ART

Iuridicus, Bezeichnung verschiedener Gerichtsbehörden in der römischen Kaiserzeit.

I. Iuridici in Italien. Seitdem sämtliche italische Gemeinden das römische Bürgerrecht erhalten hatten, gab es in Italien zweierlei Gerichte für den Zivilprozeß: erstens die lokalen in den einzelnen Civitates, zweitens die, man darf wohl sagen, Reichsgerichte in Rom. Gewöhnliche Schuldklagen kamen in der Regel vor den kommunalen Magistrat; aber solche richterliche Handlungen, in denen der Römer den Ausdruck der alten Königs- bezw. Präsidentengewalt, des sog. Imperiums, sah, blieben den römischen Magistraten vorbehalten. Das fidei commissum z. B., die von einem Erblasser an seinen Erben zu Gunsten eines Dritten gerichtete letztwillige Bitte, ,begründet an sich wohl eine moralische Verbindlichkeit, aber kein klagbares Recht‘ (Mommsen St.-R. II³ 103). Indessen kann der römische Consul oder Praetor, kraft seines Imperiums, den Erben zwingen, das fidei commissum auszuführen. Oder falls etwa ein unmündiges, vermögendes Waisenkind vorhanden ist, kann der Imperiumträger einen beliebigen Bürger nötigen, die Vormundschaft und die damit verbundene Vermögensverwaltung zu übernehmen (a. a. O. 104).

Ferner kamen die Regelung von Konkurs- und Erbschaftsmassen, bei denen der Richter freie und verantwortungsreiche Entscheidungen zu treffen hatte, sowie Schuldklagen auf große Objekte, vor die hauptstädtischen Gerichte (im einzelnen sind freilich manche Ausnahmen vorhanden, und die genaue Grenze zwischen der Iurisdiction der munizipalen und der Reichsmagistrate läßt sich nur schwer ziehen. Treffliche Orientierung über diese Probleme gibt Liebenam Art. Duoviri o. Bd. V S. 1827. Über den begrifflichen Unterschied zwischen iurisdictio im engen Sinn — die auch dem Munizipalmagistrat zukommt — und imperium s. Mommsen St.-R. I³ 187, 2).

Daß dieser Zustand eine starke Belastung der stadtrömischen Gerichte mit italischen Zivilprozessen zur Folge hatte, ist klar. Im 2. Jhdt. schritt die Reichsregierung dazu, Abhilfe zu schaffen, und zwar übernahm der Kaiser die Regelung der betreffenden Prozesse. Zunächst ernannte Hadrian vier Männer, und zwar Consulare, die, jeder in einem bestimmten Sprengel, die höhere Zivilgerichtsbarkeit in Italien auszuüben hatten (Hist. aug. Hadr. 22; Pius 2; Marc. 11. Appian. bell. civ. I 38). Daneben sollten diese Consulare ohne Zweifel auch eine allgemeine Oberaufsicht über die Städte ihres Sprengels halten. Anscheinend hat diese ihre Tätigkeit Mißfallen erregt, so daß Kaiser Pius das Amt wieder aufhob (s. Appian a. a. O. Mommsen St.-R. II³ 1085. Marquardt Röm. [1148] Staatsverwaltg. I² 224). Indessen kehrte Kaiser Marcus wieder zu dem System Hadrians zurück (Hist. aug. Marc. 11), nur ernannte er nicht Consulare, sondern Praetorier. Auch die Vierzahl der Oberrichter und ihrer Sprengel blieb anscheinend bestehen. Diese Beamten, die bis zur Reichsreform Diocletians existiert haben, hießen iuridici (über diese s. Mommsen St.-R. II³ 1085; Ges. Schr. V 181. 280. Marquardt a. a. O. Borghesi Oeuvres complètes V 391. Jullian Les transformations politiques de l’Italie sous les Empereurs Romains, Paris 1884, 119. Karlowa Röm. Rechtsgesch. I 565). Die amtliche griechische Übersetzung von i. ist δικαιοδότης (Dessau 8842. Cass. Dio LXXVIII 22, 1 heißen diese Richter freilich δικαιονόμοι). Das neue Amt wurde, wie Borghesi (p. 392) erkannt hat, zwischen den J. 161 und 169 geschaffen. Dies ergiebt sich aus der in Concordia gefundenen Ehreninschrift für C. Arrius Antoninus (CIL V 1874, vgl. o. Bd. II S. 1255). Er heißt da: iuridico per Italiam [re]gionis Transpadanae p[ri]mo. Da er aber seinen Auftrag erhielt: ,providentia maximorum imperat(orum)‘, muß damals Kaiser Verus noch gelebt haben. Folglich geschah die Ernennung der ersten iuridici vor dem J. 169.

Aber die Zeitgrenze läßt sich noch erheblich enger ziehen: Q. Servilius Pudens, der Consul ordinarius des J. 166, ist bereits als Praetorier i. gewesen. Nach CIL VIII 5354, welche Inschrift seine Karriere mitteilt, war Pudens erst praetor, dann praefectus frumenti dandi, danach i. Aemiliae et Flaminiae, endlich proconsul der (praetorischen) Provinz Creta et Cyrenae. Also hat Pudens spätestens im J. 165 die Provinz verwaltet und ist spätestens im J. 164 i. gewesen. Noch weiter hilft jetzt die Karriere des schon erwähnten C. Arrius Antoninus. Er war unter Marcus und Verus der erste praetor tutelaris, also frühestens im J. 162. Danach wurde er der erste i. der Transpadana, also frühestens im J. 163. Die Institution der iuridici ist demnach im J. 163/4 geschaffen worden.

Die Kompetenz des i. erstreckte sich zunächst auf die Ernennung von Vormunden, s. Ulpian. Vat. frg. 205: si quis ad urbicam dioecesim pertinens testamento tutor dabitur, excusare se debebit ab eo patrimonio, quod in regionibus iuridicorum est; ebd. 232 (aus Ulpianus de officio praetoris tutelaris): observari autem oportet, ne his pupillis tutorem det, qui patrimonia in his regionibus habent, quae sunt sub iuridicis (vgl. auch 241). Wir lernen aus diesen Angaben, daß nicht ganz Italien zu den Sprengeln der iuridici gehörte, sondern daß die Umgebung von Rom als ,urbica dioecesis‘ nach wie vor den hauptstädtischen Gerichten, in Vormundschaftssachen also dem praetor tutelaris, unterstand. Über die Abgrenzung dieses Bezirks s. u. Sodann entschied der i. in Streitfragen, die sich aus fidei commissa ergaben (s. Scaevola Dig. XL 5, 41, 5), und auch sonst dürfte er in seinem Sprengel die ehemaligen Befugnisse der hauptstädtischen Zivilrichter übernommen haben. Indessen griffen die Kompetenzen des i. über dieses Gebiet heraus. Er hatte die oberste Entscheidung auch in allen Verwaltungsstreitfragen, die sich in seinem Sprengel ergaben. Wenn z. B. die Bürgermeister einer [1149] Gemeinde ein Mitglied des Rats ausstoßen wollten, ging die Beschwerde des betreffenden Decurio früher in letzter Instanz an den Praefectus urbi, nunmehr aber an den i. (Mommsen St.-R. II³ 1076. Borghesi 418. Vgl. die Briefe, die Fronto — ad am. II 7. 8 — in einem solchen Fall an den schon oben genannten i. C. Arrius Antoninus richtete. Zufällig stammt der Decurio, für den Fronto sich verwendet, aus der gleichen Gemeinde Concordia, deren Ehreninschrift für Antoninus uns erhalten ist). Streitigkeiten zwischen einer Gemeinde und irgend einer Korporation über die Befreiung von städtischen Lasten kamen gleichfalls vor den i. (CIL V 4341: Ehreninschrift des Collegium der Dendrophori von Brixia an einen i. der Regio Transpadana quod eius industria immunitas collegi nostri sit confirmata). Sodann hatte der i. eine Anzahl direkter Verwaltungsgeschäfte zu erledigen. Wenn in einer Gegend Knappheit an Brot eintrat, vermochten die Behörden einer einzelnen Stadt oft nur schwer zu helfen. Viel leichter konnte ein Beamter eingreifen, dessen Kompetenz sich auf eine ganze Landschaft erstreckte. So hatten die iuridici mehrfach für eine gerechte Verteilung der Lebensmittel in ihrem Sprengel zu sorgen (CIL V 1874: urgentis annonae difficultates iuvit. CIL XI 377). Der uns erhaltene Senatsbeschluß des J. 176/7, in dem die Ausgaben für die Gladiatorenspiele in den Städten des Reichs beschränkt wurden, lehrt eine weitere Tätigkeit des i. Die Sorge darüber, daß die neuen Bestimmungen in Italien eingehalten wurden, übernehmen in erster Linie die Praefecti alimentorum und Curatores viarum. Wenn diese Magistrate sich aber in ihrem Sprengel nicht aufhielten, traten an ihre Stelle die iuridici (CIL II 6278 Z. 43 und 50. Mommsen Ges. Schr. VIII 511). Endlich hat Hirschfeld die plausible Hypothese aufgestellt, daß in der Periode von Kaiser Commodus bis auf Macrinus die iuridici auch die Geschäfte der Distriktspräfekten für die Alimentationen übernommen haben (Kaiserl. Verwaltungsb.² 219). In der genannten Periode verschwinden nämlich diese Praefecti alimentorum für die einzelnen italischen Bezirke aus den Inschriften, um nachher wieder aufzutauchen.

Die Einsetzung der iuridici an sich bedeutete zunächst noch keine Beschränkung der Selbstverwaltung in den italischen Gemeinden. Waren doch ihre richterlichen Kompetenzen vorher von den hauptstädtischen Magistraten ausgeübt worden. Aber im Laufe der Entwicklung scheinen sie doch immer mehr ein Aufsichtsrecht über die Städte ausgeübt zu haben, so daß die Schöpfung dieser Behörde eine wichtige Etappe auf dem Wege zur Provinzialisierung Italiens darstellt, unter Kaiser Septimius Severus wurde ihre Kompetenz — was zu dem absolutistischen Geist dieser Regierung stimmt — wesentlich vermehrt Kaiser Macrinus hat dann im J. 217 ihre Befugnisse wieder auf das von Marcus geschaffene Maß zurückgeführt (Cass. Dio LXXVIII 22, 1). Hirschfeld vermutet, daß ihnen damals auch die Aufsicht über die Alimentationen wieder entzogen worden ist. Unter den Militärregierungen im Laufe des 3. Jhdts. ist die Kompetenz der iuridici von neuem gestiegen. Den Zustand unter Valerianus und Gallienus veranschaulicht [1150] CIL XI 376, wo ein M. Aelius Aurelius Theon — über seine Lebenszeit s. CIL III 89 — als iurid(icus) de infinito per Flam(iniam) et Umbriam Picenum bezeichnet wird. Die richterliche Kompetenz des i. hatte also an sich gewisse Grenzen, die aber in diesem Falle für Theon nicht gelten sollten. Wer waren aber die Behörden, auf deren Unkosten die Befugnisse Theons erweitert worden waren? Mommsen (St.-R. II³ 1086) denkt an die hauptstädtischen Gerichte, denen auch noch nach Einrichtung der iuridici die besonders wichtigen Fälle reserviert geblieben seien. Das ist an sich möglich; sicher durfte dieser i. aber auch in die Befugnisse der munizipalen Magistrate ohne Schranken übergreifen. Die iuridici verschwinden mit der diocletianischen Reform. Die Erben ihrer Gerichtsbarkeit wurden die Correctoren, die neuen Provinzialstatthalter in Italien.

Ein umstrittenes Problem stellt die Zahl und Ausdehnung der Sprengel der iuridici dar. Mommsen war der Ansicht, daß es feste Sprengel nicht gab, sondern daß die Bezirke von Fall zu Fall abgegrenzt worden seien. Auch die Zahl der nebeneinander amtierenden iuridici hielt Mommsen für schwankend oder doch wenigstens für nicht bekannt (St.-R II³ 1085). Dagegen nimmt Jullian mit guten Gründen eine Vierzahl der Sprengel an (p. 130ff.) Sein Material läßt sich freilich erhehlich vermehren. Zunächst liegt ganz fest der 1. Bezirk des i. regionis Transpadanae (CIL V 1874. 4332. 4341. 8921. VI 1520. VIII 7030. 12442. XI 6338). Ebenso deutlich hebt sich der 2. süditalische Sprengel des i. per Apuliam Calabriam Lucaniam Bruttios ab (CIL III 10471/73. VIII 22721 = Eev. arch. XII 1908, 348). Auf verschiedenen Inschriften werden diese vier Landschaften nicht sämtlich genannt, sondern, abgekürzt, nur drei, zwei oder eine von ihnen (CIL V 2112: per Apuliam; VI 1502: per Apuliam; 1513f.: per Apuliam et Calabriam; IX 1571f.: Apuliae et Calabriae; 2213: per Calabriam Lucaniam Brittios; XIII 6763: per Calabriam Lucaniam et Bruttios. Dessau 8842: δικαιοδότην Ἀπολίας Καλαβρίας; vgl. Keil-Premerstein Bericht über eine zweite Reise in Lydien, Wien 1911, 22. Kalinka Ant. Denkm. in Bulgarien, Wien 1906, 94: [δικαιοδό]την Ἀπουλίας). In Mitteltitalien haben wir einen westlichen und einen östlichen Sprengel. Der letztere, 3. Bezirk unterstand dem i. per Flaminiam et Umbriam et Picenum (CIL II 2634. XI 376. Gewöhnlich wird im Titel Picenum fortgelassen, so CIL III 6154. VI 1509. XI 377. XII 3172; vgl. p. 836. XIV 3586). Der 4. Bezirk des westlichen Mittelitaliens gehörte dem i. per Aemiliam et Liguriam et Tusciam (CIL VIII 597, vgl. 11754. Mehrfach fehlt wieder Tuscia im Titel, so VI 332. X 5178 = 5398. Liguria allein ist erhalten: VIII 7033. XIV 2503). Diesen etwa 30 authentischen Zeugnissen, die sich unserem einfachen System fügen, stehen ganze drei abweichende gegenüber. Es sind dies: ein i. per Picenum et Apuliam (CIL VI 1511f.), ein i. Aemiliae et Flaminiae (VIII 5354), und ein i. regionis Tusciae et Piceni (XI 2106). Daraus wird man den Schluß ziehen, daß hin und wieder von der normalen Abgrenzung [1151] der Sprengel abgewichen worden ist. Einmal wird Picenum zum süditalischen Bezirk gezogen, einmal die Flaminia zu dem westlichen, oder Tuscia zu dem östlichen. Aber die Existenz dieser wenigen Ausnahmen kann die Regel selbst nicht erschüttern. Unter den Landschaften der iuridici fehlen durchaus Latium, Campanien und Samnium. Diese Gebiete waren also die urbica dioecesis, von der Ulpian spricht, und die nach wie vor der Iurisdiction der hauptstädtischen: Gerichte unterstellt blieb (Mommsen Ges. Schr. V 281). Mit besonderer Vorliebe scheint man zum Posten des i. eine Persönlichkeit bestimmt zu haben, die in den betreffenden Landschaften ansässig war (Jullian 134). Schon der spätere Kaiser Pius war — unter Hadrian — consularischer Richter in dem Teile Italiens, wo er plurimum possidebat (Hist. aug. Pius 2). Ferner sind uns zwei iuridici der Transpadana bekannt, die beide aus Brixia stammten (CIL V 4332, vgl. 4333 und CIL V 4341, vgl. Mommsen zu CIL V 3342).

Das Amt des i. heißt iuridicatus (CIL XI 377). Vgl. noch CIL VI 1471. Dessau 1195.

II. Der Iuridicus in Aegypten. Bei der Ordnung der ägyptischen Verwaltung unter Augustus wurde dem Praefecten ein Beamter aus dem Ritterstande zur Seite gestellt, der richterliche Funktionen hatte (vgl. Strab. XVII 797) und den Titel i. führte. Die formelle Bezeichnung des Beamten war i. Alexandreae (CIL VI 1564. VIII 8925. 8934. Ebenso auf einem Papyrus des 4. Jhdts., Archiv f. Papyrusforschg. I 298: Flavius Gennadius vir perfectissimus iuridicus Alexandreae). Selten ist die Titulatur i. Aegypti (CIL X 6976). Die Inschrift aus Korinth IG IV 1600 nennt den i.: Αἰγύπτου καὶ Ἀλεξανδρείας δικαιοδότης; Ulpian spricht (Dig. I 20, 2) von dem ι., qui Alexandreae agit. Die Inschrift CIL XI 6011 umschreibt das Amt mit: hiψ, cum mitteretur a Ti. Caes(are) Aug(usto) in Aegypt(um) ad iur(is) dict(ionem). Die Papyri nennen den i. durchaus δικαιοδότης. Der Rangtitel des i., als Angehörigen des Ritterstandes, ist ὁ κράτιστος (BGU I 327 u. s.; lateinisch: vir perfectissimus, s. o.). Seine Gehaltsklasse war, wie Hirschfeld (Kaiserl. Verwaltungsbeamte² 440) annimmt, die der centenarii. — Vgl. auch u. S. 1153/1154 die Liste der iuridici.

Das Attribut i. Alexandreae erklärt sich daraus, daß der i. in Alexandreia amtiert (BGU I 5 col. II 14ff. BGU I 361 col. II 7ff. BGU II 378. P. Lond. II p. 152f.; dazu Wilcken Archiv f. Pap. IV 394. P. M. Meyer Archiv III 105). Dagegen wäre die Annahme falsch, daß sich seine örtliche Zuständigkeit nur auf die Hauptstadt beschränkt habe; vielmehr sind auch Angelegenheiten der χώρα vor sein Forum gekommen (P. Gen. 4; vgl. Wilcken Archiv I 312. P. M. Meyer a. a. O.). Die sachliche Kompetenz des i. genau zu bestimmen, ist schwierig. Der allgemeine Richter des Landes war durchaus der praefectus Aegypti selbst (Mitteis Grundzüge und Chrestomathie d. Papyruskunde II 1, 27). Dem i. dagegen wurden vom Kaiser nur bestimmte Teile der Iurisdiction übertragen. Nach Ulpian (Dig. I 20, 2) gab ihm eine Verordnung des Kaisers Marcus das Recht der Vormundsernennung. Ferner [1152] konnten nach Ulp. Dig. I 20, 1 Adoptionen vor dem i. vorgenommen werden ,quia data est ei legis actio‘. Wegen solcher Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit konnte man sich also an den i. wenden, was eine wesentliche Entlastung des Praefecten bedeutete. Ferner konnte der Praefect durch Delegation Prozesse an den i. übertragen (BGU 378 = Chrestomathie II nr. 60). Durch diesen letzteren Umstand wird für uns die Erkenntnis der ursprünglichen Spezialkompetenz des i. erschwert; denn bei den Prozessen, die wir aus den Papyri kennen lernen, läßt sich nicht immer entscheiden, ob der i. aus eigener Kompetenz oder auf Grund von Delegation zuständig ist. Mitteis hält es für möglich, daß der i. eine Spezialkompetenz für Römer und Griechen gehabt hat (a. a. O. p. 27). In den von P. M. Meyer (a. a. O.) besprochenen Urkunden sehen wir den i. als Vormundschaftsrichter für cives Romani. Der von Collinet und Jouguet im Archiv I 293ff. publizierte Papyrus des 4. Jhdts. betrifft einen Erbschaftsstreit zwischen Alexandrinern, die freilich in der χώρα wohnten. In P. Gen. 4 wendet sich ein Grieche aus Arsinoe an den i., der von den Ortsbehörden fälschlich in die Kopfsteuerliste der Eingeborenen eingetragen worden war. Es kamen also auch Verwaltungsstreitigkeiten vor den i., vielleicht dann, wenn der Beschwerdeführende ein Grieche oder Römer war. In dem Prozeß um eine Mitgift, aus dessen Akten P. Oxy. II 237 col. VII Z. 38ff. ein Stück erhalten hat, scheinen freilich ägyptische Parteien vor dem i. zu streiten; doch kann dies, nach dem Urteil von Mitteis, auf Delegation zurückgehen. Eine merkwürdige Tatsache zeigt P. Leipzig (ed. Mitteis) I 57, vom J. 261 n. Chr. Ein gewisser Aurelios Achilleus hatte danach Kleider an die kaiserliche Gladiatorenschule zu Alexandreia zu liefern, und diese Lieferung geht an das ὀφφίκιον τοῦ κρατίστου δικαιοδοτου. Es mag hier irgendwie ein außerordentlicher Auftrag vorliegen, den der Praefect dem i. erteilt hat.

Wenn der Posten des praefectus Aegypti vakant war, hat bisweilen der i. den Praefecten vertreten (Stein Archiv IV 149ff.). So trägt die Eingabe BGU 327 vom J. 176 (= Chrest. nr. 61) die Adresse: Γαίῳ Καικιλίῳ Σαλουιανῷ τῷ κρατίστῳ δικαιοδότῃ, διαδεχομένῳ καὶ τὰ κατὰ τὴν ἡγεμονίαν. Andrerseits konnte der i. aber auch den διοικητής vertreten (P. Flor. I 89). Der Dioiketes seinerseits vertrat wieder den fehlenden i. (P. Catt. Verso I 1. Wilcken Archiv IV 453). Das Amt des i. ist in nachdiocletianischer Zeit bestehen geblieben (Archiv I 293). Er wird noch in einer Verordnung Iustinians vom J. 531 erwähnt (Cod. Iust. I 4, 30). — Eine Liste der i. gibt Stein Archiv I 445. Vgl. noch BGU I 75 col. II. 240. 245 col. II. BGU IV 1019. 1042. P. Lond. II p. 173. P. Oxy. III 578. VIII 1102. 1146. P. Gen. 74. P. Fayum 203 = P. Cairo Preis. 1. P. Flor. III 335. PSI III 222. An Literatur vgl. noch Mommsen Röm. Gesch. V 567. Marquardt Röm. St.-V. I² 452. Hirschfeld Kaiserl. Verwaltungsbeamte² 350ff. Wenger Rechtshist. Papyrusstudien (Graz 1902) 153. Jouguet La Vie municipale dans l’Égypte romaine (Paris 1911) 189. Jung Wien. Stud. XIV 244. Mitteis Herm. XXX 577. Wilcken Archiv III 378. IV 408.

[1153]
Chronologisches Verzeichnis der iuridici Alexandreae.
Tiberius L. Volusenus L. f. Clemens CIL XI 6011
(† vor Amtsantritt).
Nero … Proculus
iuridicus Alexandreae et Aegypti Lat. Inschr. Journ. of Roman
Studies II 99.
Im J. 87 Umbrius P. Oxy. II 237 col. VII
Hadrian L. Baebius L. f. Iuncinus CIL X 6976.
Hadrian Cn. Cornelius Ti. f. Pulcher IG IV 1600.
Hadrian Iuncus Lat. Inschr. bei Stein Unter-
iuridicus Alexandreae et Aegypti such. zur Gesch. Ägyptens
Stuttgart 1915) 88
Im J. 137/8 ungenannt; höchst wahrscheinlich der Folgende BGU I 5 col. II.
Hadrian/Pius Sex. Cornelius Sex. f. Dexter CIL VIII 8925 und 8934.
ca. im J. 139 Iulius Maximianus P. Catt.
(zu diesem und den Folgenden vgl. P. M. Meyer P. Fayum 203.
Archiv III 104)
ca. im J. 141 Claudius Neocydes BGU I 245, II 378. IV 1019.
P. Fayum 203.
P. Oxy. VIII 1102.
P. Lond. II p. 152.
P. Catt.
April 147 Calpurnianus BGU II 378. P. Fayum 203.
Im J. 147/148 Calvisius Patrophilus Papyrus Rev. arch XXIV 70.
2. Jhdt. Flavius Priamus P. Oxy. III 578.
Marcus …ilius C. f. CIL VI 1564.
Im J. 167 [? Ulbi]us Gaianus BGU I 240.
(vgl. P. M. Meyer Herm. XXXII 226,2)
Im J. 176 C. Caecilius Salvianus BGU I 327.
Zwischen J. 169 und 177 …nus (wohl der Vorige) P. Lond. II p. 173.
Im J. 184 ungenannt BGU I 361 col. II.
2. Jhdt. ungenannt BGU I 75; vgl. Nachtrag.
Anf. 3. Jhdt. Gaius …us P. gen. 4.
Im J. 215/16 Aurelius Antinoos Wessely Stud. zur Palaeogr.
(genannt als Stellvertreter des Praefecten, war II 28.
höchst wahrscheinlich iuridicus, s. P. M. Meyer
Klio VII 126). BGU I 361 col. II.
Gordian/Philippus C. Iulius Priscus CIL VI 1638.
(vgl. v. Domaszewski Rhein. Mus. LIII 159f.). II 28.
3. Jhdt. Flavius Rufus P. Flor. I 89.
Im J. 261. ungenannt P. Leipzig I 57.
3. Jhdt. ungenannt BGU IV 1042.
3. Jhdt. ungenannt P. Gen. 74.
3. Jhdt. ungenannt P. Flor. III 335.
3. Jhdt. ungenannt PSI III 222.
Anf. 4. Jhdt. ungenannt P. Oxy. VIII 1146.
ca. im J. 350. Flavius Gennadius Archiv I 298.

III. Die legati iuridici s. den Art. Legatus.
[Rosenberg.]

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