ART

Nerio, die Geliebte des Mars, deren Name uns öfter im antiken Schrifttum begegnet. Zwar kann im ganzen auf Art. Mars o. Bd. XIV S. 1930. 1934 verwiesen werden, doch sollen im folgenden noch einmal die wichtigsten Zeugnisse des Altertums zusammengestellt, kritisch beurteilt und sagengeschichtlich verwertet werden. Auszugehen ist von den auf fester Grundlage beruhenden Worten Lyd. de mens. IV 64 W. τῇ πρὸ δέκα καλανδῶν Ἀπριλίων καθαρμὸς σάλπιγγος καὶ κίνησις τῶν ὅπλων καὶ τιμαὶ Ἄρεος καὶ Νερίνης (zum Datum vgl. Fast. Praen. CIL I² p. 313). Die hier genannte Göttin N., der am 23. März, dem Tag des dem Mars heiligen tubilustrium, gemeinsam mit dem Kriegsgott ein Fest geweiht war, verkörpert, wie sich aus dem Namen und ihrer Zusammenstellung mit ähnlichen göttlichen Personifikationen bei Gell. noct. att. XIII 23 - dies die Hauptstelle für N. - ergibt, ursprünglich ihrem Wesen nach eine ihrem größeren Kultgenossen zugeordnete Eigenschaft. Wir lesen nämlich a. O., daß der Name sabinisch sei und virtus et fortitudo bedeute (Lyd. ἀνδρία; vgl. den Eigennamen Nero u. Lyd. de mag. I 23. Suet. Tib. 1), eine Angabe, an deren Richtigkeit trotz Useners Einspruch (Rh. Mus. XXX 221) nicht gezweifelt werden sollte (vgl. Wissowa Religion² 148; Myth. Lex. III 271, Walde Et. W. s. N.). Vorher bringt Gell. unter Berufung auf die Priesterbücher und alte Reden Nerienem Martis (diese Verbindung auch Enn. Ann. 104) als Schlußglied einer Reihe, in der er beginnend mit Luam Saturni acht derartige mit Hauptgöttern verbundene ursprüngliche Eigenschaftsgottheiten anführt, eine Aufstellung, die in dieser vom Autor selbst nahegelegten Auffassung (Nerio igitur Martis vis et potentia et maiestas quaedam esse Martis demonstratur) von Gelehrten wie v. Domaszewski Abh. z. röm. Religion 105f., Fowler Relig. experienc. 150ff.; Rom. Festiv. 61f. Latte Arch. f. Rel. XXIV 252f. mit Recht als alt und echt römisch angesehen wird.

Diese Kultgenossin des Mars wird nun in der Folgezeit unter noch späterer Gleichsetzung mit Minerva und Venus (vgl. Lyd. de mens. a. O.) als seine Geliebte und Gemahlin betrachtet (dies sicherlich unter frühgriechischem Einfluß, da der Zweifel an Götterehen in altrömischer Religion trotz des Hinweises von Altheim Röm. Religionsg. II 15, 2 auf die Mater Larum nicht behoben ist. Als weibliche Beziehungsfunktion zu [33] Mars faßt N. von vornherein Rose Rom. Quest. of Plut. 82), wobei für die Heranziehung der Minerva wohl deren seit dem hannibalischen Krieg vor allem häufige Verbindung mit Mars (vgl. o. Bd. XIV S. 1934, 33ff. Altheim o. Bd. XV S. 1791 glaubt, in noch weit ältere Zeiten zurückgehende Verbindungen aufzeigen zu können) verantwortlich zu machen ist (nicht berechtigt erscheint übrigens Wissowas Annahme Religion² 148, 2 u. Myth. Lex. II 2980f., bei der Liv. XLV 33, 2 u. Appian. Lib. 133 überlieferten Weihung der Kriegsbeute an Mars, Minerva und — im ersteren Fall — Lua mater handele es sich in Wirklichkeit auch um N., vgl. Altheim o. Bd. XV S. 1791), während die Gleichsetzung mit Venus natürlich auf dem Liebesbund zwischen Ares und Aphrodite beruht (vgl. auch Latte 292, der jedoch in der Heranziehung der griechischen Göttin als Vorbild zu weit geht). N. als Gattin des Mars erscheint schon Plaut. Truc. 515 Mars peregre adveniens salutat Nerienem uxorem suam, sodann in einer Komödie des Licinius Imbrex Neaera (FCR p. 35): über das vom Annalisten Cn. Gellius überlieferte Gebet s. u. Zu der — zunächst — vergeblichen Werbung des Kriegsgottes um N. vgl. Porphyr. zu Horat. epist. II 2, 209 = p. 343, 9 M., der aus dem Mißgeschick des Gottes das Verbot, im März zu heiraten, ableitet, eine Sitte, die vielmehr sicherlich mit den in dieser Zeit beginnenden Kriegszügen und den diese symbolisierenden kriegerischen Umzügen der Salier zusammenhängt (vgl. Ovid. fast. III 393ff. Wissowa Religion² 144).

Mit den Angaben Porphyr. und Mart. Cap. I 4 Gradivum Nerienis coniugis amore torreri ist nun wohl in irgendeiner Weise der Ovid. fast. III 677ff. erzählte Schwank zusammenzubringen. Hier, wo der von Liebesverlangen getriebene Mars durch die sich als die ersehnte Geliebte ausgehende Anna Perenna gefoppt wird, heißt die vom Gott Begehrte Minerva, es besteht aber kein Zweifel, daß diese Göttin, die an und für sich mit Mars gar nichts zu tun hat, hier nachträglich für N. eingesetzt ist (vgl. u. a. Usener 225. Frazer Ovids Fasten vol. III 121ff.), ebenso wie v. 850 forti sacrificare deae (hier gibt vielleicht die Eigenschaftsbezeichnung schon den rechten Hinweis) bei Erwähnung des Festes vom 23. März. Eine andere Auffassung findet sich in der neuesten Behandlung dieser Frage durch Altheim o. Bd. XV S. 1791ff., der mit nicht ungewichtigen Gründen — über die Porphyriostelle s. u. — meint, es handle sich hier (und zwar glaubt er an eine alte Sage) in Wirklichkeit um Minerva. Aber keineswegs lassen sich für eine frühe Zeit so enge kultische Beziehungen zwischen Mars und Minerva feststellen, daß man dieser eine — wenn auch passive — Rolle in einer derartigen Sagenburleske zutrauen könnte, für die N. nach dem, was wir sonst von ihr hören, geradezu präformiert erscheint. Usener in seinem oben mehrfach zitierten Aufsatz ,Italische Mythen‘ Rh. Mus. XXX 182ff. (bes. 221ff.) und ihm folgend Roscher Myth. Lex. II 2402ff. (vgl. auch Reifferscheid Ann. d. Inst. 1867, 359) glauben, hier eine echte, altitalische Sage feststellen zu sollen, und meinen, eine Ehegeschichte rekonstruieren zu können. die mit der [34] Weigerung der spröden Göttin gegenüber den Werbungen des Mars beginne und schließlich mit dem für die Menschen prototypen ἱερὸς γάμος am 23. März ende. Und zwar handele es sich um die Verbindung eines Frühlings- oder Jahresgottes mit der ebenfalls das neue Jahr verkörpernden Lenzbraut, die im Gegensatz zur Gottheit des alten Jahres Anna Perenna stehe. Die Täuschung des verliebten Bräutigams sei ein alter Mythos, von dessen Übergang in vorhistorische Hochzeitsriten noch heute in slawischem und romanischem Volkstum übliche Bräuche Zeugnis ablegen. Als einen zwingenden Beweis für die Echtheit der von Ovid und den Antiquaren überlieferten Sagengestaltung sieht Usener die von ersterem erwähnten (fast. III 675f. 695) hierauf bezüglichen carmina obscoena der römischen Mädchen an, für die er Parallelen aus griechischem Religionskreis anführt. Zugegeben muß werden, daß N. schon verhältnismäßig früh als Gattin des Mars betrachtet worden ist; dies geht nicht nur aus den oben genannten Dichterstellen, sondern auch aus dem vom Historiker Cn. Gellius (bei Gell. XIII 23 = Hist. Rom. rel. I p. 169 frg. 15) mitgeteilten Gebet der Hersilia, der Gattin des Romulus, an N., die Gemahlin des Mars, hervor, das doch wohl nicht die Erfindung des Annalisten ist. Im übrigen aber gehen die Konstruktionen Useners, denen Frazer zum großen Teil folgt, zu weit (vgl. auch Fowler Rom. Festiv. 60ff. Altheim o. Bd. XV S. 1792f.). Es ist nicht angängig, aus jenen verschiedenen und verschiedenartigen Testimonia eine Ehegeschichte des Mars kalendermäßig festzulegen (Usener läßt sie mit dem 15. März, dem Tag der Anna Perenna, zu dem Orid die Täuschungsgeschichte erzählt, beginnen; aber auch Anna Perenna ist keine Jahresgöttin nach W. F. Otto Wien. Stud. XXXIV 325f. u. Altheim Terra Mater 91ff.) und nun gar, was besonders Roscher tut, mit Heranziehung Mannhardtscher Anschauungen auf Geschehnisse des agrarischen Jahres zu beziehen, wovon sich in der Überlieferung überhaupt keine Andeutungen finden; nicht einmal den 23. März als Hochzeitsdatum anzunehmen ist uns gestattet. Sodann steht die Geschichte von der Täuschung des Gottes in der gesamten antiken Überlieferung isoliert da, und schließlich hat sie auch keinen Niederschlag in irgendwelchen erkennbaren Bräuchen des Altertums gefunden (vgl. Altheim 1793). Es wird sich, wie Fowler 53 behauptet hat, um einen alten Eheschwank handeln, der erst nachträglich auf Mars und somit auch auf N. bezogen worden ist.

Nun aber machen jene unanständigen Schmählieder der Mädchen, die sicherlich irgendwie den Mißerfolg des liebesheißen Kriegsgottes zum Gegenstand hatten (certaque probra canunt Ovid. fast. III 676. Vgl. die Liebesgeschichte von Ares und Aphrodite Hom. Od. VIII 266ff., an die auch Altheim 1796 erinnert), durchaus den Eindruck, zum alten italischen Volksgut zu gehören (vgl. unter anderem F. Marx Rh. Mus. N. F. LXXVIII 406f., der auf eine Bemerkung in der Avellana collectio CSLE XXXV 1 p. 459, 22 quae — es handelt sich um die numina der Römer — nisi criminum decantationibus non coluntur [35] hinweist; ob die von Altheim Terra Mater 145 angeführten αἰσχρολογίαι an den Haloen und anderen Demeterfesten hiermit irgendwie in Zusammenhang zu bringen sind, mag dahingestellt bleiben). Hier gibt der Name der N. und was über seine Etymologie gesagt wird, Aufschluß. Leicht konnte man nämlich aus der Bezeichnung ,die Starke‘ oder ,die Tapfere‘ die Vorstellung ableiten - und zwar wird es sich hier um eine von griechischer Gestaltung unabhängige Sagenform handeln (älter also als die Annahme einer Ehe mit Mars) -, daß sich die Göttin ihrem stürmischen Bewerber zu entziehen versuchte oder ihn sogar zunächst überwand (hier handelt es sich um ein altes, allgemein verbreitetes Sagenmotiv, vgl. Usener 233), und diese Grundvorstellung können wir noch aus jener oben erwähnten Angabe des Porph. herausdeuten, der allerdings das später vorhandene Nebeneinander von N. und Minerva (Nerienes 〈et〉 Minerva Varro Sat. Men. 188) auf die Weise erklärt, daß Mars von Minerva in einem Kampf de nuptiis besiegt worden sei und obtenta virginitate Minerva Neriene est appellata (vgl. hierzu Altheim o. Bd. XV S. 1793, der durch diese Behauptung in seiner Annahme, Minerva sei hier die primäre Gottheit, bestärkt wird), Anna Perenna wird erst später in diese Liebesgeschichte hineingewoben worden sein, und es ist natürlich durchaus möglich, daß jene carmina, die übrigens nicht an einem bestimmten Jahrestag hafteten (Ovid. erwähnt sie nur zum 15. März, dem Tag der Anna Perenna; jedenfalls aber beziehen sie sich auf das Marsabenteuer, nicht auf das vorher von Anna Perenna Erzählte, wozu sie Altheim Terra Mater 99 in Beziehung zu setzen scheint), in der Folge inhaltlich erweitert worden sind.

Später wurde N. übrigens auch der altrömischen Göttin Bellona gleichgesetzt (Sen. bei Augustin civ. d. II 10), und zwar dies wohl wegen der Beziehung der N. zu Mars und ihrer Deutung als Virtus, mit der Bellona, die Genossin des Kriegsgottes, ebenfalls in der Folgezeit identifiziert wurde (Wissowa Religion² 350 denkt hier allerdings an die kappadokische Göttin gleichen Namens). Doch ist es natürlich nicht richtig, wie es der Verf. des Art. Bellona Myth. Lex. I 774 tut, die beiden Göttinen überhaupt von vornherein einander gleichzusetzen (vgl. o. Bd. III S. 257).

Was die Formenbildung betrifft, so finden sich neben der Nominativform Nerio (Gen. Nerienis) noch die Bildungen Neriene (Porph.), Nerienes (Varr.), Neria (Cn. Gellius), Neaera (von Licinius Imbrex in seiner so betitelten Komödie allerdings abgelehnt: nolo ego Neaeram te vocent, set Nerienem, doch vielleicht handelt es sich hier um eine andere Person), Νερίνη (Lyd.). Über die Quantität der Vokale handelt ausführlich Gell. XIII 23, dem wir sämtliche oben angeführten Dichterstellen verdanken.
[Ernst Marbach.]

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