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Lotophagen (Λωτοφάγοι), Märchenvolk bei Homer; es ist nicht, wie man in Altertum und Neuzeit oft versucht hat, mit einem in Nordafrika wirklich existierenden Volke zu identifizieren.

1. Was Homer Od. IX 82–104. XXIII 311 von den L. erzählt, wird hier als bekannt vorausgesetzt; besonders hingewiesen sei nur darauf, daß die L. nach Homer ἄνθινον εἴδαρ ἔδουσιν, vgl. u. Über die gedachten Wohnsitze der homerischen L. s. Abschn. 2 D, über den Märchencharakter des Volkes den 3. Abschn.; ebd. am Ende über die Auffassung des L.-Landes als Totenreich.

2. Die nachhomerischen L. Was man bis zu seiner Zeit über Lotos und L. ermittelt hatte, stellte nicht übel Eustath. Od. 1616, 30ff. zusammen. Weiter hat nach Forbiger (s. u.) Manetti eine größere Arbeit über die L. geliefert, die mir nicht zugänglich ist, Bibl. Itala II 2 nr. 9. Für jetzt kommt nur in Betracht Jessen Myth. Lex. II 2142ff. (erschienen ca. 1895). Der Wert dieses kurzen, aber reichhaltigen Artikels wird erst klar, wenn man damit vergleicht, was vorher die Handbücher über die L. boten: Forbiger R.E.¹ IV 1150 (etwa 1850), Passow⁵ (1852) und noch 1884, allerdings besser als die Vorgänger, Pape-Benseler Wörterb. griech. Eigenn³. Wie Passow sah Forbiger die L. als wirklich existierendes Volk an, wofür allerdings die antiken Geographen die Grundlage zu bieten scheinen, und versetzte sie ‚an die Nordküste Libyens in der regio Syrtica um die kleine Syrte her und auf Meninx; auch Homer kannte gewiß die L. schon an dieser Küste‘. Demgegenüber war es schon ein Fortschritt, wenn Benseler drei L.-Stämme schied, deren erster zum Teil mythisch sei: an der Nordküste Libyens, auf Meninx und in Illyrien. Jessen dagegen fragt nicht, wo die L. wirklich wohnten, sondern nur‚ wo die Alten sich die Heimat des Märchenvolks dachten. Aber noch 1908 gaben Ameis-Hentze Od.11 IX 84 an, die L. seien in historischer Zeit ein Volk in Libyen gewesen; das ist falsch: s. d. 3. Abschn.

Jessen stellt folgende von den Alten (nach Homer) vermutete Sitze der L. zusammen:

A. Im Mittelländischen Meere.

1. In Libyen (diese Ansätze sind wegen des Nordsturms Hom. Od. IX 8¹ die häufigsten. Man beachtete nicht, daß Vers 82 nicht steht, dieser Nordsturm habe neun Tage lang geweht, sondern daB dann nur von ὀλοοὶ ἄνεμοι im [1508] allgemeinen die Rede ist – mit absichtlicher Unklarheit?):

a) östlich der kleinen Syrte um Leptis Neapolis herum, Herod. IV 177f. [nach Kieperts Karte zu Steins Herodotausg.⁴ 1896 jedoch mehr westlich nach der kleinen Syrte zu]. Ps-Skyl. 110 [deutlich ‚zwischen den beiden Syrten‘; Skylax kennt dort auch Städte der L. und eine Insel Bracheion, nach Dessau o. Bd. III S. 803, 41 vielleicht = Meninx, was allerdings nicht recht stimmen will]. Dion. Perieg. 206 mit Erklärern und Übersetzern [ὑπὲρ ἧς; ‚im Binnenlande‘ von Neapolis];

b) an der großen Syrte bei Φιλαίνων βωμοί, Plin. V 28, nach dem der [einheimische] Name der L. Alachroes [jetzt bei Mayhoff Machroes] war; vgl. d; nach Plin. Solin. 27, 43. Zwischen Boreion [o. Bd. III S. 730] und Phykus: Mela I 37. Bis Kyrene: Artemidoros bei Strab. III 157. XVII 829; vgl. u. C; daraus Eustath. Od. 1616, 40;

c) an der kleinen, daher Lotophagitis genannten Syrte, Strab. XVII 834. Eustath. zu Dion. Per. 198 [Kiepert nach Herod., s. o. a); über Meninx s. u. e)];

d) in Libyen im allgemeinen, Schol. Hom. Od. IX 81. 84. Anth. Pal. XI 284 [diese Stelle ist meines Erachtens auszuscheiden, s. u.; von Libyen jedenfalls spricht sie nicht]. Sil. Ital. III 310f., woraus sich als einheimischer Name Autololes ergibt [diese freilich nach Dessau o. Bd. II S. 2600 an der Westküste von Afrika am Fuße des Atlas; dadurch wird zweifelhaft, ob Sil. Ital. recht unterrichtet war, s. u.];

als Volksname wird außerdem noch Erebidai genannt, Steph‚ s. v.;

e) auf der Insel Meninx in der kleinen Syrte, Strab. XVII 834, wo Erinnerungen an Odysseus, so ein von ihm errichteter Altar (vgl. Tac. Germ. 3. Solin. 22, Norden German. Urgesch. in Tac. Germ. 185) gezeigt wurden. Für diese Insel hatte Eratosthenes direkt den Namen Lotophagitis aufgebracht, Plin. V 41. Diesen verwandte auch wirklich Polyb. I 39, 2 (47), vgl. XXXIV 3, 12 (1301), danach Strab. I 25. III 157. Davon sind dann die späteren Handbücher und zum Teil die Scholien abhängig; Zitate bei Jessen 2143, 41ff. [wo Eustath. zu Dion. Per. 478 hinzuzufügen. Schol. Plat. Staat VIII 560 c ist außerdem zum Teil aus Theophr. h. pl. IV 3, 2 abgeschrieben; für παράλληλα schreibe nach Theophr. παρ’ ἄλληλα. – Steph. Byz. s. Λωτοφόρος χώρα gehört hierher, wenn für das korrupte γυνὴ νῆσος zu schreiben ist; unwahrscheinlich dafür σύρτις; Benseler Wörterb. gr. Eigenn. – Über Bracheion = Meninx s. o.];

f) außer auf dem Festlande auch auf Pharis, einer wohl sonst unbekannten Insel, Theophr. a. a. O.;

g) über Artemidoros’ Ansicht s. u. Abschn. C.

Sonst im Mittelmeer:

2. In Akragas und Kamarina, Schol. Hom. Od. X 1. Eustath. Od. 1644. 40. [Diese Städte erhoben wohl weniger Anspruch darauf, die alte Heimat der L. zu sein, als ihnen dies vielmehr von Pseudogelehrten zugeschoben wurde. Wie diese darauf verfielen, ist nicht klar; denn man sieht nicht, welche Pflanze in Südsizilien als Lotos [1509] gelten konnte und wie jene Gelehrten den Nordsturm Od. IX 81 mit ihrer Ansicht in Einklang brachten. v. Wilamowitz Hom. Unters. 169, 5 findet den Grund der Lokalisierung der L. bei Akragas und Kamarina darin, daß die Kyklopen bei Katane angesiedelt worden waren. Dazu stimmt, daß Od. IX 105 bei der Fahrt vom L.-Lande nach der Kyklopeninsel weder Fahrtdauer noch -richtung angegeben ist, die Kyklopeninsel also dem L.-Lande nahe zu sein scheinen konnte; aber es bleiben die beiden angedeuteten Schwierigkeiten, der Mangel einer süßen Blumenspeise in Sizilien (über Kaktusfeigen s. u.) und die Außerachtlassung der Nordsüdfahrt im Nordsturm].

3. In Illyrien [und 4. in Skythien]. Nach Ps-Skyl. 22 lag in Illyrien eine griechische Stadt Herakleia, die Einwohner des Hinterlandes aber, die Hierastamnai, Bulinoi oder Hyllinoi und die Hylloi waren barbarische L. Die Notiz des PS.-Skyl. im ganzen ist nicht töricht, denn wenigstens die Angabe über Herakleia ist durch Münzfunde bestätigt, Patsch o. Bd. VIII S. 436 Nr. 26. Aber mit den homerischen L. können jedenfalls diese illyrischen nichts zu tun gehabt haben, da niemand die Irrfahrten bei Illyrien lokalisierte; daher scheiden sie für unseren 3. Abschn. aus und aus gleichem Grunde die L. in Skythien, über die nur ganz kurze Notizen vorliegen, Benseler Wörterb. gr. Eigenn. s. λωτοβοσκὸν φῦλον.

B. Außerhalb des Mittelmeeres. Die Vertreter des ἐξωκεανισμός scheinen die L. selten in die ἐκτετοπισμέναι χῶραι versetzt zu haben; denn wenn auch Od. IX 82 auf ein Land weit von Hellas wies, Eustath. Od. 1617, 8, so war doch eine Fahrt von Kythera durch die Straße von Gibraltar und darüber hinaus in neun Tagen gar zu unwahrscheinlich. Das rechnet denn auch Polybios bei Strab. I 25 aus; für die 22 500 Stadien lange Strecke von Maleia bis Gibraltar (in Wahrheit ist das übrigens zu viel) ergebe sich eine Tagesfahrt von 2500 Stadien = 450 km. So scheinen auch die, die sonst die Irrfahrten in weiteste Fernen verlegten, die L. im Mittelmeer belassen und die Fahrt durch die Straße von Gibraltar bei dem nicht deutlichen Verse IX 105 angenommen zu haben. Denn für einen Exokeanismos der L. ist Eustath. 1644, 40, soviel ich sehe, der einzige Zeuge (höchstens noch Sil. Ital., wenn Dessaus Ansatz der Autololes richtig ist, s. o.). Nicht recht überzeugend läßt Jessen die Vertreter des Exokeanismos die Fahrt in den Ozean nicht zwischen dem L.- und Kyklopenabenteuer, sondern vor dem L.-Abenteuer ansetzen; denn die von ihm 2143, 62f. angeführten Belege erwähnen die L. (Krates bei Gellius XIV 6) bezw. die Fahrt durch die Straße von Gibraltar (Eustath. 1617, 8) nicht ausdrücklich, und die räumliche Schwierigkeit, die mit ἐννῆμαρ φερόμην im Widerspruch steht, muß sich ein Mann wie Krates doch klar gemacht haben. [Das Zitat Schol. Od. IX 81 beruht wohl auf Irrtum.]

C. Zwischen einem Ansatz im fernen Westen [nicht im fernsten, außerhalb Gibraltars; so wäre dieser Abschnitt eher nach oben A 1 einzuordnen gewesen; ich folge aber hier der Anordnung [1510] Jessens] und dem bei Kyrene suchte Artemidoros dadurch zu vermitteln, daß er die L. wandern ließ. Laut Strab. III 157 wohnten nämlich nach einigen, darunter Artemidoros, die L. von Marokko und den westlichen Aithiopen an [πρὸς τοῖς ‚als ihre östlichen Nachbarn‘, denn ganz im Westen, d. h. an der Küste des Ozeans, wohnten eben die Aithiopen; also die L. nicht ‚an der Westküste Afrikas am äußeren Meere‘, wie Jessen 2143, 66 wollte] bis Kyrene, und zwar waren einige Stämme von ihnen nach Strab. XVII 829 zugewandert, ‚μετανάσται, ob die westlichen oder die östlichen, wird nicht klar; danach dieselbe Angabe bei Eustath. Il. 1616. 40.

D. Soweit die Ansichten des späteren Altertums. Wo dachte sich nun aber der Dichter des homerischen L.–Abenteuers selbst seine L.? (Jessen 2144, 6 mit Literatur). Nach dem Nordsturme IX 81 wohl (s. o. 2 A 1) direkt südlich von Kythera, d. h. in der Kyrenaike. Wenn man von dieser Angabe später abwich, so kann das nur den Grund gehabt haben, daß man dort kein süßes ἄνθινον εἶδαρ fand und, weil man es jedenfalls finden zu müssen glaubte, weiter westlich ging, bis eine Pflanzenart einigermaßen zu passen schien; s. d. nächsten Abschnitt.

3. Verhältnis der homerischen zu den nachhomerischen L. Jessens vortreffliche Ausführungen scheinen mir nur in einem Punkte lückenhaft, insofern er die L. von vornherein als Märchenvolk nimmt. Dasselbe wird sich zwar auch uns ergeben, aber nach einem Umwege, den man doch wohl gehen muß.

Die Alten kannten mehrere Sorten Lotos, den Lotosklee, der bei Sparta und Troia wuchs, den ägyptischen L. mit seinen Abarten, den libyschen u. a.; s. d. Lexika. Den libyschen beschreibt schon Theophrastos genau und konnte das auch. Denn nach seiner Angabe soll sich das Heer des Ophellas auf dem Marsche von Kyrene nach Ägypten bei eingetretenem Nahrungsmangel mehrere Tage lang von Lotos genährt haben; des Ophellas Witwe aber lebte später in Athen als Gattin des Demetrios Poliorketes, und Theophrastos’ Erwähnung jener Episode scheint doch darauf hinzudeuten, daß er sich an kompetenter Stelle, bei der Kyrenaierin, über die Pflanze befragt hat. Weiter beschreibt Polybios den libyschen L. genau, und zwar nach Autopsie. Auch moderne Reisende fanden ihn wieder (,an der kleinen Syrte in großer Menge‘; dort auch der schon von Herod. erwähnte Lotoswein, Forbiger; ‚in Tunis und Tripolis noch jetzt unter dem Namen Jujuba geschätzt; die Araber dichteten sie sogar zur Paradiesfrucht um‘, Passow; Jujuba auch bei Autenrieth-Kaegi Schulwörterb. zu Hom.12 1915). Wenn also dieser libysche Lotos wirklich existiert, so muß die Homerforschung fragen: woher kannte ihn schon Homer? Ist dann also das L.–Abenteuer erst nach Besiedelung der Syrtenländer geschrieben‘? (Seeck Quell. d. Od. 299 und Anm. 2). Oder kannte ihn Homer nicht und haben nur die Späteren, die nach Libyen kamen, unter dem Einfluß der homerischen Gedichte eine Pflanze, die sie dort fanden und die zu dem ἄνθινον εἴδαρ zu passen schien, als Lotos bezeichnet? Denn daß der Reisende im Auslande [1511] gerade das sieht, was er nach den Berichten Früherer pflichtgemäß sehen zu müssen glaubt, ist eine Tatsache, wenngleich das hier nicht näher ausgeführt werden kann.

Ebenso ist nach den L. und ihrem Lande zu fragen. Nach Polyb. I 39, 2 landeten im ersten punischen Kriege die Römer an der Lotophagitis, und die antiken Geographen wissen vielerlei von den L. zu berichten. Wenn es also wirklich in Nordafrika ein Volk gab, das von einer süßen Pflanze(nspeise) lebte: woher kannte es schon Homer? Oder hat man unter dem Einfluß Homers Völker in Libyen nur L. getauft, weil man in das in der Odyssee erwähnte Land gekommen zu sein meinte, ähnlich wie es später tatsächlich ein Inselchen mit dem wirklichen geographischen Namen Καλυψοῦς νῆσος gegeben zu haben scheint (o. Bd. X S. 1785, 8. 1799, 33)? – Die Frage, woher Homer die L. gekannt habe, mag auffallen; trotz Forbiger und Passow ist man doch wohl heute darüber einig, daß er sie nicht gekannt, sondern als Märchenvolk ersonnen oder der Schiffersage entnommen hat so wie die Kyklopen und Laistrygonen. Aufzufassen ist sie in dem Sinne, in dem Schliemann das früher für sagenhaft gehaltene Troia suchte und fand und in dem Dörpfeld auf Leukas nach dem Palaste des Odysseus grub. Von den Kyklopen und Laistrygonen unterscheiden sich übrigens die. L. insofern, als jene nie so ernsthaft lokalisiert worden sind wie die L. und bei den Geographen nicht so viel genaue Angaben über sie vorliegen. Die Frage wäre wichtig für die Beurteilung der Irrfahrten, da sich dann für das L-Abenteuer, abgesehen von der märchenhaften Wirkung der Lotosspeise, ein realer Hintergrund ergeben würde, den man auch noch in neuester Zeit z. B. für das Kalypso- und Laistrygonenabenteuer gesucht hat. s. o. Bd. X S. 1787, 40ff.

Aber wenn man die Überlieferung mit philologischer Methode prüft, ergibt sie das Resultat, daß der homerische Lotos nie existiert hat (keine Jujuba!) und daß es folglich auch nie ein geographisches L.-Volk, sondern nur ein solches Märchenvolk gab; was man libyschen Lotos und L. nannte, erhielt diese Namen nur unter dem Einflusse Homers. (Der Verfasser des Artikels Lotos, Stadler, der den folgenden Abschnitt in liebenswürdigster und dankenswertester Weise vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus überprüft hat, stimmte dem Gesagten zu.)

Der zeitlich Homer am nächsten stehende Zeuge, Herodotos, ergibt uns nichts Wesentliches (er glaubt IV 177f. 183 an die Existenz eines L-Volkes und behauptet von ihm, was bei Homer gar nicht steht, es nähre sich nur von Lotos; auch kennt er Lotoswein, eine Angabe, die dann von den Späteren bis zu Eustathios oft abgeschrieben worden ist). Xen. an. III 2, 25 kommt hier nicht in Betracht (dort heißt λωτοφάγοι ‚die Gefährten des Odysseus, die Lotos gegessen hatten‘). Bei Aristoteles sind die L. durchaus Märchenvolk, da sie sechs Monate schlafen. Steph. Byz. s. Γέρμαρα; wie dieser Zug entstand, können wir nicht sagen. Der erste sachkundige und wohl auch aus guter Quelle schöpfende (s. o.) Zeuge ist Theophr. h. pl. IV 3, 2. Nach ihm ist aber Lotos keine Blume, [1512] wie ausdrücklich bei Homer gesagt ist, sondern ein Baum, so groß oder etwas kleiner als ein Birnbaum! Nun sah man wohl, daß diese theophrastische Angabe zu der homerischen gar nicht paßt. Also erklärte man, ἄνθινον εἶδαρ heiße bei Homer gar nicht ‚Blumenspeise‘, sondern ‚vegetabilische Speise‘. Aber das ist ersichtlich nur eine erzwungene Erklärung, die nur den Widerspruch beseitigen soll. Oder man sagte, Theophrasts Angabe solle sich gar nicht auf den homerischen Lotos beziehen, sondern schuf zu dem griechischen, ägyptischen, libyschen (homerischen) Lotos eine neue Lotosart, den Lotos-baum ‚mit geschmack- und geruchlosen Beeren‘. Nun kennt freilich Theophrastos Varianten des L. (§ 4 ἔνιοι δὲ ...), aber zunächst redet er doch sichtlich von ‚dem‘, d. h. dem aus Homer bekannten L. Und da er aus Herodotos die Angabe ποιοῦσι δὲ καὶ οἶνον ἐξ αὐτοῦ fast wörtlich übernahm, Herodotos aber vom homerischen Lotos spricht, so meinte diesen doch wohl auch Theophrastos. Wenn aber seine Angaben nicht recht zu den homerischen stimmen, so folgt: Theophrastos nahm eine Baumfrucht Libyens, die dort reichlich gegessen wurde, für den homerischen Lotos, auch wenn sie zu dem ἄνθινον εἶδαρ nicht recht paßte, und zwar deswegen, weil er nach Homer Lotos in Libyen durchaus finden zu müssen glaubte, eine Blumenfrucht aber nicht fand. Und so ist denn Rhamnus lotus oder Zizyphus lotus zu dem Namen Lotus gekommen und wird ihn behalten; aber das, was Homer meinte, ist es nicht! Den theophrastischen Baum sah sich dann Polybios in Afrika an und beschrieb ihn genau XII 2; ferner sahen ihn moderne Reisende. (NB. Ich fürchte, von diesen werden manche auch die Kaktusfeige,ital. fico d’India für Lotos gehalten haben. Sie ist die für Nordafrika charakteristische Frucht: bei Eisenbahnfahrten und bei Ritten in Tunesien drängt sie sich dem Reisenden förmlich auf, man findet sie auf stundenweiten Flächen. Wegen ihres Wohlgeschmacks wurde sie bis 1914 auch bis Deutschland exportiert und in Feinkosthandlungen feilgeboten. Da sie sich auch in Südsizilien häufig findet, so würde dies die Lokalisierung der L. dort erklären, s. o. Aber diese Opuntie ist der antiken Welt unbekannt.) Im Gegensatz jedoch zu Forbigers Angaben über heutige Lotosspeise und Lotoswein in Libyen und zu denen Passows über die Beliebtheit der Jujuba bei den Arabern, wonach alles aufs schönste stimmt, steht die Steins im Kommentar zu Her. IV 177 (⁴1896) ,rhamnus lotus .. liefert eine eßbare Frucht, die aber weder von dem im Altertume seit der homerischen Beschreibung gerühmten lieblichen Geschmacke noch als Nahrungsmittel sonderlich bevorzugt ist‘, d. h.: in Wahrheit fanden die modernen Reisenden eine Frucht, die die homerischen Angaben rechtfertigte, nicht, am wenigsten aber eine Blumenfrucht. Daß der von Theophrastos beschriebene Lotos nicht zu dem homerischen paßt (obwohl er das soll), hat schon Artemidoros gesehen, der, im Gegensatz zu Theophrastos’ Baumfrucht, den Lotos wieder zu πόα καὶ ῥίζα machte, Strab. XVII 829; aber eine Grasfrucht oder Wurzel, die sehr gut schmeckte, hat in [1513] Libyen auch kein moderner Reisender gefunden und ebensowenig eine Halmpflanze, während doch Lotos nach Schol. Eur. Phoen. 787 γλυκοκάλαμον sein soll. Gar nicht übel stellte die Varianten Tzetz. chil. VI 707 zusammen. Seine Angaben beweisen, daß man in Wahrheit vom homerischen Lotos und der Stelle, wo er wuchs, nichts wußte. (Anm.: Rein als Märchen, wie wir sie nach dem Dargelegten auffassen, erzählt Apollod. ep. 7, 3 die L.-Geschichte [ἐφύετο γὰρ ... καρπός, nicht φύεται!], doch ist das kaum ein Beleg dafür, daß unsere Auffassung schon im Altertum von manchen geteilt wurde, denn die Fassung ἐφύετο κτλ. ist wohl rein im Anschluß an die Odyssee, nicht aber in bewußter Opposition gegen die spätere Ansetzung einer wirklichen Lotospflanze gegeben. [Hat übrigens der Epitomator oder seine Vorlage wegen πάντων [nicht: τῆς πατρίδος] ἐποίει λήθην Lotos als eine Art Narkotikum gedacht? Die Epitome weicht auch sonst öfter von Homer ab]. Ähnlich wie in der Ep. steht auch bei Hyg. fab. 125 [l06‚ l2 Schm.] loton....edebant, wohl aus gleichem Grunde; dort ist wohl ex flore durch ein einst übergeschriebenes ex foliis verbessert worden; wenig glaubhaft Schmidts Konjektur p. L der Ausgabe bei †.)

Ähnliches wie für den Lotos läßt sich nun auch für die L. als geographisch existierendes Volk schließen. Gab es keinen Lotos, wie ihn Homer beschreibt, so gab es auch keine L., und das läßt sich auch noch anderweit erweisen.

Nordafrika war nach den erhaltenen, z. T. gewaltigen Ruinen – das Amphitheater von Thysdrus = el Djem ist nach dem Colosseum in Rom eins der größten und eindrucksvollsten –, insonderheit Tripolitanien und die Kyrenaike nach dem gar nicht unbeträchtlichen Antikenhandel, den die Araber jetzt dort betreiben, einst dicht bewohnt, und nicht nur von armen Fischern; es stammten daher viel bedeutende Leute, aus Kyrene selbst in langen Perioden des Altertums. Die Küste war also genau bekannt. Wie war es dann möglich, daß man in der Ansetzung der L. so schwankte, wie es Jessens Artikel ergibt, von Marokko bis nach Kyrene, ja bis Südsizilien hin, und dies, obwohl Homer deutlich auf die Gegend von Kyrene zu weisen schien (s. o.)? Hätte dort ein Volk gelebt, das sich ausgesprochen von einem ἄνθινον εἶδαρ oder von der Frucht des stachligen theophrastischen Lotosbaumes nährte, man hätte es gekannt und nicht so mit Hypothesen über die homerischen L. operiert. Aber auch als in der Kaiserzeit nicht nur die Brennpunkte Tunesien und die Cyrenaica, sondern die ganze Küste genau bekannt war, fand man das Volk nicht, und es blieb bei den Hypothesen. Denn es ist zu beachten, daß nur die ganz kurzen, für die Schule zum Auswendiglernen bestimmten Bücher die L. einfach ansetzen; dagegen sagt Strab. III 157 πεπιστεύκασί τινες, Mela I 37 ora, quam Lotophagi tenuisse (Perfekt!; zur Zeit Melas oder seiner Quelle also nicht mehr) dicuntur; Solin. 27, 43 Lotophagos fuisse (wieder Perfekt) discimus; nec incertum est (also sind Zweifel doch wohl geäußert worden).

[1514] Auch hatte man gar keine klaren Vorstellungen von dem Volke. Nach Herodotos sollten sie ausschließlich von Lotos leben; Artemidoros bezog aber auch solche ein, die Milch tranken und Fleisch aßen, Strab. XVII 829. Anderen L. wieder stillte die Lotosspeise auch den Durst, und sie brauchten gar nicht zu trinken und hätten das auch nicht gekonnt, weil sie in der Wüste wohnten; dem widerspricht aber wieder der Lotoswein. Nur ein Kompromiß zur Verschleierung dieses Widerspruchs ist es, wenn sie (in der wasserlosen Wüste) den Lotoswein ohne Wasser tranken.

Schließlich gab es auch gar keinen echt geographischen Namen Lotophagitis oder Ähnliches; das waren nur Bezeichnungen im Literaturgebrauche. Polyb. I 39, 2 sagt von den Römern, sie seien πρὸς τὴν τῶν Λωτοφάγων νῆσος gelandet, ἣ καλεῖται ... Μήνιγξ; Λωτοφάγων νῆσος ist also nicht Ortsname. Ferner Theophr. hist. pl. IV 3 ἐν τοῖς καλουμένοις Λωτοφάγοις; Strab. XVII 834 τὴν δὲ ήνιγγα νομίζουσι εἶναι τὴν τῶν Λωτοφάγων γῆν τὴν ὑφ’ Ὁμήρου λεγομένην; 'Schol. Hom. Od. IX 84 τοὺς Λωτοφάγους ἐν Λιβύῃ ὑποτίθενται οἱ νεώτεροι.

Wenn es aber keine L. gab, so erklärt es sich auch, daß sie in der Geschichte nie auftauchen. Denn die auf punischer Seite kämpfenden Autololes als L. bei Silius Ital. sind nur homerische Reminiszenz mit poetischer Ausschmückung, wie die Bezeichnung des Lotos als hospita baca lehrt. – Einmal kommt allerdings ein Heerführer aus dem L.-Lande‚ bei Palladas Anth. Pal. XI 284: Ἐκ γῆς Λωτοφάγων μέγας ὄρχαμος ἦλθε Λυκάων Χαλκίδος ἐκ γαίης ἀντιοχευόμενος. Dabei ist in der Weise des Palladas vieles mit Wortspielen gesagt und uns unklar, klar aber doch soviel, daß ἐκ γῆς Λ. nur heißt ‚aus Nordafrika‘ und daß der hier (umschreibend) Lykaon Genannte kein L. war, am allerwenigsten, wie Weizsäcker in Roschers Myth. Lex. II 2173 dachte, ein mythologischer. Denn auf ihn beziehen sich auch Epigramm 283 und 285; die Überschrift von 283 aber gibt uns seinen Namen und Stand: Εἰς Δαμόνικον ὕπαρχον. Daß sich aber ein L. in so hoher Stellung fände, wäre so singulär, daß es ganz unwahrscheinlich ist. Also ist, wie die Wirkung des Lotosessens, so die Frucht selbst und das Volk der Lotosesser ein Märchenprodukt.

Und zwar ist das Märchen ein Schiffermärchen, der Bericht eines weit Gereisten von einem Lande mit einer Pflanze von fabelhaftem Wohlgeschmack. Manche fassen zwar die Abenteuer des Odysseus als Fahrten ins Totenreich, so die Insel der Kalypso (s. o. Bd. X S. 1788, 16ff.) als Toteninsel; es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß beim L.-Abenteuer gar nichts zu einer solchen Auffassung berechtigt und daß es sehr gesucht wäre, die Wirkung des Lotosgenusses mit der des Tranks aus der Lethe in Parallele zu setzen. Hom. Od. IX 96 steht nicht, daß jeder, der Lotos aß, seine Heimat vergaß‚ sondern, daß die Gefährten des Odysseus das tun wollten (so jetzt auch Meuli Odyssee und Argonautika 60).

4. Kunstdarstellungen des L.-Abenteuers sind mir nicht bekannt.
[Lamer.]

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