der Poesie", S. 45.

——Fussnote

Vierundsiebzigstes Stueck
Den 15. Januar 1768

Zur Sache.—Es ist vornehmlich der Charakter des Richards, worueber ich mir die Erklaerung des Dichters wuenschte.

Aristoteles wuerde ihn schlechterdings verworfen haben; zwar mit dem Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur auch mit seinen Gruenden zu werden wuesste.

Die Tragoedie, nimmt er an, soll Mitleid und Schrecken erregen: und daraus folgert er, dass der Held derselben weder ein ganz tugendhafter Mann noch ein voelliger Boesewicht sein muesse. Denn weder mit des einen noch mit des andern Ungluecke lasse sich jener Zweck erreichen.

Raeume ich dieses ein: so ist "Richard der Dritte" eine Tragoedie, die ihres Zweckes verfehlt. Raeume ich es nicht ein: so weiss ich gar nicht mehr, was eine Tragoedie ist.

Denn Richard der Dritte, so wie ihn Herr Weisse geschildert hat, ist unstreitig das groesste, abscheulichste Ungeheuer, das jemals die Buehne getragen. Ich sage, die Buehne: dass es die Erde wirklich getragen habe, daran zweifle ich.

Was fuer Mitleid kann der Untergang dieses Ungeheuers erwecken? Doch, das soll er auch nicht; der Dichter hat es darauf nicht angelegt; und es sind ganz andere Personen in seinem Werke, die er zu Gegenstaenden unsers Mitleids gemacht hat.

Aber Schrecken?—Sollte dieser Boesewicht, der die Kluft, die sich zwischen ihm und dem Throne befunden, mit lauter Leichen gefuellet, mit Leichen derer, die ihm das Liebste in der Welt haetten sein muessen; sollte dieser blutduerstige, seines Blutdurstes sich ruehmende, ueber seine Verbrechen sich kitzelnde Teufel nicht Schrecken in vollem Masse erwecken?

Wohl erweckt er Schrecken: wenn unter Schrecken das Erstaunen ueber unbegreifliche Missetaten, das Entsetzen ueber Bosheiten, die unsern Begriff uebersteigen, wenn darunter der Schauder zu verstehen ist, der uns bei Erblickung vorsaetzlicher Greuel, die mit Lust begangen werden, ueberfaellt. Von diesem Schrecken hat mich Richard der Dritte mein gutes Teil empfinden lassen.

Aber dieses Schrecken ist so wenig eine von den Absichten des Trauerspiels, dass es vielmehr die alten Dichter auf alle Weise zu mindern suchten, wenn ihre Personen irgendein grosses Verbrechen begehen mussten. Sie schoben oefters lieber die Schuld auf das Schicksal, machten das Verbrechen lieber zu einem Verhaengnisse einer raechenden Gottheit, verwandelten lieber den freien Menschen in eine Maschine: ehe sie uns bei der graesslichen Idee wollten verweilen lassen, dass der Mensch von Natur einer solchen Verderbnis faehig sei.

Bei den Franzosen fuehrt Crebillon den Beinamen des Schrecklichen. Ich fuerchte sehr, mehr von diesem Schrecken, welches in der Tragoedie nicht sein sollte, als von dem echten, das der Philosoph zu dem Wesen der Tragoedie rechnet.

Und dieses—haette man gar nicht Schrecken nennen sollen. Das Wort, welches Aristoteles braucht, heisst Furcht: Mitleid und Furcht, sagt er, soll die Tragoedie erregen; nicht Mitleid und Schrecken. Es ist wahr, das Schrecken ist eine Gattung der Furcht; es ist eine ploetzliche, ueberraschende Furcht. Aber eben dieses Ploetzliche, dieses Ueberraschende, welches die Idee desselben einschliesst, zeiget deutlich, dass die, von welchen sich hier die Einfuehrung des Wortes "Schrecken", anstatt des Wortes "Furcht" herschreibet, nicht eingesehen haben, was fuer eine Furcht Aristoteles meine.—Ich moechte dieses Weges sobald nicht wieder kommen: man erlaube mir also einen kleinen Ausschweif.

"Das Mitleid", sagt Aristoteles, "verlangt einen, der unverdient leidet: und die Furcht einen unsersgleichen. Der Boesewicht ist weder dieses noch jenes: folglich kann auch sein Unglueck weder das erste noch das andere erregen."[1]

Diese Furcht, sage ich, nennen die neuern Ausleger und Uebersetzer
Schrecken, und es gelingt ihnen, mit Hilfe dieses Worttausches, dem
Philosophen die seltsamsten Haendel von der Welt zu machen.

"Man hat sich", sagt einer aus der Menge,[2] "ueber die Erklaerung des Schreckens nicht vereinigen koennen; und in der Tat enthaelt sie in jeder Betrachtung ein Glied zuviel, welches sie an ihrer Allgemeinheit hindert und sie allzusehr einschraenkt. Wenn Aristoteles durch den Zusatz 'unsersgleichen' nur bloss die Aehnlichkeit der Menschheit verstanden hat, weil naemlich der Zuschauer und die handelnde Person beide Menschen sind, gesetzt auch, dass sich unter ihrem Charakter, ihrer Wuerde und ihrem Range ein unendlicher Abstand befaende: so war dieser Zusatz ueberfluessig; denn er verstand sich von selbst. Wenn er aber die Meinung hatte, dass nur tugendhafte Personen, oder solche, die einen vergeblichen Fehler an sich haetten, Schrecken erregen koennten: so hatte er unrecht; denn die Vernunft und die Erfahrung ist ihm sodann entgegen. Das Schrecken entspringt ohnstreitig aus einem Gefuehl der Menschlichkeit: denn jeder Mensch ist ihm unterworfen, und jeder Mensch erschuettert sich, vermoege dieses Gefuehls, bei dem widrigen Zufalle eines andern Menschen. Es ist wohl moeglich, dass irgend jemand einfallen koennte, dieses von sich zu leugnen: allein dieses wuerde allemal eine Verleugnung seiner natuerlichen Empfindungen, und also eine blosse Prahlerei aus verderbten Grundsaetzen, und kein Einwurf sein.—Wenn nun auch einer lasterhaften Person, auf die wir eben unsere Aufmerksamkeit wenden, unvermutet ein widriger Zufall zustoesst, so verlieren wir den Lasterhaften aus dem Gesichte und sehen bloss den Menschen. Der Anblick des menschlichen Elendes ueberhaupt macht uns traurig, und die ploetzliche traurige Empfindung, die wir sodann haben, ist das Schrecken."

Ganz recht: aber nur nicht an der rechten Stelle! Denn was sagt das wider den Aristoteles? Nichts. Aristoteles denkt an dieses Schrecken nicht, wenn er von der Furcht redet, in die uns nur das Unglueck unsersgleichen setzen koenne. Dieses Schrecken, welches uns bei der ploetzlichen Erblickung eines Leidens befaellt, das einem andern bevorstehet, ist ein mitleidiges Schrecken und also schon unter dem Mitleide begriffen. Aristoteles wuerde nicht sagen, Mitleiden und Furcht; wenn er unter der Furcht weiter nichts als eine blosse Modifikation des Mitleids verstuende.

"Das Mitleid", sagt der Verfasser der Briefe ueber die Empfindungen,[3] "ist eine vermischte Empfindung, die aus der Liebe zu einem Gegenstande, und aus der Unlust ueber dessen Unglueck zusammengesetzt ist. Die Bewegungen, durch welche sich das Mitleid zu erkennen gibt, sind von den einfachen Symptomen der Liebe, sowohl als der Unlust, unterschieden, denn das Mitleid ist eine Erscheinung. Aber wie vielerlei kann diese Erscheinung werden! Man aendre nur in dem bedauerten Unglueck die einzige Bestimmung der Zeit: so wird sich das Mitleiden durch ganz andere Kennzeichen zu erkennen geben. Mit der Elektra, die ueber die Urne ihres Bruders weinet, empfinden wir ein mitleidiges Trauern, denn sie haelt das Unglueck fuer geschehen und bejammert ihren gehabten Verlust. Was wir bei den Schmerzen des Philoktets fuehlen, ist gleichfalls Mitleiden, aber von einer etwas andern Natur; denn die Qual, die dieser Tugendhafte auszustehen hat, ist gegenwaertig und ueberfaellt ihn vor unsern Augen. Wenn aber Oedip sich entsetzt, indem das grosse Geheimnis sich ploetzlich entwickelt; wenn Monime erschrickt, als sie den eifersuechtigen Mithridates sich entfaerben sieht; wenn die tugendhafte Desdemona sich fuerchtet, da sie ihren sonst zaertlichen Othello so drohend mit ihr reden hoeret: was empfinden wir da? Immer noch Mitleiden! Aber mitleidiges Entsetzen, mitleidige Furcht, mitleidiges Schrecken. Die Bewegungen sind verschieden, allein das Wesen der Empfindungen ist in allen diesen Faellen einerlei. Denn, da jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden ist, uns an die Stelle des Geliebten zu setzen: so muessen wir alle Arten von Leiden mit der geliebten Person teilen, welches man sehr nachdruecklich Mitleiden nennet. Warum sollten also nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Eifersucht, Rachbegier, und ueberhaupt alle Arten von unangenehmen Empfindungen, sogar den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden entstehen koennen?—Man sieht hieraus, wie gar ungeschickt der groesste Teil der Kunstrichter die tragischen Leidenschaften in Schrecken und Mitleiden einteilet. Schrecken und Mitleiden! Ist denn das theatralische Schrecken kein Mitleiden? Fuer wen erschrickt der Zuschauer, wenn Merope auf ihren eignen Sohn den Dolch ziehet? Gewiss nicht fuer sich, sondern fuer den Aegisth, dessen Erhaltung man so sehr wuenschet, und fuer die betrogne Koenigin, die ihn fuer den Moerder ihres Sohnes ansiehet. Wollen wir aber nur die Unlust ueber das gegenwaertige Uebel eines andern Mitleiden nennen: so muessen wir nicht nur das Schrecken, sondern alle uebrige Leidenschaften, die uns von einem andern mitgeteilet werden, von dem eigentlichen Mitleiden unterscheiden."—

——Fussnote

[1] Im 13. Kapitel der "Dichtkunst".

[2] Hr. S. in der Vorrede zu S. "Komischen Theater", S. 35.

[3] "Philosophische Schriften" des Herrn Moses Mendelssohn, zweiter Teil, S. 4.

——Fussnote

Fuenfundsiebzigstes Stueck
Den 19. Januar 1768

Diese Gedanken sind so richtig, so klar, so einleuchtend, dass uns duenkt, ein jeder haette sie haben koennen und haben muessen. Gleichwohl will ich die scharfsinnigen Bemerkungen des neuen Philosophen dem alten nicht unterschieben; ich kenne jenes Verdienste um die Lehre von den vermischten Empfindungen zu wohl; die wahre Theorie derselben haben wir nur ihm zu danken. Aber was er so vortrefflich auseinandergesetzt hat, das kann doch Aristoteles im ganzen ungefaehr empfunden haben: wenigstens ist es unleugbar, dass Aristoteles entweder muss geglaubt haben, die Tragoedie koenne und solle nichts als das eigentliche Mitleid, nichts als die Unlust ueber das gegenwaertige Uebel eines andern erwecken, welches ihm schwerlich zuzutrauen; oder er hat alle Leidenschaften ueberhaupt, die uns von einem andern mitgeteilet werden, unter dem Worte Mitleid begriffen.

Denn er, Aristoteles, ist es gewiss nicht, der die mit Recht getadelte Einteilung der tragischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch uebersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Uebel eines andern, fuer diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Aehnlichkeit mit der leidenden Person fuer uns selbst entspringt; es ist die Furcht, dass die Ungluecksfaelle, die wir ueber diese verhaengst sehen, uns selbst treffen koennen; es ist die Furcht, dass wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden koennen. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.

Aristoteles will ueberall aus sich selbst erklaert werden. Wer uns einen neuen Kommentar ueber seine "Dichtkunst" liefern will, welcher den Dacierschen weit hinter sich laesst, dem rate ich, vor allen Dingen die Werke des Philosophen vom Anfange bis zum Ende zu lesen. Er wird Aufschluesse fuer die Dichtkunst finden, wo er sich deren am wenigsten vermutet; besonders muss er die Buecher der "Rhetorik" und "Moral" studieren. Man sollte zwar denken, diese Aufschluesse muessten die Scholastiker, welche die Schriften des Aristoteles an den Fingern wussten, laengst gefunden haben. Doch die "Dichtkunst" war gerade diejenige von seinen Schriften, um die sie sich am wenigsten bekuemmerten. Dabei fehlten ihnen andere Kenntnisse, ohne welche jene Aufschluesse wenigstens nicht fruchtbar werden konnten: sie kannten das Theater und die Meisterstuecke desselben nicht.

Die authentische Erklaerung dieser Furcht, welche Aristoteles dem tragischen Mitleid beifueget, findet sich in dem fuenften und achten Kapitel des zweiten Buchs seiner "Rhetorik". Es war gar nicht schwer, sich dieser Kapitel zu erinnern; gleichwohl hat sich vielleicht keiner seiner Ausleger ihrer erinnert, wenigstens hat keiner den Gebrauch davon gemacht, der sich davon machen laesst. Denn auch die, welche ohne sie einsahen, dass diese Furcht nicht das mitleidige Schrecken sei, haetten noch ein wichtiges Stueck aus ihnen zu lernen gehabt: die Ursache naemlich, warum der Stagirit dem Mitleid hier die Furcht, und warum nur die Furcht, warum keine andere Leidenschaft, und warum nicht mehrere Leidenschaften beigesellet habe. Von dieser Ursache wissen sie nichts, und ich moechte wohl hoeren, was sie aus ihrem Kopfe antworten wuerden, wenn man sie fragte: warum z.E. die Tragoedie nicht ebensowohl Mitleid und Bewunderung, als Mitleid und Furcht, erregen koenne und duerfe?

Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem Mitleiden gemacht hat. Er glaubte naemlich, dass das Uebel, welches der Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, notwendig von der Beschaffenheit sein muesse, dass wir es auch fuer uns selbst, oder fuer eines von den Unsrigen, zu befuerchten haetten. Wo diese Furcht nicht sei, koenne auch kein Mitleiden stattfinden. Denn weder der, den das Unglueck so tief herabgedrueckt habe, dass er weiter nichts fuer sich zu fuerchten saehe, noch der, welcher sich so vollkommen gluecklich glaube, dass er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglueck zustossen koenne, weder der Verzweifelnde noch der Uebermuetige, pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erklaeret daher auch das Fuerchterliche und das Mitleidswuerdige, eines durch das andere. Alles das, sagt er, ist uns fuerchterlich, was, wenn es einem andern begegnet waere, oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken wuerde:[1] und alles das finden wir mitleidswuerdig, was wir fuerchten wuerden, wenn es uns selbst bevorstuende. Nicht genug also, dass der Unglueckliche, mit dem wir Mitleiden haben sollen, sein Unglueck nicht verdiene, ob er es sich schon durch irgendeine Schwachheit zugezogen: seine gequaelte Unschuld, oder vielmehr seine zu hart heimgesuchte Schuld, sei fuer uns verloren, sei nicht vermoegend, unser Mitleid zu erregen, wenn wir keine Moeglichkeit saehen, dass uns sein Leiden auch treffen koenne. Diese Moeglichkeit aber finde sich alsdenn und koenne zu einer grossen Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn der Dichter nicht schlimmer mache, als wir gemeiniglich zu sein pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umstaenden wuerden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, dass wir haetten denken und handeln muessen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, dass unser Schicksal gar leicht dem seinigen ebenso aehnlich werden koenne, als wir ihm zu sein uns selbst fuehlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe.

So dachte Aristoteles von dem Mitleiden, und nur hieraus wird die wahre Ursache begreiflich, warum er in der Erklaerung der Tragoedie, naechst dem Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob diese Furcht hier eine besondere, von dem Mitleiden unabhaengige Leidenschaft sei, welche bald mit bald ohne dem Mitleid, sowie das Mitleid bald mit bald ohne ihr, erreget werden koenne; welches die Missdeutung des Corneille war: sondern weil, nach seiner Erklaerung des Mitleids, dieses die Furcht notwendig einschliesst; weil nichts unser Mitleid erregt, als was zugleich unsere Furcht erwecken kann.

Corneille hatte seine Stuecke schon alle geschrieben, als er sich hinsetzte, ueber die Dichtkunst des Aristoteles zu kommentieren[2]. Er hatte funfzig Jahre fuer das Theater gearbeitet: und nach dieser Erfahrung wuerde er uns unstreitig vortreffliche Dinge ueber den alten dramatischen Kodex haben sagen koennen, wenn er ihn nur auch waehrend der Zeit seiner Arbeit fleissiger zu Rate gezogen haette. Allein dieses scheinet er hoechstens nur in Absicht auf die mechanischen Regeln der Kunst getan zu haben. In den wesentlichem liess er sich um ihn unbekuemmert, und als er am Ende fand, dass er wider ihn verstossen, gleichwohl nicht wider ihn verstossen haben wollte: so suchte er sich durch Auslegungen zu helfen und liess seinen vorgeblichen Lehrmeister Dinge sagen, an die er offenbar nie gedacht hatte.

Corneille hatte Maertyrer auf die Buehne gebracht und sie als die vollkommensten und untadelhaftesten Personen geschildert; er hatte die abscheulichsten Ungeheuer in dem Prusias, in dem Phokas, in der Kleopatra aufgefuehrt: und von beiden Gattungen behauptet Aristoteles, dass sie zur Tragoedie unschicklich waeren, weil beide weder Mitleid noch Furcht erwecken koennten. Was antwortet Corneille hierauf? Wie faengt er es an, damit bei diesem Widerspruche weder sein Ansehen, noch das Ansehen des Aristoteles leiden moege? "Oh", sagte er, "mit dem Aristoteles koennen wir uns hier leicht vergleichen.[3] Wir duerfen nur annehmen, er habe eben nicht behaupten wollen, dass beide Mittel zugleich, sowohl Furcht als Mitleid, noetig waeren, um die Reinigung der Leidenschaften zu bewirken, die er zu dem letzten Endzwecke der Tragoedie macht: sondern nach seiner Meinung sei auch eines zureichend.—Wir koennen diese Erklaerung", faehrt er fort, "aus ihm selbst bekraeftigen, wenn wir die Gruende recht erwaegen, welche er von der Ausschliessung derjenigen Begebenheiten, die er in den Trauerspielen missbilliget, gibt. Er sagt niemals: dieses oder jenes schickt sich in die Tragoedie nicht, weil es bloss Mitleiden und keine Furcht erweckt; oder dieses ist daselbst unertraeglich, weil es bloss die Furcht erweckt, ohne das Mitleid zu erregen. Nein; sondern er verwirft sie deswegen, weil sie, wie er sagt, weder Mitleid noch Furcht zuwege bringen, und gibt uns dadurch zu erkennen, dass sie ihm deswegen nicht gefallen, weil ihnen sowohl das eine als das andere fehlet, und dass er ihnen seinen Beifall nicht versagen wuerde, wenn sie nur eines von beiden wirkten."

——Fussnote

[1] [Greek: Os d' aplos eipein, phobera estin, osa eph' eteron gignomena, ae mellonta, eleeina estin.] Ich weiss nicht, was dem Aemilius Portus (in seiner Ausgabe der Rhetorik, Spirae 1598) eingekommen ist, dieses zu uebersetzen: Denique ut simpliciter loquar, formidabilia sunt, quaecunque simulac in aliorum potestatem venerunt, vel ventura sunt, miseranda sunt. Es muss schlechtweg heissen: quaecunque simulac aliis evenerunt, vel eventura sunt.

[2] Je hazarderai quelque chose sur cinquante ans de travail pour la scene, sagt er in seiner Abhandlung ueber das Drama. Sein erstes Stueck "Melite" war von 1625, und sein letztes "Surena" von 1675; welches gerade die funfzig Jahr ausmacht, so dass es gewiss ist, dass er bei den Auslegungen des Aristoteles auf alle seine Stuecke ein Auge haben konnte und hatte.

[3] Il est aise de nous accommoder avec Aristote etc.

——Fussnote

Sechsundsiebzigstes Stueck
Den 22. Januar 1768

Aber das ist grundfalsch!—Ich kann mich nicht genug wundern, wie Dacier, der doch sonst auf die Verdrehungen ziemlich aufmerksam war, welche Corneille von dem Texte des Aristoteles zu seinem Besten zu machen suchte, diese groesste von allen uebersehen koennen. Zwar, wie konnte er sie nicht uebersehen, da es ihm nie einkam, des Philosophen Erklaerung vom Mitleid zu Rate zu ziehen?—Wie gesagt, es ist grundfalsch, was sich Corneille einbildet. Aristoteles kann das nicht gemeint haben, oder man muesste glauben, dass er seine eigene Erklaerungen vergessen koennen, man muesste glauben, dass er sich auf die handgreiflichste Weise widersprechen koennen. Wenn, nach seiner Lehre, kein Uebel eines andern unser Mitleid erreget, was wir nicht fuer uns selbst fuerchten: so konnte er mit keiner Handlung in der Tragoedie zufrieden sein, welche nur Mitleid und keine Furcht erreget; denn er hielt die Sache selbst fuer unmoeglich; dergleichen Handlungen existierten ihm nicht; sondern sobald sie unser Mitleid zu erwecken faehig waeren, glaubte er, muessten sie auch Furcht fuer uns erwecken; oder vielmehr, nur durch diese Furcht erweckten sie Mitleid. Noch weniger konnte er sich die Handlung einer Tragoedie vorstellen, welche Furcht fuer uns erregen koenne, ohne zugleich unser Mitleid zu erwecken: denn er war ueberzeugt, dass alles, was uns Furcht fuer uns selbst errege, auch unser Mitleid erwecken muesse, sobald wir andere damit bedrohet oder betroffen erblickten; und das ist eben der Fall der Tragoedie, wo wir alle das Uebel, welches wir fuerchten, nicht uns, sondern anderen begegnen sehen.

Es ist wahr, wenn Aristoteles von den Handlungen spricht, die sich in die Tragoedie nicht schicken, so bedient er sich mehrmalen des Ausdrucks von ihnen, dass sie weder Mitleid noch Furcht erwecken. Aber desto schlimmer, wenn sich Corneille durch dieses weder noch verfuehren lassen. Diese disjunktive Partikeln involvieren nicht immer, was er sie involvieren laesst. Denn wenn wir zwei oder mehrere Dinge von einer Sache durch sie verneinen, so koemmt es darauf an, ob sich diese Dinge ebensowohl in der Natur voneinander trennen lassen, als wir sie in der Abstraktion und durch den symbolischen Ausdruck trennen koennen, wenn die Sache demohngeachtet noch bestehen soll, ob ihr schon das eine oder das andere von diesen Dingen fehlt. Wenn wir z.E. von einem Frauenzimmer sagen, sie sei weder schoen noch witzig: so wollen wir allerdings sagen, wir wuerden zufrieden sein, wenn sie auch nur eines von beiden waere; denn Witz und Schoenheit lassen sich nicht bloss in Gedanken trennen, sondern sie sind wirklich getrennet. Aber wenn wir sagen: "dieser Mensch glaubt weder Himmel noch Hoelle", wollen wir damit auch sagen: dass wir zufrieden sein wuerden, wenn er nur eines von beiden glaubte, wenn er nur den Himmel und keine Hoelle, oder nur die Hoelle und keinen Himmel glaubte? Gewiss nicht: denn wer das eine glaubt, muss notwendig auch das andere glauben; Himmel und Hoelle, Strafe und Belohnung sind relativ; wenn das eine ist, ist auch das andere. Oder, um mein Exempel aus einer verwandten Kunst zu nehmen; wenn wir sagen, dieses Gemaelde taugt nichts, denn es hat weder Zeichnung noch Kolorit: wollen wir damit sagen, dass ein gutes Gemaelde sich mit einem von beiden begnuegen koenne?—Das ist so klar!

Allein, wie, wenn die Erklaerung, welche Aristoteles von dem Mitleiden gibt, falsch waere? Wie, wenn wir auch mit Uebeln und Ungluecksfaellen Mitleid fuehlen koennten, die wir fuer uns selbst auf keine Weise zu besorgen haben?

Es ist wahr: es braucht unserer Furcht nicht, um Unlust ueber das physikalische Uebel eines Gegenstandes zu empfinden, den wir lieben. Diese Unlust entstehet bloss aus der Vorstellung der Unvollkommenheit, so wie unsere Liebe aus der Vorstellung der Vollkommenheiten desselben; und aus dem Zusammenflusse dieser Lust und Unlust entspringet die vermischte Empfindung, welche wir Mitleid nennen.

Jedoch auch sonach glaube ich nicht, die Sache des Aristoteles notwendig aufgeben zu muessen.

Denn wenn wir auch schon, ohne Furcht fuer uns selbst, Mitleid fuer andere empfinden koennen: so ist es doch unstreitig, dass unser Mitleid, wenn jene Furcht dazukommt, weit lebhafter und staerker und anzueglicher wird, als es ohne sie sein kann. Und was hindert uns, anzunehmen, dass die vermischte Empfindung ueber das physikalische Uebel eines geliebten Gegenstandes nur allein durch die dazukommende Furcht fuer uns zu dem Grade erwaechst, in welchem sie Affekt genannt zu werden verdienet?

Aristoteles hat es wirklich angenommen. Er betrachtet das Mitleid nicht nach seinen primitiven Regungen, er betrachtet es bloss als Affekt. Ohne jene zu verkennen, verweigert er nur dem Funke den Namen der Flamme. Mitleidige Regungen, ohne Furcht fuer uns selbst, nennt er Philanthropie: und nur den staerkere Regungen dieser Art, welche mit Furcht fuer uns selbst verknuepft sind, gibt er den Namen des Mitleids. Also behauptet er zwar, dass das Unglueck eines Boesewichts weder unser Mitleid noch unsere Furcht errege: aber er spricht ihm darum nicht alle Ruehrung ab. Auch der Boesewicht ist noch Mensch, ist noch ein Wesen, das bei allen seinen moralischen Unvollkommenheiten Vollkommenheiten genug behaelt, um sein Verderben, seine Zernichtung lieber nicht zu wollen, um bei dieser etwas Mitleidaehnliches, die Elemente des Mitleids gleichsam, zu empfinden. Aber, wie schon gesagt, diese mitleidaehnliche Empfindung nennt er nicht Mitleid, sondern Philanthropie. "Man muss", sagt er, "keinen Boesewicht aus ungluecklichen in glueckliche Umstaende gelangen lassen; denn das ist das untragischste, was nur sein kann; es hat nichts von allem, was es haben sollte; es erweckt weder Philanthropie, noch Mitleid, noch Furcht. Auch muss es kein voelliger Boesewicht sein, der aus gluecklichen Umstaenden in unglueckliche verfaellt; denn eine dergleichen Begebenheit kann zwar Philanthropie, aber weder Mitleid noch Furcht erwecken." Ich kenne nichts Kahleres und Abgeschmackteres, als die gewoehnlichen Uebersetzungen dieses Wortes Philanthropie. Sie geben naemlich das Adjektivum davon im Lateinischen durch hominibus gratum; im Franzoesischen durch ce que peut faire quelque plaisir; und im Deutschen durch "was Vergnuegen machen kann". Der einzige Goulston, soviel ich finde, scheinet den Sinn des Philosophen nicht verfehlt zu haben, indem er das [Greek: philanthropon] durch quod humanitatis sensu tangat uebersetzt. Denn allerdings ist unter dieser Philanthropie, auf welche das Unglueck auch eines Boesewichts Anspruch macht, nicht die Freude ueber seine verdiente Bestrafung, sondern das sympathetische Gefuehl der Menschlichkeit zu verstehen, welches, trotz der Vorstellung, dass sein Leiden nichts als Verdienst sei, dennoch in dem Augenblicke des Leidens in uns sich fuer ihn reget. Herr Curtius will zwar diese mitleidige Regungen fuer einen ungluecklichen Boesewicht nur auf eine gewisse Gattung der ihn treffenden Uebel einschraenken. "Solche Zufaelle des Lasterhaften", sagt er, "die weder Schrecken noch Mitleiden in uns wirken, muessen Folgen seines Lasters sein: denn treffen sie ihn zufaellig, oder wohl gar unschuldig, so behaelt er in dem Herzen der Zuschauer die Vorrechte der Menschlichkeit, als welche auch einem unschuldig leidenden Gottlosen ihr Mitleid nicht versaget." Aber er scheinet dieses nicht genug ueberlegt zu haben. Denn auch dann noch, wenn das Unglueck, welches den Boesewicht befaellt, eine unmittelbare Folge seines Verbrechens ist, koennen wir uns nicht entwehren, bei dem Anblicke dieses Ungluecks mit ihm zu leiden.

"Seht jene Menge", sagt der Verfasser der "Briefe ueber die Empfindungen", "die sich um einen Verurteilten in dichten Haufen draenget. Sie haben alle Greuel vernommen, die der Lasterhafte begangen; sie haben seinen Wandel und vielleicht ihn selbst verabscheuet. Itzt schleppt man ihn entstellt und ohnmaechtig auf das entsetzliche Schaugerueste. Man arbeitet sich durch das Gewuehl, man stellt sich auf die Zehen, man klettert die Daecher hinan, um die Zuege des Todes sein Gesicht entstellen zu sehen. Sein Urteil ist gesprochen; sein Henker naht sich ihm; ein Augenblick wird sein Schicksal entscheiden. Wie sehnlich wuenschen itzt aller Herzen, dass ihm verziehen wuerde! Ihm? dem Gegenstande ihres Abscheues, den sie einen Augenblick vorher selbst zum Tode verurteilet haben wuerden? Wodurch wird itzt ein Strahl der Menschenliebe wiederum bei ihnen rege? Ist es nicht die Annaeherung der Strafe, der Anblick der entsetzlichsten physikalischen Uebel, die uns sogar mit einem Ruchlosen gleichsam aussoehnen und ihm unsere Liebe erwerben? Ohne Liebe koennten wir unmoeglich mitleidig mit seinem Schicksale sein."

Und ebendiese Liebe, sage ich, die wir gegen unsern Nebenmenschen unter keinerlei Umstaenden ganz verlieren koennen, die unter der Asche, mit welcher sie andere staerkere Empfindungen ueberdecken, unverloeschlich fortglimmet und gleichsam nur einen guenstigen Windstoss von Unglueck und Schmerz und Verderben erwartet, um in die Flamme des Mitleids auszubrechen; ebendiese Liebe ist es, welche Aristoteles unter dem Namen der Philanthropie verstehet. Wir haben recht, wenn wir sie mit unter dem Namen des Mitleids begreifen. Aber Aristoteles hatte auch nicht unrecht, wenn er ihr einen eigenen Namen gab, um sie, wie gesagt, von dem hoechsten Grade der mitleidigen Empfindungen, in welchem sie, durch die Dazukunft einer wahrscheinlichen Furcht fuer uns selbst, Affekt werden, zu unterscheiden.

Siebenundsiebzigstes Stueck
Den 26. Januar 1768

Einem Einwurfe ist hier noch vorzukommen. Wenn Aristoteles diesen Begriff von dem Affekte des Mitleids hatte, dass er notwendig mit der Furcht fuer uns selbst verknuepft sein muesse: was war es noetig, der Furcht noch insbesondere zu erwaehnen? Das Wort Mitleid schloss sie schon in sich, und es waere genug gewesen, wenn er bloss gesagt haette: die Tragoedie soll durch Erregung des Mitleids die Reinigung unserer Leidenschaft bewirken. Denn der Zusatz der Furcht sagt nichts mehr, und macht das, was er sagen soll, noch dazu schwankend und ungewiss.

Ich antworte: wenn Aristoteles uns bloss haette lehren wollen, welche Leidenschaften die Tragoedie erregen koenne und solle, so wuerde er sich den Zusatz der Furcht allerdings haben ersparen koennen, und ohne Zweifel sich wirklich ersparet haben; denn nie war ein Philosoph ein groesserer Wortsparer als er. Aber er wollte uns zugleich lehren, welche Leidenschaften, durch die in der Tragoedie erregten, in uns gereiniget werden sollten; und in dieser Absicht musste er der Furcht insbesondere gedenken. Denn obschon, nach ihm, der Affekt des Mitleids weder in noch ausser dem Theater ohne Furcht fuer uns selbst sein kann; ob sie schon ein notwendiges Ingrediens des Mitleids ist: so gilt dieses doch nicht auch umgekehrt, und das Mitleid fuer andere ist kein Ingrediens der Furcht fuer uns selbst. Sobald die Tragoedie aus ist, hoeret unser Mitleid auf, und nichts bleibt von allen den empfundenen Regungen in uns zurueck als die wahrscheinliche Furcht, die uns das bemitleidete Uebel fuer uns selbst schoepfen lassen. Diese nehmen wir mit; und so wie sie, als Ingrediens des Mitleids, das Mitleid reinigen helfen, so hilft sie nun auch, als eine vor sich fortdauernde Leidenschaft, sich selbst reinigen. Folglich, um anzuzeigen, dass sie dieses tun koenne und wirklich tue, fand es Aristoteles fuer noetig, ihrer insbesondere zu gedenken.

Es ist unstreitig, dass Aristoteles ueberhaupt keine strenge logische Definition von der Tragoedie geben wollen. Denn ohne sich auf die bloss wesentlichen Eigenschaften derselben einzuschraenken, hat er verschiedene zufaellige hineingezogen, weil sie der damalige Gebrauch notwendig gemacht hatte. Diese indes abgerechnet, und die uebrigen Merkmale ineinander reduzieret, bleibt eine vollkommen genaue Erklaerung uebrig: die naemlich, dass die Tragoedie, mit einem Worte, ein Gedicht ist, welches Mitleid erreget. Ihrem Geschlechte nach ist sie die Nachahmung einer Handlung; so wie die Epopee und die Komoedie: ihrer Gattung aber nach, die Nachahmung einer mitleidswuerdigen Handlung. Aus diesen beiden Begriffen lassen sich vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und sogar ihre dramatische Form ist daraus zu bestimmen.

An dem letztern duerfte man vielleicht zweifeln. Wenigstens wuesste ich keinen Kunstrichter zu nennen, dem es nur eingekommen waere, es zu versuchen. Sie nehmen alle die dramatische Form der Tragoedie als etwas Hergebrachtes an, das nun so ist, weil es einmal so ist, und das man so laesst, weil man es gut findet. Der einzige Aristoteles hat die Ursache ergruendet, aber sie bei seiner Erklaerung mehr vorausgesetzt, als deutlich angegeben. "Die Tragoedie", sagt er, "ist die Nachahmung einer Handlung,—die nicht vermittelst der Erzaehlung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht die Reinigung dieser und dergleichen Leidenschaften bewirket." So drueckt er sich von Wort zu Wort aus. Wem sollte hier nicht der sonderbare Gegensatz, "nicht vermittelst der Erzaehlung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht", befremden? Mitleid und Furcht sind die Mittel, welche die Tragoedie braucht, um ihre Absicht zu erreichen: und die Erzaehlung kann sich nur auf die Art und Weise beziehen, sich dieser Mittel zu bedienen oder nicht zu bedienen. Scheinet hier also Aristoteles nicht einen Sprung zu machen? Scheinet hier nicht offenbar der eigentliche Gegensatz der Erzaehlung, welches die dramatische Form ist, zu fehlen? Was tun aber die Uebersetzer bei dieser Luecke? Der eine umgeht sie ganz behutsam: und der andere fuellt sie, aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts darin, als eine vernachlaessigte Wortfuegung, an die sie sich nicht halten zu duerfen glauben, wenn sie nur den Sinn des Philosophen liefern. Dacier uebersetzt: d'une action—qui, sans le secours de la narration, par le moyen de la compassion et de la terreur usw.; und Curtius: "einer Handlung, welche nicht durch die Erzaehlung des Dichters, sondern (durch Vorstellung der Handlung selbst) uns, vermittelst des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reiniget". Oh, sehr recht! Beide sagen, was Aristoteles sagen will, nur dass sie es nicht so sagen, wie er es sagt. Gleichwohl ist auch an diesem Wie gelegen; denn es ist wirklich keine bloss vernachlaessigte Wortfuegung. Kurz, die Sache ist diese: Aristoteles bemerkte, dass das Mitleid notwendig ein vorhandenes Uebel erfodere; dass wir laengst vergangene oder fern in der Zukunft bevorstehende Uebel entweder gar nicht oder doch bei weitem nicht so stark bemitleiden koennen, als ein anwesendes; dass es folglich notwendig sei, die Handlung, durch welche wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergangen, das ist, nicht in der erzaehlenden Form, sondern als gegenwaertig, das ist, in der dramatischen Form, nachzuahmen. Und nur dieses, dass unser Mitleid durch die Erzaehlung wenig oder gar nicht, sondern fast einzig und allein durch die gegenwaertige Anschauung erreget wird, nur dieses berechtigte ihn, in der Erklaerung anstatt der Form der Sache die Sache gleich selbst zu setzen, weil diese Sache nur dieser einzigen Form faehig ist. Haette er es fuer moeglich gehalten, dass unser Mitleid auch durch die Erzaehlung erreget werden koenne: so wuerde es allerdings ein sehr fehlerhafter Sprung gewesen sein, wenn er gesagt haette, "nicht durch die Erzaehlung, sondern durch Mitleid und Furcht". Da er aber ueberzeugt war, dass Mitleid und Furcht in der Nachahmung nur durch die einzige dramatische Form zu erregen sei: so konnte er sich diesen Sprung, der Kuerze wegen, erlauben.—Ich verweise desfalls auf das naemliche achte Kapitel des zweiten Buchs seiner Rhetorik.[1]

Was endlich den moralischen Endzweck anbelangt, welchen Aristoteles der Tragoedie gibt, und den er mit in die Erklaerung derselben bringen zu muessen glaubte: so ist bekannt, wie sehr, besonders in den neuern Zeiten, darueber gestritten worden. Ich getraue mich aber zu erweisen, dass alle, die sich dawider erklaert, den Aristoteles nicht verstanden haben. Sie haben ihm alle ihre eigene Gedanken untergeschoben, ehe sie gewiss wussten, welches seine waeren. Sie bestreiten Grillen, die sie selbst gefangen, und bilden sich ein, wie unwidersprechlich sie den Philosophen widerlegen, indem sie ihr eigenes Hirngespinste zuschanden machen. Ich kann mich in die naehere Eroerterung dieser Sache hier nicht einlassen. Damit ich jedoch nicht ganz ohne Beweis zu sprechen scheine, will ich zwei Anmerkungen machen.

1. Sie lassen den Aristoteles sagen, "die Tragoedie solle uns, vermittelst des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reinigen". Der vorgestellten? Also, wenn der Held durch Neugierde, oder Ehrgeiz, oder Liebe, oder Zorn ungluecklich wird: so ist es unsere Neugierde, unser Ehrgeiz, unsere Liebe, unser Zorn, welchen die Tragoedie reinigen soll? Das ist dem Aristoteles nie in den Sinn gekommen. Und so haben die Herren gut streiten; ihre Einbildung verwandelt Windmuehlen in Riesen; sie jagen, in der gewissen Hoffnung des Sieges, darauf los, und kehren sich an keinen Sancho, der weiter nichts als gesunden Menschenverstand hat und ihnen auf seinem bedaechtlichern Pferde hinten nachruft, sich nicht zu uebereilen, und doch nur erst die Augen recht aufzusperren: [Greek: Ton toiouton pathaematon], sagt Aristoteles: und das heisst nicht "der vorgestellten Leidenschaften"; das haetten sie uebersetzen muessen durch "dieser und dergleichen" oder "der erweckten Leidenschaften". Das [Greek: toiouton] bezieht sich lediglich auf das vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragoedie soll unser Mitleid und unsere Furcht erregen, bloss um diese und dergleichen Leidenschaften, nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen. Er sagt aber [Greek: toiouton] und nicht [Greek: touton], er sagt "dieser und dergleichen" und nicht bloss "dieser": um anzuzeigen, dass er unter dem Mitleid nicht bloss das eigentlich sogenannte Mitleid, sondern ueberhaupt alle philanthropische Empfindungen, sowie unter der Furcht nicht bloss die Unlust ueber ein uns bevorstehendes Uebel, sondern auch jede damit verwandte Unlust, auch die Unlust ueber ein gegenwaertiges, auch die Unlust ueber ein vergangenes Uebel, Betruebnis und Gram, verstehe. In diesem ganzen Umfange soll das Mitleid und die Furcht, welche die Tragoedie erweckt, unser Mitleid und unsere Furcht reinigen; aber auch nur diese reinigen, und keine andere Leidenschaften. Zwar koennen sich in der Tragoedie auch zur Reinigung der andern Leidenschaften nuetzliche Lehren und Beispiele finden; doch sind diese nicht ihre Absicht; diese hat sie mit der Epopee und Komoedie gemein, insofern sie ein Gedicht, die Nachahmung einer Handlung ueberhaupt ist, nicht aber insofern sie Tragoedie, die Nachahmung einer mitleidswuerdigen Handlung insbesondere ist. Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie; es ist klaeglich, wenn man dieses erst beweisen muss; noch klaeglicher ist es, wenn es Dichter gibt, die selbst daran zweifeln. Aber alle Gattungen koennen nicht alles bessern; wenigstens nicht jedes so vollkommen, wie das andere; was aber jede am vollkommensten bessern kann, worin es ihr keine andere Gattung gleich zu tun vermag, das allein ist ihre eigentliche Bestimmung.

——Fussnote

[1] [Greek: Epei d' eggys phainomena ta pathae, eleeina eisi, ta de myrioston etos genomena, ae esomena, out' elpizontes, oute memnaemenoi, ae olos ouch eleousin, ae ouch' dmoios, anankae tous synapergazomenous schaemasi kai onais, kai esti, kai olos tae hypochrisei, eleeinoterous einai.]

——Fussnote

Achtundsiebzigstes Stueck
Den 29. Januar 1768

2. Da die Gegner des Aristoteles nicht in acht nahmen, was fuer Leidenschaften er eigentlich, durch das Mitleid und die Furcht der Tragoedie, in uns gereiniget haben wollte: so war es natuerlich, dass sie sich auch mit der Reinigung selbst irren mussten. Aristoteles verspricht am Ende seiner "Politik", wo er von der Reinigung der Leidenschaften durch die Musik redet, von dieser Reinigung in seiner Dichtkunst weitlaeuftiger zu handeln. "Weil man aber", sagt Corneille, "ganz und gar nichts von dieser Materie darin findet, so ist der groesste Teil seiner Ausleger auf die Gedanken geraten, dass sie nicht ganz auf uns gekommen sei." Gar nichts? Ich meinesteils glaube, auch schon in dem, was uns von seiner Dichtkunst noch uebrig, es mag viel oder wenig sein, alles zu finden, was er einem, der mit seiner Philosophie sonst nicht ganz unbekannt ist, ueber diese Sache zu sagen fuer noetig halten konnte. Corneille selbst bemerkte eine Stelle, die uns, nach seiner Meinung, Licht genug geben koenne, die Art und Weise zu entdecken, auf welche die Reinigung der Leidenschaften in der Tragoedie geschehe: naemlich die, wo Aristoteles sagt, "das Mitleid verlange einen, der unverdient leide, und die Furcht einen unsersgleichen". Diese Stelle ist auch wirklich sehr wichtig, nur dass Corneille einen falschen Gebrauch davon machte, und nicht wohl anders als machen konnte, weil er einmal die Reinigung der Leidenschaften ueberhaupt im Kopfe hatte. "Das Mitleid mit dem Ungluecke", sagt er, "von welchem wir unsersgleichen befallen sehen, erweckt in uns die Furcht, dass uns ein aehnliches Unglueck treffen koenne; diese Furcht erweckt die Begierde, ihm auszuweichen; und diese Begierde ein Bestreben, die Leidenschaft, durch welche die Person, die wir bedauern, sich ihr Unglueck vor unsern Augen zuziehet, zu reinigen, zu maessigen, zu bessern, ja gar auszurotten; indem einem jeden die Vernunft sagt, dass man die Ursache abschneiden muesse, wenn man die Wirkung vermeiden wolle." Aber dieses Raisonnement, welches die Furcht bloss zum Werkzeuge macht, durch welches das Mitleid die Reinigung der Leidenschaften bewirkt, ist falsch und kann unmoeglich die Meinung des Aristoteles sein; weil sonach die Tragoedie gerade alle Leidenschaften reinigen koennte, nur nicht die zwei, die Aristoteles ausdruecklich durch sie gereiniget wissen will. Sie koennte unsern Zorn, unsere Neugierde, unsern Neid, unsern Ehrgeiz, unsern Hass und unsere Liebe reinigen, so wie es die eine oder die andere Leidenschaft ist, durch die sich die bemitleidete Person ihr Unglueck zugezogen. Nur unser Mitleid und unsere Furcht muesste sie ungereiniget lassen. Denn Mitleid und Furcht sind die Leidenschaften, die in der Tragoedie wir, nicht aber die handelnden Personen empfinden; sind die Leidenschaften, durch welche die handelnden Personen uns ruehren, nicht aber die, durch welche sie sich selbst ihre Unfaelle zuziehen. Es kann ein Stueck geben, in welchem sie beides sind: das weiss ich wohl. Aber noch kenne ich kein solches Stueck: ein Stueck naemlich, in welchem sich die bemitleidete Person durch ein uebelverstandenes Mitleid oder durch eine uebelverstandene Furcht ins Unglueck stuerze. Gleichwohl wuerde dieses Stueck das einzige sein, in welchem, so wie es Corneille versteht, das geschaehe, was Aristoteles will, dass es in allen Tragoedien geschehen soll: und auch in diesem einzigen wuerde es nicht auf die Art geschehen, auf die es dieser verlangt. Dieses einzige Stueck wuerde gleichsam der Punkt sein, in welchem zwei gegeneinander sich neigende gerade Linien zusammentreffen, um sich in alle Unendlichkeit nicht wieder zu begegnen.—So gar sehr konnte Dacier den Sinn des Aristoteles nicht verfehlen. Er war verbunden, auf die Worte seines Autors aufmerksamer zu sein, und diese besagen es zu positiv, dass unser Mitleid und unsere Furcht durch das Mitleid und die Furcht der Tragoedie gereiniget werden sollen. Weil er aber ohne Zweifel glaubte, dass der Nutzen der Tragoedie sehr gering sein wuerde, wenn er bloss hierauf eingeschraenkt waere: so liess er sich verleiten, nach der Erklaerung des Corneille, ihr die ebenmaessige Reinigung auch aller uebrigen Leidenschaften beizulegen. Wie nun Corneille diese fuer sein Teil leugnete und in Beispielen zeigte, dass sie mehr ein schoener Gedanke, als eine Sache sei, die gewoehnlicherweise zur Wirklichkeit gelange: so musste er sich mit ihm in diese Beispiele selbst einlassen, wo er sich denn so in der Enge fand, dass er die gewaltsamsten Drehungen und Wendungen machen musste, um seinen Aristoteles mit sich durchzubringen. Ich sage seinen Aristoteles: denn der rechte ist weit entfernt, solcher Drehungen und Wendungen zu beduerfen. Dieser, um es abermals und abermals zu sagen, hat an keine andere Leiden- schaften gedacht, welche das Mitleid und die Furcht der Tragoedie reinigen solle, als an unser Mitleid und unsere Furcht selbst; und es ist ihm sehr gleichgueltig, ob die Tragoedie zur Reinigung der uebrigen Leidenschaften viel oder wenig beitraegt. An jene Reinigung haette sich Dacier allein halten sollen: aber freilich haette er sodann auch einen vollstaendigem Begriff damit verbinden muessen. "Wie die Tragoedie", sagt er, "Mitleid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen, das ist nicht schwer zu erklaeren. Sie erregt sie, indem sie uns das Unglueck vor Augen stellet, in das unsersgleichen durch nicht vorsaetzliche Fehler gefallen sind; und sie reiniget sie, indem sie uns mit diesem naemlichen Ungluecke bekannt macht und uns dadurch lehret, es weder allzusehr zu fuerchten, noch allzusehr davon geruehrt zu werden, wann es uns wirklich selbst treffen sollte.—Sie bereitet die Menschen, die allerwidrigsten Zufaelle mutig zu ertragen, und macht die Allerelendesten geneigt, sich fuer gluecklich zu halten, indem sie ihre Ungluecksfaelle mit weit groessern vergleichen, die ihnen die Tragoedie vorstellet. Denn in welchen Umstaenden kann sich wohl ein Mensch finden, der bei Erblickung eines Oedips, eines Philoktets, eines Orests nicht erkennen muesste, dass alle Uebel, die er zu erdulden, gegen die, welche diese Maenner erdulden muessen, gar nicht in Vergleichung gekommen?" Nun das ist wahr; diese Erklaerung kann dem Dacier nicht viel Kopfbrechens gemacht haben. Er fand sie fast mit den naemlichen Worten bei einem Stoiker, der immer ein Auge auf die Apathie hatte. Ohne ihm indes einzuwenden, dass das Gefuehl unsers eigenen Elendes nicht viel Mitleid neben sich duldet; dass folglich bei dem Elenden, dessen Mitleid nicht zu erregen ist, die Reinigung oder Linderung seiner Betruebnis durch das Mitleid nicht erfolgen kann: will ich ihm alles, so wie er es sagt, gelten lassen. Nur fragen muss ich: wieviel er nun damit gesagt? Ob er im geringsten mehr damit gesagt, als, dass das Mitleid unsere Furcht reinige? Gewiss nicht: und das waere doch nur kaum der vierte Teil der Foderung des Aristoteles. Denn wenn Aristoteles behauptet, dass die Tragoedie Mitleid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen: wer sieht nicht, dass dieses weit mehr sagt, als Dacier zu erklaeren fuer gut befunden? Denn, nach den verschiedenen Kombinationen der hier vorkommenden Begriffe, muss der, welcher den Sinn des Aristoteles ganz erschoepfen will, stueckweise zeigen, 1. wie das tragische Mitleid unser Mitleid, 2. wie die tragische Furcht unsere Furcht, 3. wie das tragische Mitleid unsere Furcht, und 4. wie die tragische Furcht unser Mitleid reinigen koenne und wirklich reinige. Dacier aber hat sich nur an den dritten Punkt gehalten, und auch diesen nur sehr schlecht, und auch diesen nur zur Haelfte erlaeutert. Denn wer sich um einen richtigen und vollstaendigen Begriff von der Aristotelischen Reinigung der Leidenschaften bemueht hat, wird finden, dass jeder von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in sich schliesset. Da naemlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruhet, als in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei jeder Tugend aber, nach unserm Philosophen, sich diesseits und jenseits ein Extremum findet, zwischen welchem sie innestehet: so muss die Tragoedie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermoegend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen. Das tragische Mitleid muss nicht allein, in Ansehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fuehlet, sondern auch desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragische Furcht muss nicht allein, in Ansehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich ganz und gar keines Ungluecks befuerchtet, sondern auch desjenigen, den ein jedes Unglueck, auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste, in Angst setzet. Gleichfalls muss das tragische Mitleid, in Ansehung der Furcht, dem was zu viel, und dem was zu wenig, steuern: so wie hinwiederum die tragische Furcht, in Ansehung des Mitleids. Dacier aber, wie gesagt, hat nur gezeigt, wie das tragische Mitleid unsere allzugrosse Furcht maessige: und noch nicht einmal, wie es dem gaenzlichen Mangel derselben abhelfe oder sie in dem, welcher allzu wenig von ihm empfindet, zu einem heilsamem Grade erhoehe; geschweige, dass er auch das uebrige sollte gezeigt haben. Die nach ihm gekommen, haben, was er unterlassen, auch im geringsten nicht ergaenzet; aber wohl sonst, um nach ihrer Meinung den Nutzen der Tragoedie voellig ausser Streit zu setzen, Dinge dahin gezogen, die dem Gedichte ueberhaupt, aber keinesweges der Tragoedie, als Tragoedie, insbesondere zukommen; z.E. dass sie die Triebe der Menschlichkeit naehren und staerken; dass sie Liebe zur Tugend und Hass gegen das Laster wirken solle usw.[1] Lieber! welches Gedicht sollte das nicht? Soll es aber ein jedes: so kann es nicht das unterscheidende Kennzeichen der Tragoedie sein; so kann es nicht das sein, was wir suchten.

——Fussnote

[1] Hr. Curtius in seiner "Abhandlung von der Absicht des Trauerspiels", hinter der Aristotelischen Dichtkunst".

——Fussnote

Neunundsiebzigstes Stueck
Den 2. Februar 1768

Und nun wieder auf unsern Richard zu kommen.—Richard also erweckt ebensowenig Schrecken, als Mitleid: weder Schrecken in dem gemissbrauchten Verstande, fuer die ploetzliche Ueberraschung des Mitleids; noch in dem eigentlichen Verstande des Aristoteles, fuer heilsame Furcht, dass uns ein aehnliches Unglueck treffen koenne. Denn wenn er diese erregte, wuerde er auch Mitleid erregen; so gewiss er hinwiederum Furcht erregen wuerde, wenn wir ihn unsers Mitleids nur im geringsten wuerdig faenden. Aber er ist so ein abscheulicher Kerl, so ein eingefleischter Teufel, in dem wir so voellig keinen einzigen aehnlichen Zug mit uns selbst finden, dass ich glaube, wir koennten ihn vor unsern Augen den Martern der Hoelle uebergeben sehen, ohne das geringste fuer ihn zu empfinden, ohne im geringsten zu fuerchten, dass, wenn solche Strafe nur auf solche Verbrechen folge, sie auch unsrer erwarte. Und was ist endlich das Unglueck, die Strafe, die ihn trifft? Nach so vielen Missetaten, die wir mit ansehen muessen, hoeren wir, dass er mit dem Degen in der Faust gestorben. Als der Koenigin dieses erzaehlt wird, laesst sie der Dichter sagen:

"Dies ist etwas!"—

Ich habe mich nie enthalten koennen, bei mir nachzusprechen: nein, das ist gar nichts! Wie mancher gute Koenig ist so geblieben, indem er seine Krone wider einen maechtigen Rebellen behaupten wollen? Richard stirbt doch, als ein Mann, auf dem Bette der Ehre. Und so ein Tod sollte mich fuer den Unwillen schadlos halten, den ich das ganze Stueck durch ueber den Triumph seiner Bosheiten empfunden? (Ich glaube, die griechische Sprache ist die einzige, welche ein eigenes Wort hat, diesen Unwillen ueber das Glueck eines Boesewichts auszudruecken: [Greek: nemesis, nemesan.][1]) Sein Tod selbst, welcher wenigstens meine Gerechtigkeitsliebe befriedigen sollte, unterhaelt noch meine Nemesis. Du bist wohlfeil weggekommen! denke ich: aber gut, dass es noch eine andere Gerechtigkeit gibt, als die poetische!

Man wird vielleicht sagen: nun wohl! wir wollen den Richard aufgeben; das Stueck heisst zwar nach ihm; aber er ist darum nicht der Held desselben, nicht die Person, durch welche die Absicht der Tragoedie erreicht wird; er hat nur das Mittel sein sollen, unser Mitleid fuer andere zu erregen. Die Koenigin, Elisabeth, die Prinzen, erregen diese nicht Mitleid?—

Um allem Wortstreite auszuweichen: ja. Aber was ist es fuer eine fremde, herbe Empfindung, die sich in mein Mitleid fuer diese Personen mischt? die da macht, dass ich mir dieses Mitleid ersparen zu koennen wuenschte? Das wuensche ich mir bei dem tragischen Mitleid doch sonst nicht; ich verweile gern dabei; und danke dem Dichter fuer eine so suesse Qual.

Aristoteles hat es wohl gesagt, und das wird es ganz gewiss sein! Er spricht von einem [Greek: miaron], von einem Graesslichen, das sich bei dem Ungluecke ganz guter, ganz unschuldiger Personen finde. Und sind nicht die Koenigin, Elisabeth, die Prinzen vollkommen solche Personen? Was haben sie getan? wodurch haben sie es sich zugezogen, dass sie in den Klauen dieser Bestie sind? Ist es ihre Schuld, dass sie ein naeheres Recht auf den Thron haben als er? Besonders die kleinen wimmernden Schlachtopfer, die noch kaum rechts und links unterscheiden koennen! Wer wird leugnen, dass sie unsern ganzen Jammer verdienen? Aber ist dieser Jammer, der mich mit Schaudern an die Schicksale der Menschen denken laesst, dem Murren wider die Vorsehung sich zugesellet und Verzweiflung von weiten nachschleicht, ist dieser Jammer—ich will nicht fragen, Mitleid?—Er heisse, wie er wolle—Aber ist er das, was eine nachahmende Kunst erwecken sollte?

Man sage nicht: erweckt ihn doch die Geschichte; gruendet er sich doch auf etwas, das wirklich geschehen ist.—Das wirklich geschehen ist? es sei: so wird es seinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zusammenhange aller Dinge haben. In diesem ist Weisheit und Guete, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen, das voellig sich rundet, wo eines aus dem andern sich voellig erklaeret, wo keine Schwierigkeit aufstoesst, derenwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie ausser ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge suchen muessen; das Ganze dieses sterblichen Schoepfers sollte ein Schattenriss von dem Ganzen des ewigen Schoepfers sein; sollte uns an den Gedanken gewoehnen, wie sich in ihm alles zum Besten aufloese, werde es auch in jenem geschehen: und er vergisst diese seine edelste Bestimmung so sehr, dass er die unbegreiflichen Wege der Vorsicht mit in seinen kleinen Zirkel flicht und geflissentlich unsern Schauder darueber erregt?—O verschonet uns damit, ihr, die ihr unser Herz in eurer Gewalt habt! Wozu diese traurige Empfindung? Uns Unterwerfung zu lehren? Diese kann uns nur die kalte Vernunft lehren; und wenn die Lehre der Vernunft in uns bekleiben soll, wenn wir, bei unserer Unterwerfung, noch Vertrauen und froehlichen Mut behalten sollen: so ist es hoechst noetig, dass wir an die verwirrenden Beispiele solcher unverdienten schrecklichen Verhaengnisse so wenig als moeglich erinnert werden. Weg mit ihnen von der Buehne! Weg, wenn es sein koennte, aus allen Buechern mit ihnen!—

Wenn nun aber der Personen des Richards keine einzige die erforderlichen Eigenschaften hat, die sie haben muessten, falls er wirklich das sein sollte, was er heisst: wodurch ist er gleichwohl ein so interessantes Stueck geworden, wofuer ihn unser Publikum haelt? Wenn er nicht Mitleid und Furcht erregt: was ist denn seine Wirkung? Wirkung muss er doch haben und hat sie. Und wenn er Wirkung hat: ist es nicht gleichviel, ob er diese oder ob er jene hat? Wenn er die Zuschauer beschaeftiget, wenn er sie vergnuegt: was will man denn mehr? Muessen sie denn notwendig nur nach den Regeln des Aristoteles beschaeftiget und vergnuegt werden?

Das klingt so unrecht nicht: aber es ist darauf zu antworten. Ueberhaupt: wenn Richard schon keine Tragoedie waere, so bleibt er doch ein dramatisches Gedicht; wenn ihm schon die Schoenheiten der Tragoedie mangelten, so koennte er doch sonst Schoenheiten haben. Poesie des Ausdrucks; Bilder; Tiraden; kuehne Gesinnungen; einen feurigen hinreissenden Dialog; glueckliche Veranlassungen fuer den Akteur, den ganzen Umfang seiner Stimme mit den mannigfaltigsten Abwechselungen zu durchlaufen, seine ganze Staerke in der Pantomime zu zeigen usw.

Von diesen Schoenheiten hat Richard viele, und hat auch noch andere, die den eigentlichen Schoenheiten der Tragoedie naeher kommen.

Richard ist ein abscheulicher Boesewicht: aber auch die Beschaeftigung unsers Abscheues ist nicht ganz ohne Vergnuegen; besonders in der Nachahmung.

Auch das Ungeheuere in den Verbrechen partizipieret von den Empfindungen, welche Groesse und Kuehnheit in uns erwecken.

Alles, was Richard tut, ist Greuel; aber alle diese Greuel geschehen in Absicht auf etwas; Richard hat einen Plan; und ueberall, wo wir einen Plan wahrnehmen, wird unsere Neugierde rege; wir warten gern mit ab, ob er ausgefuehrt wird werden, und wie er es wird werden; wir lieben das Zweckmaessige so sehr, dass es uns, auch unabhaengig von der Moralitaet des Zweckes, Vergnuegen gewaehret.

Wir wollten, dass Richard seinen Zweck erreichte: und wir wollten, dass er ihn auch nicht erreichte. Das Erreichen erspart uns das Missvergnuegen ueber ganz vergebens angewandte Mittel: wenn er ihn nicht erreicht, so ist so viel Blut voellig umsonst vergossen worden; da es einmal vergossen ist, moechten wir es nicht gern, auch noch bloss vor langer Weile, vergossen finden. Hinwiederum waere dieses Erreichen das Frohlocken der Bosheit; nichts hoeren wir ungerner; die Absicht interessierte uns, als zu erreichende Absicht; wenn sie aber nun erreicht waere, wuerden wir nichts als das Abscheuliche derselben erblicken, wuerden wir wuenschen, dass sie nicht erreicht waere; diesen Wunsch sehen wir voraus, und uns schaudert vor der Erreichung.

Die guten Personen des Stuecks lieben wir; eine so zaertliche feurige
Mutter, Geschwister, die so ganz eines in dem andern leben; diese
Gegenstaende gefallen immer, erregen immer die suessesten sympathetischen
Empfindungen, wir moegen sie finden, wo wir wollen. Sie ganz ohne Schuld
leiden zu sehen, ist zwar herbe, ist zwar fuer unsere Ruhe, zu unserer
Besserung kein sehr erspriessliches Gefuehl: aber es ist doch immer Gefuehl.

Und sonach beschaeftiget uns das Stueck durchaus, und vergnuegt durch diese Beschaeftigung unserer Seelenkraefte. Das ist wahr; nur die Folge ist nicht wahr, die man daraus zu ziehen meinet: naemlich, dass wir also damit zufrieden sein koennen.

Ein Dichter kann viel getan, und doch noch nichts damit vertan haben. Nicht genug, dass sein Werk Wirkungen auf uns hat: es muss auch die haben, die ihm, vermoege der Gattung, zukommen; es muss diese vornehmlich haben, und alle andere koennen den Mangel derselben auf keine Weise ersetzen; besonders wenn die Gattung von der Wichtigkeit und Schwierigkeit und Kostbarkeit ist, dass alle Muehe und aller Aufwand vergebens waere, wenn sie weiter nichts als solche Wirkungen hervorbringen wollte, die durch eine leichtere und weniger Anstalten erfordernde Gattung ebensowohl zu erhalten waeren. Ein Bund Stroh aufzuheben, muss man keine Maschinen in Bewegung setzen; was ich mit dem Fusse umstossen kann, muss ich nicht mit einer Mine sprengen wollen; ich muss keinen Scheiterhaufen anzuenden, um eine Muecke zu verbrennen.

——Fussnote

[1] Arist. Rhet., lib. II. cap. 9.

——Fussnote

Achtzigstes Stueck
Den 5. Februar 1768

Wozu die sauere Arbeit der dramatischen Form? wozu ein Theater erbauet, Maenner und Weiber verkleidet, Gedaechtnisse gemartert, die ganze Stadt auf einen Platz geladen? wenn ich mit meinem Werke, und mit der Auffuehrung desselben, weiter nichts hervorbringen will, als einige von den Regungen, die eine gute Erzaehlung, von jedem zu Hause in seinem Winkel gelesen, ungefaehr auch hervorbringen wuerde.

Die dramatische Form ist die einzige, in welcher sich Mitleid und Furcht erregen laesst; wenigstens koennen in keiner andern Form diese Leidenschaften auf einen so hohen Grad erreget werden: und gleichwohl will man lieber alle andere darin erregen, als diese; gleichwohl will man sie lieber zu allem andern brauchen, als zu dem, wozu sie so vorzueglich geschickt ist.

Das Publikum nimmt vorlieb.—Das ist gut, und auch nicht gut. Denn man sehnt sich nicht sehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb nehmen muss.

Es ist bekannt, wie erpicht das griechische und roemische Volk auf die Schauspiele waren; besonders jenes, auf das tragische. Wie gleichgueltig, wie kalt dagegen unser Volk fuer das Theater! Woher diese Verschiedenheit, wenn sie nicht daher koemmt, dass die Griechen vor ihrer Buehne sich mit so starken, so ausserordentlichen Empfindungen begeistert fuehlten, dass sie den Augenblick nicht erwarten konnten, sie abermals und abermals zu haben: dahingegen wir uns vor unserer Buehne so schwacher Eindruecke bewusst sind, dass wir es selten der Zeit und des Geldes wert halten, sie uns zu verschaffen? Wir gehen, fast alle, fast immer, aus Neugierde, aus Mode, aus Langerweile, aus Gesellschaft, aus Begierde zu begaffen und begafft zu werden, ins Theater: und nur wenige, und diese wenige nur sparsam, aus anderer Absicht.

Ich sage, wir, unser Volk, unsere Buehne: ich meine aber nicht bloss, uns Deutsche. Wir Deutsche bekennen es treuherzig genug, dass wir noch kein Theater haben. Was viele von unsern Kunstrichtern, die in dieses Bekenntnis mit einstimmen und grosse Verehrer des franzoesischen Theaters sind, dabei denken: das kann ich so eigentlich nicht wissen. Aber ich weiss wohl, was ich dabei denke. Ich denke naemlich dabei: dass nicht allein wir Deutsche; sondern, dass auch die, welche sich seit hundert Jahren ein Theater zu haben ruehmen, ja das beste Theater von ganz Europa zu haben prahlen,—dass auch die Franzosen noch kein Theater haben.

Kein tragisches gewiss nicht! Denn auch die Eindruecke, welche die franzoesische Tragoedie macht, sind so flach, so kalt!—Man hoere einen Franzosen selbst davon sprechen.

"Bei den hervorstechenden Schoenheiten unsers Theaters", sagt der Herr von Voltaire, "fand sich ein verborgner Fehler, den man nicht bemerkt hatte, weil das Publikum von selbst keine hoehere Ideen haben konnte, als ihm die grossen Meister durch ihre Muster beibrachten. Der einzige Saint-Evremond hat diesen Fehler aufgemutzt; er sagt naemlich, dass unsere Stuecke nicht Eindruck genug machten, dass das, was Mitleid erwecken solle, aufs hoechste Zaertlichkeit errege, dass Ruehrung die Stelle der Erschuetterung, und Erstaunen die Stelle des Schreckens vertrete; kurz, dass unsere Empfindungen nicht tief genug gingen. Es ist nicht zu leugnen: Saint-Evremond hat mit dem Finger gerade auf die heimliche Wunde des franzoesischen Theaters getroffen. Man sage immerhin, dass Saint-Evremond der Verfasser der elenden Komoedie 'Sir Politik Wouldbe' und noch einer andern ebenso elenden, 'Die Opern' genannt, ist: dass seine kleinen gesellschaftlichen Gedichte das Kahlste und Gemeinste sind, was wir in dieser Gattung haben; dass er nichts als ein Phrasendrechsler war: man kann keinen Funken Genie haben und gleichwohl viel Witz und Geschmack besitzen. Sein Geschmack aber war unstreitig sehr fein, da er die Ursache, warum die meisten von unsern Stuecken so matt und kalt sind, so genau traf. Es hat uns immer an einem Grade von Waerme gefehlt: das andere hatten wir alles."

Das ist: wir hatten alles, nur nicht das, was wir haben sollten; unsere Tragoedien waren vortrefflich, nur dass es keine Tragoedien waren. Und woher kam es, dass sie das nicht waren?

"Diese Kaelte aber", faehrt er fort, "diese einfoermige Mattigkeit, entsprang zum Teil von dem kleinen Geiste der Galanterie, der damals unter unsern Hofleuten und Damen so herrschte und die Tragoedie in eine Folge von verliebten Gespraechen verwandelte, nach dem Geschmacke des 'Cyrus' und der 'Clelie'. Was fuer Stuecke sich hiervon noch etwa ausnahmen, die bestanden aus langen politischen Raisonnements, dergleichen den 'Sertorius' so verdorben, den 'Otho' so kalt, und den 'Surena' und 'Attila' so elend gemacht haben. Noch fand sich aber auch eine andere Ursache, die das hohe Pathetische von unserer Szene zurueckhielt und die Handlung wirklich tragisch zu machen verhinderte: und diese war das enge schlechte Theater mit seinen armseligen Verzierungen. —Was liess sich auf einem paar Dutzend Brettern, die noch dazu mit Zuschauern angefuellt waren, machen? Mit welchem Pomp, mit welchen Zuruestungen konnte man da die Augen der Zuschauer bestechen, fesseln, taeuschen? Welche grosse tragische Aktion liess sich da auffuehren? Welche Freiheit konnte die Einbildungskraft des Dichters da haben? Die Stuecke mussten aus langen Erzaehlungen bestehen, und so wurden sie mehr Gespraeche als Spiele. Jeder Akteur wollte in einer langen Monologe glaenzen, und ein Stueck, das dergleichen nicht hatte, ward verworfen.—Bei dieser Form fiel alle theatralische Handlung weg; fielen alle die grossen Ausdruecke der Leidenschaften, alle die kraeftigen Gemaelde der menschlichen Ungluecksfaelle, alle die schrecklichen bis in das Innerste der Seele dringende Zuege weg; man ruehrte das Herz nur kaum, anstatt es zu zerreissen."

Mit der ersten Ursache hat es seine gute Richtigkeit. Galanterie und Politik laesst immer kalt; und noch ist es keinem Dichter in der Welt gelungen, die Erregung des Mitleids und der Furcht damit zu verbinden. Jene lassen uns nichts als den Fat, oder den Schulmeister hoeren: und diese fodern, dass wir nichts als den Menschen hoeren sollen.

Aber die zweite Ursache?—Sollte es moeglich sein, dass der Mangel eines geraeumlichen Theaters und guter Verzierungen einen solchen Einfluss auf das Genie der Dichter gehabt haette? Ist es wahr, dass jede tragische Handlung Pomp und Zuruestungen erfodert? Oder sollte der Dichter nicht vielmehr sein Stueck so einrichten, dass es auch ohne diese Dinge seine voellige Wirkung hervorbraechte.

Nach dem Aristoteles sollte er es allerdings. "Furcht und Mitleid", sagt der Philosoph, "laesst sich zwar durchs Gesicht erregen; es kann aber auch aus der Verknuepfung der Begebenheiten selbst entspringen, welches letztere vorzueglicher, und die Weise des bessern Dichters ist. Denn die Fabel muss so eingerichtet sein, dass sie, auch ungesehen, den, der den Verlauf ihrer Begebenheiten bloss anhoert, zu Mitleid und Furcht ueber diese Begebenheiten bringet; so wie die Fabel des Oedips, die man nur anhoeren darf, um dazu gebracht zu werden. Diese Absicht aber durch das Gesicht erreichen wollen, erfodert weniger Kunst, und ist deren Sache, welche die Vorstellung des Stuecks uebernommen."

Wie entbehrlich ueberhaupt die theatralischen Verzierungen sind, davon will man mit den Stuecken des Shakespeares eine sonderbare Erfahrung gehabt haben. Welche Stuecke brauchten, wegen ihrer bestaendigen Unterbrechung und Veraenderung des Orts, des Beistandes der Szenen und der ganzen Kunst des Dekorateurs, wohl mehr, als eben diese? Gleichwohl war eine Zeit, wo die Buehnen, auf welchen sie gespielt wurden, aus nichts bestanden, als aus einem Vorhange von schlechtem groben Zeuge, der, wenn er aufgezogen war, die blossen blanken, hoechstens mit Matten oder Tapeten behangenen Waende zeigte; da war nichts als die Einbildung, was dem Verstaendnisse des Zuschauers und der Ausfuehrung des Spielers zu Hilfe kommen konnte: und demohngeachtet, sagt man, waren damals die Stuecke des Shakespeares ohne alle Szenen verstaendlicher, als sie es hernach mit denselben gewesen sind.[1]

Wenn sich also der Dichter um die Verzierung gar nicht zu bekuemmern hat; wenn die Verzierung, auch wo sie noetig scheinet, ohne besondere Nachteil seines Stuecks wegbleiben kann: warum sollte es an dem engen, schlechten Theater gelegen haben, dass uns die franzoesischen Dichter keine ruehrendere Stuecke geliefert? Nicht doch: es lag an ihnen selbst.

Und das beweiset die Erfahrung. Denn nun haben ja die Franzosen eine schoenere, geraeumlichere Buehne; keine Zuschauer werden mehr darauf geduldet; die Kulissen sind leer; der Dekorateur hat freies Feld; er malt und bauet dem Poeten alles, was dieser von ihm verlangt: aber wo sind sie denn, die waermern Stuecke, die sie seitdem erhalten haben? Schmeichelt sich der Herr von Voltaire, dass seine "Semiramis" ein solches Stueck ist? Da ist Pomp und Verzierung genug; ein Gespenst obendarein: und doch kenne ich nichts Kaelteres, als seine "Semiramis".

——Fussnote

[1] ("Cibber's Lives of the Poets of G. B. and Ir." Vol. II. p. 78. 79.)—Some have insinuated, that fine scenes proved the ruin of acting. —In the reign of Charles I. there was nothing more than a curtain of very coarse stuff, upon the drawing up of which, the stage appeared either with bare walls on the sides, coarsly matted, or covered with tapestry; so that for the place originally represented, and all the successive changes, in which the poets of those times freely indulged themselves, there was nothing to help the spectator's understanding, or to assist the actor's performance, but bare imagination.—The spirit and judgement of the actors supplied all deficiencies, and made as some would insinuate, plays more intelligible without scenes than they afterwards were with them.

——Fussnote

Einundachtzigstes Stueck
Den 9. Februar 1768

Will ich denn nun aber damit sagen, dass kein Franzose faehig sei, ein wirklich ruehrendes tragisches Werk zu machen? dass der volatile Geist der Nation einer solchen Arbeit nicht gewachsen sei?—Ich wuerde mich schaemen, wenn mir das nur eingekommen waere. Deutschland hat sich noch durch keinen Bouhours laecherlich gemacht. Und ich, fuer mein Teil, haette nun gleich die wenigste Anlage dazu. Denn ich bin sehr ueberzeugt, dass kein Volk in der Welt irgendeine Gabe des Geistes vorzueglich vor andern Voelkern erhalten habe. Man sagt zwar: der tiefsinnige Englaender, der witzige Franzose. Aber wer hat denn die Teilung gemacht? Die Natur gewiss nicht, die alles unter alle gleich verteilet. Es gibt ebensoviel witzige Englaender als witzige Franzosen, und ebensoviel tiefsinnige Franzosen, als tiefsinnige Englaender: der Prass von dem Volke aber ist keines von beidem.—

Was will ich denn? Ich will bloss sagen, was die Franzosen gar wohl haben koennten, dass sie das noch nicht haben: die wahre Tragoedie. Und warum noch nicht haben?—Dazu haette sich der Herr von Voltaire selbst besser kennen muessen, wenn er es haette treffen wollen.

Ich meine: sie haben es noch nicht; weil sie es schon lange gehabt zu haben glauben. Und in diesem Glauben werden sie nun freilich durch etwas bestaerkt, das sie vorzueglich vor allen Voelkern haben; aber es ist keine Gabe der Natur: durch ihre Eitelkeit.

Es geht mit den Nationen, wie mit einzelnen Menschen.—Gottsched (man wird leicht begreifen, wie ich eben hier auf diesen falle) galt in seiner Jugend fuer einen Dichter, weil man damals den Versmacher von dem Dichter noch nicht zu unterscheiden wusste. Philosophie und Kritik setzten nach und nach diesen Unterschied ins Helle: und wenn Gottsched mit dem Jahrhunderte nur haette fortgehen wollen, wenn sich seine Einsichten und sein Geschmack nur zugleich mit den Einsichten und dem Geschmacke seines Zeitalters haetten verbreiten und laeutern wollen: so haette er vielleicht wirklich aus dem Versmacher ein Dichter werden koennen. Aber da er sich schon so oft den groessten Dichter hatte nennen hoeren, da ihn seine Eitelkeit ueberredet hatte, dass er es sei: so unterblieb jenes. Er konnte unmoeglich erlangen, was er schon zu besitzen glaubte: und je aelter er ward, desto hartnaeckiger und unverschaemter ward er, sich in diesem traeumerischen Besitze zu behaupten.

Gerade so, duenkt mich, ist es den Franzosen ergangen. Kaum riss Corneille ihr Theater ein wenig aus der Barbarei: so glaubten sie es der Vollkommenheit schon ganz nahe. Racine schien ihnen die letzte Hand angelegt zu haben; und hierauf war gar nicht mehr die Frage (die es zwar auch nie gewesen), ob der tragische Dichter nicht noch pathetischer, noch ruehrender sein koenne, als Corneille und Racine, sondern dieses ward fuer unmoeglich angenommen, und alle Beeiferung der nachfolgenden Dichter musste sich darauf einschraenken, dem einen oder dem andern so aehnlich zu werden als moeglich. Hundert Jahre haben sie sich selbst, und zum Teil ihre Nachbarn mit, hintergangen: nun komme einer und sage ihnen das, und hoere, was sie antworten!

Von beiden aber ist es Corneille, welcher den meisten Schaden gestiftet und auf ihre tragischen Dichter den verderblichsten Einfluss gehabt hat. Denn Racine hat nur durch seine Muster verfuehrt; Corneille aber durch seine Muster und Lehren zugleich.

Diese letztern besonders, von der ganzen Nation (bis auf einen oder zwei Pedanten, einen Hedelin, einen Dacier, die aber oft selbst nicht wussten, was sie wollten) als Orakelsprueche angenommen, von allen nachherigen Dichtern befolgt: haben—ich getraue mich, es Stueck vor Stueck zu beweisen,—nichts anders, als das kahlste, waessrigste, untragischste Zeug hervorbringen koennen.

Die Regeln des Aristoteles sind alle auf die hoechste Wirkung der Tragoedie kalkuliert. Was macht aber Corneille damit? Er traegt sie falsch und schielend genug vor; und weil er sie doch noch viel zu strenge findet: so sucht er, bei einer nach der andern, quelque moderation, quelque favorable interpretation; entkraeftet und verstuemmelt, deutelt und vereitelt eine jede,—und warum? pour n'etre pas obliges de condamner beaucoup de poemes que nous avons vu reussir sur nos theatres; um nicht viele Gedichte verwerfen zu duerfen, die auf unsern Buehnen Beifall gefunden. Eine schoene Ursache!

Ich will die Hauptpunkte geschwind beruehren. Einige davon habe ich schon beruehrt; ich muss sie aber, des Zusammenhanges wegen, wiederum mitnehmen.

1. Aristoteles sagt: die Tragoedie soll Mitleid und Furcht erregen.— Corneille sagt: o ja, aber wie es koemmt; beides zugleich ist eben nicht immer noetig; wir sind auch mit einem zufrieden; itzt einmal Mitleid, ohne Furcht; ein andermal Furcht, ohne Mitleid. Denn wo blieb' ich, ich der grosse Corneille, sonst mit meinem Rodrigue und meiner Chimene? Die guten Kinder erwecken Mitleid; und sehr grosses Mitleid: aber Furcht wohl schwerlich. Und wiederum: wo blieb' ich sonst mit meiner Kleopatra, mit meinem Prusias, mit meinem Phokas? Wer kann Mitleid mit diesen Nichtswuerdigen haben? Aber Furcht erregen sie doch.—So glaubte Corneille: und die Franzosen glaubten es ihm nach.

2. Aristoteles sagt: die Tragoedie soll Mitleid und Furcht erregen; beides, versteht sich, durch eine und ebendieselbe Person.—Corneille sagt: wenn es sich so trifft, recht gut. Aber absolut notwendig ist es eben nicht; und man kann sich gar wohl auch verschiedener Personen bedienen, diese zwei Empfindungen hervorzubringen; so wie ich in meiner "Rodogune" getan habe.—Das hat Corneille getan: und die Franzosen tun es ihm nach.

3. Aristoteles sagt: durch das Mitleid und die Furcht, welche die Tragoedie erweckt, soll unser Mitleid und unsere Furcht, und was diesen anhaengig, gereiniget werden.—Corneille weiss davon gar nichts und bildet sich ein, Aristoteles habe sagen wollen. Die Tragoedie erwecke unser Mitleid, um unsere Furcht zu erwecken, um durch diese Furcht die Leidenschaften in uns zu reinigen, durch die sich der bemitleidete Gegenstand sein Unglueck zugezogen. Ich will von dem Werte dieser Absicht nicht sprechen: genug, dass es nicht die Aristotelische ist; und dass, da Corneille seinen Tragoedien eine ganz andere Absicht gab, auch notwendig seine Tragoedien selbst ganz andere Werke werden mussten, als die waren, von welchen Aristoteles seine Absicht abstrahieret hatte; es mussten Tragoedien werden, welches keine wahre Tragoedien waren. Und das sind nicht allein seine, sondern alle franzoesische Tragoedien geworden; weil ihre Verfasser alle nicht die Absicht des Aristoteles, sondern die Absicht des Corneille sich vorsetzten. Ich habe schon gesagt, dass Dacier beide Absichten wollte verbunden wissen: aber auch durch diese blosse Verbindung wird die erstere geschwaecht, und die Tragoedie muss unter ihrer hoechsten Wirkung bleiben. Dazu hatte Dacier, wie ich gezeigt, von der erstern nur einen sehr unvollstaendigen Begriff, und es war kein Wunder, wenn er sich daher einbildete, dass die franzoesischen Tragoedien seiner Zeit noch eher die erste, als die zweite Absicht erreichten. "Unsere Tragoedie", sagt er, "ist, zufolge jener, noch so ziemlich gluecklich, Mitleid und Furcht zu erwecken und zu reinigen. Aber diese gelingt ihr nur sehr selten, die doch gleichwohl die wichtigere ist, und sie reiniget die uebrigen Leidenschaften nur sehr wenig, oder da sie gemeiniglich nichts als Liebesintrigen enthaelt, wenn sie ja eine davon reinigte, so wuerde es einzig und allein die Liebe sein, woraus denn klar erhellet, dass ihr Nutzen nur sehr klein ist.[1] Gerade umgekehrt! Es gibt noch eher franzoesische Tragoedien, welche der zweiten, als welche der ersten Absicht ein Genuege leisten. Ich kenne verschiedene franzoesische Stuecke, welche die ungluecklichen Folgen irgendeiner Leidenschaft recht wohl ins Licht setzen; aus denen man viele gute Lehren, diese Leidenschaft betreffend, ziehen kann: aber ich kenne keines, welches mein Mitleid in dem Grade erregte, in welchem die Tragoedie es erregen sollte, in welchem ich, aus verschiedenen griechischen und englischen Stuecken gewiss weiss, dass sie es erregen kann. Verschiedene franzoesische Tragoedien sind sehr feine, sehr unterrichtende Werke, die ich alles Lobes wert halte: nur, dass es keine Tragoedien sind. Die Verfasser derselben konnten nicht anders, als sehr gute Koepfe sein; sie verdienen, zum Teil, unter den Dichtern keinen geringen Rang: nur dass sie keine tragische Dichter sind; nur dass ihr Corneille und Racine, ihr Crebillon und Voltaire von dem wenig oder gar nichts haben, was den Sophokles zum Sophokles, den Euripides zum Euripides, den Shakespeare zum Shakespeare macht. Diese sind selten mit den wesentlichen Foderungen des Aristoteles im Widerspruch: aber jene desto oefterer. Denn nur weiter—

——Fussnote

[1] (Poet. d'Arist. Chap. VI. Rem. 8.) Notre Tragedie peut reussir assez dans la premiere partie, c'est-a-dire, qu'elle peut exciter et purger la terreur et la compassion. Mais elle parvient rarement a la derniere, qui est pourtant la plus utile, elle purge peu les autres passions, ou comme elle roule ordinairement sur des intrigues d'amour, si elle en purgeait quelqu'une, ce serait celle-la seule, et par la il est aise de voir qu'elle ne fait que peu de fruit.

——Fussnote

Zweiundachtzigstes Stueck
Den 12. Februar 1768

4. Aristoteles sagt: man muss keinen ganz guten Mann, ohne alle sein Verschulden, in der Tragoedie ungluecklich werden lassen; denn so was sei graesslich.—"Ganz recht", sagt Corneille; "ein solcher Ausgang erweckt mehr Unwillen und Hass gegen den, welcher das Leiden verursacht, als Mitleid fuer den, welchen es trifft. Jene Empfindung also, welche nicht die eigentliche Wirkung der Tragoedie sein soll, wuerde, wenn sie nicht sehr fein behandelt waere, diese ersticken, die doch eigentlich hervorgebracht werden sollte. Der Zuschauer wuerde missvergnuegt weggehen, weil sich allzuviel Zorn mit dem Mitleiden vermischt, welches ihm gefallen haette, wenn er es allein mit wegnehmen koennen. Aber", koemmt Corneille hintennach; denn mit einem Aber muss er nachkommen—"aber, wenn diese Ursache wegfaellt, wenn es der Dichter so eingerichtet, dass der Tugendhafte, welcher leidet, mehr Mitleid fuer sich, als Widerwillen gegen den erweckt, der ihn leiden laesst: alsdenn?—Oh, alsdenn", sagt Corneille, "halte ich dafuer, darf man sich gar kein Bedenken machen, auch den tugendhaftesten Mann auf dem Theater im Ungluecke zu zeigen."[1] —Ich begreife nicht, wie man gegen einen Philosophen so in den Tag hineinschwatzen kann; wie man sich das Ansehen geben kann, ihn zu verstehen, indem man ihn Dinge sagen laesst, an die er nie gedacht hat. Das gaenzlich unverschuldete Unglueck eines rechtschaffenen Mannes, sagt Aristoteles, ist kein Stoff fuer das Trauerspiel; denn es ist graesslich. Aus diesem Denn, aus dieser Ursache, macht Corneille ein Insofern, eine blosse Bedingung, unter welcher es tragisch zu sein aufhoert. Aristoteles sagt: es ist durchaus graesslich, und eben daher untragisch. Corneille aber sagt: es ist untragisch, insofern es graesslich ist. Dieses Graessliche findet Aristoteles in dieser Art des Unglueckes selbst: Corneille aber setzt es in den Unwillen, den es gegen den Urheber desselben verursacht. Er sieht nicht, oder will nicht sehen, dass jenes Graessliche ganz etwas anders ist als dieser Unwille; dass, wenn auch dieser ganz wegfaellt, jenes doch noch in seinem vollen Masse vorhanden sein kann: genug, dass vors erste mit diesem Quid pro quo verschiedene von seinen Stuecken gerechtfertiget scheinen, die er so wenig wider die Regeln des Aristoteles will gemacht haben, dass er vielmehr vermessen genug ist, sich einzubilden, es habe dem Aristoteles bloss an dergleichen Stuecken gefehlt, um seine Lehre darnach naeher einzuschraenken und verschiedene Manieren daraus zu abstrahieren, wie demohngeachtet das Unglueck des ganz rechtschaffenen Mannes ein tragischer Gegenstand werden koenne. En voici, sagt er, deux ou trois manieres que peut-etre Aristote n'a su prevoir, parce qu'on n'en voyait pas d'exemples sur les theatres de son temps. Und von wem sind diese Exempel? Von wem anders, als von ihm selbst? Und welches sind jene zwei oder drei Manieren? Wir wollen geschwind sehen.—"Die erste", sagt er, "ist, wenn ein sehr Tugendhafter durch einen sehr Lasterhaften verfolgt wird, der Gefahr aber entkoemmt, und so, dass der Lasterhafte sich selbst darin verstricket, wie es in der 'Rodogune' und im 'Heraklius' geschiehet, wo es ganz unertraeglich wuerde gewesen sein, wenn in dem ersten Stuecke Antiochus und Rodogune, und in dem andern Heraklius, Pulcheria und Martian umgekommen waeren, Kleopatra und Phokas aber triumphieret haetten. Das Unglueck der erstern erweckt ein Mitleid, welches durch den Abscheu, den wir wider ihre Verfolger haben, nicht erstickt wird, weil man bestaendig hofft, dass sich irgendein gluecklicher Zufall ereignen werde, der sie nicht unterliegen lasse." Das mag Corneille sonst jemanden weismachen, dass Aristoteles diese Manier nicht gekannt habe! Er hat sie so wohl gekannt, dass er sie, wo nicht gaenzlich verworfen, wenigstens mit ausdruecklichen Worten fuer angemessener der Komoedie als Tragoedie erklaert hat. Wie war es moeglich, dass Corneille dieses vergessen hatte? Aber so geht es allen, die im voraus ihre Sache zu der Sache der Wahrheit machen. Im Grunde gehoert diese Manier auch gar nicht zu dem vorhabenden Falle. Denn nach ihr wird der Tugendhafte nicht ungluecklich, sondern befindet sich nur auf dem Wege zum Ungluecke; welches gar wohl mitleidige Besorgnisse fuer ihn erregen kann, ohne graesslich zu sein.—Nun, die zweite Manier! "Auch kann es sich zutragen", sagt Corneille, "dass ein sehr tugendhafter Mann verfolgt wird, und auf Befehl eines andern umkoemmt, der nicht lasterhaft genug ist, unsern Unwillen allzusehr zu verdienen, indem er in der Verfolgung, die er wider den Tugendhaften betreibet, mehr Schwachheit als Bosheit zeiget. Wenn Felix seinen Eidam Polyeukt umkommen laesst, so ist es nicht aus wuetendem Eifer gegen die Christen, der ihn uns verabscheuungswuerdig machen wuerde, sondern bloss aus kriechender Furchtsamkeit, die sich nicht getrauet, ihn in Gegenwart des Severus zu retten, vor dessen Hasse und Rache er in Sorgen stehet. Man fasset also wohl einigen Unwillen gegen ihn, und missbilliget sein Verfahren; doch ueberwiegt dieser Unwille nicht das Mitleid, welches wir fuer den Polyeukt empfinden, und verhindert auch nicht, dass ihn seine wunderbare Bekehrung, zum Schlusse des Stuecks, nicht voellig wieder mit den Zuhoerern aussoehnen sollte." Tragische Stuemper, denke ich, hat es wohl zu allen Zeiten und selbst in Athen gegeben. Warum sollte es also dem Aristoteles an einem Stuecke von aehnlicher Einrichtung gefehlt haben, um daraus ebenso erleuchtet zu werden, als Corneille? Possen! Die furchtsamen, schwanken, unentschlossenen Charaktere, wie Felix, sind in dergleichen Stuecken ein Fehler mehr und machen sie noch obendarein ihrerseits kalt und ekel, ohne sie auf der andern Seite im geringsten weniger graesslich zu machen. Denn, wie gesagt, das Graessliche liegt nicht in dem Unwillen oder Abscheu, den sie erwecken: sondern in dem Ungluecke selbst, das jene unverschuldet trifft; das sie einmal so unverschuldet trifft als das andere, ihre Verfolger moegen boese oder schwach sein, moegen mit oder ohne Vorsatz ihnen so hart fallen. Der Gedanke ist an und fuer sich selbst graesslich, dass es Menschen geben kann, die ohne alle ihr Verschulden ungluecklich sind. Die Helden haetten diesen graesslichen Gedanken so weit von sich zu entfernen gesucht, als moeglich: und wir wollten ihn naehren? wir wollten uns an Schauspielen vergnuegen, die ihn bestaetigen? wir? die Religion und Vernunft ueberzeuget haben sollte, dass er ebenso unrichtig als gotteslaesterlich ist?—Das naemliche wuerde sicherlich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn sie Corneille nicht selbst naeher anzugeben vergessen haette.

5. Auch gegen das, was Aristoteles von der Unschicklichkeit eines ganz Lasterhaften zum tragischen Helden sagt, als dessen Unglueck weder Mitleid noch Furcht erregen koenne, bringt Corneille seine Laeuterungen bei. Mitleid zwar, gesteht er zu, koenne er nicht erregen; aber Furcht allerdings. Denn ob sich schon keiner von den Zuschauern der Laster desselben faehig glaube, und folglich auch desselben ganzes Unglueck nicht zu befuerchten habe: so koenne doch ein jeder irgendeine jenen Lastern aehnliche Unvollkommenheit bei sich hegen und durch die Furcht vor den zwar proportionierten, aber doch noch immer ungluecklichen Folgen derselben, gegen sie auf seiner Hut zu sein lernen. Doch dieses gruendet sich auf den falschen Begriff, welchen Corneille von der Furcht und von der Reinigung der in der Tragoedie zu erweckenden Leidenschaften hatte, und widerspricht sich selbst. Denn ich habe schon gezeigt, dass die Erregung des Mitleids von der Erregung der Furcht unzertrennlich ist und dass der Boesewicht, wenn es moeglich waere, dass er unsere Furcht erregen koenne, auch notwendig unser Mitleid erregen muesste. Da er aber dieses, wie Corneille selbst zugesteht, nicht kann, so kann er auch jenes nicht und bleibt gaenzlich ungeschickt, die Absicht der Tragoedie erreichen zu helfen. Ja, Aristoteles haelt ihn hierzu noch fuer ungeschickter als den ganz tugendhaften Mann; denn er will ausdruecklich, falls man den Held aus der mittlere Gattung nicht haben koenne, dass man ihn eher besser als schlimmer waehlen solle. Die Ursache ist klar: ein Mensch kann sehr gut sein und doch noch mehr als eine Schwachheit haben, mehr als einen Fehler begehen, wodurch er sich in unabsehliches Unglueck stuerzet, das uns mit Mitleid und Wehmut erfuellet, ohne im geringsten graesslich zu sein, weil es die natuerliche Folge seines Fehlers ist.—Was Dubos[2] von dem Gebrauche der lasterhaften Personen in der Tragoedie sagt, ist das nicht, was Corneille will. Dubos will sie nur zu den Nebenrollen erlauben, bloss zu Werkzeugen, die Hauptpersonen weniger schuldig zu machen; bloss zur Abstechung. Corneille aber will das vornehmste Interesse auf sie beruhen lassen, so wie in der "Rodogune": und das ist eigentlich, was mit der Absicht der Tragoedie streitet, und nicht jenes. Dubos merket dabei auch sehr richtig an, dass das Unglueck dieser subalternen Boesewichter keinen Eindruck auf uns mache. "Kaum", sagt er, "dass man den Tod des Narciss im Britannicus bemerkt." Aber also sollte sich der Dichter auch schon deswegen ihrer so viel als moeglich enthalten. Denn wenn ihr Unglueck die Absicht der Tragoedie nicht unmittelbar befoerdert, wenn sie blosse Hilfsmittel sind, durch die sie der Dichter desto besser mit andern Personen zu erreichen sucht: so ist es unstreitig, dass das Stueck noch besser sein wuerde, wenn es die naemliche Wirkung ohne sie haette. Je simpler eine Maschine ist, je weniger Federn und Raeder und Gewichte sie hat, desto vollkommener ist sie.

——Fussnote

[1] J'estime qu'il ne faut point faire de difficulte d'exposer sur la scene des hommes tres vertueux.

[2] Reflexions cr. T. I. Sect. XV.

——Fussnote

Dreiundachtzigstes Stueck
Den 16. Februar 1768

6. Und endlich, die Missdeutung der ersten und wesentlichsten Eigenschaft, welche Aristoteles fuer die Sitten der tragischen Personen fodert! Sie sollen gut sein, die Sitten. "Gut?" sagt Corneille. "Wenn gut hier so viel als tugendhaft heissen soll: so wird es mit den meisten alten und neuen Tragoedien uebel aussehen, in welchen schlechte und lasterhafte, wenigstens mit einer Schwachheit, die naechst der Tugend so recht nicht bestehen kann, behaftete Personen genug vorkommen." Besonders ist ihm fuer seine Kleopatra in der "Rodogune" bange. Die Guete, welche Aristoteles fodert, will er also durchaus fuer keine moralische Guete gelten lassen; es muss eine andere Art von Guete sein, die sich mit dem moralisch Boesen ebensowohl vertraegt, als mit dem moralisch Guten. Gleichwohl meinet Aristoteles schlechterdings eine moralische Guete: nur dass ihm tugendhafte Personen, und Personen, welche in gewissen Umstaenden tugendhafte Sitten zeigen, nicht einerlei sind. Kurz, Corneille verbindet eine ganz falsche Idee mit dem Worte Sitten, und was die Proaeresis ist, durch welche allein, nach unserm Weltweisen, freie Handlungen zu guten oder boesen Sitten werden, hat er gar nicht verstanden. Ich kann mich itzt nicht in einen weitlaeuftigen Beweis einlassen; er laesst sich nur durch den Zusammenhang, durch die syllogistische Folge aller Ideen des griechischen Kunstrichters einleuchtend genug fuehren. Ich verspare ihn daher auf eine andere Gelegenheit, da es bei dieser ohnedem nur darauf ankoemmt, zu zeigen, was fuer einen ungluecklichen Ausweg Corneille, bei Verfehlung des richtigen Weges, ergriffen. Dieser Ausweg lief dahin: dass Aristoteles unter der Guete der Sitten den glaenzenden und erhabnen Charakter irgendeiner tugendhaften oder strafbaren Neigung verstehe, sowie sie der eingefuehrten Person entweder eigentuemlich zukomme oder ihr schicklich beigeleget werden koenne: le caractere brillant et eleve d'une habitude vertueuse ou criminelle, selon qu'elle est propre et convenable a la personne qu'on introduit. "Kleopatra in der 'Rodogune'", sagt er, "ist aeusserst boese: da ist kein Meuchelmord, vor dem sie sich scheue, wenn er sie nur auf dem Throne zu erhalten vermag, den sie allem in der Welt vorzieht; so heftig ist ihre Herrschsucht. Aber alle ihre Verbrechen sind mit einer gewissen Groesse der Seele verbunden, die so etwas Erhabenes hat, dass man, indem man ihre Handlungen verdammt, doch die Quelle, woraus sie entspringen, bewundern muss. Ebendieses getraue ich mir von dem 'Luegner' zu sagen. Das Luegen ist unstreitig eine lasterhafte Angewohnheit; allein Dorant bringt seine Luegen mit einer solchen Gegenwart des Geistes, mit so vieler Lebhaftigkeit vor, dass diese Unvollkommenheit ihm ordentlich wohl laesst und die Zuschauer gestehen muessen, dass die Gabe, so zu luegen, ein Laster sei, dessen kein Dummkopf faehig ist."—Wahrlich, einen verderblichern Einfall haette Corneille nicht haben koennen! Befolget ihn in der Ausfuehrung, und es ist um alle Wahrheit, um alle Taeuschung, um allen sittlichen Nutzen der Tragoedie getan! Denn die Tugend, die immer bescheiden und einfaeltig ist, wird durch jenen glaenzenden Charakter eitel und romantisch: das Laster aber mit einem Firnis ueberzogen, der uns ueberall blendet, wir moegen es aus einem Gesichtspunkte nehmen, aus welchem wir wollen. Torheit, bloss durch die ungluecklichen Folgen von dem Laster abschrecken wollen, indem man die innere Haesslichkeit desselben verbirgt! Die Folgen sind zufaellig; und die Erfahrung lehrt, dass sie ebensooft gluecklich als ungluecklich fallen. Dieses bezieht sich auf die Reinigung der Leidenschaften, wie sie Corneille sich dachte. Wie ich mir sie vorstelle, wie sie Aristoteles gelehrt hat, ist sie vollends nicht mit jenem truegerischen Glanze zu verbinden. Die falsche Folie, die so dem Laster untergelegt wird, macht, dass ich Vollkommenheiten erkenne, wo keine sind; macht, dass ich Mitleiden habe, wo ich keines haben sollte. Zwar hat schon Dacier dieser Erklaerung widersprochen, aber aus untriftigern Gruenden; und es fehlt nicht viel, dass die, welche er mit dem Pater Le Bossu dafuer annimmt, nicht ebenso nachteilig ist, wenigstens den poetischen Vollkommenheiten des Stuecks ebenso nachteilig werden kann. Er meinet naemlich, "die Sitten sollen gut sein", heisse nichts mehr als, sie sollen gut ausgedrueckt sein, qu'elles soient bien marquees. Das ist allerdings eine Regel, die, richtig verstanden, an ihrer Stelle aller Aufmerksamkeit des dramatischen Dichters wuerdig ist. Aber wenn es die franzoesischen Muster nur nicht bewiesen, dass man "gut ausdruecken" fuer stark ausdruecken genommen haette. Man hat den Ausdruck ueberladen, man hat Druck auf Druck gesetzt, bis aus charakterisierten Personen personifierte Charaktere; aus lasterhaften oder tugendhaften Menschen hagere Gerippe von Lastern und Tugenden geworden sind.—

Hier will ich diese Materie abbrechen. Wer ihr gewachsen ist, mag die
Anwendung auf unsern "Richard" selbst machen.

Vom "Herzog Michel", welcher auf den "Richard" folgte, brauche ich wohl nichts zu sagen. Auf welchem Theater wird er nicht gespielt, und wer hat ihn nicht gesehen oder gelesen? Krueger hat indes das wenigste Verdienst darum; denn er ist ganz aus einer Erzaehlung in den Bremischen Beitraegen genommen. Die vielen guten satirischen Zuege, die er enthaelt, gehoeren jenem Dichter, sowie der ganze Verfolg der Fabel. Kruegern gehoert nichts, als die dramatische Form. Doch hat wirklich unsere Buehne an Kruegern viel verloren. Er hatte Talent zum Niedrig-Komischen, wie seine "Kandidaten" beweisen. Wo er aber ruehrend und edel sein will, ist er frostig und affektiert. Hr. Loewen hat seine Schriften gesammelt, unter welchen man jedoch "Die Geistlichen auf dem Lande" vermisst. Dieses war der erste dramatische Versuch, welchen Krueger wagte, als er noch auf dem Grauen Kloster in Berlin studierte.

Den neunundvierzigsten Abend (donnerstags, den 23. Julius) ward das Lustspiel des Hrn. von Voltaire "Die Frau, die recht hat" gespielt, und zum Beschlusse des L'Affichard "Ist er von Familie?"[1] wiederholt.

"Die Frau, die recht hat" ist eines von den Stuecken, welche der Hr. von Voltaire fuer sein Haustheater gemacht hat. Dafuer war es nun auch gut genug. Es ist schon 1758 zu Carouge gespielt worden: aber noch nicht zu Paris; soviel ich weiss. Nicht als ob sie da, seit der Zeit, keine schlechtern Stuecke gespielt haetten: denn dafuer haben die Marins und Le Brets wohl gesorgt. Sondern weil—ich weiss selbst nicht. Denn ich wenigstens moechte doch noch lieber einen grossen Mann in seinem Schlafrocke und seiner Nachtmuetze, als einen Stuemper in seinem Feierkleide sehen.

Charaktere und Interesse hat das Stueck nicht; aber verschiedne Situationen, die komisch genug sind. Zwar ist auch das Komische aus dem allergemeinsten Fache, da es sich auf nichts als aufs Inkognito, auf Verkennungen und Missverstaendnisse gruendet. Doch die Lacher sind nicht ekel; am wenigsten wuerden es unsre deutschen Lacher sein, wenn ihnen das Fremde der Sitten und die elende Uebersetzung das mot pour rire nur nicht meistens so unverstaendlich machte.

Den funfzigsten Abend (freitags, den 24. Julius) ward Gressets "Sidney" wiederholt. Den Beschluss machte "Der sehende Blinde".

Dieses kleine Stueck ist vom Le Grand, und auch nicht von ihm. Denn er hat Titel und Intrige und alles einem alten Stuecke des De Brosse abgeborgt. Ein Offizier, schon etwas bei Jahren, will eine junge Witwe heiraten, in die er verliebt ist, als er Ordre bekoemmt, sich zur Armee zu verfuegen. Er verlaesst seine Versprochene mit den wechselseitigen Versicherungen der aufrichtigsten Zaertlichkeit. Kaum aber ist er weg, so nimmt die Witwe die Aufwartungen des Sohnes von diesem Offiziere an. Die Tochter desselben macht sich gleichergestalt die Abwesenheit ihres Vaters zunutze und nimmt einen jungen Menschen, den sie liebt, im Hause auf. Diese doppelte Intrige wird dem Vater gemeldet, der, um sich selbst davon zu ueberzeugen, ihnen schreiben laesst, dass er sein Gesicht verloren habe. Die List gelingt; er koemmt wieder nach Paris, und mit Hilfe eines Bedienten, der um den Betrug weiss, sieht er alles, was in seinem Hause vorgeht. Die Entwicklung laesst sich erraten; da der Offizier an der Unbestaendigkeit der Witwe nicht laenger zweifeln kann, so erlaubt er seinem Sohne, sie zu heiraten, und der Tochter gibt er die naemliche Erlaubnis, sich mit ihrem Geliebten zu verbinden. Die Szenen zwischen der Witwe und dem Sohn des Offiziers, in Gegenwart des letzten, haben viel Komisches; die Witwe versichert, dass ihr der Zufall des Offiziers sehr nahe gehe, dass sie ihn aber darum nicht weniger liebe; und zugleich gibt sie seinem Sohn, ihrem Liebhaber, einen Wink mit den Augen oder bezeugt ihm sonst ihre Zaertlichkeit durch Gebaerden. Das ist der Inhalt des alten Stueckes vom De Brosse,[2] und ist auch der Inhalt von dem neuen Stuecke des Le Grand. Nur dass in diesem die Intrige mit der Tochter weggeblieben ist, um jene fuenf Akte desto leichter in einen zu bringen. Aus dem Vater ist ein Onkel geworden, und was sonst dergleichen kleine Veraenderungen mehr sind. Es mag endlich entstanden sein wie es will; gnug, es gefaellt sehr. Die Uebersetzung ist in Versen, und vielleicht eine von den besten, die wir haben; sie ist wenigstens sehr fliessend und hat viele drollige Zeilen.

——Fussnote

[1] S. den 17. Abend.

[2] Hist. du Th. Fr., Tome VII. p. 226.

——Fussnote

Vierundachtzigstes Stueck
Den 19. Februar 1768

Den einundfunfzigsten Abend (montags, den 27. Julius) ward "Der
Hausvater" des Hrn. Diderot aufgefuehrt.

Da dieses vortreffliche Stueck, welches den Franzosen nur so so gefaellt, —wenigstens hat es mit Mueh' und Not kaum ein- oder zweimal auf dem Pariser Theater erscheinen duerfen—sich, allem Ansehen nach, lange, sehr lange, und warum nicht immer? auf unsern Buehnen erhalten wird; da es auch hier nicht oft genug wird koennen gespielt werden: so hoffe ich, Raum und Gelegenheit genug zu haben, alles auszukramen, was ich sowohl ueber das Stueck selbst, als ueber das ganze dramatische System des Verfassers, von Zeit zu Zeit angemerkt habe.

Ich hole recht weit aus. Nicht erst mit dem "Natuerlichen Sohne", in den beigefuegten Unterredungen, welche zusammen im Jahre 1757 herauskamen, hat Diderot sein Missvergnuegen mit dem Theater seiner Nation geaeussert. Bereits verschiedne Jahre vorher liess er es sich merken, dass er die hohen Begriffe gar nicht davon habe, mit welchen sich seine Landsleute taeuschen und Europa sich von ihnen taeuschen lassen. Aber er tat es in einem Buche, in welchem man freilich dergleichen Dinge nicht sucht; in einem Buche, in welchem der persiflierende Ton so herrschet, dass den meisten Lesern auch das, was guter gesunder Verstand darin ist, nichts als Posse und Hoehnerei zu sein scheinet. Ohne Zweifel hat Diderot seine Ursachen, warum er mit seiner Herzensmeinung lieber erst in einem solchen Buche hervorkommen wollte: ein kluger Mann sagt oefters erst mit Lachen, was er hernach im Ernste wiederholen will.

Dieses Buch heisst "Les bijoux indiscrets", und Diderot will es itzt durchaus nicht geschrieben haben. Daran tut Diderot auch sehr wohl; aber doch hat er es geschrieben und muss es geschrieben haben, wenn er nicht ein Plagiarius sein will. Auch ist es gewiss, dass nur ein solcher junger Mann dieses Buch schreiben konnte, der sich einmal schaemen wuerde, es geschrieben zu haben.

Es ist ebenso gut, wenn die wenigsten von meinen Lesern dieses Buch kennen. Ich will mich auch wohl hueten, es ihnen weiter bekannt zu machen, als es hier in meinen Kram dienet.—

Ein Kaiser—was weiss ich, wo und welcher?—hatte mit einem gewissen magischen Ringe gewisse Kleinode so viel haessliches Zeug schwatzen lassen, dass seine Favoritin durchaus nichts mehr davon hoeren wollte. Sie haette lieber gar mit ihrem ganzen Geschlechte darueber brechen moegen; wenigstens nahm sie sich auf die ersten vierzehn Tage vor, ihren Umgang einzig auf des Sultans Majestaet und ein paar witzige Koepfe einzuschraenken. Diese waren Selim und Riccaric: Selim, ein Hofmann; und Riccaric, ein Mitglied der kaiserlichen Akademie, ein Mann, der das Altertum studieret hatte und ein grosser Verehrer desselben war, doch ohne Pedant zu sein. Mit diesen unterhaelt sich die Favoritin einsmals, und das Gespraech faellt auf den elenden Ton der akademischen Reden, ueber den sich niemand mehr ereifert als der Sultan selbst, weil es ihn verdriesst, sich nur immer auf Unkosten seines Vaters und seiner Vorfahren darin loben zu hoeren, und er wohl voraussieht, dass die Akademie ebenso auch seinen Ruhm einmal dem Ruhme seiner Nachfolger aufopfern werde. Selim, als Hofmann, war dem Sultan in allem beigefallen: und so spinnt sich die Unterredung ueber das Theater an, die ich meinen Lesern hier ganz mitteile.

"Ich glaube, Sie irren sich, mein Herr", antwortete Riccaric dem Selim. "Die Akademie ist noch itzt das Heiligtum des guten Geschmacks, und ihre schoensten Tage haben weder Weltweise noch Dichter aufzuweisen, denen wir nicht andere aus unserer Zeit entgegensetzen koennten. Unser Theater ward fuer das erste Theater in ganz Afrika gehalten, und wird noch dafuer gehalten. Welch ein Werk ist nicht der 'Tamerlan' des Tuxigraphe! Es verbindet das Pathetische des Eurisope mit dem Erhabnen des Azophe. Es ist das klare Altertum!"

"Ich habe", sagte die Favoritin, "die erste Vorstellung des Tamerlans gesehen und gleichfalls den Faden des Stuecks sehr richtig gefuehret, den Dialog sehr zierlich und das Anstaendige sehr wohl beobachtet gefunden."

"Welcher Unterschied, Madame", unterbrach sie Riccaric, "zwischen einem Verfasser wie Tuxigraphe, der sich durch Lesung der Alten genaehret, und dem groessten Teile unsrer Neuern!"

"Aber diese Neuern", sagte Selim, "die Sie hier so wacker ueber die Klinge springen lassen, sind doch bei weitem so veraechtlich nicht, als Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine Charaktere, keine Schilderungen, keine Tiraden bei ihnen? Was bekuemmere ich mich um Regeln, wenn man mir nur Vergnuegen macht? Es sind wahrlich nicht die Bemerkungen des weisen Almudir und des Gelehrten Abdaldok, noch die Dichtkunst des scharfsinnigen Facardin, die ich alle nicht gelesen habe, welche es machen, dass ich die Stuecke des Aboulcazem, des Muhardar, des Albaboukre und so vieler andren Sarazenen bewundre! Gibt es denn auch eine andere Regel, als die Nachahmung der Natur? Und haben wir nicht eben die Augen, mit welchen diese sie studierten?"

"Die Natur", antwortete Riccaric, "zeiget sich uns alle Augenblicke in verschiednen Gestalten. Alle sind wahr, aber nicht alle sind gleich schoen. Eine gute Wahl darunter zu treffen, das muessen wir aus den Werken lernen, von welchen Sie eben nicht viel zu halten scheinen. Es sind die gesammelten Erfahrungen, welche ihre Verfasser und deren Vorgaenger gemacht haben. Man mag ein noch so vortrefflicher Kopf sein, so erlangt man doch nur seine Einsichten eine nach der andern; und ein einzelner Mensch schmeichelt sich vergebens, in dem kurzen Raume seines Lebens alles selbst zu bemerken, was in so vielen Jahrhunderten vor ihm entdeckt worden. Sonst liesse sich behaupten, dass eine Wissenschaft ihren Ursprung, ihren Fortgang und ihre Vollkommenheit einem einzigen Geiste zu verdanken haben koenne; welches doch wider alle Erfahrung ist."

"Hieraus, mein Herr", antwortete ihm Selim, "folget weiter nichts, als dass die Neuern, welche sich alle die Schaetze zunutze machen koennen, die bis auf ihre Zeit gesammelt worden, reicher sein muessen, als die Alten: oder, wenn Ihnen diese Vergleichung nicht gefaellt, dass sie auf den Schultern dieser Kolossen, auf die sie gestiegen, notwendig muessen weiter sehen koennen, als diese selbst. Was ist auch in der Tat ihre Naturlehre, ihre Astronomie, ihre Schiffskunst, ihre Mechanik, ihre Rechenlehre in Vergleichung mit unsern? Warum sollten wir ihnen also in der Beredsamkeit und Poesie nicht ebensowohl ueberlegen sein?"

"Selim", versetzte die Sultane, "der Unterschied ist gross, und Riccaric kann Ihnen die Ursachen davon ein andermal erklaeren. Er mag Ihnen sagen, warum unsere Tragoedien schlechter sind, als der Alten ihre; aber dass sie es sind, kann ich leicht selbst auf mich nehmen, Ihnen zu beweisen. Ich will Ihnen nicht schuld geben", fuhr sie fort, "dass Sie die Alten nicht gelesen haben. Sie haben sich um zu viele schoene Kenntnisse beworben, als dass Ihnen das Theater der Alten unbekannt sein sollte. Nun setzen Sie gewisse Ideen, die sich auf ihre Gebraeuche, auf ihre Sitten, auf ihre Religion beziehen, und die Ihnen nur deswegen anstoessig sind, weil sich die Umstaende geaendert haben, beiseite und sagen Sie mir, ob ihr Stoff nicht immer edel, wohlgewaehlt und interessant ist? ob sich die Handlung nicht gleichsam von selbst einleitet? ob der simple Dialog dem Natuerlichen nicht sehr nahe koemmt? ob die Entwicklungen im geringsten gezwungen sind? ob sich das Interesse wohl teilt und die Handlung mit Episoden ueberladen ist? Versetzen Sie sich in Gedanken in die Insel Alindala; untersuchen Sie alles, was da vorging, hoeren Sie alles, was von dem Augenblicke an, als der junge Ibrahim und der verschlagne Forfanti ans Land stiegen, da gesagt ward; naehern Sie sich der Hoehle des ungluecklichen Polipsile; verlieren Sie kein Wort von seinen Klagen, und sagen Sie mir, ob das Geringste vorkoemmt, was Sie in der Taeuschung stoeren koennte? Nennen Sie mir ein einziges neueres Stueck, welches die naemliche Pruefung aushalten, welches auf den naemlichen Grad der Vollkommenheit Anspruch machen kann: und Sie sollen gewonnen haben."

"Beim Brahma!" rief der Sultan und gaehnte; "Madame hat uns da eine vortreffliche akademische Vorlesung gehalten!"

"Ich verstehe die Regeln nicht", fuhr die Favoritin fort, "und noch weniger die gelehrten Worte, in welchen man sie abgefasst hat. Aber ich weiss, dass nur das Wahre gefaellt und ruehret. Ich weiss auch, dass die Vollkommenheit eines Schauspiels in der so genauen Nachahmung einer Handlung bestehet, dass der ohne Unterbrechung betrogne Zuschauer bei der Handlung selbst gegenwaertig zu sein glaubt. Findet sich aber in den Tragoedien, die Sie uns so ruehmen, nur das geringste, was diesem aehnlich saehe?"

Fuenfundachtzigstes Stueck
Den 23. Februar 1768

"Wollen Sie den Verlauf darin loben? Er ist meistens so vielfach und verwickelt, dass es ein Wunder sein wuerde, wenn wirklich so viel Dinge in so kurzer Zeit geschehen waeren. Der Untergang oder die Erhaltung eines Reichs, die Heirat einer Prinzessin, der Fall eines Prinzen, alles das geschieht so geschwind, wie man eine Hand umwendet. Koemmt es auf eine Verschwoerung an? Im ersten Akte wird sie entworfen; im zweiten ist sie beisammen; im dritten werden alle Massregeln genommen, alle Hindernisse gehoben, und die Verschwornen halten sich fertig; mit naechstem wird es einen Aufstand setzen, wird es zum Treffen kommen, wohl gar zu einer foermlichen Schlacht. Und das alles nennen Sie gut gefuehrt, interessant, warm, wahrscheinlich? Ihnen kann ich nun so etwas am wenigsten vergeben, der Sie wissen, wieviel es oft kostet, die allerelendeste Intrige zustande zu bringen, und wieviel Zeit bei der kleinsten politischen Angelegenheit auf Einleitungen, auf Besprechungen und Beratschlagungen geht."

"Es ist wahr, Madame", antwortete Selim, "unsere Stuecke sind ein wenig ueberladen; aber das ist ein notwendiges Uebel; ohne Hilfe der Episoden wuerden wir uns vor Frost nicht zu lassen wissen."

"Das ist. Um der Nachahmung einer Handlung Feuer und Geist zu geben, muss man die Handlung weder so vorstellen, wie sie ist, noch so, wie sie sein sollte. Kann etwas Laecherlicheres gedacht werden? Schwerlich wohl; es waere denn etwa dieses, dass man die Geigen ein lebhaftes Stueck, eine muntere Sonate spielen laesst, waehrend dass die Zuhoerer um den Prinzen bekuemmert sein sollen, der auf dem Punkte ist, seine Geliebte, seinen Thron und sein Leben zu verlieren.

"Madame", sagte Mongogul, "Sie haben vollkommen recht; traurige Arien muesste man indes spielen, und ich will Ihnen gleich einige bestellen gehen." Hiermit stand er auf und ging heraus, und Selim, Riccaric und die Favoritin setzten die Unterredung unter sich fort.

"Wenigstens, Madame", erwiderte Selim, "werden Sie nicht leugnen, dass, wenn die Episoden uns aus der Taeuschung herausbringen, der Dialog uns wieder hereinsetzt. Ich wuesste nicht, wer das besser verstuende, als unsere tragische Dichter."

"Nun so versteht es durchaus niemand", antwortete Mirzoza. "Das Gesuchte, das Witzige, das Spielende, das darin herrscht, ist tausend und tausend Meilen von der Natur entfernt. Umsonst sucht sich der Verfasser zu verstecken; er entgeht meinen Augen nicht, und ich erblicke ihn unaufhoerlich hinter seinen Personen. Cinna, Sertorius, Maximus, Aemilia sind alle Augenblicke das Sprachrohr des Corneille. So spricht man bei unsern alten Sarazenen nicht miteinander. Herr Riccaric kann Ihnen, wenn Sie wollen, einige Stellen daraus uebersetzen; und Sie werden die blosse Natur hoeren, die sich durch den Mund derselben ausdrueckt. Ich moechte gar zu gern zu den Neuern sagen: 'Meine Herren, anstatt dass ihr euern Personen bei aller Gelegenheit Witz gebt, so sucht sie doch lieber in Umstaende zu setzen, die ihnen welchen geben.'"

"Nach dem zu urteilen, was Madame von dem Verlaufe und dem Dialoge unserer dramatischen Stuecke gesagt hat, scheint es wohl nicht", sagte Selim, "dass Sie den Entwicklungen wird Gnade widerfahren lassen."

"Nein, gewiss nicht", versetzte die Favoritin, "es gibt hundert schlechte fuer eine gute. Die eine ist nicht vorbereitet; die andere ereignet sich durch ein Wunder. Weiss der Verfasser nicht, was er mit einer Person, die er von Szene zu Szene ganze fuenf Akte durchgeschleppt hat, anfangen soll: geschwind fertiget er sie mit einem guten Dolchstosse ab; die ganze Welt faengt an zu weinen, und ich, ich lache, als ob ich toll waere. Hernach, hat man wohl jemals so gesprochen, wie wir deklamieren? Pflegen die Prinzen und Koenige wohl anders zu gehen, als sonst ein Mensch, der gut geht? Gestikulieren sie wohl jemals wie Besessene und Rasende? Und wenn Prinzessinnen sprechen, sprechen sie wohl in so einem heulenden Tone? Man nimmt durchgaengig an, dass wir die Tragoedie zu einem hohen Grade der Vollkommenheit gebracht haben; und ich, meinesteils, halte es fast fuer erwiesen, dass von allen Gattungen der Literatur, auf die sich die Afrikaner in den letzten Jahrhunderten gelegt haben, gerade diese die unvollkommenste geblieben ist."

Eben hier war die Favoritin mit ihrem Ausfalle gegen unsere theatralische Werke, als Mongogul wieder hereinkam. "Madame", sagte er, "Sie werden mir einen Gefallen erweisen, wenn Sie fortfahren. Sie sehen, ich verstehe mich darauf, eine Dichtkunst abzukuerzen, wenn ich sie zu lang finde."

"Lassen Sie uns", fuhr die Favoritin fort, "einmal annehmen, es kaeme einer ganz frisch aus Angote, der in seinem Leben von keinem Schauspiele etwas gehoert haette; dem es aber weder an Verstande noch an Welt fehle; der ungefaehr wisse, was an einem Hofe vorgehe; der mit den Anschlaegen der Hoeflinge, mit der Eifersucht der Minister, mit den Hetzereien der Weiber nicht ganz unbekannt waere, und zu dem ich im Vertrauen sagte: 'Mein Freund, es aeussern sich in dem Seraglio schreckliche Bewegungen. Der Fuerst, der mit seinem Sohne missvergnuegt ist, weil er ihn im Verdacht hat, dass er die Manimonbande liebt, ist ein Mann, den ich fuer faehig halte, an beiden die grausamste Rache zu ueben. Diese Sache muss, allem Ansehen nach, sehr traurige Folgen haben. Wenn Sie wollen, so will ich machen, dass Sie von allem, was vorgeht, Zeuge sein koennen.' Er nimmt mein Anerbieten an, und ich fuehre ihn in eine mit Gitterwerk vermachte Loge, aus der er das Theater sieht, welches er fuer den Palast des Sultans haelt. Glauben Sie wohl, dass trotz alles Ernstes, in dem ich mich zu erhalten bemuehte, die Taeuschung dieses Fremden einen Augenblick dauern koennte? Muessen Sie nicht vielmehr gestehen, dass er, bei dem steifen Gange der Akteurs, bei ihrer wunderlichen Tracht, bei ihren ausschweifenden Gebaerden, bei dem seltsamen Nachdrucke ihrer gereimten, abgemessenen Sprache, bei tausend andern Ungereimtheiten, die ihm auffallen wuerden, gleich in der ersten Szene mir ins Gesicht lachen und gerade heraus sagen wuerde, dass ich ihn entweder zum Besten haben wollte, oder dass der Fuerst mitsamt seinem Hofe nicht wohl bei Sinnen sein muessten."

"Ich bekenne", sagte Selim, "dass mich dieser angenommene Fall verlegen macht; aber koennte man Ihnen nicht zu bedenken geben, dass wir in das Schauspiel gehen, mit der Ueberzeugung, der Nachahmung einer Handlung, nicht aber der Handlung selbst beizuwohnen."

"Und sollte denn diese Ueberzeugung verwehren", erwiderte Mirzoza, "die
Handlung auf die allernatuerlichste Art vorzustellen?"—

Hier koemmt das Gespraech nach und nach auf andere Dinge, die uns nichts angehen. Wir wenden uns also wieder, zu sehen, was wir gelesen haben. Den klaren Lautern Diderot! Aber alle diese Wahrheiten waren damals in den Wind gesagt. Sie erregten eher keine Empfindung in dem franzoesischen Publico, als bis sie mit allem didaktischen Ernste wiederholt und mit Proben begleitet wurden, in welchen sich der Verfasser von einigen der geruegten Maengel zu entfernen und den Weg der Natur und Taeuschung besser einzuschlagen bemueht hatte. Nun weckte der Neid die Kritik. Nun war es klar, warum Diderot das Theater seiner Nation auf dem Gipfel der Vollkommenheit nicht sahe, auf dem wir es durchaus glauben sollen; warum er so viel Fehler in den gepriesenen Meisterstuecken desselben fand: bloss und allein, um seinen Stuecken Platz zu schaffen. Er musste die Methode seiner Vorgaenger verschrien haben, weil er empfand, dass in Befolgung der naemlichen Methode, er unendlich unter ihnen bleiben wuerde. Er musste ein elender Charlatan sein, der allen fremden Theriak verachtet, damit kein Mensch andern als seinen kaufe. Und so fielen die Palissots ueber seine Stuecke her.

Allerdings hatte er ihnen auch, in seinem "Natuerlichen Sohne", manche Bloesse gegeben. Dieser erste Versuch ist bei weiten das nicht, was der "Hausvater" ist. Zu viel Einfoermigkeit in den Charakteren, das Romantische in diesen Charakteren selbst, ein steifer kostbarer Dialog, ein pedantisches Geklingle von neumodisch philosophischen Sentenzen: alles das machte den Tadlern leichtes Spiel. Besonders zog die feierliche Theresia (oder Constantia, wie sie in dem Originale heisst), die so philosophisch selbst auf die Freierei geht, die mit einem Manne, der sie nicht mag, so weise von tugendhaften Kindern spricht, die sie mit ihm zu erzielen gedenkt, die Lacher auf ihre Seite. Auch kann man nicht leugnen, dass die Einkleidung, welche Diderot den beigefuegten Unterredungen gab, dass der Ton, den er darin annahm, ein wenig eitel und pompoes war; dass verschiedene Anmerkungen als ganz neue Entdeckungen darin vorgetragen wurden, die doch nicht neu und dem Verfasser nicht eigen waren; dass andere Anmerkungen die Gruendlichkeit nicht hatten, die sie in dem blendenden Vortrage zu haben schienen.

Sechsundachtzigstes Stueck
Den 26. Februar 1768

z.E. Diderot behauptete,[1] dass es in der menschlichen Natur aufs hoechste nur ein Dutzend wirklich komische Charaktere gaebe, die grosser Zuege faehig waeren; und dass die kleinen Verschiedenheiten unter den menschlichen Charakteren nicht so gluecklich bearbeitet werden koennten, als die reinen unvermischten Charaktere. Er schlug daher vor, nicht mehr die Charaktere, sondern die Staende auf die Buehne zu bringen; und wollte die Bearbeitung dieser zu dem besondern Geschaefte der ernsthaften Komoedie machen. "Bisher", sagt er, "ist in der Komoedie der Charakter das Hauptwerk gewesen; und der Stand war nur etwas Zufaelliges: nun aber muss der Stand das Hauptwerk, und der Charakter das Zufaellige werden. Aus dem Charakter zog man die ganze Intrige: man suchte durchgaengig die Umstaende, in welchen er sich am besten aeussert, und verband diese Umstaende untereinander. Kuenftig muss der Stand, muessen die Pflichten, die Vorteile, die Unbequemlichkeiten desselben zur Grundlage des Werks dienen. Diese Quelle scheint mir weit ergiebiger, von weit groesserm Umfange, von weit groesserm Nutzen, als die Quelle der Charaktere. War der Charakter nur ein wenig uebertrieben, so konnte der Zuschauer zu sich selbst sagen: das bin ich nicht. Das aber kann er unmoeglich leugnen, dass der Stand, den man spielt, sein Stand ist; seine Pflichten kann er unmoeglich verkennen. Er muss das, was er hoert, notwendig auf sich anwenden."

Was Palissot hierwider erinnert,[2] ist nicht ohne Grund. Er leugnet es, dass die Natur so arm an urspruenglichen Charakteren sei, dass sie die komischen Dichter bereits sollten erschoepft haben. Moliere sahe noch genug neue Charaktere vor sich und glaubte kaum den allerkleinsten Teil von denen behandelt zu haben, die er behandeln koenne. Die Stelle, in welcher er verschiedne derselben in der Geschwindigkeit entwirft, ist so merkwuerdig als lehrreich, indem sie vermuten laesst, dass der Misanthrop schwerlich sein Non plus ultra in dem hohen Komischen duerfte geblieben sein, wann er laenger gelebt haette.[3] Palissot selbst ist nicht ungluecklich, einige neue Charaktere von seiner eignen Bemerkung beizufuegen: den dummen Maezen mit seinen kriechenden Klienten; den Mann an seiner unrechten Stelle; den Arglistigen, dessen ausgekuenstelte Anschlaege immer gegen die Einfalt eines treuherzigen Biedermanns scheitern; den Scheinphilosophen; den Sonderling, den Destouches verfehlt habe; den Heuchler mit gesellschaftlichen Tugenden, da der Religionsheuchler ziemlich aus der Mode sei.—Das sind wahrlich nicht gemeine Aussichten, die sich einem Auge, das gut in die Ferne traegt, bis ins Unendliche erweitern. Das ist noch Ernte genug fuer die wenigen Schnitter, die sich daran wagen duerfen!

Und wenn auch, sagt Palissot, der komischen Charaktere wirklich so wenige, und diese wenigen wirklich alle schon bearbeitet waeren: wuerden die Staende denn dieser Verlegenheit abhelfen? Man waehle einmal einen; z. E. den Stand des Richters. Werde ich ihm denn, dem Richter, nicht einen Charakter geben muessen? Wird er nicht traurig oder lustig, ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder stuermisch sein muessen? Wird es nicht bloss dieser Charakter sein, der ihn aus der Klasse metaphysischer Abstrakte heraushebt und eine wirkliche Person aus ihm macht? Wird nicht folglich die Grundlage der Intrige und die Moral des Stuecks wiederum auf dem Charakter beruhen? Wird nicht folglich wiederum der Stand nur das Zufaellige sein?

Zwar koennte Diderot hierauf antworten: Freilich muss die Person, welche ich mit dem Stande bekleide, auch ihren individuellen moralischen Charakter haben; aber ich will, dass es ein solcher sein soll, der mit den Pflichten und Verhaeltnissen des Standes nicht streitet, sondern aufs beste harmonieret. Also, wenn diese Person ein Richter ist, so steht es mir nicht frei, ob ich ihn ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder stuermisch machen will: er muss notwendig ernsthaft und leutselig sein, und jedesmal es in dem Grade sein, den das vorhabende Geschaefte erfodert.

Dieses, sage ich, koennte Diderot antworten: aber zugleich haette er sich einer andern Klippe genaehert; naemlich der Klippe der vollkommnen Charaktere. Die Personen seiner Staende wuerden nie etwas anders tun, als was sie nach Pflicht und Gewissen tun muessten; sie wuerden handeln, voellig wie es im Buche steht. Erwarten wir das in der Komoedie? Koennen dergleichen Vorstellungen anziehend genug werden? Wird der Nutzen, den wir davon hoffen duerfen, gross genug sein, dass es sich der Muehe verlohnt, eine neue Gattung dafuer festzusetzen und fuer diese eine eigene Dichtkunst zu schreiben?

Die Klippe der vollkommenen Charaktere scheinet mir Diderot ueberhaupt nicht genug erkundiget zu haben. In seinen Stuecken steuert er ziemlich gerade darauf los: und in seinen kritischen Seekarten findet sich durchaus keine Warnung davor. Vielmehr finden sich Dinge darin, die den Lauf nach ihr hin zu lenken raten. Man erinnere sich nur, was er, bei Gelegenheit des Kontrasts unter den Charakteren, von den "Bruedern" des Terenz sagt.[4] "Die zwei kontrastierten Vaeter darin sind mit so gleicher Staerke gezeichnet, dass man dem feinsten Kunstrichter Trotz bieten kann, die Hauptperson zu nennen; ob es Micio oder ob es Demea sein soll? Faellt er sein Urteil vor dem letzten Auftritte, so duerfte er leicht mit Erstaunen wahrnehmen, dass der, den er ganzer fuenf Aufzuege hindurch fuer einen verstaendigen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr ist, und dass der, den er fuer einen Narren gehalten hat, wohl gar der verstaendige Mann sein koennte. Man sollte zu Anfange des fuenften Aufzuges dieses Drama fast sagen, der Verfasser sei durch den beschwerlichen Kontrast gezwungen worden, seinen Zweck fahren zu lassen und das ganze Interesse des Stuecks umzukehren. Was ist aber daraus geworden? Dieses, dass man gar nicht mehr weiss, fuer wen man sich interessieren soll. Vom Anfange her ist man fuer den Micio gegen den Demea gewesen, und am Ende ist man fuer keinen von beiden. Beinahe sollte man einen dritten Vater verlangen, der das Mittel zwischen diesen zwei Personen hielte und zeigte, worin sie beide fehlten."

Nicht ich! Ich verbitte mir ihn sehr, diesen dritten Vater; es sei in dem naemlichen Stuecke, oder auch allein. Welcher Vater glaubt nicht zu wissen, wie ein Vater sein soll? Auf dem rechten Wege duenken wir uns alle: wir verlangen nur, dann und wann vor den Abwegen zu beiden Seiten gewarnet zu werden.

Diderot hat recht: es ist besser, wenn die Charaktere bloss verschieden, als wenn sie kontrastiert sind. Kontrastierte Charaktere sind minder natuerlich und vermehren den romantischen Anstrich, an dem es den dramatischen Begebenheiten so schon selten fehlt. Fuer eine Gesellschaft im gemeinen Leben, wo sich der Kontrast der Charaktere so abstechend zeigt, als ihn der komische Dichter verlangt, werden sich immer tausend finden, wo sie weiter nichts als verschieden sind. Sehr richtig! Aber ist ein Charakter, der sich immer genau in dem graden Gleise haelt, das ihm Vernunft und Tugend vorschreiben, nicht eine noch seltenere Erscheinung? Von zwanzig Gesellschaften im gemeinen Leben werden eher zehn sein, in welchen man Vaeter findet, die bei Erziehung ihrer Kinder voellig entgegengesetzte Wege einschlagen, als eine, die den wahren Vater aufweisen koennte. Und dieser wahre Vater ist noch dazu immer der naemliche, ist nur ein einziger, da der Abweichungen von ihm unendlich sind. Folglich werden die Stuecke, die den wahren Vater ins Spiel bringen, nicht allein jedes vor sich unnatuerlicher, sondern auch untereinander einfoermiger sein, als es die sein koennen, welche Vaeter von verschiednen Grundsaetzen einfuehren. Auch ist es gewiss, dass die Charaktere, welche in ruhigen Gesellschaften bloss verschieden scheinen, sich von selbst kontrastieren, sobald ein streitendes Interesse sie in Bewegung setzt. Ja es ist natuerlich, dass sie sich sodann beeifern, noch weiter voneinander entfernt zu scheinen, als sie wirklich sind. Der Lebhafte wird Feuer und Flamme gegen den, der ihm zu lau sich zu betragen scheinet: und der Laue wird kalt wie Eis, um jenem soviel Uebereilungen begehen zu lassen, als ihm nur immer nuetzlich sein koennen.

——Fussnote

[1] S. die Unterredungen hinter dem "Natuerlichen Sohne", S. 321-322 d. Uebers.

[2] "Petites Lettres sur de grands Philosophes", Lettr. II.

[3] ("Impromptu de Versailles", Sc. 3.) Eh! mon pauvre Marquis, nous lui (a Moliere) fournirons toujours assez de matiere, et nous ne prenons guere le chemin de nous rendre sages par tout ce qu'il fait et tout ce qu'il dit. Crois-tu qu'il ait epuise dans ses Comedies tous les ridicules des hommes, et sans sortir de la Cour, n'a-t-il pas encore vingt caracteres de gens, ou il n'a pas touche? N'a-t-il pas, par exemple, ceux qui se font les plus grandes amities du monde, et qui, le dos tourne, font galanterie de se dechirer l'un l'autre? N'a-t-il pas ces adulateurs a outrance, ces flatteurs insipides qui n'assaisonnent d'aucun sel les louanges qu'ils donnent, et dont toutes les flatteries ont une douceur fade qui fait mal au coeur a ceux qui les ecoutent? N'a-t-il pas ces laches courtisans de la faveur, ces perfides adorateurs de la fortune, qui vous encensent dans la prosperite, et vous accablent dans la disgrace? N'a-t-il pas ceux qui sont toujours mecontents de la Cour, ces suivants inutiles, ces incommodes assidus, ces gens, dis-je, qui pour services ne peuvent compter que des importunites, et qui veulent qu'on les recompense d'avoir obsede le Prince dix ans durant? N'a-t-il pas ceux qui caressent egalement tout le monde, qui promenent leurs civilites a droite, a gauche, et courent a tous ceux qu'ils voyent avec les memes embrassades, et les memes protestations d'amitie?—Va, va, Marquis, Moliere aura toujours plus de sujets qu'il n'en voudra, et tout ce qu'il a touche n'est que bagatelle au prix de ce qui reste.

[4] In der dr. Dichtkunst hinter dem "Hausvater", S. 258 d. Uebers.

——Fussnote

Siebenundachtzig-und achtundachtzigstes Stueck
Den 4. Maerz 1768

Und so sind andere Anmerkungen des Palissot mehr, wenn nicht ganz richtig, doch auch nicht ganz falsch. Er sieht den Ring, in den er mit seiner Lanze stossen will, scharf genug; aber in der Hitze des Ansprengens verrueckt die Lanze, und er stoesst den Ring gerade vorbei.

So sagt er ueber den "Natuerlichen Sohn" unter andern: "Welch ein seltsamer Titel! der natuerliche Sohn! Warum heisst das Stueck so? Welchen Einfluss hat die Geburt des Dorval? Was fuer einen Vorfall veranlasst sie? Zu welcher Situation gibt sie Gelegenheit? Welche Luecke fuellt sie auch nur? Was kann also die Absicht des Verfassers dabei gewesen sein? Ein paar Betrachtungen ueber das Vorurteil gegen die uneheliche Geburt aufzuwaermen? Welcher vernuenftige Mensch weiss denn nicht von selbst, wie ungerecht ein solches Vorurteil ist?"

Wenn Diderot hierauf antwortete: Dieser Umstand war allerdings zur Verwickelung meiner Fabel noetig; ohne ihn wuerde es weit unwahrscheinlicher gewesen sein, dass Dorval seine Schwester nicht kennet und seine Schwester von keinem Bruder weiss; es stand mir frei, den Titel davon zu entlehnen, und ich haette den Titel von noch einem geringern Umstande entlehnen koennen. —Wenn Diderot dieses antwortete, sag' ich, waere Palissot nicht ungefaehr widerlegt?

Gleichwohl ist der Charakter des natuerlichen Sohnes einem ganz andern Einwurfe blossgestellet, mit welchem Palissot dem Dichter weit schaerfer haette zusetzen koennen. Diesem naemlich: dass der Umstand der unehelichen Geburt und der daraus erfolgten Verlassenheit und Absonderung, in welcher sich Dorval von allen Menschen so viele Jahre hindurch sahe, ein viel zu eigentuemlicher und besonderer Umstand ist, gleichwohl auf die Bildung seines Charakters viel zuviel Einfluss gehabt hat, als dass dieser diejenige Allgemeinheit haben koenne, welche nach der eignen Lehre des Diderot ein komischer Charakter notwendig haben muss.—Die Gelegenheit reizt mich zu einer Ausschweifung ueber diese Lehre: und welchem Reize von der Art brauchte ich in einer solchen Schrift zu widerstehen?

"Die komische Gattung", sagt Diderot,[1] "hat Arten, und die tragische hat Individua. Ich will mich erklaeren. Der Held einer Tragoedie ist der und der Mensch. es ist Regulus, oder Brutus, oder Cato, und sonst kein anderer. Die vornehmste Person einer Komoedie hingegen muss eine grosse Anzahl von Menschen vorstellen. Gaebe man ihr von ohngefaehr eine so eigene Physiognomie, dass ihr nur ein einziges Individuum aehnlich waere, so wuerde die Komoedie wieder in ihre Kindheit zuruecktreten.—Terenz scheinet mir einmal in diesen Fehler gefallen zu sein. Sein Heautontimorumenos ist ein Vater, der sich ueber den gewaltsamen Entschluss graemet, zu welchem er seinen Sohn durch uebermaessige Strenge gebracht hat, und der sich deswegen nun selbst bestraft, indem er sich in Kleidung und Speise kuemmerlich haelt, allen Umgang fliehet, sein Gesinde abschafft und das Feld mit eigenen Haenden bauet. Man kann gar wohl sagen, dass es so einen Vater nicht gibt. Die groesste Stadt wuerde kaum in einem ganzen Jahrhunderte ein Beispiel einer so seltsamen Betruebnis aufzuweisen haben."

Zuerst von der Instanz des "Heautontimorumenos". Wenn dieser Charakter wirklich zu tadeln ist: so trifft der Tadel nicht sowohl den Terenz, als den Menander. Menander war der Schoepfer desselben, der ihn, allem Ansehen nach, in seinem Stuecke noch weit ausfuehrlichere Rolle spielen lassen, als er in der Kopie des Terenz spielet, in der sich seine Sphaere, wegen der verdoppelten Intrige, wohl sehr einziehen muessen.[2] Aber dass er von Menandern herruehrt, dieses allein schon haette, mich wenigstens, abgeschreckt, den Terenz desfalls zu verdammen. Das [Greek: o Menandre kai bie, poteros ar' ymon poteron emimaesato]; ist zwar frostiger, als witzig gesagt: doch wuerde man es wohl ueberhaupt von einem Dichter gesagt haben, der Charaktere zu schildern imstande waere, wovon sich in der groessten Stadt kaum in einem ganzen Jahrhunderte ein einziges Beispiel zeiget? Zwar in hundert und mehr Stuecken koennte ihm auch wohl ein solcher Charakter entfallen sein. Der fruchtbarste Kopf schreibt sich leer; und wenn die Einbildungskraft sich keiner wirklichen Gegenstaende der Nachahmung mehr erinnern kann, so komponiert sie deren selbst, welches denn freilich meistens Karikaturen werden. Dazu will Diderot bemerkt haben, dass schon Horaz, der einen so besonders zaertlichen Geschmack hatte, den Fehler, wovon die Rede ist, eingesehen und im Vorbeigehen, aber fast unmerklich, getadelt habe.

Die Stelle soll die in der zweiten Satire des ersten Buchs sein, wo Horaz zeigen will, "dass die Narren aus einer Uebertreibung in die andere entgegengesetzte zu fallen pflegen. Fufidius", sagt er, "fuerchtet fuer einen Verschwender gehalten zu werden. Wisst ihr, was er tut? Er leihet monatlich fuer fuenf Prozent und macht sich im voraus bezahlt. Je noetiger der andere das Geld braucht, desto mehr fodert er. Er weiss die Namen aller jungen Leute, die von gutem Hause sind und itzt in die Welt treten, dabei aber ueber harte Vaeter zu klagen haben. Vielleicht aber glaubt ihr, dass dieser Mensch wieder einen Aufwand mache, der seinen Einkuenften entspricht? Weit gefehlt! Er ist sein grausamster Feind, und der Vater in der Komoedie, der sich wegen der Entweichung seines Sohnes bestraft, kann sich nicht schlechter quaelen: non se pejus cruciaverit."—Dieses schlechter, dieses pejus, will Diderot, soll hier einen doppelten Sinn haben; einmal soll es auf den Fufidius, und einmal auf den Terenz gehen; dergleichen beilaeufige Hiebe, meinet er, waeren dem Charakter des Horaz vollkommen gemaess.

Das letzte kann sein, ohne sich auf die vorhabende Stelle anwenden zu lassen. Denn hier, duenkt mich, wuerde die beilaeufige Anspielung dem Hauptverstande nachteilig werden. Fufidius ist kein so grosser Narr, wenn es mehr solche Narren gibt. Wenn sich der Vater des Terenz ebenso abgeschmackt peinigte, wenn er ebensowenig Ursache haette, sich zu peinigen, als Fufidius, so teilt er das Laecherliche mit ihm, und Fufidius ist weniger seltsam und abgeschmackt. Nur alsdenn, wenn Fufidius, ohne alle Ursache, ebenso hart und grausam gegen sich selbst ist, als der Vater des Terenz mit Ursache ist, wenn jener aus schmutzigem Geize tut, was dieser aus Reu und Betruebnis tat: nur alsdenn wird uns jener unendlich laecherlicher und veraechtlicher, als mitleidswuerdig wir diesen finden.

Und allerdings ist jede grosse Betruebnis von der Art, wie die Betruebnis dieses Vaters: die sich nicht selbst vergisst, die peiniget sich selbst. Es ist wider alle Erfahrung, dass kaum alle hundert Jahre sich ein Beispiel einer solchen Betruebnis finde: vielmehr handelt jede ungefaehr ebenso; nur mehr oder weniger, mit dieser oder jener Veraenderung. Cicero hatte auf die Natur der Betruebnis genauer gemerkt; er sahe daher in dem Betragen des Heautontimorumenos nichts mehr, als was alle Betruebte, nicht bloss von dem Affekte hingerissen, tun, sondern auch bei kaelterm Gebluete fortsetzen zu muessen glauben.[3] Haec omnia recta, vera, debita putantes, faciunt in dolore: maximeque declaratur, hoc quasi officii judicio fieri, quod si qui forte, cum se in luctu esse vellent, aliquid fecerunt humanius, aut si hilarius locuti essent, revocant se rursus ad moestitiam, peccatique se insimulant, quod dolere intermiserint: pueros vero matres et magistri castigare etiam solent, nec verbis solum, sed etiam verberibus, si quid in domestico luctu hilarius ab iis factum est, aut dictum: plorare cogunt.—Quid ille Terentianus ipse se puniens? usw.

Menedemus aber, so heisst der Selbstpeiniger bei dem Terenz, haelt sich nicht allein so hart aus Betruebnis; sondern, warum er sich auch jeden geringen Aufwand verweigert, ist die Ursache und Absicht vornehmlich dieses: um desto mehr fuer den abwesenden Sohn zu sparen und dem einmal ein desto gemaechlicheres Leben zu versichern, den er itzt gezwungen, ein so ungemaechliches zu ergreifen. Was ist hierin, was nicht hundert Vaeter tun wuerden? Meint aber Diderot, dass das Eigene und Seltsame darin bestehe, dass Menedemus selbst hackt, selbst graebt, selbst ackert: so hat er wohl in der Eil' mehr an unsere neuere, als an die alten Sitten gedacht. Ein reicher Vater itziger Zeit wuerde das freilich nicht so leicht tun: denn die wenigsten wuerden es zu tun verstehen. Aber die wohlhabensten, vornehmsten Roemer und Griechen waren mit allen laendlichen Arbeiten bekannter und schaemten sich nicht, selbst Hand anzulegen.

Doch alles sei, vollkommen wie es Diderot sagt! Der Charakter des Selbstpeinigers sei wegen des Allzueigentuemlichen, wegen dieser ihm fast nur allein zukommenden Falte, zu einem komischen Charakter so ungeschickt, als er nur will. Waere Diderot nicht in eben den Fehler gefallen? Denn was kann eigentuemlicher sein, als der Charakter seines Dorval? Welcher Charakter kann mehr eine Falte haben, die ihm nur allein zukoemmt, als der Charakter dieses natuerlichen Sohnes? "Gleich nach meiner Geburt", laesst er ihn von sich selbst sagen, "ward ich an einen Ort verschleudert, der die Grenze zwischen Einoede und Gesellschaft heissen kann; und als ich die Augen auftat, mich nach den Banden umzusehen, die mich mit den Menschen verknuepften, konnte ich kaum einige Truemmern davon erblicken. Dreissig Jahre lang irrte ich unter ihnen einsam, unbekannt und verabsaeumet umher, ohne die Zaertlichkeit irgendeines Menschen empfunden, noch irgendeinen Menschen angetroffen zu haben, der die meinige gesucht haette." Dass ein natuerliches Kind sich vergebens nach seinen Eltern, vergebens nach Personen umsehen kann, mit welchen es die naehern Bande des Bluts verknuepfen: das ist sehr begreiflich; das kann unter zehnen neunen begegnen. Aber dass es ganze dreissig Jahre in der Welt herumirren koenne, ohne die Zaertlichkeit irgendeines Menschen empfunden zu haben, ohne irgendeinen Menschen angetroffen zu haben, der die seinige gesucht haette: das, sollte ich fast sagen, ist schlechterdings unmoeglich. Oder wenn es moeglich waere, welche Menge ganz besonderer Umstaende muessten von beiden Seiten, von seiten der Welt und von seiten dieses so lange insulierten Wesens zusammengekommen sein, diese traurige Moeglichkeit wirklich zu machen? Jahrhunderte auf Jahrhunderte werden verfliessen, ehe sie wieder einmal wirklich wird. Wolle der Himmel nicht, dass ich mir je das menschliche Geschlecht anders vorstelle! Lieber wuenschte ich sonst, ein Baer geboren zu sein, als ein Mensch. Nein, kein Mensch kann unter Menschen so lange verlassen sein! Man schleudere ihn hin, wohin man will: wenn er noch unter Menschen faellt, so faellt er unter Wesen, die, ehe er sich umgesehen, wo er ist, auf allen Seiten bereit stehen, sich an ihn anzuketten. Sind es nicht vornehme, so sind es geringe! Sind es nicht glueckliche, so sind es unglueckliche Menschen! Menschen sind es doch immer. So wie ein Tropfen nur die Flaeche des Wassers beruehren darf, um von ihm aufgenommen zu werden und ganz in ihm zu verfliessen: das Wasser heisse, wie es will, Lache oder Quelle, Strom oder See, Belt oder Ozean.

Gleichwohl soll diese dreissigjaehrige Einsamkeit unter den Menschen den Charakter des Dorval gebildet haben. Welcher Charakter kann ihm nun aehnlich sehen? Wer kann sich in ihm erkennen? nur zum kleinsten Teil in ihm erkennen?

Eine Ausflucht, finde ich doch, hat sich Diderot auszusparen gesucht. Er sagt in dem Verfolge der angezogenen Stelle: "In der ernsthaften Gattung werden die Charaktere oft ebenso allgemein sein, als in der komischen Gattung; sie werden aber allezeit weniger individuell sein, als in der tragischen." Er wuerde sonach antworten: Der Charakter des Dorval ist kein komischer Charakter; er ist ein Charakter, wie ihn das ernsthafte Schauspiel erfodert; wie dieses den Raum zwischen Komoedie und Tragoedie fuellen soll, so muessen auch die Charaktere desselben das Mittel zwischen den komischen und tragischen Charakteren halten; sie brauchen nicht so allgemein zu sein als jene, wenn sie nur nicht so voellig individuell sind, als diese; und solcher Art duerfte doch wohl der Charakter des Dorval sein.

Also waeren wir gluecklich wieder an dem Punkte, von welchem wir ausgingen. Wir wollten untersuchen, ob es wahr sei, dass die Tragoedie Individua, die Komoedie aber Arten habe: das ist, ob es wahr sei, dass die Personen der Komoedie eine grosse Anzahl von Menschen fassen und zugleich vorstellen muessten; dahingegen der Held der Tragoedie nur der und der Mensch, nur Regulus oder Brutus oder Cato sei und sein solle. Ist es wahr, so hat auch das, was Diderot von den Personen der mittlern Gattung sagt, die er die ernsthafte Komoedie nennt, keine Schwierigkeit, und der Charakter seines Dorval waere so tadelhaft nicht. Ist es aber nicht wahr, so faellt auch dieses von selbst weg, und dem Charakter des natuerlichen Sohnes kann aus einer so ungegruendeten Einteilung keine Rechtfertigung zufliessen.

——Fussnote

[1] Unterred., S. 292 d. Uebers.

[2] Falls naemlich die 6. Zeile des Prologs

Duplex quae ex argumento facta est simplici,

von dem Dichter wirklich so geschrieben und nicht anders zu verstehen ist, als die Dacier und nach ihr der neue englische Uebersetzer des Terenz, Colman, sie erklaeren. Terence only meant to say, that he had doubled the characters; instead of one old man, one young gallant, one mistress, as in Menander, he had two old men etc. He therefore adds very properly: novam esse ostendi,—which certainly could not have been implied, had the characters been the same in the Greek poet. Auch schon Adrian Barlandus, ja selbst die alte Glossa interlinealis des Ascensius, hatte das duplex nicht anders verstanden; propter senes et juvenes sagt diese; und jener schreibt: nam in hac latina senes duo, adolescentes item duo sunt. Und dennoch will mir diese Auslegung nicht in den Kopf, weil ich gar nicht einsehe, was von dem Stuecke uebrigbleibt, wenn man die Personen, durch welche Terenz den Alten, den Liebhaber und die Geliebte verdoppelt haben soll, wieder wegnimmt. Mir ist es unbegreiflich, wie Menander diesen Stoff ohne den Chremes und ohne den Clitipho habe behandeln koennen; beide sind so genau hineingeflochten, dass ich mir weder Verwicklung noch Aufloesung ohne sie denken kann. Einer andern Erklaerung, durch welche sich Julius Scaliger laecherlich gemacht hat, will ich gar nicht gedenken. Auch die, welche Eugraphius gegeben hat, und die vom Faerne angenommen worden, ist ganz unschicklich. In dieser Verlegenheit haben die Kritici bald das duplex, bald das simplici in der Zeile zu veraendern gesucht, wozu sie die Handschriften gewissermassen berechtigten. Einige haben gelesen:

Duplex quae ex Argumente facta est duplici.

Andere:

Simplex quae ex argumento facta est duplici.

Was bleibt noch uebrig, als dass nun auch einer lieset:

Simplex quae ex argumento facta est simplici?

Und in allem Ernste: so moechte ich am liebsten lesen. Man sehe die Stelle im Zusammenhange, und ueberlege meine Gruende:

    Ex integra Graeca integram comoediam
    Hodie sum acturus Heautontimorumenon:
    Simplex quae ex argumento facta est simplici.

[3] Es ist bekannt, was dem Terenz von seinen neidischen Mitarbeitern am Theater vorgeworfen ward:

    Multas contaminasse graecas, dum facit
    Paucas latinas—

[4] Er schmelzte naemlich oefters zwei Stuecke in eines und machte aus zwei griechischen Komoedien eine einzige lateinische. So setzte er seine "Andria" aus der "Andria" und "Perinthia" des Menanders zusammen; seinen "Eunuchus" aus dem "Eunuchus" und dem "Colax" eben dieses Dichters; seine "Brueder" aus den "Bruedern" des naemlichen und einem Stuecke des Diphilus. Wegen dieses Vorwurfs rechtfertiget er sich nun in dem Prologe des "Heautontimorumenos". Die Sache selbst gesteht er ein; aber er will damit nichts anders getan haben, als was andere gute Dichter vor ihm getan haetten.

    —Id esse factum hic non negat
    Neque se pigere, et deinde factum iri autumat.
    Habet bonorum exemplum: quo exemplo sibi
    Licere id facere, quod illi fecerunt putat.

[5] Ich habe es getan, sagt er, und ich denke, dass ich es noch oefterer tun werde. Das bezog sich aber auf vorige Stuecke, und nicht auf das gegenwaertige, den "Heautontimorumenos". Denn dieser war nicht aus zwei griechischen Stuecken, sondern nur aus einem einzigen gleichen Namens genommen. Und das ist es, glaube ich, was er in der streitigen Zeile sagen will, so wie ich sie zu lesen vorschlage:

Simplex quae ex argumento facta est simplici.

So einfach, will Terenz sagen, als das Stueck des Menanders ist, ebenso einfach ist auch mein Stueck; ich habe durchaus nichts aus andern Stuecken eingeschaltet; es ist, so lang es ist, aus dem griechischen Stuecke genommen, und das griechische Stueck ist ganz in meinem lateinischen; ich gebe also

Ex integra Graeca integram Comoediam.

Die Bedeutung, die Faerne dem Worte integra in einer alten Glosse gegeben fand, dass es soviel sein sollte als a nullo tacta, ist hier offenbar falsch, weil sie sich nur auf das erste integra, aber keinesweges auf das zweite integram schicken wuerde.—Und so glaube ich, dass sich meine Vermutung und Auslegung wohl hoeren laesst! Nur wird man sich an die gleich folgende Zeile stossen:

Novam esse ostendi, et quae esset—

Man wird sagen: wenn Terenz bekennet, dass er das ganze Stueck aus einem einzigen Stuecke des Menanders genommen habe, wie kann er eben durch dieses Bekenntnis bewiesen zu haben vorgeben, dass sein Stueck neu sei, novam esse? Doch diese Schwierigkeit kann ich sehr leicht heben, und zwar durch eine Erklaerung ebendieser Worte, von welcher ich mich zu behaupten getraue, dass sie schlechterdings die einzige wahre ist, ob sie gleich nur mir zugehoert, und kein Ausleger, soviel ich weiss, sie nur von weitem vermutet hat. Ich sage naemlich: die Worte,

Novam esse ostendi, et quae esset—

beziehen sich keinesweges auf das, was Terenz den Vorredner in dem vorigen sagen lassen; sondern man muss darunter verstehen, apud Aediles; novus aber heisst hier nicht, was aus des Terenz eigenem Kopfe geflossen, sondern bloss, was im Lateinischen noch nicht vorhanden gewesen. Dass mein Stueck, will er sagen, ein neues Stueck sei, das ist, ein solches Stueck, welches noch nie lateinisch erschienen, welches ich selbst aus dem Griechischen uebersetzt, das habe ich den Aedilen, die mir es abgekauft, bewiesen. Um mir hierin ohne Bedenken beizufallen, darf man sich nur an den Streit erinnern, welchen er wegen seines "Eunuchus" vor den Aedilen hatte. Diesen hatte er ihnen als ein neues, von ihm aus dem Griechischen uebersetztes Stueck verkauft; aber sein Widersacher, Lavinius, wollte den Aedilen ueberreden, dass er es nicht aus dem Griechischen, sondern aus zwei alten Stuecken des Naevius und Plautus genommen habe. Freilich hatte der "Eunuchus" mit diesen Stuecken vieles gemein; aber doch war die Beschuldigung des Lavinius falsch; denn Terenz hatte nur aus eben der griechischen Quelle geschoepft, aus welcher, ihm unwissend, schon Naevius und Plautus vor ihm geschoepft hatten. Also, um dergleichen Verleumdungen bei seinem "Heautontimorumenos" vorzubauen, was war natuerlicher, als dass er den Aedilen das griechische Original vorgezeigt und sie wegen des Inhalts unterrichtet hatte? Ja, die Aedilen konnten das leicht selbst von ihm gefodert haben. Und darauf geht das

Novam esse ostendi, et quae esset.

[6] Tusc. Quaest., lib. III. c. 27.

——Fussnote

Neunundachtzigstes Stueck
Den 8. Maerz 1768

Zuerst muss ich anmerken, dass Diderot seine Assertion ohne allen Beweis gelassen hat. Er muss sie fuer eine Wahrheit angesehen haben, die kein Mensch in Zweifel ziehen werde, noch koenne; die man nur denken duerfe, um ihren Grund zugleich mitzudenken. Und sollte er den wohl gar in den wahren Namen der tragischen Personen gefunden haben? Weil diese Achilles und Alexander und Cato und Augustus heissen und Achilles, Alexander, Cato, Augustus wirkliche einzelne Personen gewesen sind: sollte er wohl daraus geschlossen haben, dass sonach alles, was der Dichter in der Tragoedie sie sprechen und handeln laesst, auch nur diesen einzeln so genannten Personen, und keinem in der Welt zugleich mit, muesse zukommen koennen? Fast scheint es so. Aber diesen Irrtum hatte Aristoteles schon vor zweitausend Jahren widerlegt und auf die ihr entgegenstehende Wahrheit den wesentlichen Unterschied zwischen der Geschichte und Poesie, sowie den groessern Nutzen der letztern vor der ersten gegruendet. Auch hat er es auf eine so einleuchtende Art getan, dass ich nur seine Worte anfuehren darf, um keine geringe Verwunderung zu erwecken, wie in einer so offenbaren Sache ein Diderot nicht gleicher Meinung mit ihm sein koenne.

"Aus diesen also", sagt Aristoteles,[1] nachdem er die wesentlichen Eigenschaften der poetischen Fabel festgesetzt, "aus diesen also erhellet klar, dass des Dichters Werk nicht ist, zu erzaehlen, was geschehen, sondern zu erzaehlen, von welcher Beschaffenheit das Geschehene und was nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit dabei moeglich gewesen. Denn Geschichtschreiber und Dichter unterscheiden sich nicht durch die gebundene oder ungebundene Rede: indem man die Buecher des Herodotus in gebundene Rede bringen kann und sie darum doch nichts weniger in gebundener Rede eine Geschichte sein werden, als sie es in ungebundener waren. Sondern darin unterscheiden sie sich, dass jener erzaehlet, was geschehen; dieser aber, von welcher Beschaffenheit das Geschehene gewesen. Daher ist denn auch die Poesie philosophischer und nuetzlicher als die Geschichte. Denn die Poesie geht mehr auf das Allgemeine, und die Geschichte auf das Besondere. Das Allgemeine aber ist, wie so oder so ein Mann nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit sprechen und handeln wuerde; als worauf die Dichtkunst bei Erteilung der Namen sieht. Das Besondere hingegen ist, was Alcibiades getan oder gelitten hat. Bei der Komoedie nun hat sich dieses schon ganz offenbar gezeigt; denn wenn die Fabel nach der Wahrscheinlichkeit abgefasst ist, legt man die etwanigen Namen sonach bei und macht es nicht wie die jambischen Dichter, die bei dem Einzeln bleiben. Bei der Tragoedie aber haelt man sich an die schon vorhandenen Namen; aus Ursache, weil das Moegliche glaubwuerdig ist und wir nicht moeglich glauben, was nie geschehen, dahingegen was geschehen offenbar moeglich sein muss, weil es nicht geschehen waere, wenn es nicht moeglich waere. Und doch sind auch in den Tragoedien, in einigen nur ein oder zwei bekannte Namen, und die uebrigen sind erdichtet; in einigen auch gar keiner, so wie in der >Blume< des Agathon. Denn in diesem Stuecke sind Handlungen und Namen gleich erdichtet, und doch gefaellt es darum nichts weniger."

In dieser Stelle, die ich nach meiner eigenen Uebersetzung anfuehre, mit welcher ich so genau bei den Worten geblieben bin, als moeglich, sind verschiedene Dinge, welche von den Auslegern, die ich noch zu Rate ziehen koennen, entweder gar nicht oder falsch verstanden worden. Was davon hier zur Sache gehoert, muss ich mitnehmen.

Das ist unwidersprechlich, dass Aristoteles schlechterdings keinen Unterschied zwischen den Personen der Tragoedie und Komoedie, in Ansehung ihrer Allgemeinheit, macht. Die einen sowohl als die andern, und selbst die Personen der Epopee nicht ausgeschlossen, alle Personen der poetischen Nachahmung ohne Unterschied, sollen sprechen und handeln, nicht wie es ihnen einzig und allein zukommen koennte, sondern so wie ein jeder von ihrer Beschaffenheit in den naemlichen Umstaenden sprechen oder handeln wuerde und muesste. In diesem [Greek: katholou], in dieser Allgemeinheit liegt allein der Grund, warum die Poesie philosophischer und folglich lehrreicher ist als die Geschichte; und wenn es wahr ist, dass derjenige komische Dichter, welcher seinen Personen so eigene Physiognomien geben wollte, dass ihnen nur ein einziges Individuum in der Welt aehnlich waere, die Komoedie, wie Diderot sagt, wiederum in ihre Kindheit zuruecksetzen und in Satire verkehren wuerde: so ist es auch ebenso wahr, dass derjenige tragische Dichter, welcher nur den und den Menschen, nur den Caesar, nur den Cato, nach allen den Eigentuemlichkeiten, die wir von ihnen wissen, vorstellen wollte, ohne zugleich zu zeigen, wie alle diese Eigentuemlichkeiten mit dem Charakter des Caesar und Cato zusammengehangen, der ihnen mit mehrern kann gemein sein, dass, sage ich, dieser die Tragoedie entkraeften und zur Geschichte erniedrigen wuerde.

Aber Aristoteles sagt auch, dass die Poesie auf dieses Allgemeine der Personen mit den Namen, die sie ihnen erteile, ziele ([Greek: ou stochazetai ae poiaesis onomata epitithemenae]); welches sich besonders bei der Komoedie deutlich gezeigt habe. Und dieses ist es, was die Ausleger dem Aristoteles nachzusagen sich begnuegt, im geringsten aber nicht erlaeutert haben. Wohl aber haben verschiedene sich so darueber ausgedrueckt, dass man klar sieht, sie muessen entweder nichts, oder etwas ganz Falsches dabei gedacht haben. Die Frage ist: wie sieht die Poesie, wenn sie ihren Personen Namen erteilt, auf das Allgemeine dieser Personen? und wie ist diese ihre Ruecksicht auf das Allgemeine der Person, besonders bei der Komoedie, schon laengst sichtbar gewesen?

Die Worte: [Greek: esti de katholou men, to poio ta poi atta symbainei legein, ae prattein kata to eikos, ae io anankaion, ou stochazetai ae poiaesis onomata epitithemenae], uebersetzt Dacier: Une chose generale, c'est ce que tout homme d'un tel ou d'un tel caractere a du dire, ou faire vraisemblablement ou necessairement, ce qui est le but de la poesie lors meme, qu'elle impose les noms a ses personnages. Vollkommen so uebersetzt sie auch Herr Curtius: "Das Allgemeine ist, was einer, vermoege eines gewissen Charakters, nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit redet oder tut. Dieses Allgemeine ist der Endzweck der Dichtkunst, auch wenn sie den Personen besondere Namen beilegt.—Auch in ihrer Anmerkung ueber diese Worte stehen beide fuer einen Mann; der eine sagt vollkommen eben das, was der andere sagt. Sie erklaeren beide, was das Allgemeine ist; sie sagen beide, dass dieses Allgemeine die Absicht der Poesie sei: aber wie die Poesie bei Erteilung der Namen auf dieses Allgemeine sieht, davon sagt keiner ein Wort. Vielmehr zeigt der Franzose durch sein lors meme, sowie der Deutsche durch sein auch wenn, offenbar, dass sie nichts davon zu sagen gewusst, ja, dass sie gar nicht einmal verstanden, was Aristoteles sagen wollen. Denn dieses lors meme, dieses auch wenn, heisst bei ihnen nichts mehr als ob schon; und sie lassen den Aristoteles sonach bloss sagen, dass ungeachtet die Poesie ihren Personen Namen von einzeln Personen beilege, sie demohngeachtet nicht auf das Einzelne dieser Personen, sondern auf das Allgemeine derselben gehe. Die Worte des Dacier, die ich in der Note anfuehren will,[2] zeigen dieses deutlich. Nun ist es wahr, dass dieses eigentlich keinen falschen Sinn macht; aber es erschoepft doch auch den Sinn des Aristoteles hier nicht. Nicht genug, dass die Poesie, ungeachtet der von einzeln Personen genommenen Namen, auf das Allgemeine gehen kann: Aristoteles sagt, dass sie mit diesen Namen selbst auf das Allgemeine ziele, [Greek: ou stochazetai]. Ich sollte doch wohl meinen, dass beides nicht einerlei waere. Ist es aber nicht einerlei: so geraet man notwendig auf die Frage: wie zielt sie darauf? Und auf diese Frage antworten die Ausleger nichts.

——Fussnote

[1] Dichtk., 9. Kapitel.

[2] Aristote previent ici une objection, qu'on pouvait lui faire, sur la definition qu'il vient de donner d'une chose generale: car les ignorants n'auraient pas manque de lui dire qu'Homere, par exemple, n'a point en vue d'ecrire une action generale et universelle, mais une action particuliere, puisqu'il raconte ce qu'ont fait de certains hommes comme Achille, Agamemnon, Ulysse, etc. et que par consequent, il n'y a aucune difference entre Homere et un Historien, qui aurait ecrit les actions d'Achille. Le Philosophe va au-devant de cette objection, en faisant voir que les Poetes, c'est-a-dire, les Auteurs d'une Tragedie ou d'un Poeme Epique lors meme qu'ils imposent les noms a leurs personnages ne pensent en aucune maniere a les faire parler veritablement, ce qu'ils seraient obliges de faire, s'ils ecrivaient les actions particulieres et veritables d'un certain homme, nomme Achille ou Edipe, mais qu'ils se proposent de les faire parler et agir necessairement ou vraisemblablement; c'est-a-dire, de leur faire dire et faire tout ce que des hommes de ce meme caractere doivent faire et dire en cet etat, ou par necessite, ou au moins selon les regles de la vraisemblance; ce qui prouve incontestablement que ce sont des actions generales et universelles. Nichts anders sagt auch Herr Curtius in seiner Anmerkung; nur dass er das Allgemeine und Einzelne noch an Beispielen zeigen wollen, die aber nicht so recht beweisen, dass er auf den Grund der Sache gekommen. Denn ihnen zufolge wuerden es nur personifierte Charaktere sein, welche der Dichter reden und handeln liesse, da es doch charakterisierte Personen sein sollen.

——Fussnote

Neunzigstes Stueck
Den 11. Maerz 1768

Wie sie darauf ziele, sagt Aristoteles, dieses habe ich schon laengst an der Komoedie deutlich gezeigt: [Greek: Hepi men oun taes komodias aedae touto daelon gegonen sustaesantes gar ton mython dia ton eikoton, outo ta tychonta onomata epititheasi, chai ouch osper oi iambopoioi peri ton kath' ekaston poiousin]. Ich muss auch hiervon die Uebersetzungen des Dacier und Curtius anfuehren. Dacier sagt: C'est ce qui est deja rendu sensible dans la comedie, car les poetes comiques, apres avoir dresse leur sujet sur la vraisemblance, imposent apres cela a leurs personnages tels noms qu'il leur plait, et n'imitent pas les poetes satyriques, qui ne s'attachent qu'aux choses particulieres. Und Curtius: "In dem Lustspiele ist dieses schon lange sichtbar gewesen. Denn wenn die Komoedienschreiber den Plan der Fabel nach der Wahrscheinlichkeit entworfen haben, legen sie den Personen willkuerliche Namen bei und setzen sich nicht, wie die jambischen Dichter, einen besondern Vorwurf zum Ziele." Was findet man in diesen Uebersetzungen von dem, was Aristoteles hier vornehmlich sagen will? Beide lassen ihn weiter nichts sagen, als dass die komischen Dichter es nicht machten wie die jambischen, (das ist, satirischen Dichter) und sich an das Einzelne hielten, sondern auf das Allgemeine mit ihren Personen gingen, denen sie willkuerliche Namen, tels noms qu'il leur plait, beilegten. Gesetzt nun auch, dass [Greek: ta tychonta onomata] dergleichen Namen bedeuten koennten: wo haben denn beide Uebersetzer das "[Greek: outo]" gelassen? Schien ihnen denn dieses "[Greek: outo]" gar nichts zu sagen? Und doch sagt es hier alles: denn diesem "[Greek: outo]" zufolge legten die komischen Dichter ihren Personen nicht allein willkuerliche Namen bei, sondern sie legten ihnen diese willkuerliche Namen "so", [Greek: outo], bei. Und wie "so"? So, dass sie mit diesen Namen selbst auf das Allgemeine zielten: [Greek: ou stochazetai ae poiaesis onomata epitithemenae]. Und wie geschah das? Davon finde man mir ein Wort in den Anmerkungen des Dacier und Curtius!

Ohne weitere Umschweife: es geschah so, wie ich nun sagen will. Die Komoedie gab ihren Personen Namen, welche, vermoege ihrer grammatischen Ableitung und Zusammensetzung oder auch sonstigen Bedeutung die Beschaffenheit dieser Personen ausdrueckten: mit einem Worte, sie gab ihnen redende Namen; Namen, die man nur hoeren durfte, um sogleich zu wissen, von welcher Art die sein wuerden, die sie fuehren. Ich will eine Stelle des Donatus hierueber anziehen. Nomina personarum, sagt er bei Gelegenheit der ersten Zeile in dem ersten Aufzuge der "Brueder", in comoediis duntaxat, habere debent rationem et etymologiam. Etenim absurdum est, comicum aperte argumentum confingere: vel nomen personae incongruum dare vel officium quod sit a nomine diversum.[1] Hinc servus fidelis Parmeno: infidelis vel Syrus vel Geta: miles Thraso vel Polemon: juvenis Pamphilus: matrona Myrrhina, et puer ab odore Storax: vel a ludo et a gesticulatione Circus: et item similia. In quibus summum poetae vitium est, si quid e contrario repugnans contrarium diversumque protulerit, nisi per [Greek: antiorasin] nomen imposuerit joculariter, ut Misargyrides in Plauto dicitur trapezita. Wer sich durch noch mehr Beispiele hiervon ueberzeugen will, der darf nur die Namen bei dem Plautus und Terenz untersuchen. Da ihre Stuecke alle aus dem Griechischen genommen sind: so sind auch die Namen ihrer Personen griechischen Ursprungs und haben, der Etymologie nach, immer eine Beziehung auf den Stand, auf die Denkungsart oder auf sonst etwas, was diese Personen mit mehrern gemein haben koennen; wenn wir schon solche Etymologie nicht immer klar und sicher angeben koennen.

Ich will mich bei einer so bekannten Sache nicht verweilen: aber wundern muss ich mich, wie die Ausleger des Aristoteles sich ihrer gleichwohl da nicht erinnern koennen, wo Aristoteles so unwidersprechlich auf sie verweiset. Denn was kann nunmehr wahrer, was kann klaerer sein, als was der Philosoph von der Ruecksicht sagt, welche die Poesie bei Erteilung der Namen auf das Allgemeine nimmt? Was kann unleugbarer sein, als dass [Greek: epi men taes komodias aedae touto daelon gegonen], dass sich diese Ruecksicht bei der Komoedie besonders laengst offenbar gezeigt habe? Von ihrem ersten Ursprunge an, das ist, sobald sie die jambischen Dichter von dem Besondern zu dem Allgemeinen erhoben, sobald aus der beleidigenden Satire die unterrichtende Komoedie entstand: suchte man jenes Allgemeine durch die Namen selbst anzudeuten. Der grosssprecherische feige Soldat hiess nicht wie dieser oder jener Anfuehrer aus diesem oder jenem Stamme: er hiess Pyrgopolinices, Hauptmann Mauerbrecher. Der elende Schmarutzer, der diesem um das Maul ging, hiess nicht, wie ein gewisser armer Schlucker in der Stadt: er hiess Artotrogus, Brockenschroeter. Der Juengling, welcher durch seinen Aufwand, besonders auf Pferde, den Vater in Schulden setzte, hiess nicht, wie der Sohn dieses oder jenes edeln Buergers: er hiess Phidippides, Junker Sparross.

Man koennte einwenden, dass dergleichen bedeutende Namen wohl nur eine Erfindung der neuern griechischen Komoedie sein duerften, deren Dichtern es ernstlich verboten war, sich wahrer Namen zu bedienen; dass aber Aristoteles diese neuere Komoedie nicht gekannt habe und folglich bei seinen Regeln keine Ruecksicht auf sie nehmen koennen. Das letztere behauptet Hurd;[2] aber es ist ebenso falsch, als falsch es ist, dass die aeltere griechische Komoedie sich nur wahrer Namen bedient habe. Selbst in denjenigen Stuecken, deren vornehmste, einzige Absicht es war, eine gewisse bekannte Person laecherlich und verhasst zu machen, waren, ausser dem wahren Namen dieser Person, die uebrigen fast alle erdichtet, und mit Beziehung auf ihren Stand und Charakter erdichtet.

——Fussnote

[1] Diese Periode koennte leicht sehr falsch verstanden werden. Naemlich wenn man sie so verstehen wollte, als ob Donatus auch das fuer etwas Ungereimtes hielte, Comicum aperte argumentum confingere. Und das ist doch die Meinung des Donatus gar nicht. Sondern er will sagen: es wuerde ungereimt sein, wenn der komische Dichter, da er seinen Stoff offenbar erfindet, gleichwohl den Personen unschickliche Namen oder Beschaeftigungen beilegen wollte, die mit ihren Namen stritten. Denn freilich, da der Stoff ganz von der Erfindung des Dichters ist, so stand es ja einzig und allein bei ihm, was er seinen Personen fuer Namen beilegen, oder was er mit diesen Namen fuer einen Stand oder fuer eine Verrichtung verbinden wollte. Sonach duerfte sich vielleicht Donatus auch selbst so zweideutig nicht ausgedrueckt haben; und mit Veraenderung einer einzigen Silbe ist dieser Anstoss vermieden. Man lese naemlich entweder: Absurdum est, Comicum aperte argumentum confingentem vel nomen personae etc. Oder auch aperte argumentum confingere et nomen personae u.s.w.

[2] Hurd in seiner Abhandlung ueber die verschiedenen Gebiete des Drama: From the account of Comedy, here given, it may appear, that the idea of this drama is much enlarged beyond what it was in Aristotle's time; who defines it to be, an imitation of light and trivial actions, provoking ridicule. His notion was taken from the state and practice of the Athenian stage; that is from the old or middle comedy, which answer to this description. The great revolution, which the introduction of the new comedy made in the drama, did not happen till afterwards. Aber dieses nimmt Hurd bloss an, damit seine Erklaerung der Komoedie mit der Aristotelischen nicht so geradezu zu streiten scheine. Aristoteles hat die Neue Komoedie allerdings erlebt, und er gedenkt ihrer namentlich in der Moral an den Nikomachus, wo er von dem anstaendigen und unanstaendigen Scherze handelt. (Lib. IV. cap. 14.) [Greek: Idoi d' an tis kai ek ton komodion ton palaion kai ton kainon. Tois men gar aen geloion ae aischrologia, tois de mallon ae hyponoia]. Man koennte zwar sagen, dass unter der Neuen Komoedie hier die Mittlere verstanden werde; denn als noch keine Neue gewesen, habe notwendig die Mittlere die Neue heissen muessen. Man koennte hinzusetzen, dass Aristoteles in eben der Olympiade gestorben, in welcher Menander sein erstes Stueck auffuehren lassen, und zwar noch das Jahr vorher. (Eusebius in Chronico ad Olymp. CXIV. 4.) Allein man hat unrecht, wenn man den Anfang der Neuen Komoedie von dem Menander rechnet; Menander war der erste Dichter dieser Epoche, dem poetischen Werte nach, aber nicht der Zeit nach. Philemon, der dazugehoert schrieb viel frueher, und der Uebergang von der Mittleren zur Neuen Komoedie war so unmerklich, dass es dem Aristoteles unmoeglich an Mustern derselben kann gefehlt haben. Aristophanes selbst hatte schon ein solches Muster gegeben; sein "Kokalos" war so beschaffen, wie ihn Philemon sich mit wenigen Veraenderungen zueignen konnte: Kokalon heisst es in dem "Leben des Aristophanes", [Greek: en ho eisagei phthoran kai anagnorismon, kai talla panta a ezaelose Menandros]. Wie nun also Aristophanes Muster von allen verschiedenen Abaenderungen der Komoedie gegeben, so konnte auch Aristoteles seine Erklaerung der Komoedie ueberhaupt auf sie alle einrichten. Das tat er denn; und die Komoedie hat nachher keine Erweiterung bekommen, fuer welche diese Erklaerung zu enge geworden waere. Hurd haette sie nur recht verstehen duerfen, und er wuerde gar nicht noetig gehabt haben, um seine an und fuer sich richtigen Begriffe von der Komoedie ausser allen Streit mit den Aristotelischen zu setzen, seine Zuflucht zu der vermeintlichen Unerfahrenheit des Aristoteles zu nehmen.

——Fussnote

Einundneunzigstes Stueck
Den 15. Maerz 1768

Ja die wahren Namen selbst, kann man sagen, gingen nicht selten mehr auf das Allgemeine, als auf das Einzelne. Unter dem Namen Sokrates wollte Aristophanes nicht den einzeln Sokrates, sondern alle Sophisten, die sich mit Erziehung junger Leute bemengten, laecherlich und verdaechtig machen. Der gefaehrliche Sophist ueberhaupt war sein Gegenstand, und er nannte diesen nur Sokrates, weil Sokrates als ein solcher verschrien war. Daher eine Menge Zuege, die auf den Sokrates gar nicht passten; so dass Sokrates in dem Theater getrost aufstehen und sich der Vergleichung preisgeben konnte! Aber wie sehr verkennt man das Wesen der Komoedie, wenn man diese nicht treffende Zuege fuer nichts als mutwillige Verleumdungen erklaert und sie durchaus dafuer nicht erkennen will, was sie doch sind, fuer Erweiterungen des einzeln Charakters, fuer Erhebungen des Persoenlichen zum Allgemeinen!

Hier liesse sich von dem Gebrauche der wahren Namen in der griechischen Komoedie ueberhaupt verschiednes sagen, was von den Gelehrten so genau noch nicht auseinandergesetzt worden, als es wohl verdiente. Es liesse sich anmerken, dass dieser Gebrauch keinesweges in der aeltern griechischen Komoedie allgemein gewesen,[1] dass sich nur der und jener Dichter gelegentlich desselben erkuehnet,[2] dass er folglich nicht als ein unterscheidendes Merkmal dieser Epoche der Komoedie zu betrachten. [3] Es liesse sich zeigen, dass, als er endlich durch ausdrueckliche Gesetze untersagt war, doch noch immer gewisse Personen von dem Schutze dieser Gesetze entweder namentlich ausgeschlossen waren, oder doch stillschweigend fuer ausgeschlossen gehalten wurden. In den Stuecken des Menanders selbst wurden noch Leute genug bei ihren wahren Namen genannt und laecherlich gemacht.[4] Doch ich muss mich nicht aus einer Ausschweifung in die andere verlieren.

Ich will nur noch die Anwendung auf die wahren Namen der Tragoedie machen. So wie der Aristophanische Sokrates nicht den einzeln Mann dieses Namens vorstellte, noch vorstellen sollte; so wie dieses personifierte Ideal einer eiteln und gefaehrlichen Schulweisheit nur darum den Namen Sokrates bekam, weil Sokrates als ein solcher Taeuscher und Verfuehrer zum Teil bekannt war, zum Teil noch bekannter werden sollte; so wie bloss der Begriff von Stand und Charakter, den man mit dem Namen Sokrates verband und noch naeher verbinden sollte, den Dichter in der Wahl des Namens bestimmte: so ist auch bloss der Begriff des Charakters, den wir mit den Namen Regulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt sind, die Ursache, warum der tragische Dichter seinen Personen diese Namen erteilet. Er fuehrt einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um uns mit den wirklichen Begegnissen dieser Maenner bekanntzumachen, nicht um das Gedaechtnis derselben zu erneuern: sondern um uns mit solchen Begegnissen zu unterhalten, die Maennern von ihrem Charakter ueberhaupt begegnen koennen und muessen. Nun ist zwar wahr, dass wir diesen ihren Charakter aus ihren wirklichen Begegnissen abstrahieret haben: es folgt aber daraus nicht, dass uns auch ihr Charakter wieder auf ihre Begegnisse zurueckfuehren muesse; er kann uns nicht selten weit kuerzer, weit natuerlicher auf ganz andere bringen, mit welchen jene wirkliche weiter nichts gemein haben, als dass sie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzuverfolgenden Umwegen und ueber Erdstriche hergeflossen sind, welche ihre Lauterheit verdorben haben. In diesem Falle wird der Poet jene erfundene den wirklichen schlechterdings vorziehen, aber den Personen noch immer die wahren Namen lassen. Und zwar aus einer doppelten Ursache: einmal, weil wir schon gewohnt sind, bei diesen Namen einen Charakter zu denken, wie er ihn in seiner Allgemeinheit zeiget; zweitens, weil wirklichen Namen auch wirkliche Begebenheiten anzuhaengen scheinen und alles, was einmal geschehen, glaubwuerdiger ist, als was nicht geschehen. Die erste dieser Ursachen fliesst aus der Verbindung der Aristotelischen Begriffe ueberhaupt; sie liegt zum Grunde, und Aristoteles hatte nicht noetig, sich umstaendlicher bei ihr zu verweilen; wohl aber bei der zweiten, als einer von anderwaerts noch dazukommenden Ursache. Doch diese liegt itzt ausser meinem Wege, und die Ausleger insgesamt haben sie weniger missverstanden als jene.

Nun also auf die Behauptung des Diderot zurueckzukommen. Wenn ich die Lehre des Aristoteles richtig erklaert zu haben glauben darf: so darf ich auch glauben, durch meine Erklaerung bewiesen zu haben, dass die Sache selbst unmoeglich anders sein kann, als sie Aristoteles lehret. Die Charaktere der Tragoedie muessen ebenso allgemein sein, als die Charaktere der Komoedie. Der Unterschied, den Diderot behauptet, ist falsch: oder Diderot muss unter der Allgemeinheit eines Charakters ganz etwas anders verstehen, als Aristoteles darunter verstand.

——Fussnote

[1] Wenn, nach dem Aristoteles, das Schema der Komoedie von dem Margites des Homer, [Greek: ou psogon alla to geloion dramatopoiaesantos], genommen worden, so wird man, allem Ansehen nach, auch gleich anfangs die erdichteten Namen mit eingefuehrt haben. Denn Margites war wohl nicht der wahre Name einer gewissen Person, indem [Greek: Margeitaes] wohl eher von [Greek: margaes] gemacht worden, als dass [Greek: margaes] von [Greek: Margeitaes] sollte entstanden sein. Von verschiednen Dichtern der alten Komoedie finden wir es auch ausdruecklich angemerkt, dass sie sich aller Anzueglichkeiten enthalten, welches bei wahren Namen nicht moeglich gewesen waere. z.E. von dem Pherekrates.

[2] Die persoenliche und namentliche Satire war so wenig eine wesentliche Eigenschaft der alten Komoedie, dass man vielmehr denjenigen ihrer Dichter gar wohl kennet, der sich ihrer zuerst erkuehnet. Es war Cratinus, welcher zuerst [Greek: to charienti taes komodias to ophelimon prosethaeke, tous kakos prattontas diaballon, kai osper daemosia mastigi tae komodia kolazon]. Und auch dieser wagte sich nur anfangs an gemeine, verworfene Leute, von deren Ahndung er nichts zu befuerchten hatte. Aristophanes wollte sich die Ehre nicht nehmen lassen, dass er es sei, welcher sich zuerst an die Grossen des Staats gewagt habe (Ir. v. 750.): [Greek: Ouch idiotas anthropischous komodon, oude gynaikas, All' Haerakleous orgaen tin' echon toisi megistois epicheirei].

[3] Ja er haette lieber gar diese Kuehnheit als sein eigenes Privilegium betrachten moegen. Er war hoechst eifersuechtig, als er sahe, dass ihm so viele andere Dichter, die er verachtete, darin nachfolgten.

[4] Welches gleichwohl fast immer geschieht. Ja man geht noch weiter und will behaupten, dass mit den wahren Namen auch wahre Begebenheiten verbunden gewesen, an welchen die Erfindung des Dichters keinen Teil gehabt. Dacier selbst sagt: Aristote n'a pu vouloir dire qu'Epicharmus et Phormis inventerent les sujets de leurs pieces, puisque l'un et l'autre ont ete des Poetes de la vieille Comedie, ou il n'y avait rien de feint, et que ces aventures feintes ne commencerent a etre mises sur le theatre, que du temps d'Alexandre le Grand, c'est-a-dire dans la nouvelle Comedie. (Remarque sur le Chap. V. de la Poet. d'Arist.) Man sollte glauben, wer so etwas sagen koenne, muesste nie auch nur einen Blick in den Aristophanes getan haben. Das Argument, die Fabel der alten griechischen Komoedie, war ebensowohl erdichtet, als es die Argumente und Fabeln der neuen nur immer sein konnten. Kein einziges von den uebriggebliebenen Stuecken des Aristophanes stellt eine Begebenheit vor, die wirklich geschehen waere; und wie kann man sagen, dass sie der Dichter deswegen nicht erfunden, weil sie zum Teil auf wirkliche Begebenheiten anspielt? Wenn Aristoteles als ausgemacht annimmt, [Greek: oti ton poiaetaen mallon ton mython einai dei poiaetaen ae ton metron]: wuerde er nicht schlechterdings die Verfasser der alten griechischen Komoedie aus der Klasse der Dichter haben ausschliessen muessen, wenn er geglaubt haette, dass sie die Argumente ihrer Stuecke nicht erfunden? Aber so wie es, nach ihm, in der Tragoedie gar wohl mit der poetischen Erfindung bestehen kann, dass Namen und Umstaende aus der wahren Geschichte entlehnt sind: so muss es, seiner Meinung nach, auch in der Komoedie bestehen koennen. Es kann unmoeglich seinen Begriffen gemaess gewesen sein, dass die Komoedie dadurch, dass sie wahre Namen brauche und auf wahre Begebenheiten anspiele, wiederum in die jambische Schmaehsucht zurueckfalle; vielmehr muss er geglaubt haben, dass sich das [Greek: katholou poiein logous ae mythous] gar wohl damit vertrage. Er gesteht dieses den aeltesten komischen Dichtern, dem Epicharmus, dem Phormis und Krates zu und wird es gewiss dem Aristophanes nicht abgesprochen haben, ob er schon wusste, wie sehr er nicht allein den Kleon und Hyperbolus, sondern auch den Perikles und Sokrates namentlich mitgenommen.

[5] Mit der Strenge, mit welcher Plato das Verbot, jemand in der Komoedie laecherlich zu machen, in seiner "Republik" einfuehren wollte ([Greek: maete logo, maete eichoni, maete thymo, maete aneu thymou, maedamno maedena ton politon komodein]) ist in der wirklichen Republik niemals darueber gehalten worden. Ich will nicht anfuehren, dass in den Stuecken des Menander noch so mancher zynische Philosoph, noch so manche Buhlerin mit Namen genennt ward; man koennte antworten, dass dieser Abschaum von Menschen nicht zu den Buergern gehoert. Aber Ktesippus, der Sohn des Chabrias, war doch gewiss atheniensischer Buerger so gut wie einer, und man sehe, was Menander von ihm sagte. (Menandri Fr. p. 137. Edit. Cl.)

——Fussnote

Zweiundneunzigstes Stueck
Den 18. Maerz 1768

Und warum koennte das letztere nicht sein? Finde ich doch noch einen andern, nicht minder trefflichen Kunstrichter, der sich fast ebenso ausdrueckt als Diderot, fast ebenso geradezu dem Aristoteles zu widersprechen scheint, und gleichwohl im Grunde so wenig widerspricht, dass ich ihn vielmehr unter allen Kunstrichtern fuer denjenigen erkennen muss, der noch das meiste Licht ueber diese Materie verbreitet hat.

Es ist dieses der englische Kommentator der Horazischen Dichtkunst, Hurd; ein Schriftsteller aus derjenigen Klasse, die durch Uebersetzungen bei uns immer am spaetesten bekannt werden. Ich moechte ihn aber hier nicht gern anpreisen, um diese seine Bekanntmachung zu beschleunigen. Wenn der Deutsche, der ihr gewachsen waere, sich noch nicht gefunden hat: so duerften vielleicht auch der Leser unter uns noch nicht viele sein, denen daran gelegen waere. Der fleissige Mann, voll guten Willens, uebereile sich also lieber damit nicht und sehe, was ich von einem noch unuebersetzten guten Buche hier sage, ja fuer keinen Wink an, den ich seiner allezeit fertigen Feder geben wollen.

Hurd hat seinem Kommentar eine Abhandlung "Ueber die verschiednen Gebiete des Drama" beigefuegt. Denn er glaubte bemerkt zu haben, dass bisher nur die allgemeinen Gesetze dieser Dichtungsart in Erwaegung gezogen worden, ohne die Grenzen der verschiednen Gattungen derselben festzusetzen. Gleichwohl muesse auch dieses geschehen, um von dem eigenen Verdienste einer jeden Gattung insbesondere ein billiges Urteil zu faellen. Nachdem er also die Absicht des Drama ueberhaupt, und der drei Gattungen desselben, die er vor sich findet, der Tragoedie, der Komoedie und des Possenspiels, insbesondere festgesetzt: so folgert er, aus jener allgemeinen und aus diesen besondern Absichten, sowohl diejenigen Eigenschaften, welche sie unter sich gemein haben, als diejenigen, in welchen sie voneinander unterschieden sein muessen.

Unter die letztern rechnet er, in Ansehung der Komoedie und Tragoedie, auch diese, dass der Tragoedie eine wahre, der Komoedie hingegen eine erdichtete Begebenheit zutraeglicher sei. Hierauf faehrt er fort: The same genius in the two dramas is observable, in their draught of characters. Comedy makes all its characters general; tragedy, particular. The Avare of Moliere is not so properly the picture of a covetous man, as of covetousness itself. Racine's Nero on the other hand, is not a picture of cruelty, but of a cruel man. d.I.: "In dem naemlichen Geiste schildern die zwei Gattungen des Drama auch ihre Charaktere. Die Komoedie macht alle ihre Charaktere general; die Tragoedie partikulaer. Der Geizige des Moliere ist nicht so eigentlich das Gemaelde eines geizigen Mannes, als des Geizes selbst. Racines Nero hingegen ist nicht das Gemaelde der Grausamkeit, sondern nur eines grausamen Mannes."

Hurd scheinet so zu schliessen: wenn die Tragoedie eine wahre Begebenheit erfodert, so muessen auch ihre Charaktere wahr, das ist, so beschaffen sein, wie sie wirklich in den Individuis existieren; wenn hingegen die Komoedie sich mit erdichteten Begebenheiten begnuegen kann, wenn ihr wahrscheinliche Begebenheiten, in welchen sich die Charaktere nach allem ihrem Umfange zeigen koennen, lieber sind, als wahre, die ihnen einen so weiten Spielraum nicht erlauben, so duerfen und muessen auch ihre Charaktere selbst allgemeiner sein, als sie in der Natur existieren; angesehen dem Allgemeinen selbst in unserer Einbildungskraft eine Art von Existenz zukoemmt, die sich gegen die wirkliche Existenz des Einzeln eben wie das Wahrscheinliche zu dem Wahren verhaelt.

Ich will itzt nicht untersuchen, ob diese Art zu schliessen nicht ein blosser Zirkel ist: ich will die Schlussfolge bloss annehmen, so wie sie da liegt und wie sie der Lehre des Aristoteles schnurstracks zu widersprechen scheint. Doch, wie gesagt, sie scheint es bloss, welches aus der weitern Erklaerung des Hurd erhellet.

"Es wird aber", faehrt er fort, "hier dienlich sein, einer doppelten Verstossung vorzubauen, welche der eben angefuehrte Grundsatz zu beguenstigen scheinen koennte.

Die erste betrifft die Tragoedie, von der ich gesagt habe, dass sie partikulaere Charaktere zeige. Ich meine, ihre Charaktere sind partikulaerer, als die Charaktere der Komoedie. Das ist: die Absicht der Tragoedie verlangt es nicht und erlaubt es nicht, dass der Dichter von den charakteristischen Umstaenden, durch welche sich die Sitten schildern, so viele zusammenzieht, als die Komoedie. Denn in jener wird von dem Charakter nicht mehr gezeigt, als soviel der Verlauf der Handlung unumgaenglich erfodert. In dieser hingegen werden alle Zuege, durch die er sich zu unterscheiden pflegt, mit Fleiss aufgesucht und angebracht.

Es ist fast wie mit dem Portraetmalen. Wenn ein grosser Meister ein einzelnes Gesicht abmalen soll, so gibt er ihm alle die Lineamente, die er in ihm findet, und macht es Gesichtern von der naemlichen Art nur so weit aehnlich, als es ohne Verletzung des allergeringsten eigentuemlichen Zuges geschehen kann. Soll ebenderselbe Kuenstler hingegen einen Kopf ueberhaupt malen, so wird er alle die gewoehnlichen Mienen und Zuege zusammen anzubringen suchen, von denen er in der gesamten Gattung bemerkt hat, dass sie die Idee am kraeftigsten ausdruecken, die er sich itzt in Gedanken gemacht hat und in seinem Gemaelde darstellen will.

Ebenso unterscheiden sich die Schildereien der beiden Gattungen des Drama: woraus denn erhellet, dass, wenn ich den tragischen Charakter partikular nenne, ich bloss sagen will, dass er die Art, zu welcher er gehoeret, weniger vorstellig macht als der komische; nicht aber, dass das, was man von dem Charakter zu zeigen fuer gut befindet, es mag nun so wenig sein, als es will, nicht nach dem Allgemeinen entworfen sein sollte, als wovon ich das Gegenteil anderwaerts behauptet und umstaendlich erlaeutert habe.[1]

Was zweitens die Komoedie anbelangt, so habe ich gesagt, dass sie generale Charaktere geben muesse, und habe zum Beispiele den Geizigen des Moliere angefuehrt, der mehr der Idee des Geizes, als eines wirklichen geizigen Mannes entspricht. Doch auch hier muss man meine Worte nicht in aller ihrer Strenge nehmen. Moliere duenkt mich in diesem Beispiele selbst fehlerhaft; ob es schon sonst, mit der erforderlichen Erklaerung, nicht ganz unschicklich sein wird, meine Meinung begreiflich zu machen.

Da die komische Buehne die Absicht hat, Charaktere zu schildern, so meine ich, kann diese Absicht am vollkommensten erreicht werden, wenn sie diese Charaktere so allgemein macht, als moeglich. Denn indem auf diese Weise die in dem Stuecke aufgefuehrte Person gleichsam der Repraesentant aller Charaktere dieser Art wird, so kann unsere Lust an der Wahrheit der Vorstellung so viel Nahrung darin finden, als nur moeglich. Es muss aber sodann diese Allgemeinheit sich nicht bis auf unsern Begriff von den moeglichen Wirkungen des Charakters, im Abstracto betrachtet, erstrecken, sondern nur bis auf die wirkliche Aeusserung seiner Kraefte, so wie sie von der Erfahrung gerechtfertiget werden und im gemeinen Leben stattfinden koennen. Hierin haben Moliere, und vor ihm Plautus, gefehlt; statt der Abbildung eines geizigen Mannes, haben sie uns eine grillenhafte widrige Schilderung der Leidenschaft des Geizes gegeben. Ich nenne es eine grillenhafte Schilderung, weil sie kein Urbild in der Natur hat. Ich nenne es eine widrige Schilderung; denn da es die Schilderung einer einfachen unvermischten Leidenschaft ist, so fehlen ihr alle die Lichter und Schatten, deren richtige Verbindung allein ihr Kraft und Leben erteilen koennte. Diese Lichter und Schatten sind die Vermischung verschiedener Leidenschaften, welche mit der vornehmsten oder herrschenden Leidenschaft zusammen den menschlichen Charakter ausmachen; und diese Vermischung muss sich in jedem dramatischen Gemaelde von Sitten finden, weil es zugestanden ist, dass das Drama vornehmlich das wirkliche Leben abbilden soll. Doch aber muss die Zeichnung der herrschenden Leidenschaft so allgemein entworfen sein, als es ihr Streit mit den andern in der Natur nur immer zulassen will, damit der vorzustellende Charakter sich desto kraeftiger ausdruecke."

——Fussnote

[1] Bei den Versen der Horazischen Dichtkunst: Respicere exemplar vitae morumque jubebo Doctum imitatorum, et veras hinc ducere voces, wo Hurd zeigt, dass die Wahrheit, welche Horaz hier verlangt, einen solchen Ausdruck bedeute, als der allgemeinen Natur der Dinge gemaess ist; Falschheit hingegen das heisse, was zwar dem vorhabenden besondern Falle angemessen, aber nicht mit jener allgemeinen Natur uebereinstimmend sei.

——Fussnote

Dreiundneunzigstes Stueck
Den 22. Maerz 1768

"Alles dieses laesst sich abermals aus der Malerei sehr wohl erlaeutern. In charakteristischen Portraeten, wie wir diejenigen nennen koennen, welche eine Abbildung der Sitten geben sollen, wird der Artist, wenn er ein Mann von wirklicher Faehigkeit ist, nicht auf die Moeglichkeit einer abstrakten Idee losarbeiten. Alles was er sich vornimmt zu zeigen, wird dieses sein, dass irgendeine Eigenschaft die herrschende ist; diese drueckt er stark, und durch solche Zeichen aus, als sich in den Wirkungen der herrschenden Leidenschaft am sichtbarsten aeussern. Und wenn er dieses getan hat, so duerfen wir, nach der gemeinen Art zu reden, oder, wenn man will, als ein Kompliment gegen seine Kunst, gar wohl von einem solchen Portraete sagen, dass es uns nicht sowohl den Menschen, als die Leidenschaft zeige; gerade so wie die Alten von der beruehmten Bildsaeule des Apollodorus vom Silanion angemerkt haben, dass sie nicht sowohl den zornigen Apollodorus, als die Leidenschaft des Zornes vorstelle.[1] Dieses aber muss bloss so verstanden werden, dass er die hauptsaechlichen Zuege der vorgebildeten Leidenschaft gut ausgedrueckt habe. Denn im uebrigen behandelt er seinen Vorwurf ebenso, wie er jeden andern behandeln wuerde: das ist, er vergisst die mitverbundenen Eigenschaften nicht und nimmt das allgemeine Ebenmass und Verhaeltnis, welches man an einer menschlichen Figur erwartet, in acht. Und das heisst denn die Natur schildern, welche uns kein Beispiel von einem Menschen gibt, der ganz und gar in eine einzige Leidenschaft verwandelt waere. Keine Metamorphosis koennte seltsamer und unglaublicher sein. Gleichwohl sind Portraete, in diesem tadelhaften Geschmacke verfertiget, die Bewunderung gemeiner Gaffer, die, wenn sie in einer Sammlung das Gemaelde, z.E. eines Geizigen (denn ein gewoehnlicheres gibt es wohl in dieser Gattung nicht), erblicken und nach dieser Idee jede Muskel, jeden Zug angestrenget, verzerret und ueberladen finden, sicherlich nicht ermangeln, ihre Billigung und Bewunderung darueber zu aeussern.—Nach diesem Begriffe der Vortrefflichkeit wuerde Le Bruns Buch von den Leidenschaften eine Folge der besten und richtigsten moralischen Portraete enthalten: und die Charaktere des Theophrasts muessten, in Absicht auf das Drama, den Charakteren des Terenz weit vorzuziehen sein.

Ueber das erstere dieser Urteile wuerde jeder Virtuose in den bildenden Kuensten unstreitig lachen. Das letztere aber, fuerchte ich, duerften wohl nicht alle so seltsam finden; wenigstens nach der Praxis verschiedener unserer besten komischen Schriftsteller und nach dem Beifalle zu urteilen, welchen dergleichen Stuecke gemeiniglich gefunden haben. Es liessen sich leicht fast aus allen charakteristischen Komoedien Beispiele anfuehren. Wer aber die Ungereimtheit, dramatische Sitten nach abstrakten Ideen auszufuehren, in ihrem voelligen Lichte sehen will, der darf nur Ben Jonsons 'Jedermann aus seinem Humor'[2] vor sich nehmen; welches ein charakteristisches Stueck sein soll, in der Tat aber nichts als eine unnatuerliche und, wie es die Maler nennen wuerden, harte Schilderung einer Gruppe von fuer sich bestehenden Leidenschaften ist, wovon man das Urbild in dem wirklichen Leben nirgends findet. Dennoch hat diese Komoedie immer ihre Bewunderer gehabt; und besonders muss Randolph von ihrer Einrichtung sehr bezaubert gewesen sein, weil er sie in seinem 'Spiegel der Muse' ausdruecklich nachgeahmet zu haben scheint.

Auch hierin, muessen wir anmerken, ist Shakespeare, so wie in allen andern noch wesentlichern Schoenheiten des Drama, ein vollkommenes Muster. Wer seine Komoedien in dieser Absicht aufmerksam durchlesen will, wird finden, dass seine auch noch so kraeftig gezeichneten Charaktere, den groessten Teil ihrer Rollen durch, sich vollkommen wie alle andere ausdruecken und ihre wesentlichen und herrschenden Eigenschaften nur gelegentlich, so wie die Umstaende eine ungezwungene Aeusserung veranlassen, an den Tag legen. Diese besondere Vortrefflichkeit seiner Komoedien entstand daher, dass er die Natur getreulich kopierte und sein reges und feuriges Genie auf alles aufmerksam war, was ihm in dem Verlaufe der Szenen Dienliches aufstossen konnte: dahingegen Nachahmung und geringere Faehigkeiten kleine Skribenten verleiten, sich um die Fertigkeit zu beeifern, diesen einen Zweck keinen Augenblick aus dem Gesichte zu lassen und mit der aengstlichen Sorgfalt ihre Lieblingscharaktere in bestaendigem Spiele und ununterbrochner Taetigkeit zu erhalten. Man koennte ueber diese ungeschickte Anstrengung ihres Witzes sagen, dass sie mit den Personen ihres Stuecks nicht anders umgehen, als gewisse spasshafte Leute mit ihren Bekannten, denen sie mit ihren Hoeflichkeiten so zusetzen, dass sie ihren Anteil an der allgemeinen Unterhaltung gar nicht nehmen koennen, sondern nur immer, zum Vergnuegen der Gesellschaft, Spruenge und Maennerchen machen muessen."

——Fussnote

[1] Non hominem ex aere iecit, sed iracundiam. Plinius libr. 34. 8.

[2] Beim B. Jonson sind zwei Komoedien, die er vom Humor benennt hat; die eine "Every Man in his Humour" und die andere "Every Man out of his Humour". Das Wort Humor war zu seiner Zeit aufgekommen und wurde auf die laecherlichste Weise gemissbraucht. Sowohl diesen Missbrauch als den eigentlichen Sinn desselben bemerkt er in folgender Stelle selbst:

    As when some one peculiar quality
    Doth so possess a Man, that it doth draw
    All his affects, his spirits, and his powers,
    In their constructions, all to run one way.
    This may be truly said to be a humour.
    But that a rook by wearing a py'd feather,
    The cable hatband, or the three-pil'd ruff,
    A yard of shoe-tye, or the Switzer's knot
    On bis French garters, should affect a humour!
    O, it is more than most rediculous.

[3] In der Geschichte des Humors sind beide Stuecke des Jonson also sehr wichtige Dokumente, und das letztere noch mehr als das erstere. Der Humor, den wir den Englaendern itzt so vorzueglich zuschreiben, war damals bei ihnen grossenteils Affektation; und vornehmlich diese Affektation laecherlich zu machen, schilderte Jonson Humor. Die Sache genau zu nehmen, muesste auch nur der affektierte, und nie der wahre Humor ein Gegenstand der Komoedie sein. Denn nur die Begierde, sich von andern auszuzeichnen, sich durch etwas Eigentuemliches merkbar zu machen, ist eine allgemeine menschliche Schwachheit, die, nach Beschaffenheit der Mittel, welche sie waehlt, sehr laecherlich oder auch sehr strafbar werden kann. Das aber, wodurch die Natur selbst oder eine anhaltende zur Natur gewordene Gewohnheit einen einzeln Menschen von allen andern auszeichnet, ist viel zu speziell, als dass es sich mit der allgemeinen philosophischen Absicht des Drama vertragen koennte. Der ueberhaeufte Humor in vielen englischen Stuecken duerfte sonach auch wohl das Eigene, aber nicht das Bessere derselben sein. Gewiss ist es, dass sich in dem Drama der Alten keine Spur von Humor findet. Die alten dramatischen Dichter wussten das Kunststueck, ihre Personen auch ohne Humor zu individualisieren, ja die alten Dichter ueberhaupt. Wohl aber zeigen die alten Geschichtschreiber und Redner dann und wann Humor: wenn naemlich die historische Wahrheit oder die Aufklaerung eines gewissen Fakti diese genaue Schilderung kaJ' ekaston erfodert. Ich habe Exempel davon fleissig gesammelt, die ich auch bloss darum in Ordnung bringen zu koennen wuenschte, um gelegentlich einen Fehler wiedergutzumachen, der ziemlich allgemein geworden ist. Wir uebersetzen naemlich itzt fast durchgaengig Humor durch Laune; und ich glaube mir bewusst zu sein, dass ich der erste bin, der es so uebersetzt hat. Ich habe sehr unrecht daran getan, und ich wuenschte, dass man mir nicht gefolgt waere. Denn ich glaube es unwidersprechlich beweisen zu koennen, dass Humor und Laune ganz verschiedene, ja in gewissem Verstande gerade entgegengesetzte Dinge sind. Laune kann zu Humor werden; aber Humor ist, ausser diesem einzigen Falle, nie Laune. Ich haette die Abstammung unsers deutschen Worts und den gewoehnlichen Gebrauch desselben besser untersuchen und genauer erwaegen sollen. Ich schloss zu eilig, weil Laune das franzoesische Humeur ausdruecke, dass es auch das englische Humour ausdrucken koennte; aber die Franzosen selbst koennen Humour nicht durch Humeur uebersetzen.—Von den genannten zwei Stuecken des Jonson hat das erste, "Jedermann in seinem Humor", den vom Hurd hier geruegten Fehler weit weniger. Der Humor, den die Personen desselben zeigen, ist weder so individuell, noch so ueberladen, dass er mit der gewoehnlichen Natur nicht bestehen koennte; sie sind auch alle zu einer gemeinschaftlichen Handlung so ziemlich verbunden. In dem zweiten hingegen, "Jedermann aus seinem Humor", ist fast nicht die geringste Fabel; es treten eine Menge der wunderlichsten Narren nacheinander auf, man weiss weder wie noch warum; und ihr Gespraech ist ueberall durch ein paar Freunde des Verfassers unterbrochen, die unter dem Namen Grex eingefuehrt sind und Betrachtung ueber die Charaktere der Personen und ueber die Kunst des Dichters, sie zu behandeln, anstellen. Das aus seinem Humor, out of his Humour, zeigt an, dass alle die Personen in Umstaende geraten, in welchen sie ihres Humors satt und ueberdruessig werden.

——Fussnote

Vierundneunzigstes Stueck
Den 25. Maerz 1768

Und so viel von der Allgemeinheit der komischen Charaktere und den Grenzen dieser Allgemeinheit nach der Idee des Hurd!—Doch es wird noetig sein, noch erst die zweite Stelle beizubringen, wo er erklaert zu haben versichert, inwieweit auch den tragischen Charakteren, ob sie schon nur partikular waeren, dennoch eine Allgemeinheit zukomme: ehe wir den Schluss ueberhaupt machen koennen, ob und wie Hurd mit Diderot, und beide mit dem Aristoteles uebereinstimmen.

"Wahrheit", sagt er, "heisst in der Poesie ein solcher Ausdruck, als der allgemeinen Natur der Dinge gemaess ist; Falschheit hingegen ein solcher, als sich zwar zu dem vorhabenden besondern Falle schicket, aber nicht mit jener allgemeinen Natur uebereinstimmet. Diese Wahrheit des Ausdrucks in der dramatischen Poesie zu erreichen, empfiehlet Horaz[1] zwei Dinge: einmal, die Sokratische Philosophie fleissig zu studieren; zweitens, sich um eine genaue Kenntnis des menschlichen Lebens zu bewerben. Jenes, weil es der eigentuemliche Vorzug dieser Schule ist, ad veritatem vitae propius accedere;[2] dieses, um unserer Nachahmung eine desto allgemeinere Aehnlichkeit erteilen zu koennen. Sich hiervon zu ueberzeugen, darf man nur erwaegen, dass man sich in Werken der Nachahmung an die Wahrheit zu genau halten kann; und dieses auf doppelte Weise. Denn entweder kann der Kuenstler, wenn er die Natur nachbilden will, sich zu aengstlich befleissigen, alle und jede Besonderheiten seines Gegenstandes anzudeuten, und so die allgemeine Idee der Gattung auszudruecken verfehlen. Oder er kann, wenn er sich diese allgemeine Idee zu erteilen bemueht, sie aus zu vielen Faellen des wirklichen Lebens, nach seinem weitesten Umfange, zusammensetzen; da er sie vielmehr von dem lautern Begriffe, der sich bloss in der Vorstellung der Seele findet, hernehmen sollte. Dieses letztere ist der allgemeine Tadel, womit die Schule der niederlaendischen Maler zu belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirklichen Natur, und nicht, wie die italienische, von dem geistigen Ideale der Schoenheit entlehnet. [3] Jenes aber entspricht einem andern Fehler, den man gleichfalls den niederlaendischen Meistern vorwirft und der dieser ist, dass sie lieber die besondere, seltsame und groteske als die allgemeine und reizende Natur sich zum Vorbilde waehlen.

Wir sehen also, dass der Dichter, indem er sich von der eigenen und besondern Wahrheit entfernet, desto getreuer die allgemeine Wahrheit nachahmet. Und hieraus ergibt sich die Antwort auf jenen spitzfindigen Einwurf, den Plato gegen die Poesie ausgegruebelt hatte und nicht ohne Selbstzufriedenheit vorzutragen schien. Naemlich, dass die poetische Nachahmung uns die Wahrheit nur sehr von weitem zeigen koenne. Denn, der poetische Ausdruck, sagt der Philosoph, ist das Abbild von des Dichters eigenen Begriffen; die Begriffe des Dichters sind das Abbild der Dinge; und die Dinge das Abbild des Urbildes, welches in dem goettlichen Verstande existieret. Folglich ist der Ausdruck des Dichters nur das Bild von dem Bilde eines Bildes und liefert uns urspruengliche Wahrheit nur gleichsam aus der dritten Hand. [4] Aber alle diese Vernuenftelei faellt weg, sobald man die nur gedachte Regel des Dichters gehoerig fasset und fleissig in Ausuebung bringet. Denn indem der Dichter von den Wesen alles absondert, was allein das Individuum angehet und unterscheidet, ueberspringet sein Begriff gleichsam alle die zwischen inne liegenden besondern Gegenstaende und erhebt sich, soviel moeglich, zu dem goettlichen Urbilde, um so das unmittelbare Nachbild der Wahrheit zu werden. Hieraus lernt man denn auch einsehen, was und wie viel jenes ungewoehnliche Lob, welches der grosse Kunstrichter der Dichtkunst erteilet, sagen wolle; dass sie, gegen die Geschichte genommen, das ernstere und philosophischere Studium sei: [Greek: philosophoteron kai spoudaioteron poiaesis historias estin]. Die Ursache, welche gleich darauf folgt, ist nun gleichfalls sehr begreiflich: [Greek: ae men gar poiaesis mallon ta katholou, ae d' historia ta kath' ekaston legei].[5] Ferner wird hieraus ein wesentlicher Unterschied deutlich, der sich, wie man sagt, zwischen den zwei grossen Nebenbuhlern der griechischen Buehne soll befunden haben. Wenn man dem Sophocles vorwarf, dass es seinen Charakteren an Wahrheit fehle, so pflegte er sich damit zu verantworten, dass er die Menschen so schildere, wie sie sein sollten, Euripides aber so, wie sie waeren: [Greek: Sophochlaes ephae, autos men oious dei poiein, Euripidaes de oioi eisi].[6] Der Sinn hiervon ist dieser: Sophokles hatte, durch seinen ausgebreiteten Umgang mit Menschen, die eingeschraenkte enge Vorstellung, welche aus der Betrachtung einzelner Charaktere entsteht, in einen vollstaendigen Begriff des Geschlechts erweitert; der philosophische Euripides hingegen, der seine meiste Zeit in der Akademie zugebracht hatte und von da aus das Leben uebersehen wollte, hielt seinen Blick zu sehr auf das Einzelne, auf wirklich existierende Personen geheftet, versenkte das Geschlecht in das Individuum und malte folglich, den vorhabenden Gegenstaenden nach, seine Charaktere zwar natuerlich und wahr, aber auch dann und wann ohne die hoehere allgemeine Aehnlichkeit, die zur Vollendung der poetischen Wahrheit erfodert wird.[7]

Ein Einwurf stoesst gleichwohl hier auf, den wir nicht unangezeigt lassen muessen. Man koennte sagen, 'dass philosophische Spekulationen die Begriffe eines Menschen eher abstrakt und allgemein machen, als sie auf das Individuelle einschraenken muessten. Das letztere sei ein Mangel, welcher aus der kleinen Anzahl von Gegenstaenden entspringe, die den Menschen zu betrachten vorkommen; und diesem Mangel sei nicht allein dadurch abzuhelfen, dass man sich mit mehrern Individuis bekannt mache, als worin die Kenntnis der Welt bestehe; sondern auch dadurch, dass man ueber die allgemeine Natur der Menschen nachdenke, so wie sie in guten moralischen Buechern gelehrt werde. Denn die Verfasser solcher Buecher haetten ihren allgemeinen Begriff von der menschlichen Natur nicht anders als aus einer ausgebreiteten Erfahrung (es sei nun ihrer eignen, oder fremden) haben koennen, ohne welche ihre Buecher sonst von keinem Werte sein wuerden.' Die Antwort hierauf, duenkt mich, ist diese. Durch Erwaegung der allgemeinen Natur des Menschen lernet der Philosoph, wie die Handlung beschaffen sein muss, die aus dem Uebergewichte gewisser Neigungen und Eigenschaften entspringet: das ist, er lernet das Betragen ueberhaupt, welches der beigelegte Charakter erfodert. Aber deutlich und zuverlaessig zu wissen, wieweit und in welchem Grade von Staerke sich dieser oder jener Charakter, bei besondere Gelegenheiten, wahrscheinlicherweise aeussern wuerde, das ist einzig und allein eine Frucht von unserer Kenntnis der Welt. Dass Beispiele von dem Mangel dieser Kenntnis bei einem Dichter, wie Euripides war, sehr haeufig sollten gewesen sein, laesst sich nicht wohl annehmen: auch werden, wo sich dergleichen in seinen uebriggebliebenen Stuecken etwa finden sollten, sie schwerlich so offenbar sein, dass sie auch einem gemeinen Leser in die Augen fallen muessten. Es koennen nur Feinheiten sein, die allein der wahre Kunstrichter zu unterscheiden vermoegend ist; und auch diesem kann, in einer solchen Entfernung von Zeit, aus Unwissenheit der griechischen Sitten, wohl etwas als ein Fehler vorkommen, was im Grunde eine Schoenheit ist. Es wuerde also ein sehr gefaehrliches Unternehmen sein, die Stellen im Euripides anzeigen zu wollen, welche Aristoteles diesem Tadel unterworfen zu sein geglaubt hatte. Aber gleichwohl will ich es wagen, eine anzufuehren, die, wenn ich sie auch schon nicht nach aller Gerechtigkeit kritisieren sollte, wenigstens meine Meinung zu erlaeutern dienen kann."

——Fussnote

[1] De arte poet. v. 310. 317. 318.

[2] De Orat. I. 51.

[3] Nach Massgebung der Antiken. Nec enim Phidias, cum faceret Jovis formam aut Minervae, contemplabatur aliquem e quo similitudinem duceret: sed ipsius in mente insidebat species pulchritudinis eximia quaedam, quam intuens in eaque defixus ad illius similitudinem artem et manum dirigebat. (Cic. Or. 2.)

[4] Plato de Repl., L. X.

[5] "Dichtkunst", Kap. 9.

[6] "Dichtkunst", Kap. 25.

[7] Diese Erklaerung ist der, welche Dacier von der Stelle des Aristoteles gibt, weit vorzuziehen. Nach den Worten der Uebersetzung scheinet Dacier zwar eben das zu sagen, was Hurd sagt: que Sophocle faisait ses Heros, comme ils devaient etre et qu'Euripide les faisait comme ils etaient. Aber er verbindet im Grunde einen ganz andern Begriff damit. Hurd versteht unter dem Wie sie sein sollten die allgemeine abstrakte Idee des Geschlechts, nach welcher der Dichter seine Personen mehr als nach ihren individuellen Verschiedenheiten schildern muesse. Dacier aber denkt sich dabei eine hoehere moralische Vollkommenheit, wie sie der Mensch zu erreichen faehig sei, ob er sie gleich nur selten erreiche; und diese, sagt er, habe Sophokles seinen Personen gewoehnlicherweise beigelegt: Sophocle tachait de rendre ses imitations parfaites, en suivant toujours bien plus ce qu'une belle Nature etait capable de faire, que ce qu'elle faisait. Allein diese hoehere moralische Vollkommenheit gehoeret gerade zu jenem allgemeinen Begriffe nicht; sie stehet dem Individuo zu, aber nicht dem Geschlechte; und der Dichter, der sie seinen Personen beilegt, schildert gerade umgekehrt mehr in der Manier des Euripides als des Sophokles. Die weitere Ausfuehrung hiervon verdienet mehr als eine Note.

——Fussnote

Fuenfundneunzigstes Stueck
Den 29. Maerz 1768

"Die Geschichte seiner Elektra ist ganz bekannt. Der Dichter hatte in dem Charakter dieser Prinzessin ein tugendhaftes, aber mit Stolz und Groll erfuelltes Frauenzimmer zu schildern, welches durch die Haerte, mit der man sich gegen sie selbst betrug, erbittert war und durch noch weit staerkere Bewegungsgruende angetrieben ward, den Tod eines Vaters zu raechen. Eine solche heftige Gemuetsverfassung, kann der Philosoph in seinem Winkel wohl schliessen, muss immer sehr bereit sein, sich zu aeussern. Elektra, kann er wohl einsehen, muss, bei der geringsten schicklichen Gelegenheit, ihren Groll an den Tag legen, und die Ausfuehrung ihres Vorhabens beschleunigen zu koennen wuenschen. Aber zu welcher Hoehe dieser Groll steigen darf? d.I. wie stark Elektra ihre Rachsucht ausdruecken darf, ohne dass ein Mann, der mit dem menschlichen Geschlechte und mit den Wirkungen der Leidenschaften im ganzen bekannt ist, dabei ausrufen kann: Das ist unwahrscheinlich? Dieses auszumachen, wird die abstrakte Theorie von wenig Nutzen sein. Sogar eine nur maessige Bekanntschaft mit dem wirklichen Leben ist hier nicht hinlaenglich, uns zu leiten. Man kann eine Menge Individua bemerkt haben, welche den Poeten, der den Ausdruck eines solchen Grolles bis auf das Aeusserste getrieben haette, zu rechtfertigen scheinen. Selbst die Geschichte duerfte vielleicht Exempel an die Hand geben, wo eine tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter getrieben worden, als es der Dichter hier vorgestellet. Welches sind denn nun also die eigentlichen Grenzen derselben, und wodurch sind sie zu bestimmen? Einzig und allein durch Bemerkung so vieler einzeln Faelle als moeglich; einzig und allein vermittelst der ausgebreitetsten Kenntnis, wieviel eine solche Erbitterung ueber dergleichen Charaktere unter dergleichen Umstaenden im wirklichen Leben gewoehnlicherweise vermag. So verschieden diese Kenntnis in Ansehung ihres Umfanges ist, so verschieden wird denn auch die Art der Vorstellung sein. Und nun wollen wir sehen, wie der vorhabende Charakter von dem Euripides wirklich behandelt worden.

In der schoenen Szene, welche zwischen der Elektra und dem Orestes vorfaellt, von dem sie aber noch nicht weiss, dass er ihr Bruder ist, koemmt die Unterredung ganz natuerlich auf die Ungluecksfaelle der Elektra und auf den Urheber derselben, die Klytaemnestra, sowie auch auf die Hoffnung, welche Elektra hat, von ihren Drangsalen durch den Orestes befreiet zu werden. Das Gespraech, wie es hierauf weitergehet, ist dieses:

Orestes. Und Orestes? Gesetzt, er kaeme nach Argos zurueck—

Elektra. Wozu diese Frage, da er, allem Ansehen nach, niemals zurueckkommen wird?

Orestes. Aber gesetzt, er kaeme! Wie muesste er es anfangen, um den Tod seines Vaters zu raechen?

Elektra. Sich eben des erkuehnen, wessen die Feinde sich gegen seinen
Vater erkuehnten.

Orestes. Wolltest du es wohl mit ihm wagen, deine Mutter umzubringen?

Elektra. Sie mit dem naemlichen Eisen umbringen, mit welchem sie meinen Vater mordete!

Orestes. Und darf ich das, als deinen festen Entschluss, deinem Bruder vermelden?

Elektra. 'Ich will meine Mutter umbringen, oder nicht leben!'

Das Griechische ist noch staerker:

[Greek: Thanoimi, maetros aim' episphaxas' emaes].

'Ich will gern des Todes sein, sobald ich meine Mutter umgebracht habe!'

Nun kann man nicht behaupten, dass diese letzte Rede schlechterdings unnatuerlich sei. Ohne Zweifel haben sich Beispiele genug ereignet, wo unter aehnlichen Umstaenden die Rache sich ebenso heftig ausgedrueckt hat. Gleichwohl, denke ich, kann uns die Haerte dieses Ausdrucks nicht anders als ein wenig beleidigen. Zum mindesten hielt Sophokles nicht fuer gut, ihn so weit zu treiben. Bei ihm sagt Elektra unter gleichen Umstaenden nur das: 'Jetzt sei dir die Ausfuehrung ueberlassen! Waere ich aber allein geblieben, so glaube mir nur: beides haette mir gewiss nicht misslingen sollen; entweder mit Ehren mich zu befreien, oder mit Ehren zu sterben!'

Ob nun diese Vorstellung des Sophokles der Wahrheit, insofern sie aus einer ausgebreitetem Erfahrung, d.i. aus der Kenntnis der menschlichen Natur ueberhaupt, gesammelt worden, nicht weit gemaesser ist, als die Vorstellung des Euripides, will ich denen zu beurteilen ueberlassen, die es zu beurteilen faehig sind. Ist sie es, so kann die Ursache keine andere sein, als die ich angenommen: dass naemlich Sophokles seine Charaktere so geschildert, als er, unzaehligen von ihm beobachteten Beispielen der naemlichen Gattung zufolge, glaubte, dass sie sein sollten; Euripides aber so, als er in der engeren Sphaere seiner Beobachtungen erkannt hatte, dass sie wirklich waeren<—".

Vortrefflich! Auch unangesehen der Absicht, in welcher ich diese langen Stellen des Hurd angefuehret habe, enthalten sie unstreitig so viel feine Bemerkungen, dass es mir der Leser wohl erlassen wird, mich wegen Einschaltung derselben zu entschuldigen. Ich besorge nur, dass er meine Absicht selbst darueber aus den Augen verloren. Sie war aber diese: zu zeigen, dass auch Hurd, so wie Diderot, der Tragoedie besondere, und nur der Komoedie allgemeine Charaktere zuteile und demohngeachtet dem Aristoteles nicht widersprechen wolle, welcher das Allgemeine von allen poetischen Charakteren, und folglich auch von den tragischen, verlanget. Hurd erklaert sich naemlich so: der tragische Charakter muesse zwar partikulaer oder weniger allgemein sein, als der komische, d.i. er muesse die Art, zu welcher er gehoere, weniger vorstellig machen; gleichwohl aber muesse das wenige, was man von ihm zu zeigen fuer gut finde, nach dem Allgemeinen entworfen sein, welches Aristoteles fordere.[1]

Und nun waere die Frage, ob Diderot sich auch so verstanden wissen wolle?—Warum nicht, wenn ihm daran gelegen waere, sich nirgends in Widerspruch mit dem Aristoteles finden zu lassen? Mir wenigstens, dem daran gelegen ist, dass zwei denkende Koepfe von der naemlichen Sache nicht Ja und Nein sagen, koennte es erlaubt sein, ihm diese Auslegung unterzuschieben, ihm diese Ausflucht zu leihen.

Aber lieber von dieser Ausflucht selbst, ein Wort!—Mich duenkt, es ist eine Ausflucht, und ist auch keine. Denn das Wort allgemein wird offenbar darin in einer doppelten und ganz verschiedenen Bedeutung genommen. Die eine, in welcher es Hurd und Diderot von dem tragischen Charakter verneinen, ist nicht die naemliche, in welcher es Hurd von ihm bejahet. Freilich beruhet eben hierauf die Ausflucht: aber wie, wenn die eine die andere schlechterdings ausschloesse?

In der ersten Bedeutung heisst ein allgemeiner Charakter ein solcher, in welchen man das, was man an mehrern oder allen Individuis bemerkt hat, zusammennimmt; es heisst mit einem Worte, ein ueberladener Charakter; es ist mehr die personifierte Idee eines Charakters, als eine charakterisierte Person. In der andern Bedeutung aber heisst ein allgemeiner Charakter ein solcher, in welchem man von dem, was an mehrern oder allen Individuis bemerkt worden, einen gewissen Durchschnitt, eine mittlere Proportion angenommen; es heisst mit einem Worte, ein gewoehnlicher Charakter, nicht zwar insofern der Charakter selbst, sondern nur insofern der Grad, das Mass desselben gewoehnlich ist.

Hurd hat vollkommen recht, das [Greek: katholou] des Aristoteles von der Allgemeinheit in der zweiten Bedeutung zu erklaeren. Aber wenn denn nun Aristoteles diese Allgemeinheit ebensowohl von den komischen als tragischen Charakteren erfodert: wie ist es moeglich, dass der naemliche Charakter zugleich auch jene Allgemeinheit haben kann? Wie ist es moeglich, dass er zugleich ueberladen und gewoehnlich sein kann? Und gesetzt auch, er waere so ueberladen noch lange nicht, als es die Charaktere in dem getadelten Stuecke des Jonson sind; gesetzt, er liesse sich noch gar wohl in einem Individuo gedenken, und man habe Beispiele, dass er sich wirklich in mehrern Menschen ebenso stark, ebenso ununterbrochen geaeussert habe: wuerde er demohngeachtet nicht auch noch viel ungewoehnlicher sein, als jene Allgemeinheit des Aristoteles zu sein erlaubet?

Das ist die Schwierigkeit!—Ich erinnere hier meine Leser, dass diese Blaetter nichts weniger als ein dramatisches System enthalten sollen. Ich bin also nicht verpflichtet, alle die Schwierigkeiten aufzuloesen, die ich mache. Meine Gedanken moegen immer sich weniger zu verbinden, ja wohl gar sich zu widersprechen scheinen: wenn es denn nur Gedanken sind, bei welchen sie Stoff finden, selbst zu denken. Hier will ich nichts als Fermenta cognitionis ausstreuen.

——Fussnote

[1] In calling the tragic character particular, I suppose it only less representative of the kind than the comic; not that the draught of so much character as it is concerned to represent should not be general.

——Fussnote

Sechsundneunzigstes Stueck
Den 1. April 1768

Den zweiundfunfzigsten Abend (dienstags, den 28. Julius) wurden des Herrn
Romanus "Brueder" wiederholt.

Oder sollte ich nicht vielmehr sagen: "Die Brueder" des Herrn Romanus? Nach einer Anmerkung naemlich, welche Donatus bei Gelegenheit der "Brueder" des Terenz macht: Hanc dicunt fabulam secundo loco actam, etiam tum rudi nomine poetae; itaque sic pronunciatam, Adelphoi Terenti, non Terenti Adelphoi, quod adhuc magis de fabulae nomine poeta; quam de poetae nomine fabula commendabatur. Herr Romanus hat seine Komoedien zwar ohne seinen Namen herausgegeben: aber doch ist sein Name durch sie bekannt geworden. Noch itzt sind diejenigen Stuecke, die sich auf unserer Buehne von ihm erhalten haben, eine Empfehlung seines Namens, der in Provinzen Deutschlands genannt wird, wo er ohne sie wohl nie waere gehoeret worden. Aber welches widrige Schicksal hat auch diesen Mann abgehalten, mit seinen Arbeiten fuer das Theater so lange fortzufahren, bis die Stuecke aufgehoert haetten, seinen Namen zu empfehlen, und sein Name dafuer die Stuecke empfohlen haette?

Das meiste, was wir Deutsche noch in der schoenen Literatur haben, sind Versuche junger Leute. Ja das Vorurteil ist bei uns fast allgemein, dass es nur jungen Leuten zukomme, in diesem Felde zu arbeiten. Maenner, sagt man, haben ernsthaftere Studia oder wichtigere Geschaefte, zu welchen sie die Kirche oder der Staat auffodert. Verse und Komoedien heissen Spielwerke; allenfalls nicht unnuetzliche Voruebungen, mit welchen man sich hoechstens bis in sein fuenfundzwanzigstes Jahr beschaeftigen darf. Sobald wir uns dem maennlichen Alter naehern, sollen wir fein alle unsere Kraefte einem nuetzlichen Amte widmen; und laesst uns dieses Amt einige Zeit, etwas zu schreiben, so soll man ja nichts anders schreiben, als was mit der Gravitaet und dem buergerlichen Range desselben bestehen kann; ein huebsches Kompendium aus den hoehern Fakultaeten, eine gute Chronike von der lieben Vaterstadt, eine erbauliche Predigt und dergleichen.

Daher koemmt es denn auch, dass unsere schoene Literatur, ich will nicht bloss sagen gegen die schoene Literatur der Alten, sondern sogar fast gegen aller neuern polierten Voelker ihre, ein so jugendliches, ja kindisches Ansehen hat, und noch lange, lange haben wird. An Blut und Leben, an Farbe und Feuer fehlet es ihr endlich nicht: aber Kraefte und Nerven, Mark und Knochen mangeln ihr noch sehr. Sie hat noch so wenig Werke, die ein Mann, der im Denken geuebt ist, gern zur Hand nimmt, wenn er, zu seiner Erholung und Staerkung, einmal ausser dem einfoermigen ekeln Zirkel seiner alltaeglichen Beschaeftigungen denken will! Welche Nahrung kann so ein Mann wohl z.E. in unsern hoechst trivialen Komoedien finden? Wortspiele, Sprichwoerter, Spaesschen, wie man sie alle Tage auf den Gassen hoert: solches Zeug macht zwar das Parterre zu lachen, das sich vergnuegt so gut es kann; wer aber von ihm mehr als den Bauch erschuettern will, wer zugleich mit seinem Verstande lachen will, der ist einmal dagewesen und koemmt nicht wieder.

Wer nichts hat, der kann nichts geben. Ein junger Mensch, der erst selbst in die Welt tritt, kann unmoeglich die Welt kennen und sie schildern. Das groesste komische Genie zeigt sich in seinen jugendlichen Werken hohl und leer; selbst von den ersten Stuecken des Menanders sagt Plutarch,[1] dass sie mit seinen spaetern und letztern Stuecken gar nicht zu vergleichen gewesen. Aus diesen aber, setzt er hinzu, koenne man schliessen, was er noch wuerde geleistet haben, wenn er laenger gelebt haette. Und wie jung meint man wohl, dass Menander starb? Wieviel Komoedien meint man wohl, dass er erst geschrieben hatte? Nicht weniger als hundertundfuenfe; und nicht juenger als zweiundfunfzig.

Keiner von allen unsern verstorbenen komischen Dichtern, von denen es sich noch der Muehe verlohnte zu reden, ist so alt geworden; keiner von den itztlebenden ist es noch zur Zeit; keiner von beiden hat das vierte Teil so viel Stuecke gemacht. Und die Kritik sollte von ihnen nicht eben das zu sagen haben, was sie von dem Menander zu sagen fand?—Sie wage es aber nur, und spreche!

Und nicht die Verfasser allein sind es, die sie mit Unwillen hoeren. Wir haben, dem Himmel sei Dank, itzt ein Geschlecht selbst von Kritikern, deren beste Kritik darin besteht,—alle Kritik verdaechtig zu machen. "Genie! Genie!" schreien sie. "Das Genie setzt sich ueber alle Regeln hinweg! Was das Genie macht, ist Regel!" So schmeicheln sie dem Genie: ich glaube, damit wir sie auch fuer Genies halten sollen. Doch sie verraten zu sehr, dass sie nicht einen Funken davon in sich spueren, wenn sie in einem und ebendemselben Atem hinzusetzen: "Die Regeln unterdruecken das Genie!"—Als ob sich Genie durch etwas in der Welt unterdruecken liesse! Und noch dazu durch etwas, das, wie sie selbst gestehen, aus ihm hergeleitet ist. Nicht jeder Kunstrichter ist Genie: aber jedes Genie ist ein geborner Kunstrichter. Es hat die Probe aller Regeln in sich. Es begreift und behaelt und befolgt nur die, die ihm seine Empfindung in Worten ausdruecken. Und diese seine in Worten ausgedrueckte Empfindung sollte seine Taetigkeit verringern koennen? Vernuenftelt darueber mit ihm, so viel ihr wollt; es versteht euch nur, insofern es eure allgemeinen Saetze den Augenblick in einem einzeln Falle anschauend erkennet; und nur von diesem einzeln Falle bleibt Erinnerung in ihm zurueck, die waehrend der Arbeit auf seine Kraefte nicht mehr und nicht weniger wirken kann, als die Erinnerung eines gluecklichen Beispiels, die Erinnerung einer eignen gluecklichen Erfahrung auf sie zu wirken imstande ist. Behaupten also, dass Regeln und Kritik das Genie unterdruecken koennen: heisst mit andern Worten behaupten, dass Beispiele und Uebung eben dieses vermoegen; heisst, das Genie nicht allein auf sich selbst, heisst es sogar lediglich auf seinen ersten Versuch einschraenken.

Ebensowenig wissen diese weise Herren, was sie wollen, wenn sie ueber die nachteiligen Eindruecke, welche die Kritik auf das geniessende Publikum mache, so lustig wimmern! Sie moechten uns lieber bereden, dass kein Mensch einen Schmetterling mehr bunt und schoen findet, seitdem das boese Vergroesserungsglas erkennen lassen, dass die Farben desselben nur Staub sind.

"Unser Theater", sagen sie, "ist noch in einem viel zu zarten Alter, als dass es den monarchischen Szepter der Kritik ertragen koenne.—Es ist fast noetiger, die Mittel zu zeigen, wie das Ideal erreicht werden kann, als darzutun, wie weit wir noch von diesem Ideale entfernt sind.—Die Buehne muss durch Beispiele, nicht durch Regeln reformieret werden.—Raisonnieren ist leichter als selbst erfinden."

Heisst das, Gedanken in Worte kleiden: oder heisst es nicht vielmehr, Gedanken zu Worten suchen, und keine erhaschen?—Und wer sind sie denn, die so viel von Beispielen und vom Selbsterfinden reden? Was fuer Beispiele haben sie denn gegeben? Was haben sie denn selbst erfunden? —Schlaue Koepfe! Wenn ihnen Beispiele zu beurteilen vorkommen, so wuenschen sie lieber Regeln; und wenn sie Regeln beurteilen sollen, so moechten sie lieber Beispiele haben. Anstatt von einer Kritik zu beweisen, dass sie falsch ist, beweisen sie, dass sie zu strenge ist; und glauben vertan zu haben! Anstatt ein Raisonnement zu widerlegen, merken sie an, dass Erfinden schwerer ist als Raisonnieren; und glauben widerlegt zu haben!

Wer richtig raisonniert, erfindet auch: und wer erfinden will, muss raisonnieren koennen. Nur die glauben, dass sich das eine von dem andern trennen lasse, die zu keinem von beiden aufgelegt sind.

Doch was halte ich mich mit diesen Schwaetzern auf? Ich will meinen Gang
gehen und mich unbekuemmert lassen, was die Grillen am Wege schwirren.
Auch ein Schritt aus dem Wege, um sie zu zertreten, ist schon zu viel.
Ihr Sommer ist so leicht abgewartet!

Also, ohne weitere Einleitung, zu den Anmerkungen, die ich bei Gelegenheit der ersten Vorstellung der "Brueder" des Herrn Romanus[2] annoch ueber dieses Stueck versprach!—Die vornehmsten derselben werden die Veraenderungen betreffen, die er in der Fabel des Terenz machen zu muessen geglaubet, um sie unsern Sitten naeher zu bringen.

Was soll man ueberhaupt von der Notwendigkeit dieser Veraenderungen sagen? Wenn wir so wenig Anstoss finden, roemische oder griechische Sitten in der Tragoedie geschildert zu sehen: warum nicht auch in der Komoedie? Woher die Regel, wenn es anders eine Regel ist, die Szene der erstern in ein entferntes Land, unter ein fremdes Volk; die Szene der andern aber in unsere Heimat zu legen? Woher die Verbindlichkeit, die wir dem Dichter aufbuerden, in jener die Sitten desjenigen Volkes, unter dem er seine Handlung vorgehen laesst, so genau als moeglich zu schildern; da wir in dieser nur unsere eigene Sitten von ihm geschildert zu sehen verlangen? "Dieses", sagt Pope an einem Orte, "scheinet dem ersten Ansehen nach blosser Eigensinn, blosse Grille zu sein: es hat aber doch seinen guten Grund in der Natur. Das Hauptsaechlichste, was wir in der Komoedie suchen, ist ein getreues Bild des gemeinen Lebens, von dessen Treue wir aber nicht so leicht versichert sein koennen, wenn wir es in fremde Moden und Gebraeuche verkleidet finden. In der Tragoedie hingegen ist es die Handlung, was unsere Aufmerksamkeit am meisten an sich ziehet. Einen einheimischen Vorfall aber fuer die Buehne bequem zu machen, dazu muss man sich mit der Handlung groessere Freiheiten nehmen, als eine zu bekannte Geschichte verstattet."

——Fussnote

[1] "Epit, [Greek: taes synkriseos] Arist. [Greek: kai Menan]", p. 1588. Ed. Henr. Stephani.

[2] Dreiundsiebzigstes Stueck.

——Fussnote

Siebenundneunzigstes Stueck
Den 5. April 1768

Diese Aufloesung, genau betrachtet, duerfte wohl nicht in allen Stuecken befriedigend sein. Denn zugegeben, dass fremde Sitten der Absicht der Komoedie nicht so gut entsprechen, als einheimische: so bleibt noch immer die Frage, ob die einheimischen Sitten nicht auch zur Absicht der Tragoedie ein besseres Verhaeltnis haben, als fremde? Diese Frage ist wenigstens durch die Schwierigkeit, einen einheimischen Vorfall ohne allzumerkliche und anstoessige Veraenderungen fuer die Buehne bequem zu machen, nicht beantwortet. Freilich erfodern einheimische Sitten auch einheimische Vorfaelle: wenn denn aber nur mit jenen die Tragoedie am leichtesten und gewissesten ihren Zweck erreichte, so muesste es ja doch wohl besser sein, sich ueber alle Schwierigkeiten, welche sich bei Behandlung dieser finden, wegzusetzen als in Absicht des Wesentlichsten zu kurz zu fallen, welches ohnstreitig der Zweck ist. Auch werden nicht alle einheimische Vorfaelle so merklicher und anstoessiger Veraenderungen beduerfen; und die deren beduerfen, ist man ja nicht verbunden zu bearbeiten. Aristoteles hat schon angemerkt, dass es gar wohl Begebenheiten geben kann und gibt, die sich vollkommen so ereignet haben, als sie der Dichter braucht. Da dergleichen aber nur selten sind, so hat er auch schon entschieden, dass sich der Dichter um den wenigern Teil seiner Zuschauer, der von den wahren Umstaenden vielleicht unterrichtet ist, lieber nicht bekuemmern, als seiner Pflicht minder Genuege leisten muesse.

Der Vorteil, den die einheimischen Sitten in der Komoedie haben, beruhet auf der innigen Bekanntschaft, in der wir mit ihnen stehen. Der Dichter braucht sie uns nicht erst bekannt zu machen; er ist aller hierzu noetigen Beschreibungen und Winke ueberhoben; er kann seine Personen sogleich nach ihren Sitten handeln lassen, ohne uns diese Sitten selbst erst langweilig zu schildern. Einheimische Sitten also erleichtern ihm die Arbeit und befoerdern bei dem Zuschauer die Illusion.

Warum sollte nun der tragische Dichter sich dieses wichtigen doppelten Vorteils begeben? Auch er hat Ursache, sich die Arbeit so viel als moeglich zu erleichtern, seine Kraefte nicht an Nebenzwecke zu verschwenden, sondern sie ganz fuer den Hauptzweck zu sparen. Auch ihm koemmt auf die Illusion des Zuschauers alles an.—Man wird vielleicht hierauf antworten, dass die Tragoedie der Sitten nicht gross beduerfe; dass sie ihrer ganz und gar entuebriget sein koenne. Aber sonach braucht sie auch keine fremde Sitten; und von dem wenigen, was sie von Sitten haben und zeigen will, wird es doch immer besser sein, wenn es von einheimischen Sitten hergenommen ist, als von fremden.

Die Griechen wenigstens haben nie andere als ihre eigene Sitten, nicht bloss in der Komoedie, sondern auch in der Tragoedie, zum Grunde gelegt. Ja sie haben fremden Voelkern, aus deren Geschichte sie den Stoff ihrer Tragoedie etwa einmal entlehnten, lieber ihre eigenen griechischen Sitten leihen, als die Wirkungen der Buehne durch unverstaendliche barbarische Sitten entkraeften wollen. Auf das Kostuem, welches unsern tragischen Dichtern so aengstlich empfohlen wird, hielten sie wenig oder nichts. Der Beweis hiervon koennen vornehmlich die "Perser" des Aeschylus sein: und die Ursache, warum sie sich so wenig an das Kostuem binden zu duerfen glaubten, ist aus der Absicht der Tragoedie leicht zu folgern.

Doch ich gerate zu weit in denjenigen Teil des Problems, der mich itzt gerade am wenigsten angeht. Zwar indem ich behaupte, dass einheimische Sitten auch in der Tragoedie zutraeglicher sein wuerden, als fremde: so setze ich schon als unstreitig voraus, dass sie es wenigstens in der Komoedie sind. Und sind sie das, glaube ich wenigstens, dass sie es sind: so kann ich auch die Veraenderungen, welche Herr Romanus in Absicht derselben mit dem Stuecke des Terenz gemacht hat, ueberhaupt nicht anders als billigen.

Er hatte recht, eine Fabel, in welche so besondere griechische und roemische Sitten so innig verwebet sind, umzuschaffen. Das Beispiel erhaelt seine Kraft nur von seiner innern Wahrscheinlichkeit, die jeder Mensch nach dem beurteilet, was ihm selbst am gewoehnlichsten ist. Alle Anwendung faellt weg, wo wir uns erst mit Muehe in fremde Umstaende versetzen muessen. Aber es ist auch keine leichte Sache mit einer solchen Umschaffung. Je vollkommener die Fabel ist, desto weniger laesst sich der geringste Teil veraendern, ohne das Ganze zu zerruetten. Und schlimm! wenn man sich sodann nur mit Flicken begnuegt, ohne im eigentlichen Verstande umzuschaffen.

Das Stueck heisst "Die Brueder", und dieses bei dem Terenz aus einem doppelten Grunde. Denn nicht allein die beiden Alten, Micio und Demea, sondern auch die beiden jungen Leute, Aeschinus und Ktesipho, sind Brueder. Demea ist dieser beider Vater; Micio hat den einen, den Aeschinus, nur an Sohnes Statt angenommen. Nun begreif' ich nicht, warum unserm Verfasser diese Adoption missfallen. Ich weiss nicht anders, als dass die Adoption auch unter uns, auch noch itzt gebraeuchlich und vollkommen auf dem naemlichen Fuss gebraeuchlich ist, wie sie es bei den Roemern war. Demohngeachtet ist er davon abgegangen: bei ihm sind nur die zwei Alten Brueder, und jeder hat einen leiblichen Sohn, den er nach seiner Art erziehet. Aber desto besser! wird man vielleicht sagen. So sind denn auch die zwei Alten wirkliche Vaeter; und das Stueck ist wirklich eine Schule der Vaeter, d.i. solcher, denen die Natur die vaeterliche Pflicht aufgelegt, nicht solcher, die sie freiwillig zwar uebernommen, die sich ihrer aber schwerlich weiter unterziehen, als es mit ihrer eignen Gemaechlichkeit bestehen kann.

Pater esse disce ab illis, qui vere sciunt!

Sehr wohl! Nur schade, dass durch Aufloesung dieses einzigen Knoten, welcher bei dem Terenz den Aeschinus und Ktesipho unter sich, und beide mit dem Demea, ihrem Vater, verbindet, die ganze Maschine auseinander faellt, und aus einem allgemeinen Interesse zwei ganz verschiedene entstehen, die bloss die Konvenienz des Dichters, und keineswegs ihre eigene Natur zusammenhaelt!

Denn ist Aeschinus nicht bloss der angenommene, sondern der leibliche Sohn des Micio, was hat Demea sich viel um ihn zu bekuemmern? Der Sohn eines Bruders geht mich so nahe nicht an, als mein eigener. Wenn ich finde, dass jemand meinen eigenen Sohn verziehet, geschaehe es auch in der besten Absicht von der Welt, so habe ich recht, diesem gutherzigen Verfuehrer mit aller der Heftigkeit zu begegnen, mit welcher, beim Terenz, Demea dem Micio begegnet. Aber wenn es nicht mein Sohn ist, wenn es der eigene Sohn des Verziehers ist, was kann ich mehr, was darf ich mehr, als dass ich diesen Verzieher warne, und wenn er mein Bruder ist, ihn oefters und ernstlich warne? Unser Verfasser setzt den Demea aus dem Verhaeltnisse, in welchem er bei dem Terenz stehet, aber er laesst ihm die naemliche Ungestuemheit, zu welcher ihn doch nur jenes Verhaeltnis berechtigen konnte. Ja bei ihm schimpfet und tobet Demea noch weit aerger, als bei dem Terenz. Er will aus der Haut fahren, "dass er an seines Bruders Kinde Schimpf und Schande erleben muss". Wenn ihm nun aber dieser antwortete: "Du bist nicht klug, mein lieber Bruder, wenn du glaubest, du koenntest an meinem Kinde Schimpf und Schande erleben. Wenn mein Sohn ein Bube ist und bleibt, so wird, wie das Unglueck, also auch der Schimpf nur meine sein. Du magst es mit deinem Eifer wohl gut meinen; aber er geht zu weit; er beleidiget mich. Falls du mich nur immer so aergern wil1st, so komm mir lieber nicht ueber die Schwelle! usw." Wenn Micio, sage ich, dieses antwortete: nicht wahr, so waere die Komoedie auf einmal aus? Oder koennte Micio etwa nicht so antworten? Ja, muesste er wohl eigentlich nicht so antworten?

Wieviel schicklicher eifert Demea beim Terenz. Dieser Aeschinus, den er ein so liederliches Leben zu fuehren glaubt, ist noch immer sein Sohn, ob ihn gleich der Bruder an Kindes Statt angenommen. Und dennoch bestehet der roemische Micio weit mehr auf seinem Rechte als der deutsche. Du hast mir, sagt er, deinen Sohn einmal ueberlassen; bekuemmere dich um den, der dir noch uebrig ist;

—nam ambos curare; propemodum Reposcere illum est, quem dedisti—

Diese versteckte Drohung, ihm seinen Sohn zurueckzugeben, ist es auch, die ihn zum Schweigen bringt; und doch kann Micio nicht verlangen, dass sie alle vaeterliche Empfindungen bei ihm unterdruecken soll. Es muss den Micio zwar verdriessen, dass Demea auch in der Folge nicht aufhoert, ihm immer die naemlichen Vorwuerfe zu machen: aber er kann es dem Vater doch auch nicht verdenken, wenn er seinen Sohn nicht gaenzlich will verderben lassen. Kurz, der Demea des Terenz ist ein Mann, der fuer das Wohl dessen besorgt ist, fuer den ihm die Natur zu sorgen aufgab; er tut es zwar auf die unrechte Weise, aber die Weise macht den Grund nicht schlimmer. Der Demea unsers Verfassers hingegen ist ein beschwerlicher Zaenker, der sich aus Verwandtschaft zu allen Grobheiten berechtiget glaubt, die Micio auf keine Weise an dem blossen Bruder dulden muesste.

Achtundneunzigstes Stueck
Den 8. April 1768

Ebenso schielend und falsch wird, durch Aufhebung der doppelten Bruederschaft, auch das Verhaeltnis der beiden jungen Leute. Ich verdenke es dem deutschen Aeschinus, dass er[1] "vielmals an den Torheiten des Ktesipho Anteil nehmen zu muessen geglaubt, um ihn, als seinen Vetter, der Gefahr und oeffentlichen Schande zu entreissen". Was Vetter? Und schickt es sich wohl fuer den leiblichen Vater, ihm darauf zu antworten: "Ich billige deine hierbei bezeugte Sorgfalt und Vorsicht; ich verwehre dir es auch inskuenftige nicht?" Was verwehrt der Vater dem Sohne nicht? An den Torheiten eines ungezogenen Vetters Anteil zu nehmen? Wahrlich, das sollte er ihm verwehren. "Suche deinen Vetter", muesste er ihm hoechstens sagen, "soviel moeglich von Torheiten abzuhalten: wenn du aber findest, dass er durchaus darauf besteht, so entziehe dich ihm; denn dein guter Name muss dir wertet sein, als seiner."

Nur dem leiblichen Bruder verzeihen wir, hierin weiter zu gehen. Nur an leiblichen Bruedern kann es uns freuen, wenn einer von dem andern ruehmet:

    —Illius opera nunc vivo! Festivum caput,
    Qui omnia sibi post putarit esse prae meo commodo:
    Maledicta, famam, meum amorem et peccatum in se transtulit.

Denn der bruederlichen Liebe wollen wir von der Klugheit keine Grenzen gesetzt wissen. Zwar ist es wahr, dass unser Verfasser seinem Aeschinus die Torheit ueberhaupt zu ersparen gewusst hat, die der Aeschinus des Terenz fuer seinen Bruder begehet. Eine gewaltsame Entfuehrung hat er in eine kleine Schlaegerei verwandelt, an welcher sein wohlgezogner Juengling weiter keinen Teil hat, als dass er sie gern verhindern wollen. Aber gleichwohl laesst er diesen wohlgezognen Juengling fuer einen ungezognen Vetter noch viel zuviel tun. Denn muesste es jener wohl auf irgendeine Weise gestatten, dass dieser ein Kreatuerchen, wie Citalise ist, zu ihm in das Haus braechte? in das Haus seines Vaters? unter die Augen seiner tugendhaften Geliebten? Es ist nicht der verfuehrerische Damis, diese Pest fuer junge Leute,[2] dessentwegen der deutsche Aeschinus seinem liederlichen Vetter die Niederlage bei sich erlaubt: es ist die blosse Konvenienz des Dichters.

Wie vortrefflich haengt alles das bei dem Terenz zusammen! Wie richtig und notwendig ist da auch die geringste Kleinigkeit motivieret! Aeschinus nimmt einem Sklavenhaendler ein Maedchen mit Gewalt aus dem Hause, in das sich sein Bruder verliebt hat. Aber er tut das, weniger um der Neigung seines Bruders zu willfahren, als um einem groessern Uebel vorzubauen. Der Sklavenhaendler will mit diesem Maedchen unverzueglich auf einen auswaertigen Markt: und der Bruder will dem Maedchen nach; will lieber sein Vaterland verlassen, als den Gegenstand seiner Liebe aus den Augen verlieren.[3] Noch erfaehrt Aeschinus zu rechter Zeit diesen Entschluss. Was soll er tun? Er bemaechtiget sich in der Geschwindigkeit des Maedchens und bringt sie in das Haus seines Oheims, um diesem guetigen Manne den ganzen Handel zu entdecken. Denn das Maedchen ist zwar entfuehrt, aber sie muss ihrem Eigentuemer doch bezahlt werden. Micio bezahlt sie auch ohne Anstand und freuet sich nicht sowohl ueber die Tat der jungen Leute, als ueber die bruederliche Liebe, welche er zum Grunde siehet, und ueber das Vertrauen, welches sie auf ihn dabei setzen wollen. Das Groesste ist geschehen; warum sollte er nicht noch eine Kleinigkeit hinzufuegen, ihnen einen vollkommen vergnuegten Tag zu machen?

    —Argentum adnumeravit illico:
    Dedit praeterea in sumptum dimidium minae.

Hat er dem Ktesipho das Maedchen gekauft, warum soll er ihm nicht verstatten, sich in seinem Hause mit ihr zu vergnuegen? Da ist nach den alten Sitten nichts, was im geringsten der Tugend und Ehrbarkeit widerspraeche.

Aber nicht so in unsern "Bruedern"! Das Haus des guetigen Vaters wird auf das ungeziemendste gemissbraucht. Anfangs ohne sein Wissen, und endlich gar mit seiner Genehmigung. Citalise ist eine weit unanstaendigere Person, als selbst jene Psaltria; und unser Ktesipho will sie gar heiraten. Wenn das der Terenzische Ktesipho mit seiner Psaltria vorgehabt haette, so wuerde sich der Terenzische Micio sicherlich ganz anders dabei genommen haben. Er wuerde Citalisen die Tuere gewiesen und mit dem Vater die kraeftigsten Mittel verabredet haben, einen sich so straeflich emanzipierenden Burschen im Zaume zu halten.

Ueberhaupt ist der deutsche Ktesipho von Anfang viel zu verderbt geschildert, und auch hierin ist unser Verfasser von seinem Muster abgegangen. Die Stelle erweckt mir immer Grausen, wo er sich mit seinem Vetter ueber seinen Vater unterhaelt.[4]

"Leander. Aber wie reimt sich das mit der Ehrfurcht, mit der Liebe, die du deinem Vater schuldig bist?

Lykast. Ehrfurcht? Liebe? hm! die wird er wohl nicht von mir verlangen.

Leander. Er sollte sie nicht verlangen?

Lykast. Nein, gewiss nicht. Ich habe meinen Vater gar nicht lieb.
Ich muesste es luegen, wenn ich es sagen wollte.

Leander. Unmenschlicher Sohn! Du bedenkst nicht, was du sagst. Denjenigen nicht lieben, der dir das Leben gegeben hat! So sprichst du itzt, da du ihn noch leben siehst. Aber verliere ihn einmal; hernach will ich dich fragen.

Lykast. Hm! Ich weiss nun eben nicht, was da geschehen wuerde. Auf allen Fall wuerde ich wohl auch so gar unrecht nicht tun. Denn ich glaube, er wuerde es auch nicht besser machen. Er spricht ja fast taeglich zu mir: 'Wenn ich dich nur los waere! wenn du nur weg waerest!' Heisst das Liebe? Kannst du verlangen, dass ich ihn wieder lieben soll?"

Auch die strengste Zucht muesste ein Kind zu so unnatuerlichen Gesinnungen nicht verleiten. Das Herz, das ihrer, aus irgendeiner Ursache, faehig ist, verdienst nicht anders als sklavisch gehalten zu werden. Wenn wir uns des ausschweifenden Sohnes gegen den strengen Vater annehmen sollen: so muessen jenes Ausschweifungen kein grundboeses Herz verraten; es muessen nichts als Ausschweifungen des Temperaments, jugendliche Unbedachtsamkeiten, Torheiten des Kitzels und Mutwillens sein. Nach diesem Grundsatze haben Menander und Terenz ihren Ktesipho geschildert. So streng ihn sein Vater haelt, so entfaehrt ihm doch nie das geringste boese Wort gegen denselben. Das einzige, was man so nennen koennte, macht er auf die vortrefflichste Weise wieder gut. Er moechte seiner Liebe gern wenigstens ein paar Tage ruhig geniessen; er freuet sich, dass der Vater wieder hinaus auf das Land, an seine Arbeit ist; und wuenscht, dass er sich damit so abmatten,—so abmatten moege, dass er ganze drei Tage nicht aus dem Bette koenne. Ein rascher Wunsch! aber man sehe, mit welchem Zusatze:

—utinam quidem Quod cum salute ejus fiat, ita se defatigarit velim, Ut triduo hoc perpetuo prorsum e lecto nequeat surgere.

Quod cum salute ejus fiat! Nur muesste es ihm weiter nicht schaden!—So recht! so recht, liebenswuerdiger Juengling! Immer geh, wohin dich Freunde und Liebe rufen! Fuer dich druecken wir gern ein Auge zu! Das Boese, das du begehst, wird nicht sehr boese sein! Du hast einen strengern Aufseher in dir, als selbst dein Vater ist!—Und so sind mehrere Zuege in der Szene, aus der diese Stelle genommen ist. Der deutsche Ktesipho ist ein abgefeimter Bube, dem Luegen und Betrug sehr gelaeufig sind: der roemische hingegen ist in der aeussersten Verwirrung um einen kleinen Vorwand, durch den er seine Abwesenheit bei seinem Vater rechtfertigen koennte.

      Rogabit me: ubi fuerim? quem ego hodie toto non vidi die.
      Quid dicam? SY. Nil ne in mentem venit? CT. Nunquam quicquam.
    SY. Tanto nequior.
      Cliens, amicus, hospes, nemo est vobis? CT. Sunt, quid postea?
    SY. Hisce opera ut data sit? CT. Quae non data sit? Non potest
    fieri!

Dieses naive, aufrichtige: quae non data sit! Der gute Juengling sucht einen Vorwand; und der schalkische Knecht schlaegt ihm eine Luege vor. Eine Luege! Nein, das geht nicht: non potest fieri!

——Fussnote

[1] Aufz. I., Auftr. 3. S. 18.

[2] Seite 30.

[3] Act. II. Sc. 4.

    Ae. Hoc mihi dolet, nos paene sero scisse: et paene in eum locum
      Rediisse, ut si omnes cuperent, nihil tibi possent auxiliarier.
    Ct. Pudebat. Ae. Ah, stultitia est istaec; non pudor, tam ob
    parvulam
      Rem paene e patria: turpe dictu. Deos quaeso ut istaec prohibeant.

1. Erster Aufz., 6. Auftr.

——Fussnote

Neunundneunzigstes Stueck
Den 12. April 1768

Sonach hatte Terenz auch nicht noetig, uns seinen Ktesipho am Ende des Stuecks beschaemt, und durch die Beschaemung auf dem Wege der Besserung, zu zeigen. Wohl aber musste dieses unser Verfasser tun. Nur fuerchte ich, dass der Zuschauer die kriechende Reue und die furchtsam Unterwerfung eines so leichtsinnigen Buben nicht fuer sehr aufrichtig halten kann. Ebensowenig als die Gemuetsaenderung seines Vaters. Beider Umkehrung ist so wenig in ihrem Charakter gegruendet, dass man das Beduerfnis des Dichters, sein Stueck schliessen zu muessen, und die Verlegenheit, es auf eine bessere Art zu schliessen, ein wenig zu sehr darin empfindet.—Ich weiss ueberhaupt nicht, woher so viele komische Dichter die Regel genommen haben, dass der Boese notwendig am Ende des Stuecks entweder bestraft werden oder sich bessern muesse. In der Tragoedie moechte diese Regel noch eher gelten; sie kann uns da mit dem Schicksale versoehnen und Murren in Mitleid kehren. Aber in der Komoedie, denke ich, hilft sie nicht allein nichts, sondern sie verdirbt vielmehr vieles. Wenigstens macht sie immer den Ausgang schielend und kalt und einfoermig. Wenn die verschiednen Charaktere, welche ich in eine Handlung verbinde, nur diese Handlung zu Ende bringen, warum sollen sie nicht bleiben, wie sie waren? Aber freilich muss die Handlung sodann in etwas mehr, als in einer blossen Kollision der Charaktere bestehen. Diese kann allerdings nicht anders, als durch Nachgebung und Veraenderung des einen Teiles dieser Charaktere geendet werden; und ein Stueck, das wenig oder nichts mehr hat als sie, naehert sich nicht sowohl seinem Ziele, sondern schlaeft vielmehr nach und nach ein. Wenn hingegen jene Kollision, die Handlung mag sich ihrem Ende naehern soviel als sie will, dennoch gleich stark fortdauert: so begreift man leicht, dass das Ende ebenso lebhaft und unterhaltend sein kann, als die Mitte nur immer war. Und das ist gerade der Unterschied, der sich zwischen dem letzten Akte des Terenz und dem letzten unsers Verfassers befindet. Sobald wir in diesem hoeren, dass der strenge Vater hinter die Wahrheit gekommen: so koennen wir uns das uebrige alles an den Fingern abzaehlen; denn es ist der fuenfte Akt. Er wird anfangs poltern und toben; bald darauf wird er sich besaenftigen lassen, wird sein Unrecht erkennen und so werden wollen, dass er nie wieder zu einer solchen Komoedie den Stoff geben kann: desgleichen wird der ungeratene Sohn kommen, wird abbitten, wird sich zu bessern versprechen; kurz, alles wird ein Herz und eine Seele werden. Den hingegen will ich sehen, der in dem fuenften Akte des Terenz die Wendungen des Dichters erraten kann! Die Intrige ist laengst zu Ende, aber das fortwaehrende Spiel der Charaktere laesst es uns kaum bemerken, dass sie zu Ende ist. Keiner veraendert sich; sondern jeder schleift nur dem andern ebensoviel ab, als noetig ist, ihn gegen den Nachteil des Exzesses zu verwahren. Der freigebige Micio wird durch das Manoever des geizigen Demea dahin gebracht, dass er selbst das Uebermass in seinem Bezeigen erkennst, und fragt:

Quod proluvium? quae istaec subita est largitas?

So wie umgekehrt der strenge Demea durch das Manoever des nachsichtsvollen Micio endlich erkennet, dass es nicht genug ist, nur immer zu tadeln und zu bestrafen, sondern es auch gut sei, obsecundare in loco.—

Noch eine einzige Kleinigkeit will ich erinnern, in welcher unser
Verfasser sich, gleichfalls zu seinem eigenen Nachteile, von seinem
Muster entfernt hat.

Terenz sagt es selbst, dass er in die "Brueder" des Menanders eine Episode aus einem Stuecke des Diphilus uebertragen, und so seine "Brueder" zusammengesetzt habe. Diese Episode ist die gewaltsame Entfuehrung der Psaltria durch den Aeschinus: und das Stueck des Diphilus hiess: "Die miteinander Sterbenden".

    Synapothnescontes Diphili comoedia est—
    In Graeca adolescens est, qui lenoni eripit
    Meretricem in prima fabula—
    —eum hic locum sumpsit sibi
    In Adelphos—

Nach diesen beiden Umstaenden zu urteilen, mochte Diphilus ein Paar Verliebte aufgefuehret haben, die fest entschlossen waren, lieber miteinander zu sterben, als sich trennen zu lassen: und wer weiss, was geschehen waere, wenn sich gleichfalls nicht ein Freund ins Mittel geschlagen und das Maedchen fuer den Liebhaber mit Gewalt entfuehrt haette? Den Entschluss, miteinander zu sterben, hat Terenz in den blossen Entschluss des Liebhabers, dem Maedchen nachzufliehen und Vater und Vaterland um sie zu verlassen, gemildert. Donatus sagt dieses ausdruecklich: Menander mori illum voluisse fingit, Terentius fugere. Aber sollte es in dieser Note des Donatus nicht Diphilus anstatt Menander heissen? Ganz gewiss; wie Peter Nannius dieses schon angemerkt hat.[1] Denn der Dichter, wie wir gesehen, sagt es ja selbst, dass er diese ganze Episode von der Entfuehrung nicht aus dem Menander, sondern aus dem Diphilus entlehnet habe; und das Stueck des Diphilus hatte von dem Sterben sogar seinen Titel.

Indes muss freilich, anstatt dieser von dem Diphilus entlehnten Entfuehrung, in dem Stuecke des Menanders eine andere Intrige gewesen sein, an der Aeschinus gleicherweise fuer den Ktesipho Anteil nahm, und wodurch er sich bei seiner Geliebten in eben den Verdacht brachte, der am Ende ihre Verbindung so gluecklich beschleunigte. Worin diese eigentlich bestanden, duerfte schwer zu erraten sein. Sie mag aber bestanden haben, worin sie will: so wird sie doch gewiss ebensowohl gleich vor dem Stuecke vorhergegangen sein, als die vom Terenz dafuer gebrauchte Entfuehrung. Denn auch sie muss es gewesen sein, wovon man noch ueberall sprach, als Demea in die Stadt kam; auch sie muss die Gelegenheit und der Stoff gewesen sein, worueber Demea gleich anfangs mit seinem Bruder den Streit beginnet, in welchem sich beider Gemuetsarten so vortrefflich entwickeln.

    —Nam illa, quae antehac facta sunt
    Omitto: modo quid designavit?—
    Fores effregit, atque in aedes irruit
    Alienas—
    —clamant omnes, indignissime
    Factum esse. Hoc advenienti quot mihi, Micio,
    Dixere? in ore est omni populo—

Nun habe ich schon gesagt, dass unser Verfasser diese gewaltsame Entfuehrung in eine kleine Schlaegerei verwandelt hat. Er mag auch seine guten Ursachen dazu gehabt haben; wenn er nur diese Schlaegerei selbst nicht so spaet haette geschehen lassen. Auch sie sollte und muesste das sein, was den strengen Vater aufbringt. So aber ist er schon aufgebracht, ehe sie geschieht, und man weiss gar nicht worueber? Er tritt auf und zankt, ohne den geringsten Anlass. Er sagt zwar: "Alle Leute reden von der schlechten Auffuehrung deines Sohnes; ich darf nur einmal den Fuss in die Stadt setzen, so hoere ich mein blaues Wunder." Aber was denn die Leute eben itzt reden; worin das blaue Wunder bestanden, das er eben itzt gehoert und worueber er ausdruecklich mit seinem Bruder zu zanken koemmt, das hoeren wir nicht und koennen es auch aus dem Stuecke nicht erraten. Kurz, unser Verfasser haette den Umstand, der den Demea in Harnisch bringt, zwar veraendern koennen, aber er haette ihn nicht versetzen muessen! Wenigstens, wenn er ihn versetzen wollen, haette er den Demea im ersten Akte seine Unzufriedenheit mit der Erziehungsart seines Bruders nur nach und nach muessen aeussern, nicht aber auf einmal damit herausplatzen lassen.—

Moechten wenigstens nur diejenigen Stuecke des Menanders auf uns gekommen sein, welche Terenz genutzet hat! Ich kann mir nichts Unterrichtenderes denken, als eine Vergleichung dieser griechischen Originale mit den lateinischen Kopien sein wuerde.

Denn gewiss ist es, dass Terenz kein blosser sklavischer Uebersetzer gewesen. Auch da, wo er den Faden des Menandrischen Stueckes voellig beibehalten, hat er sich noch manchen kleinen Zusatz, manche Verstaerkung oder Schwaechung eines und des andern Zuges erlaubt; wie uns deren verschiedne Donatus in seinen Scholien angezeigt. Nur schade, dass sich Donatus immer so kurz und oefters so dunkel darueber ausdrueckt (weil zu seiner Zeit die Stuecke des Menanders noch selbst in jedermanns Haenden waren), dass es schwer wird, ueber den Wert oder Unwert solcher Terenzischen Kuensteleien etwas Zuverlaessiges zu sagen. In den "Bruedern" findet sich hiervon ein sehr merkwuerdiges Exempel.

——Fussnote

[1] Sylloge v. Miscell. cap. 10. Videat quaeso accuratus lector, num pro Menandro legendum sit Diphilus. Certe vel tota Comoedia, vel pars istius argumenti, quod hic tractatur, ad verbum e Diphilo translata est.—Ita cum Diphili comoedia a commoriendo nomen habeat, et ibi dicatur adolescens mori voluisse, quod Terentius in fugere mutavit: omnino adducor, eam imitationem a Diphilo, non a Menandro mutuatam esse, et ex eo commoriendi cum puella studio [Greek: synapothnaeskontes] nomen fabulae inditum esse.—

——Fussnote

Hundertstes Stueck
Den 15. April 1768

Demea, wie schon angemerkt, will im fuenften Akte dem Micio eine Lektion nach seiner Art geben. Er stellt sich lustig, um die andern wahre Ausschweifungen und Tollheiten begehen zu lassen; er spielt den Freigebigen, aber nicht aus seinem, sondern aus des Bruders Beutel; er moechte diesen lieber auf einmal ruinieren, um nur das boshafte Vergnuegen zu haben, ihm am Ende sagen zu koennen: "Nun sieh, was du von deiner Gutherzigkeit hast!" Solange der ehrliche Micio nur von seinem Vermoegen dabei zusetzt, lassen wir uns den haemischen Spass ziemlich gefallen. Aber nun koemmt es dem Verraeter gar ein, den guten Hagestolze mit einem alten verlebten Muetterchen zu verkoppeln. Der blosse Einfall macht uns anfangs zu lachen; wenn wir aber endlich sehen, dass es Ernst damit wird, dass sich Micio wirklich die Schlinge ueber den Kopf werfen laesst, der er mit einer einzigen ernsthaften Wendung haette ausweichen koennen: wahrlich, so wissen wir kaum mehr, auf wen wir ungehaltner sein sollen; ob auf den Demea, oder auf den Micio.[1]

"Demea. Jawohl ist das mein Wille! Wir muessen von nun an mit diesen guten Leuten nur eine Familie machen; wir muessen ihnen auf alle Weise aufhelfen, uns auf alle Art mit ihnen verbinden.—

Aeschinus. Das bitte ich, mein Vater.

Micio. Ich bin gar nicht dagegen.

Demea. Es schickt sich auch nicht anders fuer uns.—Denn erst ist sie seiner Frauen Mutter—

Micio. Nun dann?

Demea. Auf die nichts zu sagen; brav, ehrbar—

Micio. So hoere ich.

Demea. Bei Jahren ist sie auch.

Micio. Jawohl.

Demea. Kinder kann sie schon lange nicht mehr haben. Dazu ist niemand, der sich um sie bekuemmerte; sie ist ganz verlassen.

Micio. Was will der damit?

Demea. Die musst du billig heiraten, Bruder. Und du (zum Aeschinus) musst ja machen, dass er es tut.

Micio. Ich? sie heiraten?

Demea. Du!

Micio. Ich?

Demea. Du! wie gesagt, du!

Micio. Du bist nicht klug.

Demea (zum Aeschinus). Nun zeige, was du kannst! Er muss!

Aeschinus. Mein Vater—

Micio. Wie?—Und du, Geck, kannst ihm noch folgen?

Demea. Du straeubest dich umsonst: es kann nun einmal nicht anders sein.

Micio. Du schwaermst.

Aeschinus. Lass dich erbitten, mein Vater.

Micio. Rasest du? Geh!

Demea. Oh, so mach dem Sohne doch die Freude!

Micio. Bist du wohl bei Verstande? Ich, in meinem fuenfundsechzigsten Jahre noch heiraten? Und ein altes, verlebtes Weib heiraten? Das koennet ihr mir zumuten?

Aeschinus. Tu es immer; ich habe es ihnen versprochen.

Micio. Versprochen gar?—Buerschchen, versprich fuer dich, was du versprechen wil1st!

Demea. Frisch! Wenn es nun etwas Wichtigeres waere, warum er dich baete?

Micio. Als ob etwas Wichtigeres sein koennte, wie das?

Demea. So willfahre ihm doch nur!

Aeschinus. Sei uns nicht zuwider!

Demea. Fort, versprich!

Micio. Wie lange soll das waehren?

Aeschinus. Bis du dich erbitten lassen.

Micio. Aber das heisst Gewalt brauchen.

Demea. Tu ein uebriges, guter Micio.

Micio. Nun dann;—ob ich es zwar sehr unrecht, sehr abgeschmackt finde; ob es sich schon weder mit der Vernunft noch mit meiner Lebensart reimet:—weil ihr doch so sehr darauf besteht; es sei!"

"Nein", sagt die Kritik; "das ist zu viel! Der Dichter ist hier mit Recht zu tadeln. Das einzige, was man noch zu seiner Rechtfertigung sagen koennte, waere dieses, dass er die nachteiligen Folgen einer uebermaessigen Gutherzigkeit habe zeigen wollen. Doch Micio hat sich bis dahin so liebenswuerdig bewiesen, er hat so viel Verstand, so viele Kenntnis der Welt gezeigt, dass diese seine letzte Ausschweifung wider alle Wahrscheinlichkeit ist und den feinern Zuschauer notwendig beleidigen muss. Wie gesagt also: der Dichter ist hier zu tadeln, auf alle Weise zu tadeln!"

Aber welcher Dichter? Terenz? oder Menander? oder beide?—Der neue englische Uebersetzer des Terenz, Colman, will den groessern Teil des Tadels auf den Menander zurueckschieben; und glaubt aus einer Anmerkung des Donatus beweisen zu koennen, dass Terenz die Ungereimtheit seines Originals in dieser Stelle wenigstens sehr gemildert habe. Donatus sagt naemlich: Apud Menandrum senex de nuptiis non gravatur. Ergo Terentius euretikon.

"Es ist sehr sonderbar", erklaert sich Colman, "dass diese Anmerkung des Donatus so gaenzlich von allen Kunstrichtern uebersehen worden, da sie, bei unserm Verluste des Menanders, doch um so viel mehr Aufmerksamkeit verdienet. Unstreitig ist es, dass Terenz in dem letzten Akte dem Plane des Menanders gefolgt ist: ob er nun aber schon die Ungereimtheit, den Micio mit der alten Mutter zu verheiraten, angenommen, so lernen wir doch vom Donatus, dass dieser Umstand ihm selber anstoessig gewesen, und er sein Original dahin verbessert, dass er den Micio alle den Widerwillen gegen eine solche Verbindung aeussern lassen, den er in dem Stuecke des Menanders, wie es scheinet, nicht geaeussert hatte."

Es ist nicht unmoeglich, dass ein roemischer Dichter nicht einmal etwas besser koenne gemacht haben, als ein griechischer. Aber der blossen Moeglichkeit wegen moechte ich es gern in keinem Falle glauben.

Colman meinet also, die Worte des Donatus. Apud Menandrum senex de nuptiis non gravatur, hiessen so viel als: beim Menander straeubet sich der Alte gegen die Heirat nicht. Aber wie, wenn sie das nicht hiessen? Wenn sie vielmehr zu uebersetzen waeren: beim Menander faellt man dem Alten mit der Heirat nicht beschwerlich? Nuptias gravari wuerde zwar allerdings jenes heissen: aber auch de nuptiis gravari? In jener Redensart wird gravari gleichsam als ein Deponens gebraucht: in dieser aber ist es ja wohl das eigentliche Passivum und kann also meine Auslegung nicht allein leiden, sondern vielleicht wohl gar keine andere leiden, als sie.

Waere aber dieses: wie stuende es dann um den Terenz? Er haette sein Original so wenig verbessert, dass er es vielmehr verschlimmert haette; er haette die Ungereimtheit mit der Verheiratung des Micio, durch die Weigerung desselben, nicht gemildert, sondern sie selber erfunden. Terentius euretikon! Aber nur, dass es mit den Erfindungen der Nachahmer nicht weit her ist!

——Fussnote

[1] Act. v. Sc. VIII.

    De. Ego vero jubeo, et in hac re, et in aliis omnibus,
      Quam maxime unam facere nos hanc familiam;
      Colere, adjuvare, adjungere. Aes. Ita quaeso pater.
    Mi. Haud aliter censeo. De. Imo hercle ita nobis decet.
      Primum hujus uxoris est mater. Mi. Quid postea?
    De. Proba, et modesta. Mi. Ita ajunt. De. Natu grandior.
    Mi. Scio. De. Parere jam diu haec per annos non potest:
      Nec qui eam respiciat, quisquam est; sola est. Mi. Quam hic rem
    agit?
    De. Hanc te aequum est ducere: et te operam, ut fiat, dare.
    Mi. Me ducere autem? De. Te. Mi. Me? De. Te inquam. Mi.
    Ineptis. De. Si tu sis homo,
      Hic faciat. Aes. Mi pater. Mi. Quid? Tu autem huic, asine,
    auscultas. De. Nihil agis,
      Fieri aliter non potest. Mi. Deliras. Aes. Sine te exorem, mi
    pater.
    Mi. Insanis, aufer. De. Age, da veniam filio. Mi. Satin' sanus es?
      Ego novus maritus anno demum quinto et sexagesimo
      Fiam; atque anum decrepitam ducam? Idne estis auctores mihi?
    Aes. Fac; promisi ego illis. Mi. Promisti autem? de te largitor
    puer.
    De. Age, quid, si quid te majus oret? Mi. Quasi non hoc sit maximum.
    De. Da veniam. Aes. Ne gravere. De. Fac, promitte. Mi. Non
    omittis?
    Aes. Non; nisi te exorem. Mi. Vis est haec quidem. De. Age
    prolixe Micio.
    Mi. Etsi hoc mihi pravum, ineptum, absurdum, atque alienum a vita mea
      Videtur: si vos tantopere istuc vultis. Fiat.—

——Fussnote

Hundert und erstes, zweites, drittes und viertes Stueck
Den 19. April 1768

Hundert und erstes bis viertes?—Ich hatte mir vorgenommen, den Jahrgang dieser Blaetter nur aus hundert Stuecken bestehen zu lassen. Zweiundfunfzig Wochen, und die Woche zwei Stueck, geben zwar allerdings hundertundviere. Aber warum sollte, unter allen Tagewerkern, dem einzigen woechentlichen Schriftsteller kein Feiertag zustatten kommen? Und in dem ganzen Jahre nur viere: ist ja so wenig!

Doch Dodsley und Compagnie haben dem Publico, in meinem Namen, ausdruecklich hundert und vier Stueck versprochen. Ich werde die guten Leute schon nicht zu Luegnern machen muessen.

Die Frage ist nur, wie fange ich es am besten an?—Der Zeug ist schon verschnitten: ich werde einflicken oder recken muessen.—Aber das klingt so stuempermaessig. Mir faellt ein,—was mir gleich haette einfallen sollen: die Gewohnheit der Schauspieler, auf ihre Hauptvorstellung ein kleines Nachspiel folgen zu lassen. Das Nachspiel kann handeln, wovon es will, und braucht mit dem Vorhergehenden nicht in der geringsten Verbindung zu stehen.—So ein Nachspiel dann mag die Blaetter nun fuellen, die ich mir ganz ersparen wollte.

Erst ein Wort von mir selbst! Denn warum sollte nicht auch ein Nachspiel einen Prolog haben duerfen, der sich mit einem Poeta, cum primum animum ad scribendum appulit, anfinge?

Als, vor Jahr und Tag, einige gute Leute hier den Einfall bekamen, einen Versuch zu machen, ob nicht fuer das deutsche Theater sich etwas mehr tun lasse, als unter der Verwaltung eines sogenannten Prinzipals geschehen koenne: so weiss ich nicht, wie man auf mich dabei fiel und sich traeumen liess, dass ich bei diesem Unternehmen wohl nuetzlich sein koennte?—Ich stand eben am Markte und war muessig; niemand wollte mich dingen: ohne Zweifel, weil mich niemand zu brauchen wusste; bis gerade auf diese Freunde!—Noch sind mir in meinem Leben alle Beschaeftigungen sehr gleichgueltig gewesen: ich habe mich nie zu einer gedrungen oder nur erboten; aber auch die geringfuegigste nicht von der Hand gewiesen, zu der ich mich aus einer Art von Praedilektion erlesen zu sein glauben konnte.

Ob ich zur Aufnahme des hiesigen Theaters konkurrieren wolle? darauf war also leicht geantwortet. Alle Bedenklichkeiten waren nur die: ob ich es koenne? und wie ich es am besten koenne?

Ich bin weder Schauspieler noch Dichter.

Man erweiset mir zwar manchmal die Ehre, mich fuer den letztern zu erkennen. Aber nur, weil man mich verkennt. Aus einigen dramatischen Versuchen, die ich gewagt habe, sollte man nicht so freigebig folgern. Nicht jeder, der den Pinsel in die Hand nimmt und Farben verquistet, ist ein Maler. Die aeltesten von jenen Versuchen sind in den Jahren hingeschrieben, in welchen man Lust und Leichtigkeit so gern fuer Genie haelt. Was in den neuerern Ertraegliches ist, davon bin ich mir sehr bewusst, dass ich es einzig und allein der Kritik zu verdanken habe. Ich fuehle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich emporarbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschiesst: ich muss alles durch Druckwerk und Roehren aus mir heraufpressen. Ich wuerde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermassen gelernt haette, fremde Schaetze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu waermen und durch die Glaeser der Kunst mein Auge zu staerken. Ich bin daher immer beschaemt oder verdruesslich geworden, wenn ich zum Nachteil der Kritik etwas las oder hoerte. Sie soll das Genie ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe koemmt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmaehschrift auf die Kruecke unmoeglich erbauen kann.

Doch freilich; wie die Kruecke dem Lahmen wohl hilft, sich von einem Orte zum andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Laeufer machen kann: so auch die Kritik. Wenn ich mit ihrer Hilfe etwas zustande bringe, welches besser ist, als es einer von meinen Talenten ohne Kritik machen wuerde: so kostet es mich so viel Zeit, ich muss von andern Geschaeften so frei, von unwillkuerlichen Zerstreuungen so ununterbrochen sein, ich muss meine ganze Belesenheit so gegenwaertig haben, ich muss bei jedem Schritte alle Bemerkungen, die ich jemals ueber Sitten und Leidenschaften gemacht, so ruhig durchlaufen koennen; dass zu einem Arbeiter, der ein Theater mit Neuigkeiten unterhalten soll, niemand in der Welt ungeschickter sein kann, als ich.

Was Goldoni fuer das italienische Theater tat, der es in einem Jahre mit dreizehn neuen Stuecken bereicherte, das muss ich fuer das deutsche zu tun folglich bleiben lassen. Ja, das wuerde ich bleiben lassen, wenn ich es auch koennte. Ich bin misstrauischer gegen alle erste Gedanken, als De la Casa und der alte Shandy nur immer gewesen sind. Denn wenn ich sie auch schon nicht fuer Eingebungen des boesen Feindes, weder des eigentlichen noch des allegorischen, halte:[1] so denke ich doch immer, dass die ersten Gedanken die ersten sind, und dass das Beste auch nicht einmal in allen Suppen obenauf zu schwimmen pflegt. Meine erste Gedanken sind gewiss kein Haar besser, als jedermanns erste Gedanken: und mit jedermanns Gedanken bleibt man am kluegsten zu Hause.

—Endlich fiel man darauf, selbst das, was mich zu einem so langsamen, oder, wie es meinen ruestigem Freunden scheinet, so faulen Arbeiter macht, selbst das an mir nutzen zu wollen: die Kritik. Und so entsprang die Idee zu diesem Blatte.

Sie gefiel mir, diese Idee. Sie erinnerte mich an die Didaskalien der Griechen, d.I. an die kurzen Nachrichten, dergleichen selbst Aristoteles von den Stuecken der griechischen Buehne zu schreiben der Muehe wert gehalten. Sie erinnerte mich, vor langer Zeit einmal ueber den grundgelehrten Casaubonus bei mir gelacht zu haben, der sich, aus wahrer Hochachtung fuer das Solide in den Wissenschaften, einbildete, dass es dem Aristoteles vornehmlich um die Berichtigung der Chronologie bei seinen Didaskalien zu tun gewesen.[2]—Wahrhaftig, es waere auch eine ewige Schande fuer den Aristoteles, wenn er sich mehr um den poetischen Wert der Stuecke, mehr um ihren Einfluss auf die Sitten, mehr um die Bildung des Geschmacks darin bekuemmert haette, als um die Olympiade, als um das Jahr der Olympiade, als um die Namen der Archonten, unter welchen sie zuerst aufgefuehret worden!

Ich war schon willens, das Blatt selbst "Hamburgische Didaskalien" zu nennen. Aber der Titel klang mir allzu fremd, und nun ist es mir sehr lieb, dass ich ihm diesen vorgezogen habe. Was ich in eine Dramaturgie bringen oder nicht bringen wollte, das stand bei mir: wenigstens hatte mir Lione Allacci desfalls nichts vorzuschreiben. Aber wie eine Didaskalie aussehen muesse, glauben die Gelehrten zu wissen, wenn es auch nur aus den noch vorhandenen Didaskalien des Terenz waere, die eben dieser Casaubonus breviter et eleganter scriptas nennt. Ich hatte weder Lust, meine Didaskalien so kurz, noch so elegant zu schreiben: und unsere itztlebende Casauboni wuerden die Koepfe trefflich geschuettelt haben, wenn sie gefunden haetten, wie selten ich irgendeines chronologischen Umstandes gedenke, der kuenftig einmal, wenn Millionen anderer Buecher verlorengegangen waeren, auf irgendein historisches Faktum einiges Licht werfen koennte. In welchem Jahre Ludewigs des Vierzehnten, oder Ludewigs des Funfzehnten, ob zu Paris, oder zu Versailles, ob in Gegenwart der Prinzen vom Gebluete, oder nicht der Prinzen vom Gebluete, dieses oder jenes franzoesische Meisterstueck zuerst aufgefuehret worden: das wuerden sie bei mir gesucht und zu ihrem grossen Erstaunen nicht gefunden haben.

Was sonst diese Blaetter werden sollten, darueber habe ich mich in der Ankuendigung erklaeret: was sie wirklich geworden, das werden meine Leser wissen. Nicht voellig das, wozu ich sie zu machen versprach: etwas anderes; aber doch, denk' ich, nichts Schlechteres.

"Sie sollten jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters als des Schauspielers hier tun wuerde."

Die letztere Haelfte bin ich sehr bald ueberdruessig geworden. Wir haben Schauspieler, aber keine Schauspielkunst. Wenn es vor Alters eine solche Kunst gegeben hat: so haben wir sie nicht mehr; sie ist verloren; sie muss ganz von neuem wieder erfunden werden. Allgemeines Geschwaetze darueber hat man in verschiedenen Sprachen genug: aber spezielle, von jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Praezision abgefasste Regeln, nach welchen der Tadel oder das Lob des Akteurs in einem besondern Falle zu bestimmen sei, deren wuesste ich kaum zwei oder drei. Daher koemmt es, dass alles Raisonnement ueber diese Materie immer so schwankend und vieldeutig scheinet, dass es eben kein Wunder ist, wenn der Schauspieler, der nichts als eine glueckliche Routine hat, sich auf alle Weise dadurch beleidiget findet. Gelobt wird er sich nie genug, getadelt aber allezeit viel zuviel glauben: ja oefters wird er gar nicht einmal wissen, ob man ihn tadeln oder loben wollen. Ueberhaupt hat man die Anmerkung schon laengst gemacht, dass die Empfindlichkeit der Kuenstler, in Ansehung der Kritik, in eben dem Verhaeltnisse steigt, in welchem die Gewissheit und Deutlichkeit und Menge der Grundsaetze ihrer Kuenste abnimmt.—So viel zu meiner, und selbst zu deren Entschuldigung, ohne die ich mich nicht zu entschuldigen haette.

Aber die erstere Haelfte meines Versprechens? Bei dieser ist freilich das Hier zur Zeit noch nicht sehr in Betrachtung gekommen,—und wie haette es auch koennen? Die Schranken sind noch kaum geoeffnet, und man wollte die Wettlaeufer lieber schon bei dem Ziele sehen; bei einem Ziele, das ihnen alle Augenblicke immer weiter und weiter hinausgesteckt wird? Wenn das Publikum fragt, was ist denn nun geschehen? und mit einem hoehnischen Nichts sich selbst antwortet: so frage ich wiederum: und was hat denn das Publikum getan, damit etwas geschehen koennte? Auch nichts; ja noch etwas Schlimmers, als nichts. Nicht genug, dass es das Werk nicht allein nicht befoerdert: es hat ihm nicht einmal seinen natuerlichen Lauf gelassen. —Ueber den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind! Ich rede nicht von der politischen Verfassung, sondern bloss von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei: keinen eigenen haben zu wollen. Wir sind noch immer die geschwornen Nachahmer alles Auslaendischen, besonders noch immer die untertaenigen Bewunderer der nie genug bewunderten Franzosen; alles was uns von jenseit dem Rheine koemmt, ist schoen, reizend, allerliebst, goettlich; lieber verleugnen wir Gesicht und Gehoer, als dass wir es anders finden sollten; lieber wollen wir Plumpheit fuer Ungezwungenheit, Frechheit fuer Grazie, Grimasse fuer Ausdruck, ein Geklingle von Reimen fuer Poesie, Geheule fuer Musik uns einreden lassen, als im geringsten an der Superioritaet zweifeln, welche dieses liebenswuerdige Volk, dieses erste Volk in der Welt, wie es sich selbst sehr bescheiden zu nennen pflegt, in allem, was gut und schoen und erhaben und anstaendig ist, von dem gerechten Schicksale zu seinem Anteile erhalten hat.—

Doch dieser Locus communis ist so abgedroschen, und die naehere Anwendung desselben koennte leicht so bitter werden, dass ich lieber davon abbreche.

Ich war also genoetiget, anstatt der Schritte, welche die Kunst des dramatischen Dichters hier wirklich koennte getan haben, mich bei denen zu verweilen, die sie vorlaeufig tun muesste, um sodann mit eins ihre Bahn mit desto schnellern und groessern zu durchlaufen. Es waren die Schritte, welche ein Irrender zurueckgehen muss, um wieder auf den rechten Weg zu gelangen und sein Ziel gerade in das Auge zu bekommen.

Seines Fleisses darf sich jedermann ruehmen: ich glaube, die dramatische Dichtkunst studiert zu haben; sie mehr studiert zu haben, als zwanzig, die sie ausueben. Auch habe ich sie so weit ausgeuebet, als es noetig ist, um mitsprechen zu duerfen: denn ich weiss wohl, so wie der Maler sich von niemanden gern tadeln laesst, der den Pinsel ganz und gar nicht zu fuehren weiss, so auch der Dichter. Ich habe es wenigstens versucht, was er bewerkstelligen muss, und kann von dem, was ich selbst nicht zu machen vermag, doch urteilen, ob es sich machen laesst. Ich verlange auch nur eine Stimme unter uns, wo so mancher sich eine anmasst, der, wenn er nicht dem oder jenem Auslaender nachplaudern gelernt haette, stummer sein wuerde, als ein Fisch.

Aber man kann studieren, und sich tief in den Irrtum hineinstudieren. Was mich also versichert, dass mir dergleichen nicht begegnet sei, dass ich das Wesen der dramatischen Dichtkunst nicht verkenne, ist dieses, dass ich es vollkommen so erkenne, wie es Aristoteles aus den unzaehligen Meisterstuecken der griechischen Buehne abstrahieret hat. Ich habe von dem Entstehen, von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen meine eigene Gedanken, die ich hier ohne Weitlaeufigkeit nicht aeussern koennte. Indes steh' ich nicht an, zu bekennen (und sollte ich in diesen erleuchteten Zeiten auch darueber ausgelacht werden!), dass ich sie fuer ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind. Ihre Grundsaetze sind ebenso wahr und gewiss, nur freilich nicht so fasslich, und daher mehr der Schikane ausgesetzt, als alles, was diese enthalten. Besonders getraue ich mir von der Tragoedie, als ueber die uns die Zeit so ziemlich alles daraus goennen wollen, unwidersprechlich zu beweisen, dass sie sich von der Richtschnur des Aristoteles keinen Schritt entfernen kann, ohne sich ebensoweit von ihrer Vollkommenheit zu entfernen.

——Fussnote

[1] An opinion John de la Casa, archbishop of Benevento, was afflicted with—which opinion was,—that whenever a Christian was writing a book (not for his private amusement, but) where his intent and purpose was bona fide, to print and publish it to the world, his first thoughts were always the temptations of the evil one.—My father was hugely pleased with this theory of John de la Casa; and (had it not cramped him a little in his creed) I believe would have given ten of the best acres in the Shandy estate, to have been the broacher of it;—but as he could not have the honour of it in the litteral sense of the doctrine, he took up with the allegory of it. Prejudice of education, he would say, is the devil etc. ("Life and Op. of Tristram Shandy", Vol. V. p. 74.)

[2] ("Animadv. in Athenaeum Libr." VI. cap. 7.) Didaskalia accipitur pro eo scripto, quo explicatur ubi, quando, quomodo et quo eventu fabula aliqua fuerit acta.—Quantum critici hac diligentia veteres chronologos adjuverint, soli aestimabunt illi, qui norunt quam infirma et tenuia praesidia habuerint, qui ad ineundam fugacis temporis rationem primi animum appulerunt. Ego non dubito, eo potissimum spectasse Aristotelem, cum Didaskalias suas componeret.—

——Fussnote

Nach dieser Ueberzeugung nahm ich mir vor, einige der beruehmtesten Muster der franzoesischen Buehne ausfuehrlich zu beurteilen. Denn diese Buehne soll ganz nach den Regeln des Aristoteles gebildet sein; und besonders hat man uns Deutsche bereden wollen, dass sie nur durch diese Regeln die Stufe der Vollkommenheit erreicht habe, auf welcher sie die Buehnen aller neuern Voelker so weit unter sich erblicke. Wir haben das auch lange so fest geglaubt, dass bei unsern Dichtern, den Franzosen nachahmen, ebensoviel gewesen ist, als nach den Regeln der Alten arbeiten.

Indes konnte das Vorurteil nicht ewig gegen unser Gefuehl bestehen. Dieses ward, gluecklicherweise, durch einige englische Stuecke aus seinem Schlummer erwecket, und wir machten endlich die Erfahrung, dass die Tragoedie noch einer ganz andern Wirkung faehig sei, als ihr Corneille und Racine zu erteilen vermocht. Aber geblendet von diesem ploetzlichen Strahle der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand eines andern Abgrundes zurueck. Den englischen Stuecken fehlten zu augenscheinlich gewisse Regeln, mit welchen uns die franzoesischen so bekannt gemacht hatten. Was schloss man daraus? Dieses: dass sich auch ohne diese Regeln der Zweck der Tragoedie erreichen lasse; ja, dass diese Regeln wohl gar schuld sein koennten, wenn man ihn weniger erreiche.

Und das haette noch hingehen moegen!—Aber mit diesen Regeln fing man an, alle Regeln zu vermengen und es ueberhaupt fuer Pedanterei zu erklaeren, dem Genie vorzuschreiben, was es tun, und was es nicht tun muesse. Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Erfahrungen der vergangnen Zeit mutwillig zu verscherzen; und von den Dichtern lieber zu verlangen, dass jeder die Kunst aufs neue fuer sich erfinden solle.

Ich waere eitel genug, mir einiges Verdienst um unser Theater beizumessen, wenn ich glauben duerfte, das einzige Mittel getroffen zu haben, diese Gaerung des Geschmacks zu hemmen. Darauf losgearbeitet zu haben, darf ich mir wenigstens schmeicheln, indem ich mir nichts angelegner sein lassen, als den Wahn von der Regelmaessigkeit der franzoesischen Buehne zu bestreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln des alten Drama mehr verkannt, als die Franzosen. Einige beilaeufige Bemerkungen, die sie ueber die schicklichste aeussere Einrichtung des Drama bei dem Aristoteles fanden, haben sie fuer das Wesentliche angenommen und das Wesentliche durch allerlei Einschraenkungen und Deutungen dafuer so entkraeftet, dass notwendig nichts anders als Werke daraus entstehen konnten, die weit unter der hoechsten Wirkung blieben, auf welche der Philosoph seine Regeln kalkuliert hatte.

Ich wage es, hier eine Aeusserung zu tun, mag man sie doch nehmen, wofuer man will!—Man nenne mir das Stueck des grossen Corneille, welches ich nicht besser machen wollte. Was gilt die Wette?—

Doch nein; ich wollte nicht gern, dass man diese Aeusserung fuer Prahlerei nehmen koenne. Man merke also wohl, was ich hinzusetze: Ich werde es zuverlaessig besser machen,—und doch lange kein Corneille sein,—und doch lange noch kein Meisterstueck gemacht haben. Ich werde es zuverlaessig besser machen;—und mir doch wenig darauf einbilden duerfen. Ich werde nichts getan haben, als was jeder tun kann,—der so fest an den Aristoteles glaubet, wie ich.

Eine Tonne, fuer unsere kritische Walfische! Ich freue mich im voraus, wie trefflich sie damit spielen werden. Sie ist einzig und allein fuer sie ausgeworfen; besonders fuer den kleinen Walfisch in dem Salzwasser zu Halle!—

Und mit diesem Uebergange,—sinnreicher muss er nicht sein,—mag denn der Ton des ernsthaftem Prologs in den Ton des Nachspiels verschmelzen, wozu ich diese letztern Blaetter bestimmte. Wer haette mich auch sonst erinnern koennen, dass es Zeit sei, dieses Nachspiel anfangen zu lassen, als eben der Hr. Stl., welcher in der deutschen Bibliothek des Hrn. Gemeimerat Klotz den Inhalt desselben bereits angekuendiget hat?[1]—

Aber was bekoemmt denn der schnakische Mann in dem bunten Jaeckchen, dass er so dienstfertig mit seiner Trommel ist? Ich erinnere mich nicht, dass ich ihm etwas dafuer versprochen haette. Er mag wohl bloss zu seinem Vergnuegen trommeln; und der Himmel weiss, wo er alles her hat, was die liebe Jugend auf den Gassen, die ihm mit einem bewundernden Ah! nachfolgt, aus der ersten Hand von ihm zu erfahren bekommt. Er muss einen Wahrsagergeist haben, trotz der Magd in der Apostelgeschichte. Denn wer haette es ihm sonst sagen koennen, dass der Verfasser der Dramaturgie auch mit der Verleger derselben ist? Wer haette ihm sonst die geheimen Ursachen entdecken koennen, warum ich der einen Schauspielerin eine sonore Stimme beigelegt und das Probestueck einer andern so erhoben habe? Ich war freilich damals in beide verliebt: aber ich haette doch nimmermehr geglaubt, dass es eine lebendige Seele erraten sollte. Die Damen koennen es ihm auch unmoeglich selbst gesagt haben: folglich hat es mit dem Wahrsagergeiste seine Richtigkeit. Ja, weh uns armen Schriftstellern, wenn unsere hochgebietende Herren, die Journalisten und Zeitungsschreiber, mit solchen Kaelbern pfluegen wollen! Wenn sie zu ihren Beurteilungen, ausser ihrer gewoehnlichen Gelehrsamkeit und Scharfsinnigkeit, sich aus noch solcher Stueckchen aus der geheimsten Magie bedienen wollen: wer kann wider sie bestehen?

"Ich wuerde", schreibt dieser Hr. Stl. aus Eingebung seines Kobolds, "auch den zweiten Band der Dramaturgie anzeigen koennen, wenn nicht die Abhandlung wider die Buchhaendler dem Verfasser zu viel Arbeit machte, als dass er das Werk bald beschliessen koennte."

Man muss auch einen Kobold nicht zum Luegner machen wollen, wenn er es gerade einmal nicht ist. Es ist nicht ganz ohne, was das boese Ding dem guten Stl. hier eingeblasen. Ich hatte allerdings so etwas vor. Ich wollte meinen Lesern erzaehlen, warum dieses Werk so oft unterbrochen worden; warum in zwei Jahren erst, und noch mit Muehe, so viel davon fertig geworden, als auf ein Jahr versprochen war. Ich wollte mich ueber den Nachdruck beschweren, durch den man den geradesten Weg eingeschlagen, es in seiner Geburt zu ersticken. Ich wollte ueber die nachteiligen Folgen des Nachdrucks ueberhaupt einige Betrachtungen anstellen. Ich wollte das einzige Mittel vorschlagen, ihm zu steuern. Aber, das waere ja sonach keine Abhandlung wider die Buchhaendler geworden? Sondern vielmehr, fuer sie: wenigstens, der rechtschaffenen Maenner unter ihnen; und es gibt deren. Trauen Sie, mein Herr Stl., Ihrem Kobolde also nicht immer so ganz! Sie sehen es: was solch Geschmeiss des boesen Feindes von der Zukunft noch etwa weiss, das weiss es nur halb.—

Doch nun genug dem Narren nach seiner Narrheit geantwortet, damit er sich nicht weise duenke. Denn eben dieser Mund sagt: Antworte dem Narren nicht nach seiner Narrheit, damit du ihm nicht gleich werdest! Das ist: antworte ihm nicht so nach seiner Narrheit, dass die Sache selbst darueber vergessen wird; als wodurch du ihm gleich werden wuerdest. Und so wende ich mich wieder an meinen ernsthaften Leser, den ich dieser Possen wegen ernstlich um Vergebung bitte.

Es ist die lautere Wahrheit, dass der Nachdruck, durch den man diese Blaetter gemeinnuetziger machen wollen, die einzige Ursache ist, warum sich ihre Ausgabe bisher so verzoegert hat, und warum sie nun gaenzlich liegenbleiben. Ehe ich ein Wort mehr hierueber sage, erlaube man mir, den Verdacht des Eigennutzes von mir abzulehnen. Das Theater selbst hat die Unkosten dazu hergegeben, in Hoffnung, aus dem Verkaufe wenigstens einen ansehnlichen Teil derselben wieder zu erhalten. Ich verliere nichts dabei, dass diese Hoffnung fehlschlaegt. Auch bin ich gar nicht ungehalten darueber, dass ich den zur Fortsetzung gesammelten Stoff nicht weiter an den Mann bringen kann. Ich ziehe meine Hand von diesem Pfluge ebenso gern wieder ab, als ich sie anlegte. Klotz und Konsorten wuenschen ohnedem, dass ich sie nie angelegt haette; und es wird sich leicht einer unter ihnen finden, der das Tageregister einer misslungenen Unternehmung bis zu Ende fuehret und mir zeiget, was fuer einen periodischen Nutzen ich einem solchen periodischen Blatte haette erteilen koennen und sollen.

Denn ich will und kann es nicht bergen, dass diese letzten Bogen fast ein Jahr spaeter niedergeschrieben worden, als ihr Datum besagt. Der suesse Traum, ein Nationaltheater hier in Hamburg zu gruenden, ist schon wieder verschwunden: und soviel ich diesen Ort nun habe kennen lernen, duerfte er auch wohl gerade der sein, wo ein solcher Traum am spaetesten in Erfuellung gehen wird.

Aber auch das kann mir sehr gleichgueltig sein!—Ich moechte ueberhaupt nicht gern das Ansehen haben, als ob ich es fuer ein grosses Unglueck hielte, dass Bemuehungen vereitelt worden, an welchen ich Anteil genommen. Sie koennen von keiner besondern Wichtigkeit sein, eben weil ich Anteil daran genommen. Doch wie, wenn Bemuehungen von weiterm Belange durch die naemlichen Undienste scheitern koennten, durch welche meine gescheitert sind? Die Welt verliert nichts, dass ich, anstatt fuenf und sechs Baende Dramaturgie, nur zwei an das Licht der Welt bringen kann. Aber sie koennte verlieren, wenn einmal ein nuetzlicheres Werk eines bessern Schriftstellers ebenso ins Stecken geriete; und es wohl gar Leute gaebe, die einen ausdruecklichen Plan darnach machten, dass auch das nuetzlichste, unter aehnlichen Umstaenden unternommene Werk verungluecken sollte und muesste.

In diesem Betracht stehe ich nicht an und halte es fuer meine Schuldigkeit, dem Publico ein sonderbares Komplott zu denunzieren. Eben diese Dodsley und Compagnie, welche sich die Dramaturgie nachzudrucken erlaubet, lassen seit einiger Zeit einen Aufsatz, gedruckt und geschrieben, bei den Buchhaendlern umlaufen, welcher von Wort zu Wort so lautet:

Nachricht an die Herren Buchhaendler

Wir haben uns mit Beihilfe verschiedener Herren Buchhaendler entschlossen, kuenftig denenjenigen, welche sich ohne die erforderlichen Eigenschaften in die Buchhandlung mischen werden, (wie es, zum Exempel, die neuaufgerichtete in Hamburg und anderer Orten vorgebliche Handlungen mehrere) das Selbst-Verlegen zu verwehren, und ihnen ohne Ansehen nachzudrucken; auch ihre gesetzten Preise allezeit um die Haelfte zu verringern. Die diesen Vorhaben bereits beigetretene Herren Buchhaendler, welche wohl eingesehen, dass eine solche unbefugte Stoerung fuer alle Buchhaendler zum groessten Nachteil gereichen muesse, haben sich entschlossen, zu Unterstuetzung dieses Vorhabens eine Kasse aufzurichten, und eine ansehnliche Summe Geld bereits eingelegt, mit Bitte, ihre Namen vorerst noch nicht zu nennen, dabei aber versprochen, selbige ferner zu unterstuetzen. Von den uebrigen gutgesinnten Herren Buchhaendlern erwarten wir demnach zur Vermehrung der Kasse desgleichen und ersuchen, auch unsern Verlag bestens zu rekommandieren. Was den Druck und die Schoenheit des Papiers betrifft, so werden wir der ersten nichts nachgeben; uebrigens aber uns bemuehen, auf die unzaehlige Menge der Schleichhaendler genau achtzugeben, damit nicht jeder in der Buchhandlung zu hoecken und zu stoeren anfange. So viel versichern wir, so wohl als die noch zutretende Herren Mitkollegen, dass wir keinem rechtmaessigen Buchhaendler ein Blatt nachdrucken werden; aber dagegen werden wir sehr aufmerksam sein, sobald jemanden von unserer Gesellschaft ein Buch nachgedruckt wird, nicht allein dem Nachdrucker hinwieder allen Schaden zuzufuegen, sondern auch nicht weniger denenjenigen Buchhaendlern, welche ihren Nachdruck zu verkaufen sich unterfangen. Wir ersuchen demnach alle und jede Herren Buchhaendler dienstfreundlichst, von alle Arten des Nachdrucks in einer Zeit von einem Jahre, nachdem wir die Namen der ganzen Buchhaendler- Gesellschaft gedruckt angezeigt haben werden, sich loszumachen oder zu erwarten, ihren besten Verlag fuer die Haelfte des Preises oder noch weit geringer verkaufen zu sehen. Denenjenigen Herren Buchhaendlern von unsre Gesellschaft aber, welchen etwas nachgedruckt werden sollte, werden wir nach Proportion und Ertrag der Kasse eine ansehnliche Verguetung widerfahren zu lassen nicht ermangeln. Und so hoffen wir, dass sich auch die uebrigen Unordnungen bei der Buchhandlung mit Beihilfe gutgesinnter Herren Buchhaendler in kurzer Zeit legen werden.

Wenn die Umstaende erlauben, so kommen wir alle Ostermessen selbst nach
Leipzig, wo nicht, so werden wir doch desfalls Kommission geben. Wir
empfehlen uns Deren guten Gesinnungen und verbleiben Deren getreuen
Mitkollegen,

J. Dodsley und Compagnie.

Wenn dieser Aufsatz nichts enthielte, als die Einladung zu einer genauern Verbindung der Buchhaendler, um dem eingerissenen Nachdrucke unter sich zu steuern, so wuerde schwerlich ein Gelehrter ihm seinen Beifall versagen. Aber wie hat es vernuenftigen und rechtschaffenen Leuten einkommen koennen, diesem Plane eine so strafbare Ausdehnung zu geben? Um ein paar armen Hausdieben das Handwerk zu legen, wollen sie selbst Strassenraeuber werden? "Sie wollen dem nachdrucken, der ihnen nachdruckt." Das moechte sein; wenn es ihnen die Obrigkeit anders erlauben will, sich auf diese Art selbst zu raechen. Aber sie wollen zugleich das Selbst-Verlegen verwehren. Wer sind die, die das verwehren wollen? Haben sie wohl das Herz, sich unter ihren wahren Namen zu diesem Frevel zu bekennen? Ist irgendwo das Selbst-Verlegen jemals verboten gewesen? Und wie kann es verboten sein? Welch Gesetz kann dem Gelehrten das Recht schmaelern, aus seinem eigentuemlichen Werke alle den Nutzen zu ziehen, den er moeglicherweise daraus ziehen kann? "Aber sie mischen sich ohne die erforderlichen Eigenschaften in die Buchhandlung." Was sind das fuer erforderliche Eigenschaften? Dass man fuenf Jahre bei einem Manne Pakete zubinden gelernt, der auch nichts weiter kann, als Pakete zubinden? Und wer darf sich in die Buchhandlung nicht mischen? Seit wenn ist der Buchhandel eine Innung? Welches sind seine ausschliessenden Privilegien? Wer hat sie ihm erteilt?

Wenn Dodsley und Compagnie ihren Nachdruck der Dramaturgie vollenden, so bitte ich sie, mein Werk wenigstens nicht zu verstuemmeln, sondern auch das getreulich nachdrucken zu lassen, was sie hier gegen sich finden. Dass sie ihre Verteidigung beifuegen—wenn anders eine Verteidigung fuer sie moeglich ist—werde ich ihnen nicht verdenken. Sie moegen sie auch in einem Tone abfassen oder von einem Gelehrten, der klein genug sein kann, ihnen seine Feder dazu zu leihen, abfassen lassen, in welchem sie wollen: selbst in dem so interessanten der Klotzischen Schule, reich an allerlei Histoerchen und Anekdoetchen und Pasquillchen, ohne ein Wort von der Sache. Nur erklaere ich im voraus die geringste Insinuation, dass es gekraenkter Eigennutz sei, der mich so warm gegen sie sprechen lassen, fuer eine Luege. Ich habe nie etwas auf meine Kosten drucken lassen und werde es schwerlich in meinem Leben tun. Ich kenne, wie schon gesagt, mehr als einen rechtschaffenen Mann unter den Buchhaendlern, dessen Vermittelung ich ein solches Geschaeft gern ueberlasse. Aber keiner von ihnen muss mir es auch veruebeln, dass ich meine Verachtung und meinen Hass gegen Leute bezeigen in deren Vergleich alle Buschklepper und Weglaurer wahrlich nicht die schlimmern Menschen sind. Denn jeder von ihnen macht seinen coup de main fuer sich: Dodsley und Compagnie aber wollen bandenweise rauben.

Das beste ist, dass ihre Einladung wohl von den wenigsten duerfte angenommen werden. Sonst waere es Zeit, dass die Gelehrten mit Ernst darauf daechten, das bekannte Leibnizische Projekt auszufuehren.

Ende des zweiten Bandes

——Fussnote

[1] Neuntes Stueck, S. 56.

——Fussnote

Verzeichnis der Theaterstuecke

geordnet nach Autorennamen

John Banks: Der Graf von Essex
Augustin David de Brueys: Der Advokat Patelin
Giovanni Maria Cecchi: Die Mitgift
Chevalier de Cerou: Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter
Pierre Corneille: Rodogune
Thomas Corneille: Der Graf von Essex
Johann Friedrich Cronegk: Olint und Sophronia
Philippe Nericault Destouches: Das Gespenst mit der Trommel
Philippe Nericault Destouches: Das unvermutete Hindernis
Philippe Nericault Destouches: Der poetische Dorfjunker
Philippe Nericault Destouches: Der verborgene Schatz
Philippe Nericault Destouches: Der verheiratete Philosoph
Denis Diderot: Der Hausvater
Pierre Laurent Dormont du [de] Belloy: Zelmire
Frederik Duim: Zaire
Charles Simon Favart: Soliman der Zweite
Christian Fuerchtegott Gellert: Die kranke Frau
Luise Adelgunde Gottsched: Die Hausfranzoesin
Francoise d'Issembourg-d'Happoncourt de Graffigny: Cenie
Jean Baptiste Louis Gresset: Sidney
Franz Heufeld: Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe
Theodor Gottlieb von Hippel: Der Mann nach der Uhr
Johann Christian Krueger: Herzog Michel
Pierre Claude Nivelle de la Chaussee: Die Muetterschule
Pierre Claude Nivelle de la Chaussee: Melanide
Thomas l'Affichard: Ist er von Familie?
Marc Antoine le Grand: Der sehende Blinde
Marc Antoine le Grand: Der Triumph der vergangenen Zeit
Gotthold Ephraim Lessing: Der Freigeist
Gotthold Ephraim Lessing: Der Schatz
Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson
Johann Friedrich Loewen: Die neue Agnese
Johann Friedrich Loewen: Das Raetsel
Francesco Scipione Maffei: Merope
Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Der Bauer mit der Erbschaft
Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Der unvermutete Ausgang
Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Die falschen Vertraulichkeiten
Moliere: Die Frauenschule
Gottlieb Konrad Pfeffel: Der Schatz
Philemon von Syrakus: Der Schatz
Plautus: Trinummus
Philippe Quinault: Die kokette Mutter
Jean Francois Regnard: Demokrit
Jean Francois Regnard: Der Spieler
Jean Francois Regnard: Der Zerstreute
Karl Franz Romanus: Die Brueder
Germain Francois Poullain de Saint-Foix: Der Finanzpachter
Johann Elias Schlegel: Der Triumph der guten Frauen
Johann Elias Schlegel: Die stumme Schoenheit
Voltaire: Das Kaffeehaus
Voltaire: Die Frau, die recht hat
Voltaire: Merope
Voltaire: Nanine
Voltaire: Semiramis
Voltaire: Zaire
Christian Felix Weisse: Amalia
Christian Felix Weisse: Richard der Dritte

Verzeichnis der Theaterstuecke

geordnet nach Titeln

Amalia (Christian Felix Weisse)
Cenie (Francoise d'Issembourg-d'Happoncourt de Graffigny)
Das Gespenst mit der Trommel (Philippe Nericault Destouches)
Das Kaffeehaus (Voltaire)
Das Raetsel (Johann Friedrich Loewen)
Das unvermutete Hindernis (Philippe Nericault Destouches)
Demokrit (Jean Francois Regnard)
Der Advokat Patelin (Augustin David de Brueys)
Der Bauer mit der Erbschaft (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux)
Der Finanzpachter (Germain Francois Poullain de Saint-Foix)
Der Freigeist (Gotthold Ephraim Lessing)
Der Graf von Essex (John Banks)
Der Graf von Essex (Thomas Corneille)
Der Hausvater (Denis Diderot)
Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter (Chevalier de Cerou)
Der Mann nach der Uhr (Theodor Gottlieb von Hippel)
Der poetische Dorfjunker (Philippe Nericault Destouches)
Der Schatz (Gotthold Ephraim Lessing)
Der Schatz (Gottlieb Konrad Pfeffel)
Der Schatz (Philemon von Syrakus)
Der sehende Blinde (Marc Antoine le Grand)
Der Spieler (Jean Francois Regnard)
Der Triumph der guten Frauen (Johann Elias Schlegel)
Der Triumph der vergangenen Zeit (Marc Antoine le Grand)
Der unvermutete Ausgang (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux)
Der verborgene Schatz (Philippe Nericault Destouches)
Der verheiratete Philosoph (Philippe Nericault Destouches)
Der Zerstreute (Jean Francois Regnard)
Die Brueder (Karl Franz Romanus)
Die falschen Vertraulichkeiten (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux)
Die Frau, die recht hat (Voltaire)
Die Frauenschule (Moliere)
Die Hausfranzoesin (Luise Adelgunde Gottsched)
Die kokette Mutter (Philippe Quinault)
Die kranke Frau (Christian Fuerchtegott Gellert)
Die Mitgift (Giovanni Maria Cecchi)
Die Muetterschule (Pierre Claude Nivelle de la Chaussee)
Die neue Agnese (Johann Friedrich Loewen)
Die stumme Schoenheit (Johann Elias Schlegel)
Herzog Michel (Johann Christian Krueger)
Ist er von Familie? (Thomas l'Affichard)
Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe (Franz Heufeld)
Melanide (Pierre Claude Nivelle de la Chaussee)
Merope (Francesco Scipione Maffei)
Merope (Voltaire)
Miss Sara Sampson (Gotthold Ephraim Lessing)
Nanine (Voltaire)
Olint und Sophronia (Johann Friedrich Cronegk)
Richard der Dritte (Christian Felix Weisse)
Rodogune (Pierre Corneille)
Semiramis (Voltaire)
Sidney (Jean Baptiste Louis Gresset)
Soliman der Zweite (Charles Simon Favart)
Trinummus (Plautus)
Zaire (Frederik Duim)
Zaire (Voltaire)
Zelmire (Pierre Laurent Dormont du [de] Belloy)


				

				


				

				

				

				

Lessing, Gotthold Ephraim : Die Erziehung des Menschengeschlechts, Der Freigeist, Die Juden, Emilia Galotti, Gespräche für Freimaurer, Hamburgische Dramaturgie, Laokoon, Minna von Barnhelm, Miß Sara Sampson, Nathan der Weise,

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