ART

Advocatus (‚herbeigerufen‘) wird jeder genannt, der auf geschehene Aufforderung einen andern bei irgend einem Geschäfte durch persönliche Gegenwart unterstützt, insbesondere wer einer Partei in Rechtshändeln in solcher Art seinen Beistand leistet, wie denn auch dem richtenden Beamten in ähnlicher Weise auf dessen Bitten seine Freunde als adsessores bei der Durchführung der Gerichtsverhandlung beispringen.

Die Einrichtung des A. ist nicht mit der des patronus identisch, da diese aus ganz anderer Grundlage, nämlich aus der Vertretung des Clienten als nicht vollberechtigten Hausgenossen oder des fremden Nichtbürgers sich entwickelt hat. Der Patronus führte die Sache seines Schutzbefohlenen vor dem Richter; der A. hingegen, den sich der Bürger aus freien Stücken gewählt hatte, konnte in älterer Zeit gewiss demselben kaum anders helfen als durch seinen Rat und seine Rechtskenntnisse; im allgemeinen hatte der Processführende allein seine Sache durchzuführen. Sobald aber die Gesetzgebung und das Processverfahren immer complicierter sich gestaltet hatte und über das ungeschriebene Gewohnheitsrecht und einfache Formeln hinausgewachsen war, musste die Sitte aufkommen, dass der minder Befähigte seinen Process wenigstens teilweise durch einen erfahreneren Freund bei Gericht durchfechten liess; dieser wurde in Anlehnung an die Bezeichnung des Gerichtsbeistands bei Clienten und Landfremden patronus (causae) oder orator genannt. Folgerichtig scheidet der sog. Asconius in den Scholien zu Ciceros Verrinen p. 104 Or.: qui defendit alterum in iudicio, aut patronus dicitur, si orator est; aut advocatus, si aut ius suggerit aut praesentiam suam commodat amico; aut procurator, si absentis (fehlt in den Hss.) negotium suscipit; aut cognitor, si praesentis causam novit et sic tuetur ut suam. Während also der Patronus durchaus nicht gerade ein Rechtsgelehrter zu sein brauchte und überhaupt die gerichtliche Beredsamkeit sich jener Beredsamkeit näherte, wie sie in den Volksversammlungen sich entwickelte, und der gerichtliche Redner nicht sowohl durch Überzeugung auf den Verstand zu wirken als Gefühle und Leidenschaften zu erregen strebte, wirkte der A. [437] durch sein blosses Erscheinen an der Seite der Partei, für die er hiedurch eine moralische Empfehlung gab (so selbst Kaiser Augustus Suet. Oct. 56), oder durch seinen geschäftlichen Rat.

Es kann nicht wunder nehmen, dass diese Scheidung (Belege unter Patronus) auf die Dauer nicht aufrecht erhalten werden konnte. Die wissenschaftliche Ausbildung des Rechts seit dem Ende des Freistaates, verbunden mit der gesteigerten Productivität der gesetzgebenden Gewalt, machte es bald unmöglich, durch blosse Rednerkünste ohne gründliche Rechtskenntnis mit Erfolg einer Partei vor Gericht zu dienen, weshalb auch allmählich beides von einem gerichtlichen Beistande gefordert wurde. Diese rechtsgelehrten Fürsprecher einer Partei vor Gericht sind es, welche in der Kaiserzeit unter dem Namen advocati (Quintil. inst. IV 1, 7. 45f. X 1, 111. XI 1, 19. XII 3, 6. 7, 4), patroni, oratores, causidici, noch später iuris periti und scholastici (s. d.) erscheinen.

Was die Qualification zur advocatio betrifft, so war jedem, der sich die Fähigkeit zutraute, gestattet pro alio postulare (postulare est desiderium suum vel amici sui in iure apud eum, qui iurisdictioni praeest, exponere vel alterius desiderio contradicere Ulpian Dig. III 1, 1, 2, vgl. XXXIX 2, 4, 8). Als Ausschliessungsgründe betrachtete das praetorische Edict (Ulpian. Dig. III 1. 3ff.) unreifes Alter, mangelnde Vollsinnigkeit, weibliches Geschlecht, Infamie. In späterer Zeit bildete auch die Zugehörigkeit zu den officiales cohortales einen Ausschliessungsgrund (Cod. Iust. II 7, 11 vom J. 460. II 7, 17 von 474. Cod. Theod. VIII 4, 30 von 436) und wurde die Advocatur noch an weitere Bedingungen geknüpft, nämlich an eine bestimmte Studiendauer und ein schriftliches Zeugnis über das juridische Examen des Candidaten (Rescript von 460 Cod. Iust. II 7, 11; II 7, 22, 4 von 505; II 7, 24, 4 von 517), an die Erledigung einer freigewordenen Stelle (II 7, 11 von 460 und II 7, 17 pr. von 474), alles Dinge, die mit der späteren Organisation der Advocatur zusammenhängen; ferner auch an das Bekenntnis der katholischen Religion (I 4, 15 = II 6, 8 von 468) u. a.

Das postulare pro aliis galt, namentlich in der Zeit der Republik, für sehr ehrenvoll und wurde in frühester Zeit allgemein ohne jeden Anspruch auf Entgelt geübt. Indes musste bereits[WS 1] im J. 550 = 204 eine Lex Cincia de donis et muneribus dieses Herkommen durch gesetzliche Fixierung zu sichern suchen (Tac. ann. XI 5: consurgunt patres legemque Cinciam flagitant, qua cavetur antiquitus, ne quis ob causam orandam pecuniam donumve accipiat; vgl. XV 20). Wie aber überhaupt der Mangel an idealer Auffassung bürgerlicher Aufgaben nicht auf dem Wege von Verordnungen und Strafandrohungen behoben werden kann, so haben auch die römischen Sachwalter sich nicht durch jenes Gesetz behindern lassen, pecuniäre Vorteile aus ihrer Thätigkeit zu ziehen. Nicht besseren Erfolg konnte eine Verfügung der augusteischen Zeit (Dio LIV 18,2 aus 737 = 17) aufweisen: τοὺς ῥήτορας ἀμισθὶ συναγορεύειν ἢ τετραπλάσιον ὅσον ἂν λάβωσιν ἐκτίνειν ἐκέλευσεν. Denn Kaiser Claudius sah sich gezwungen, die Ansprüche der Advocaten auf eine Entlohnung ihrer Mühewaltung [438] anzuerkennen und capiendis pecuniis modum statuit usque ad dena sestertia (10000 Sesterzen), quem egressi repetundarum tenerentur (Tac. ann. XI 7). Neuerdings bestimmte Nero, ut litigatores pro patrociniis certam iustamque mercedem darent (Suet. Nero 17). Charakteristisch ist, dass Quintil. inst. XII 7, 8ff. die Frage erörtert, gratisne ei (oratori) semper agendum sit, tractari potest. In traianischer Zeit oder etwas vorher war geboten worden, dass das Honorar nicht vor dem Processe bezahlt werden dürfe, denn Plinius schreibt ep. V 9 (21), 4 einem Freunde, dass ein Edict des Praetors Nepos sich in folgendem Punkte auf ein SC berief: hoc omnes, quisquis negotium haberet, iurare prius quam agerent iubebantur, nihil se ob advocationem cuiquam dedisse, promisisse, cavisse. his enim verbis ac mille praeterea et venire advocationes et emi vetabantur. peractis tamen negotiis permittebatur pecuniam dumtaxat decem milium dare; vgl. V 4, 2. Auch die spätere Zeit hält an einem modus legitimus (Rescript der Kaiser Septimius Severus und Caracalla Dig. L 13, 1, 10) fest; wie Ulpian (Dig a. O.) bemerkt, in honorariis advocatorum ita versari iudex debet, ut pro modo litis proque advocati facundia et fori consuetudine et iudicii, in quo erat acturus, aestimationem adhibeat, dummodo licitum honorarium quantitas non egrediatur. Im Maximaltarif von 301 wird 7, 72f. als höchstes zulässiges Honorar vorgeschrieben: advocato sive iuris perito mercedis in postulatione (denarios) ducentos quinquaginta, in cognitione (denarios) mille. Kaiserliche Belohnung von Advocaten, die ihr Geschäft ohne Honoraransprüche besorgt hatten, Hist. Aug. Alex. Sev. 44, 5. Eine Schilderung des Advocatenstandes, getragen von sittlicher Entrüstung, bei Amm. Marc. XXX 4.

In späterer Zeit bilden die Advocaten ein staatlich organisiertes Corpus mit einer bestimmten Anzahl von Mitgliedern (statuti), zu denen supernumerarii treten konnten; Rechte (privilegia et immunitates) und Pflichten waren durch kaiserliche Verordnungen geregelt; vgl. z. B. Cod. Iustin. II 7; s. Ruggiero Diz. epigr. I 121.

Litteratur: Walter Gesch. des röm. Rechts II³ n. 787. 850. Rudorff röm. Rechtsgesch. I 50. 437. Bethmann-Hollweg röm. Civilproc. III 161ff. Grellet-Dumazeau le barreau romain² Paris 1858. Loo de advocato Romano, Leyden 1820. Friedländer Sittengesch. I⁵ 290ff. Ruggiero Diz. epigr. I 116 (sehr brauchbarer Artikel, handelt auch über Vorbildung, sociale Stellung, Thätigkeit, Verbindung öffentlicher Ehrenstellen mit der Thätigkeit der Advocaten u. a.). Humbert bei Daremberg et Saglio I 81f.; vgl. Mitteis Reichsrecht und Volksrecht, Leipzig 1891, 189ff. S. die Stichworte Causidicus, δικολόγος, Iuris peritus, νομικός, Orator, Patronus, Pragmaticus, Scholasticus, Togatus.
[Kubitschek.]
Anmerkungen (Wikisource)

Im Original: be-bereits

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