.
3) Sohn des Lesbonax aus Mytilene, Rhetor in seiner Heimat und Rom, ca.75 v. bis 15. n. Chr.
Suid. s. v. und s. Λεσβώναξ Μυτ. und Θεόδωρος. Dessau PIR III p. 92 nr. 675 und das dort notierte inschriftliche Material. Syll.³ 764. C. Cichorius Rom u. Mytilene, 1888, p. 62-64; S.-Ber. Akad. Berl. 1889, 953-973. A. 51 Hillscher Jahrb. f. Philol. Suppl. 18, 1891, 395. Susemihl II 512-515. Christ-Schmid-Stählin II 383, 4. 399. 455. 457, 5. 463. 664, 10.
1. Leben. P. stammte wahrscheinlich, wie später der Sophist Polemon von Laodikeia, aus königlichem Geschlecht, und zwar dem der Penthiliden, das auf den Aiolerkönig Penthilis zurückging (F. H. v. Gaertringen GGN 1936, 121 über ein ψάφισμα Λεσβίων). Sein Vater war der Philosoph Lesbonax (Aulitzky o. Bd. XII S. 2102, 59ff), dessen Blüte Suidas s. v. irrtümlich unter Augustus statt ca. 65 v. Chr. angesetzt hat. Daß Suidas an dieser Stelle P. ebenfalls als Philosophen bezeichnet, erklärt sich entweder durch eine Abirrung infolge des voraufgehenden φιλόσοφος und des nachstehenden φιλόσοφα (Wachsmuth bei Cichorius R. u. M. [1024] 65) oder durch eine Verwechslung mit dem gleichnamigen P. aus Alexandreia (Rohde Gr. Rom. 341, 3. Vgl. Susemihl 513, 223. Auλitzky S. 2103, 16). Da Suidas den Vater zu spät unter Augustus setzt, ist er gezwungen, den Sohn unter Kaiser Tiberius zu setzen. Aber aus verschiedenen Tatsachen ergibt sich, daß P. früher anzusetzen ist und nur noch kurze Zeit unter Tiberius gelebt hat. Zunächst wird er von Strab. XIII 2, 3 p. 617 (ed. Meineke III 863, 29) als καθ’ ἡμᾶς bezeichnet und Zeitgenosse des Lesbokles (W. Kroll o. Bd. XII S. 2102, 40), Krinagoras (Geffcken o. Bd. XI S. 1859, 58) und des Theophanes (R. Laqueur o. Bd. V A S. 2090, 41). Auch Seneca Suas. II 15f bezeichnet ihn als Zeitgenossen des Lesbokles. Ferner beweisen die drei Gesandtschaften, die P. im Auftrag seiner Heimatstadt Mytilene in den J. 47, 45 und 25 v. Chr. unternahm, daß er mit dem Hauptteil seines Lebens noch in das 1. vorchristl. Jhdt. gehört. Da er außerdem bei der Übernahme der ersten Gesandtschaft schon ein gewisses Alter gehabt und sich als Redner schon einen Namen gemacht haben muß, setzt Susemihl 515 das Geburtsjahr mit Recht um 75 v. Chr. an. Da anderseits Lukian. Macrob. 23 glaubwürdig überliefert, daß er ein Alter von 90 Jahren erreicht hat, würde er also bis etwa 15 n. Chr. gelebt und gerade noch die Anfänge der Regierungszeit des Tiberius erlebt haben, was nicht nur durch Suidas s. v., sondern auch durch die Inschrift Bull. hell. IV 426 bezeugt wird.
Daß P. eine tadellose Ausbildung genossen hat, ist bei seiner vornehmen Abkunft selbstverständlich. Doch wissen wir nichts über seine Lehrer. In Mytilene muß er schon früh eine Redeschule eröffnet (Sen. suas. II 15: magnus declamator) und auch geheiratet haben. Hier in seiner Heimat ereignete sich, wohl noch vor seiner ersten Gesandtschaftsreise, das, was Seneca a. O. erzählt. Ihm und Lesbokles starb gleichzeitig ein Sohn. Aber während Lesbokles seine Schule auflöste und nie wieder deklamierte, ging P. von der Beerdigung seines Sohnes in die Schule und deklamierte. Wahrscheinlich hat er nach diesem Unglück Trost in ehrgeiziger Arbeit gesucht. Th. Mommsen S.-Ber. Akad. Berl. 1895, 896 nimmt an, daß P. irgendwie Caesar näher getreten ist, sei es, daß er in Mytilene die Gegenpartei führte, sei es, daß er literarische Beziehungen zu dem Römer gehabt hat. So wird P. die Gesandtschaft des J. 47 gern übernommen haben, die ihn durch neue Eindrücke und Erlebnisse von seinem Schmerze ablenkte. Der Auftrag war nach Mommsen a. O., dem siegreichen Caesar die wegen seiner Erfolge ihm erwiesenen Ehrungen kundzutun. Die nächste Gesandtschaft, die er leitete, war die des J. 45, in der Krinagoras die siebente Stelle einnahm. Sie ging nach Rom zum Dictator Caesar und zum Senat und hatte den Zweck, das Bündnis Roms mit seiner Vaterstadt zu erneuern. Die Reise ging über Korinth und die Ὀξεῖαι νῆσοι (C. Cichorius R. u. M. 53f.; Röm. Studien, Leipz.-Berl. 1922, 306f. Geffcken S. 1860, 34ff.). Dank dem diplomatischen Geschick P.s hatte die Gesandtschaft auch den gewünschten Erfolg. Der diesbezügliche Senatsbeschluß, der im J. 45 unter Leitung Caesars als [1025] Dictator zustande kam, ist noch erhalten (Susemihl 513, 224). Bei seiner Rückkehr wurde P. in Mytilene mit den höchsten Ehren gefeiert, wovon zahlreiche Inschriften Kunde geben (Susemihl 514, 226). Er erhielt die προεδρία (CIG 2182. Der Ehrensitz P.s war nicht eigens für ihn gemacht, sondern gehörte wahrscheinlich vorher einem Apollonpriester; vgl. Arch. Ephem. 1936, 55ff. mit drei Abbildungen dieses Steinsessels) und νομοθεσία (Ephem. epigr. II S. 11) und den Ehrennamen eines κτίστης τῆς πόλεως, den außer ihm nur noch Pompeius, der Mytilene die Freiheit zurückgab, dann Theophanes, dessen Vermittlung die Stadt dies verdankte, und endlich Hadrian führten. Mytilene blieb wohl dann zunächst die Hauptstätte seiner Wirksamkeit (Susemihl 514, 227). Denn Winter 36/35 während des Aufenthaltes des Pompeius 33|Sextus Pompeius auf der Insel Lesbos hat man ihn noch zusammen mit Pompeius und Theophanes durch eine Inschrift geehrt (Syll.³ 752–754. Vgl. Laqueur S. 2094, 1ff). Daß P. sich durch alle diese Ehrungen auch seiner Heimat gegenüber verpflichtet fühlte, zeigen die Bauten, womit er Mytilene geschmückt hat (Christ-Schmid-Stählin 664, 10). Auch andere Städte ehrten P., wie z. B. aus dem ψάφισμα Ἀδραμυτηνῶν hervorvorgeht (Cichorius Athen. Mitt. XIII 1888 und Mommsen S.-Ber. Akad. Berl. 1895, 898f.). Aber bald danach scheint P. nach Rom gegangen zu sein, wo sich ihm wohl auf Grund der im J. 45 angeknüpften Beziehungen gute Aufstiegsmöglichkeiten boten. Hier erscheint er als Nebenbuhler des Theodoros von Gadara (Stegemann u. Bd. V A S. 1847, 49) und des Antipatros (Brzoska o. Bd I S. 2516, 27. Susemihl 515f. Anm. 235). Als es sich darum handelte, die Stelle eines Prinzenerziehers, d. h. Redelehrers beim jungen Tiberius zu besetzen, wurde um 33 v. Chr. eine Redewettkampf zwischen den drei griechischen Rhetoren veranstaltet, aus dem Theodoros als Sieger hervorging. Mit Recht weist Susemihl 514, 228 die Kombinationen von Cichorius R. u. M. 40. 62 zurück, dem folgend auch Mommsen 887 P. als Redelehrer des Tiberius bezeichnet. Von Rom scheinen ihn die Mytilenäer im J. 26 zurückgerufen zu haben als einen bei den Römern und beim Kaiser selbst bekannten Mann, um die Gesandtschaft des J. 25 zu übernehmen (C. Cichorius Röm. Stud. 315 setzt diese dritte Gesandtschaft schon ins J. 27). Daß P. der Führer auch dieser Gesandtschaft war, beruht allerdings nur auf einer wahrscheinlichen Hypothese (Susemihl 514). Das Ziel derselben war Tarraco, wo Augustus gerade weilte. An Hand der Gedichte des Krinagoras, der diesmal an dritter Stelle an der Gesandtschaft teilnahm, können wir den Verlauf dieser Reise ungefähr verfolgen. Die Fahrt ging über die Kykladen und Scheria nach Italien, von dort zu Lande über die Seealpen und Südfrankreich in die Pyrenäen, wo als Station Aquae Augustae oder Tarbellae erwähnt wird (Susemihl 562, 208. Geffcken S. 1860, 483.). Der Zweck der Reise war die eidliche Bestätigung des Bündnisses zwischen Rom und Mytilene; über die beiden in dieser Sache gefaßten Senatsbeschlüsse vgl. Mommsen S.-Ber. Akad. Berl. 1895, 896f. Nach [1026] seiner Rückkehr von dieser Gesandtschaft blieb P. nicht in Mytilene, sondern ging wieder nach Rom. Natürlich wird er öfters seine Heimat besucht haben, aber endgültig verließ er Rom erst in hohem Alter unter Tiberius, sicher um in der Heimat zu sterben und an der Seite seiner Vorfahren beerdigt zu werden. Der Geleitbrief des Kaisers ist bei Suidas überliefert und zeigt, wie gut P. bei Hofe angeschrieben war; trotz des ποτέ ist hier nicht an eine vorübergehende, sondern an die endgültige Rückkehr P s zu denken (Susemihl 515, 229). Daß P. außer dem früh gestorbenen Sohn noch andere Kinder gehabt hat, geht daraus hervor, daß noch am Ende des 2. Jhdts. n. Chr. von der Priesterin Artimisia auf einer Inschrift rühmend hervorgehoben wird, sie sei ἀπόγονος Ποτάμωνος τῶ νομοθέτα καὶ Λεσβώνακτος τῶ φιλοσόφω (Kaibel Ephem. epigr. II 11 nr. 7. Aulitzky S. 2103, 30).
2. P. als Deklamator. Als Deklamator scheint P. zunächst die üblichen Themata behandelt zu haben, von denen aber nur eins erwähnt wird von Sen. suas. II 16, die Suasorie de trecentis Lacedaemoniis. Über die Geschichte dieses Themas vgl. Kohl De scholasticarum declamationum argumentis ex historia petitis, Diss. Münster 1915, 18 nr. 39. P. tadelte dabei, daß die Lazedämonier überhaupt über die Flucht beraten hätten, statt die im Thema gegebene Beratung als Faktum anzuerkennen und für oder gegen die Flucht aus den Thermopylen zu sprechen. Vielleicht darf man daraus auf eine gründlichere und mehr philosophische Einstellung P.s, des Sohnes eines Philosophen, zu den rhetorischen Übungen schließen. Leider ist der Schluß dieses Senecazitates gerade nicht erhalten. Da auch sonst kein Fragment seiner Reden und Schriften überliefert ist, ist es schwer zu sagen, welcher Stilrichtung P. folgte. Christ-Schmid-Stählin 455 nimmt an, daß er Asianer war, dagegen E. Drerup Generationsproblem (Stud. z. Gesch. u. Kult d. Alt. XVIII 1), Paderborn 1933, 94 hält ihn für einen Attizisten.
3. Schriften. Da in den rhetorischen Deklamationen auch die Persönlichkeit Alexanders d. Gr. eine Rolle spielte, dürfte hierdurch P. dazu angeregt worden sein, sich in einem Geschichtswerk περὶ Ἀλεξάνδρου τοῦ Μακεδόνος näher mit ihm zu befassen, zumal durch Caesars Eroberungspläne die Erinnerung an das einstige Alexanderreich wieder aktuell war. Allerdings ist Susemihl 514f. der Ansicht, daß es vielleicht gar kein Geschichtswerk, sondern eine Lobrede auf Alexander gewesen sei, indem er den Titel bei Suidas in Verbindung bringt mit Plut. Alex. 61. Dort wird die Nachricht, daß Alexander seinem Hund Peritas zu Ehren eine Stadt gegründet und benannt habe, auf Sotion zurückgeführt, der sie von P. gehört habe. Nach Hillscher 397f. war dieser Sotion nicht der Lehrer Senecas (so Susemihl 514), sondern der Peripatetiker und Anhänger des Sextius (vgl. auch FHG III 505. Stenzel u. Bd. III A S. 1238, 26). Man möchte eher beides für richtig halten, daß P. ein Geschichtswerk über Alexander geschrieben hat – darauf deutet der Titel, bei einer Lobrede würde man eher ἐγκώμιον Ἀλεξάνδρου erwarten – und daß P. diese historischen Studien dazu befähigt [1031] haben, in einer einem der Alexanderthemen gewidmeten Deklamation das von Sotion Gehörte einzuflechten. Möglich wäre allerdings auch, daß P. Teile des entstehenden Geschichtswerkes öffentlich vorgelesen hat.
Was P. veranlaßte, die andere ihm von Suidas zugeschriebene historische Schrift ὥροι Σαμίων zu schreiben, ist unbekannt.
Schwierig ist auch die Erklärung der beiden nächsten Titel bei Suidas, der Enkomien auf Brutus und Caesar. Rhetorisch betrachtet, erscheinen die beiden Enkomien als ein Gegensatzpaar wie Ciceros Cato und Caesars Anticato (man könnte daran denken, P. habe die Frage der Berechtigung des Tyrannenmordes ex utraque parte behandelt. Daraus könnte man dann weiter schließen, P. habe sich in seiner Unterrichtstätigkeit nicht auf die μελέται beschränkt, sondern auch die Progymnasmata, zu denen ja das Enkomion gehört, gepflegt. Aber es würde ungewöhnlich sein und der Vorliebe der Rhetoren für die altgewohnten Themen widersprechen, wollten wir annehmen, daß P. ein so aktuelles Thema gewählt habe. So bleibt nur die andere Erklärung, die Enkomien nicht als rhetorisches Gegensatzpaar zu werten, sondern als politische Schriften zur Gewinnung der Gunst einflußreicher und mächtiger Römer. Natürlich muß man sich dann die beiden Enkomien auch zu anderer Zeit entstanden denken, nicht nach der Ermordung Caesars. Denn eine gewisse Schwierigkeit liegt doch darin, wie P. bei seinen guten Beziehungen zum Hofe des Augustus und Tiberius dazu kommen konnte, ein Enkomion auf den Caesarmörder Brutus zu schreiben. Cichorius R. u. M. 64, 1 erklärt daher dieses Enkomion für ein Jugendwerk aus dem J. 48 v. Chr., wo Brutus in Mytilene bei Marcellus weilte (ebenso Susemihl 515, 233). Das Enkomion auf Caesar könnte man sich dann entweder zur Zeit der beiden Gesandtschaften der Mytilenäer an ihn entstanden denken, also zwischen 47 und 45, oder auch nach 31, als Octavian Alleinherrscher geworden war. So erscheint das Nebeneinanderstehen der beiden Enkomien unbedenklich, zumal ja auch die Mytilenäer kein Bedenken trugen, die Statuen des Cn. Pompeius, des Dictators Caesar und der beiden Söhne des Augustus nebeneinander zu stellen und sowohl Pompeius wie Caesar als εὐεργέτης καὶ κτίστης zu feiern (Mommsen 987).
Sehr bedauerlich ist der Verlust der Schrift Περὶ τελείου ῥήτορος, die eine Art griechisches Gegenstück zu Ciceros Orator bilden würde (Christ-Schmid-Stählin 399. 463). Denn auch P. war sicher kein engstirniger Rhetor, der nicht über die Grenzen seiner Techne hinauszusehen vermochte, sondern konnte sich als Sohn eines Philosophen und als Politiker zu freierem Denken aufschwingen.
[Willy Stegemann.]
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