ART

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Matthaios, der Apostel.

I. Der Mann.

Der Name Ματθαῖος (von den besten Hss. Μαθθαῖος geschrieben), eine Gräzisierung des aramäischen Maththai, kommt so weder im Alten Testament, noch in den Apokryphen vor, erscheint aber dort in verwandten Formen, unter denen die bekannteste Matthias ist, und bedeutet soviel wie Theodor, Geschenk Gottes, eigentlich Ja(hveh)s. Sein Träger tritt im Neuen Testament nur in den Apostellisten hervor (Mark. 3, 18. Luk. 6, 15. Matth. 10, 3. Apg. 1, 13), und zwar in der Mitte, unter den unbekannten Aposteln. Da M. dem Namen hinzufügt ,der Zöllner’ und in 9, 9 den Zöllner Levi, den Jesus an seiner Zollstätte bekehrte, entgegen seiner Quelle Mark. 2, 14 (wo er noch ,der Sohn des Alphäus’ heißt, was auch Lukas wegläßt 5, 27) Matthaios nennt, hat man dieser Stelle nicht nur entnehmen zu können geglaubt, daß M. zwei Namen gehabt habe, sondern auch daß er sich als den Verfasser des ersten Evangeliums habe andeuten wollen. Das letzte fand Eusebios auch darin bestätigt, daß Matth. 10, 3 der Apostel bescheiden hinter seinem Apostelgenossen (M. und Apostelgeschichte bilden Paare) Thomas zurücktrete. Da aber Apg. 1, 13 Thomas noch weiter vorsteht und M. auch hier hinter seinem Genossen, diesmal Bartholomaios, steht, so sieht man, daß diese Vermutung, wie so manche andere, in der Luft hängt. M. kann auch aus irgendeinem andern Grund den Levi durch M. haben ersetzen wollen. Möglich ist an sich freilich, daß der Apostel einen doppelten Namen gehabt hat. Aber sicher ist hier nichts, und grundlose Vermutungen zu machen oder zu widerlegen, hat keinen Zweck. In der Literatur der nachapostolischen Zeit und des 2. Jhdts. kommt der Apostel kaum vor. Nur Papias nennt ihn unter den sieben toten Aposteln, von denen her er Überlieferungen bekommen hat, und zwar an letzter Stelle (Euseb. hist. eccl. III 39, 4). Von apokryphen Evangelien erwähnen das sog. Ebionitenevangelium (Epiph. haer. XXX 13), das als ein M.-Evangelium bei seinen Anhängern galt, aber auch als Evangelium der Apostel bezeichnet wird, und eine koptisch-gnostische Schrift ‚Weisheit Jesu Christi’ (bei Hennecke Neutest. Aprokryphen² 1914, 71) den M., aber in ganz belangloser Weise; jenes gibt ganz einfach Matth. 9, 3 wieder in der Form der Anrede an M. Später weiß die Überlieferung auch hier immer mehr. Als Zöllner soll M. sehr reich gewesen sein (Clem. Alex. quis div. salv. 13) oder ein besonders großer Sünder (aus Mißverständnis der Formel ‚Zöllner und Sünder’ Orig. hom. in Gen. I 13). Eine Verwechslung mit dem als Ersatz für Judas gewählten Apostel Matthias, auf dessen Namen es ein apokryphes gnostisches Buch ‚Überlieferungen’ gibt, liegt vor, wenn Clem. Alen. Paed. II 1, 16 den M. für einen Asketen [2312] und Vegetarier erklärt. Ebenso ist das sog. Martyrium des M. (Lipsius-Bonnet Acta apost. apocrypha II 1), wie der Befund der Haupt-Hs. dartut, ursprünglich ein Martyrium des Matthias gewesen. Clem. Alex. (strom. IV 9, 71) will noch wissen, daß M. eines friedlichen Todes gestorben sei. Eusebios erzählt endlich (hist. eccl. III 24, 6), daß der Apostel zuerst seinen Volksgenossen gepredigt habe, dann aber zu den Heiden gegangen sei. An diese immerhin noch in Betracht zu ziehenden Aussagen schließt sich dann das große Heer der Fabeleien über Missionsgebiete und -erlebnisse des M., sowie über seinen Märtyrertod an, den man in der verschiedensten Weise erzählt. Was noch aus älterer Zeit an beachtlicher Überlieferung vorhanden ist, hängt mit dem Evangelium zusammen.

II. Das Evangelium.

1. Die Überlieferung beginnt auch hier mit einem von Eusebios aus dem Werke des Papias (s. den Art. Markos) aufbewahrten Satz: Ματθαῖος μὲν οὖν ἑβραίδι διαλέκτῳ τὰ λόγια συνεγςάψατο, ἡρμήνευσε δ? αυτά, ὡς ἦν δυνατὸς ἕκαστος. Wenigstens bezieht man neuerdings durchgehends den Satz auf das M.- (oder auf das Hebräer-) Evangelium, immer auf ein Evangelium; mit Unrecht, denn man berücksichtigt die Stelle nicht, an der das Wort bei Papias stand. Man hat aber hier, wie bei Markos, stets im Auge zu behalten, daß die Sätze im Vorwort des Buches standen und daß dort Papias die vorliegende Literatur mit seinem eigenen Buch verglich. Hat er bei Markos hervorgehoben, was ihm unvollkommen daran schien, darunter auch, daß Markus Worte und Taten Jesu bringt, so gewinnt eben deshalb das Fehlen einer solchen Angabe bei M. und die Bezeichnungen seines Buches als eine Zusammenstellung der Herrenworte (wie es das Papianische Werk auch war) ganz entscheidende Bedeutung. Papias redet also hier gar nicht von einem Evangelium, sondern von einer Sammlung von Herrenworten in hebräischer (aramäischer) Sprache und hat an ihr nur auszusetzen, daß es keine authentische Übersetzung von ihr gibt. Sein Unternehmen dagegen soll die Worte Jesu in griechischer Sprache bringen und in der Übersetzung und Interpretation, die er aus der Überliefenurg der Apostel und der beiden Presbyteroi hat (Euseb. III 39, 3f.). — Später hat man allerdings immer die Stelle von M. verstanden und die wunderlichsten Hypothesen darauf gebaut, vor allem über eine hebräische Urgestaltung des Evangeliums. Dieses ist aber keine Übersetzung, sondern ein genuin griechisches Werk, wie besonders seine Sprache beweist. Schon Irenaios (III 1, 1) sagt, an Papias anschließend: ,M. hat unter den Hebräern in ihrer eigenen Sprache eine Evangelienschrift herausgegeben zu der Zeit, da Petrus und Paulus in Rom predigten und die Gemeinde gründeten.’ (Auch diese Vorstellung von der gemeinsamen Gründung der römischen Gemeinde durch die beiden Apostel ist mindestens eine kirchliche ‚Korrektur’ der Geschichte). Clem. Alex. schreibt nur, daß die Evangelien mit den Genealogien (M. und Lukas) vor Markos geschrieben seien (Hypot. bei Euseb. hist. eccl. VI 14, 5). Im Kanon Muratori ist die von M. handelnde [2313] Stelle am Anfang verloren. Origenes (hom. in M. bei Euseb. hist. eecl. VI 25, 4) bringt nichts als die Notiz seiner hebräischen Sprache und daß es das erste Evangelium sei. Eusebios fügt hinzu (woher?), daß M., als er in die Fremde gezogen sei, seinen Landsleuten als einen Ersatz für seine mündliche Predigt dies Evangelium in ihrer Sprache hinterlassen habe (III 24, 6), und berichtet als eine Überlieferung, daß Pantainos von Alexandrien (gegen Ende des 2. Jhdts.) in Indien (Südarabien?) das hebräische M.-Evangelium als ein Vermächtnis des Bartholomaios, der dort missioniert habe, noch vorgefunden habe. An all diesen Stellen ist von einem griechischen M.-Evangelium keine Rede. Erst Hieronymos hat wieder von seiner ‚Übersetzung‘ (also unserem M.-Evangelium), gesprochen und nur gesagt, es sei nicht sicher, wer sie gemacht habe, de vir. ill. 3. Dafür hat er nun behauptet, daß der hebräische Text noch ,bis heute‘ in der Bibliothek von Kaisareia aufbewahrt werde und daß er ein anderes Exemplar von Nazaräern (Judenchristen) in Veria in Syrien geliehen bekommen und abgeschrieben habe. Da er an anderen Stellen einige Worte und Überlieferungen aus dem genannten Evangelium anführt, so ist zu erkennen, daß dasselbe unter keinen Umständen der Urtext unseres M. war, sondern ein stark abweichendes Buch, in dem z. B. der Heilige Geist als Mutter Jesu erschien. Wieder ein anderes Buch setzt Epiphanios (haer. XXX 3) dem hebräischen Ur-M.-Evangelium gleich, nämlich ein Evangelium, das die Ebioniten gebraucht haben. Da auch er Bruchstücke dieser ,M.‘-Schrift bringt, können wir deutlich erkennen, daß auch dies Werk nicht mit M. identisch ist, sondern eine späte Kompilation aus unseren Synoptikern mit gnostisch-asketischen Einschlägen. Von diesem Buch hat Epiphanios weiter erzählt, daß es auch Evangelium καθ? Ἑβραίους genannt werde. Ein Hebräerevangelium zitiert nun auch Origenes öfters; es ist wohl ein original griechisches Buch gewesen, in dem ebenfalls der Heilige Geist als Mutter Jesu erschien. Daß diese Berichte zu unzähligen Hypothesen, auch zu Verwechslungen Anlaß gegeben haben, ist verständlich. Es ist auch nicht zu leugnen, daß wenigstens das 1. und 3. Buch (wahrscheinlich waren sie ein und dasselbe) in irgendeiner näheren Beziehung zu unserem M. gestanden hat. Aber bei der Kürze und geringen Anzahl der Fragmente ist nichts Sicheres mehr auszumachen (das Genaueste und die Literatur jetzt in Henneckes Ntl. Apokryphen² 1914, Texte in Lietzmanns Kl. Texten, wichtige Untersuchung A. Schmidtke Neue Fragmente und Untersuchungen zu den judenchristl. Evangelien TuU III 7, 1911).

3. Benutzung.

Man meint vielfach, daß M. das schon in ältester Zeit am meisten benutzte Evangelium gewesen sei, wie es ja sicherlich später neben Johannes in der Kirche die Hauptrolle gespielt hat und an die erste Stelle gerückt worden ist. Aber für die ältere Zeit ist seine Benutzung fast ebenso unsicher wie die der anderen Evangelien, und der Schein, es werde viel zitiert, ist nur durch die Bequemlichkeit vieler Herausgeber altchristlicher Schriften entstanden, die [2314] unter ihre Texte meist die Stellenangaben nach M. setzten, ohne wirklich zu prüfen, ob nicht ein anderes Evangelium oder apokryphe Überlieferung zu nennen gewesen wäre. So bleiben nur folgende Fälle: 1. Clem. 46, 8, wo der Spruch vom Ärgernis der Kleinen in einem bedeutsamen Wort (καταποντισθῆναι) gegen Markos und Lukas mit M. geht, aber andererseits der gesamte Wortlaut von allen drei Evangelien abweicht und eine Kombination mit Mark. 14, 21 = Matth. 26, 24 = Luk. 22, 21 bietet. Hat Clemens nach dem Gedächtnis zitiert? Hat er ein Apokryphon benutzt, wie unmittelbar vorher 46, 2? — Ignatius zitiert ad Smyrn. 1, 1 die Worte ἵνα πληρωθῇ πᾶσα δικαιοσύνη des Matth. 3, 15, die diesem eigen sind und aus seinem Sprachgebrauch geflossen. So würde die Stelle ganz sicher sein, wenn nicht in demselben Brief 3, 2 die Auferstehungsgeschichte in einer apokryphen Überlieferung zitiert wäre, die nach Hieron. vir. ill. 16 in jenem Evangelium der Nazaräer gestanden hat. Da es dem M. so nahe verwandt war, könnte es auch jene ersten Worte enthalten haben. Das gleiche gilt von Ign. Polyk. 2, 2, wo Matth. 10, 16 (ohne Parallele in Markos und Lukas) zitiert sein kann. In der Mache und bei Iustin klingt M. öfter an, aber selbst hier ist die Lage durch viele abweichende Texte nicht ganz sicher. Daß ein unserem M. sehr nahes Evangelium (oder mehrere?) am Anfang des 2. Jhdts. vorhanden war, ist gewiß, mehr aber nicht. So bleibt auch hier mir die synoptische Vergleichung, um zu bestimmteren Ergebnissen zu kommen.

4. Die Quellen.

Die λόγια des M. Im Art. Markos ist nachgewiesen, daß und warum dieses Evangelium eine Quelle des M. gewesen sein muß. M. hat aber noch eine zweite Quelle benutzt. Nimmt man nämlich den Markosstoff aus M. heraus und vergleicht das Zurückbleibende wiederum nach den drei Gesichtspunkten des Stoffes, der Reihenfolge und des Wortlautes mit Lukas, so ergibt sich Folgendes. Der Stoff zeigt eine merkwürdige Einheitlichkeit: er besteht fast nur aus Reden und Sprüchen Jesu. Es sind darunter allerdings auch die Worte des Täufers (aber keine Erzählung von seiner Taufe, diese stammt aus Markus) und ein paar Ansätze zu Geschichten, der längste die Heilung des Sohnes des Hauptmanns von Kapernaum (aber auch hier sind die Worte Jesu deutlich die Hauptsache). Im Wortlaut sind diese Stücke bei M. und Lukas noch näher miteinander verwandt als die Markusstücke, so daß man auch hier annehmen muß, daß ihre Gleichheit oder große Ähnlichkeit nicht auf dem Zufall der mündlichen Überlieferung beruht, sondern durch schriftliche Überlieferung bedingt ist. Endlich ist auch hier die Reihenfolge entscheidend. Nimmt man nämlich diese Stücke aus M. und Lukas heraus, so bemerkt man zunächst, daß M. sie in einzelne größere Reden verwoben hat, zu denen er die Ansätze meist bei Markos fand, z. B. die Pharisäerrede (23) nach Mark. 12, 38-40, die eschatologischen Stücke (24 und 25) nach der ‚kleinen Apokalypse‘ Mark. 13, während Lukas die Hauptmasse des Stoffes hintereinander in seiner ‚großen Einschaltung‘ als Reisegespräche mit andern Stücken vereinigt gibt (wesentlich 9, 51-18, 14). Die [2315] Stücke sind bei M. viel tiefer in den Zusammenhang eingearbeitet als bei Lukas. Nimmt man sie nun in der Reihenfolge, wie sie bei Lukas erscheinen, heraus und stellt sie ohne die auch bei Lukas dazwischengeschobenen Stücke zusammen, so ergibt sich, daß sie unter sich wieder einen Zusammenhang haben. Damit ist bewiesen, daß sie einen solchen von Anfang an gehabt haben, also wirklich vor ihrer Einarbeitung in M. und Lukas ein kleines Buch gewesen sind. Ein Beispiel: Lukas 12, 49-56 enthält Sprüche vom Gericht, 12,57-59 empfiehlt Aussöhnung mit dem Widersacher auf dem Weg zum Gericht; das sind, wie die Parallelen bei M. zeigen (die aber in ganz anderen Zusammenhängen stehen, 10, 34-36. 16, 2-3. 5, 25-26), Sprüche aus der gemeinsamen Quelle. Dann kommen bei Lukas zwei Erzählungen, die weder in Markus noch M. stehen, die Frage wegen der von Pilatus Getöteten und die Heilung der verkrümmten Frau 13, 1-17. Daran schließen wieder Sprüche der Quelle: die Gleichnisse vom Senfkorn und Sauerteig (also vom Kommen des Reiches, eschatologisch), die M. im Gleichniskapitel 13 = Mark. 4 untergebracht hat. Dann kommt die Bedrohung Israels mit Ausschluß aus dem Reiche Gottes Luk. 13, 22-30 (bei M. 7, 13-14. 25, 10-12. 7, 22-23. 8, 11-12). Danach bei Lukas der Abschied von Galiläa zur Reise nach Jerusalem und ein Wort Jesu über Herodes (ohne Parallele), hierauf das Wehe über Jerusalem 13, 34f. (das bei M. in Jerusalem gesprochen ist 23, 37-39), dann die Heilung eines Wassersüchtigen Luk. 14, 1-6 (ohne Parallele), Jesus geht zu einem Gastmahl 14, 7-14 (ohne Parallele) und spricht dabei das (escha tologische) Gleichnis vom großen. Abendmahl 14, 15-24 (= Matth. 22, 1-10, also wieder aus der Quelle). Man sieht, Lukas hat eine ganz bunte Erzählung mit Reisegeschiehten dazwischen, M. hat die Sprüche ganz zerstreut; läßt man sie aber aneinandergereiht in der Folge des Lukas, so haben sie ihren eigenen, und zwar eschatologischen Zusammenhang und Sinn. Also standen sie wirklich so in einer Quelle, einem Buch. Dies kleine Buch nun hatte etwa folgenden Inhalt: Täuferrede Luk. 3 = Matth. 3, Versuchungsgespräch Luk. 4 = Matth. 4, Seligpreisungsrede Luk. 6, 20ff. = Matth. 5 und 7, Hauptmann Luk. 7 = Matth. 8, Worte über den Täufer Luk. 7 = Matth. 11, Jüngerworte und Aussendung 9, 57ff. 10 = Matth. 8. 10. 11, Gebetsworte Luk. 11 = Matth. 6. 7, über Wunder Luk. 11 = Matth. 12, Pharisäerrede Luk. 11 = Matth. 23, Mahnrede an die Jünger: Bekennet, wachet, sorget nicht! Luk. 12 = Matth. 10. 6. 24, eschatologische Rede vom Gericht und Kommen des Reiches in 12. 13. 14. 16. 17 und das Endgericht (Pfunde) in 19 (M. zerstreut, bes. in 22. 24. 25). (Man muß nach einer Synopse jedesmal die dem M. und Lukas gemeinsamen Verse herausnehmen.) Das Büchlein enthielt keine Geburtsgeschichte und keine Leidensgeschichte; es war also kein Evangelium, sondern eine Spruchsammlung. Auch war es nicht chronologisch, sondern nach Sachgruppen geordnet, gelegentlich kann man auch noch Stichwortzusammenhang entdecken. Es war, wie man gesagt hat, der erste Katechismus der Christenheit, nur nicht in Frage und Antwortform. [2316] Aller Nachprüfung hat sich die Existenz dieser kleinen Schrift als Quelle des M. (und Lukas) bewährt. Es stimmt sehr gut zu diesem Ergebnis reiner Literarkritik, daß Papias (s. o.) von einer Spruchsammlung des M. berichtet. Wenn er sagt, daß sie ursprünglich hebräisch (aramäisch) abgefaßt gewesen sei, so widerspricht dem der Befund nicht, das Aramäische schimmert in diesem Buche überall noch durch; man hat auch Übersetzungsfehler entdecken zu können geglaubt, doch ist das unsicher. M. und Lukas haben das Buch jedenfalls schon in griechischer Form benutzt, dafür sind die vielen Gleichheiten des Wortlautes beweisend. Diese Spruchquelle (Logienquelle, Redequelle, von Wellhausen mit Q bezeichnet) ist etwas früher als Markus entstanden. Die Zerstörung Jerusalems kennt sie nur in Weissagungsworten, die echt sein können (vgl. Luk. 13, 34f. = Matth. 23, 37ff.). Versuche, bes. von Wellhausen (Einleitung in die drei ersten Evangelien² 1911, 118ff.), sie genauer zu datieren, sind nicht gelungen.

Außer Markus und Q hat M. noch andere Quellen gehabt, denn er besitzt eine ganze Reihe von Geschichten und Sprüchen allein. Es sind etwa: die Geburtsgeschichte 1 und 2 (sie hat nichts mit der des Lukas gemein), die Wunder vom Meerwandeln des Petrus und seinem glücklichen Fischfang und der Tempelsteuer (17, 24-27, nicht gleich dem ‚Fischzug des Petrus‘, der Luk. 5 anders steht!), Wunder bei Jesu Tod und Auferstehung, dazu die Geschichte von der Grabeswache 27, 62-66. 28, 11-15, und vom Tod des Judas 27, 3-10, die Erzählung von der Frau des Pilatus und seinem Händewaschen 27, 19 und 24f. Alles spätere apologetische Weiterungen. Die Sprüche und Gleichnisse dagegen, die M. besonders bietet, sind meist der anderen Überlieferung ebenbürtig. Ich nenne nur: Unkraut im Acker, Schatz im Acker und Perle 13, Schalksknecht 18, 23ff., Arbeiter im Weinberg 20 und die zwei ungleichen Söhne 21. Aber viel Stoff ist es überhaupt nicht.

5. Der Wert des M. als Geschichtsquelle beruht also wesentlich auf den Quellen, die es bietet. Zu dem über Markos (s. d.) und soeben über die Sonderstücke Gesagten ist noch ein Wort über die Spruchquelle hinzuzufügen. Sie ist daraum besonders wertvoll, weil sie so viele Worte Jesu bietet, die im Markosevangelium fehlen, und weil sie nicht wie Markos messianische, apologetische Abzweckung hat, sondern paränetisehe, ethisch-religiöse. Gewiß ist auch an ihr die umgestaltende Macht der Überlieferung nicht spurlos vorübergegangen; aber weil sie Worte Jesu bot, war man doch genauer als bei den Erzählungen. Das können wir am Verhalten unserer Evangelisten ihren Quellen gegenüber klar beweisen. In Erzählungen haben sie die größten Varianten, in Gleichnissen geringere, in Worten Jesu die wenigsten. Die mündliche Überlieferung und etwa vorhergehende schriftliche wird nicht anders gearbeitet haben. Überdies bietet uns die Spruchquelle noch Gelegenheit, sie mit Markos zu vergleichen und dadurch zu erkennen, wie weit die älteste Überlieferung bis zu ihrer schriftlichen Fixierung auseinandergewachsen war und welche Tendenzen [2317] bei diesem Auseinanderwachsen wirksam gewesen sind. Es gibt nämlich eine ganze Reihe von Worten, die aus beiden Quellen erhalten sind. Im allgemeinen zeigt sich deutlich, daß viel Varianten einfach auf anderer Übersetzung beruhen (Partizipia hier, Relativsätze dort u. ä.), viele formale, viele aber auch sachliche Umgestaltungen sind. Doch ist im allgemeinen die Ähnlichkeit so groß, daß man zur Treue der Überlieferung sehr gutes Zutrauen gewinnen muß. Meist hat Markos den kürzeren Text, deutlich, weil er die Worte Jesu möglichst knapp behandelt. Sachlich stehen beide Quellen auf einer Stufe; bald bietet Markos den älteren Text, bald die Spruchquelle, mitunter kann man im Zweifel sein. Wichtig ist, daß uns die Spruchquelle mit ihrer Anordnung noch deutlich die ältesten Lebensinteressen der Christenheit zeigt, indem sie eine Rede über die Bedeutung des Täufers (also eine Auseinandersetzung mit seiner Sekte, die auch sonst eine Rolle spielt), eine große Rede gegen den Pharisäismus, Worte über das Gesetz, über das Heidentum, über Wunder und Zeichen, über das Weltgericht und das Kommen des Reiches Gottes und Mahnungen zu Treue und Freudigkeit enthält. Das Messianische tritt zurück, ist aber deutlich vorhanden, die Besonderheiten des Markos (genaue Leidensweissagungen, das Leidensgeheimnis u. a.) hat die Spruchquelle nicht, ein Zeichen ihrer Güte. Selbstverständlich sind auch hier alle Sprüche einzeln zu nehmen und ist an den Stoffen sowohl inhaltliche wie ,formgeschichtliche‘ Kritik zu üben, um zu dem echten oder wenigstens ältesten uns erreichbaren Wortlaut der Sprüche Jesu durchzudringen (s. den Art. Markos).

Der Evangelist selber tritt deutlich als schriftstellerische Persönlichkeit hervor. Er hat noch stärker apologetisch geschrieben als Markos. Das zeigte sich ja schon in seinen Sonderstücken. Daß er die Wunder dauernd verstärkt und erhöht hat, ist im Art. Markos gezeigt. Noch ein Beispiel: Markos schreibt 1, 32-34 ,Sie brachten zu ihm alle Kranke … und er heilte viele‘ Matth. 8, 16 ,Sie brachten zu ihm viele … und er heilte alle‘. Ferner hat er den ganzen Stoff mit einem Schriftbeweis überzogen, dessen stets wiederkehrende Einführungsformel mit Sicherheit seine Arbeit verrät: 1, 22. 2, 5. 2, 15. 2, 17. 2, 23. 4, 14. 8, 17. 12, 17. 13, 14. 13, 35. 21, 4. 27, 1. Das geht so weit, daß er bei der Einzugsgeschichte, weil er den hebräischen Parallelismus von Sach. 9, 9 mißversteht, behauptet, Jesus sei auf einem Esel und einem Eselsfüllen eingeritten 21, 7 vgl. Mark. 11, 7 = Luk. 19, 35. Alles dient der Erhöhung Jesu und dem Nachweis seiner Messianität. — Im übrigen erscheint der Evangelist als ein treuer Sammler alles erreichbaren Stoffes. Die Baur’sche Schule hat ihn für einen Judenchristen gehalten und seinem Buch antipaulinische, judaistische Tendenz zugeschrieben. In der Tat ist M. jüdischer als Markos. Er hat (aus Q) den Spruch von der Unvergänglichkeit des Gesetzes aufbewahrt, den Markos in eine Aussage über die Unvergänglichkeit der Worte Jesu umgewandelt bringt (Matth. 5, 18. Luk. 16, 17 vgl. Mark. 13, 31; M. hat aber diesen Markosspruch ebenfalls 24, 35!), ja [2318] er hat 5, 19 ein Wort gegen den, der ,eins dieser ganz kleinen Gebote auflöst‘, den die Tübinger vielleicht mit Recht gegen Paulus gerichtet fanden (Sonderstück). Er hat das Wort gegen die Heiden- (und Samariter-) Mission 10, 5f., das so eng jüdisch erscheint wie Matth. 15, 24 gegenüber Mark. 7, 25. Er hat aber auch jüdischen Sprachgebrauch eingeführt: er, nicht Jesus hat das Wort Gott in dem Ausdruck ‚Gottesreich‘ durch ‚Himmel‘ ersetzt, wie die Juden es aus Scheu taten; er hat das Wort ‚Gerechtigkeit‘, das in den Quellen gar nicht vorkommt, in die Worte Jesu eingetragen (3, 15. 5, 6. 10 und 20. 6, 1 und 33. 21, 32). So erscheint Jesus bei ihm jüdischer als in den von M. benutzten Quellen. Aber andererseits ist das Wort gegen die Heidenmission außer Kraft gesetzt durch den Missions- und Taufbefehl des Auferstandenen Matth. 28, 19f. ,Geht hin in alle Welt!‘, und sind die Sätze Matth. 5, 17ff. durch die darauf folgenden Beispiele der Gesetzeserfüllung 5, 21-48 völlig verinnerlicht, ja das Gesetz ist dort geradezu aufgehoben, wie ja auch dem M. die besondere Betonung angehört, daß Gesetz und Propheten in Taten der Liebe erfüllt seien (7, 12. 22, 40). Er hat das Gleichnis von den Weingärtnern antijüdisch verstärkt durch den Satz ,Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volk (der Christenheit) gegeben werden, das seine Früchte bringt (21, 43 vgl. mit Mark. 12, 11). Er hat in das Gleichnis vom Hochzeitsmahl die antijüdische Wendung und die Zerstörung Jerusalems hineingebracht (22, 1-14 vgl. mit Luk. 14, 16 —24). Das alles kennzeichnet ihn als einen aus dem Judentum (Pharisäismus) hervorgegangenen, selber antijüdisch gewordenen Mann der Kirche, wie sie sich etwa um 100 auch im 1. Clemens- oder Jakobusbrief darstellt. Bei ihm tritt darum auch das kirchliche Interesse und selbst das Wort Kirche zuerst in der evangelischen Überlieferung hervor. Er hat aus dem Redeabschnitt Mark. 9, 35ff. (über dessen Stichwortzusammenhang s. den Art. Markos) durch Weglassungen und Hinzufügungen eine kleine Gemeindeordnung gemacht 18, 1-20, hier steht auch das Wort ἐκκλησία im Sinn von Einzelgemeinde gegenüber den Heiden und Zöllnern (!) 18, 17. An der zweiten Stelle meint es die Gesamtkirche und verheißt dem Petrus, daß diese auf ihm erbaut werde und nicht untergehen könne (Matth. 16, 17-19, auch dies Wort ein Zusatz zu Markos, nämlich 8, 29. Luk. 9, 20). So hat man neuerdings mit Recht von einem ‚katholischen‘ Charakter des M. gesprochen, da ja der (frühe) Katholizismus in der Tat aus dem Zusammenwachsen der im Urchristentum miteinander ringenden Richtungen unter Abstoßung der Extreme entstanden ist. Daß M. bei aller Schlichtheit und Volksmäßigkeit ein ausgezeichneter Darsteller ist, wurde schon im Art. Markos hervorgehoben. Er hat das reichhaltigste Evangelienbuch bei größter Kürze im einzelnen geliefert und darin Kompositionen von der Kraft und Fülle der Bergpredigt, die in ihrer Architektonik seine Schöpfung ist und durch die Jahrhunderte hindurch sich als Zusammenstellung der entscheidenden Worte Jesu so bewährt hat, daß immer deutlicher sich alle Christlichkeit an ihr messen muß.

[2319] 6. Verfasser, Ort, Zeit. Nach allem wird man nicht ohne sehr große Schwierigkeiten einen Urapostel wie M. als den Verfasser des Buches annehmen können. Selbst für die Spruchquelle hat es schon große Bedenken; denn sie ist zu deutlich durch eine längere umgestaltende und kombinierende Gemeindeüberlieferung hindurchgegangen. Früh wird man das Evangelium auch deshalb nicht ansetzen können, weil es, auf die Zeit Jesu zurückblickend, sagt: ‚Jener Acker heißt Blutacker bis auf den heutigen Tag 27, 8 (dieselbe Formel 28, 15), eine Erscheinung, die keiner der Evangelisten sonst zeigt. Daß daneben in M. ebenso wie in Markos die Verfolgungen und die Mission in der ganzen Welt bekannt sind, und das Wort: ,Ihr werdet gehaßt werden von allen um meines Namens willen‘ gerade bei ihm einmal lautet ,von allen Völkern‘ (24, 9 vgl. Mark. 13, 13. Luk. 21, 17), sei nur noch erwähnt. In der Weissagung von der Zerstörung Jerusalems (die M., wie gesagt, sicher kennt und sogar in seine Quellen einträgt 22, 7. 21, 43) finden sich bei ihm gegenüber Markos zwei Züge, die von denen immer hervorgehoben worden sind, die M. für das älteste Evangelium halten, nämlich einmal, daß er Jesus sagen läßt: ,Bittet, daß eure Flucht nicht geschehen müsse im Winter oder am Sabbat 24, 20, wo bei Markos der Sabbat fehlt 13, 18 (bei Lukas die ganze Stelle), und zweitens, daß er sagt, ‚sogleich‘ εὐθέως nach jener Drangsal (Jerusalems Ende) komme das Weltgericht 24, 29, während Markos bietet: ,in jenen Tagen‘ 13, 24, was man als eine Verwischung jenes εὐθέως ansehen kann, geschehen in späterer Zeit, da jenes ‚sogleich‘ längst widerlegt war. Indessen gibt es auch andere Möglichkeiten, diese Stellen in ihrer Eigenart zu begreifen; der Text des Markos (unser Markos ist ein anderer als der, den M. und Lukas lasen (s. den Art. Markos) und auch die oben berührte Vielgestaltigkeit des M. ist zu bedenken. Auf alle Fälle ist M. nach der Zerstörung Jerusalems, in der Zeit, in der jener frühe Katholizismus entstand, geschrieben (etwa 80-100). Über den Ort, an dem das geschah, ist nichts Sicheres oder auch nur Wahrscheinliches zu sagen. Doch wird man lieber an den Osten der Kirche, an Syrien oder Palästina, denken als an den Westen.

Literatur. Die meisten der bei Markos genannten Schriften gehören auch hierher. Die Kommentare zu M. findet man in Klostermanns Erklärung des M. in Lietzmanns Handbuch² 1927. Wellhausens Das Evang. Matthaei erschien 1904, ²1914. — Zu der Spruchquelle: ihre Rekonstruktion versuchte H. H. Wendt Die Lehre Jesu I 1886; dann A. Harnack Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament II, Sprüche und Reden Jesu 1907. Th. Soiron Die Logia Jesu 1916. Zu dem Wort des M. über die Kirche vgl. Weinel Bibl. Theologie 41928 S. 103 (dort auch Literatur), zu der ‚Gerechtigkeit‘ daselbst S. 81f., zu ‚Himmelreich‘ statt ,Gottesreich‘ die Nachweisungen S. 44f.
[Weinel.]

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