.
Inhaltsverzeichnis
Quellen.
Überlieferung.
Zeit.
532) C. Iulius Victor heißt ein Rhetor der Spätzeit, dessen Werk, in einer vatikanischen Handschrift des 12. Jhdts. erhalten, zuerst von Angelo Mai (Script. vet. n. coll. I 4 Rom 1823) veröffentlicht wurde; seitdem ist es gedruckt von Orelli in seinem Cicero V 195 und in den Rhetores latini minores von Halm 371. Der Titel lautet: C. Iulii Victoris ars rhetorica Hermagorae, Ciceronis, Quintiliani, Aquili, Marcomanni, Taciani, und mit ihm stimmt die subscriptio. Es ist eine verhältnismäßig umfangreiche Arbeit von ausgesprochen kompilatorischem Charakter, die mit der Bestimmung des officium oratoris beginnt und zunächst bei der Behandlung der inventio eine ausführliche und subtile Statuslehre entwickelt. Darauf folgt die Lehre von den Beweisen, die mit einer Darstellung der loci communes für die Beweisführung anhebt und weiter von den verschiedenen Formen des Beweises, seiner Einleitung und Gliederung handelt. Nun kommen die Teile der Rede: de principiis, de narratione, de egressione, de epilogo, de dispositione, anschließend die Theorie der elocutio, memoria, pronuntiatio, exercitatio. Also ein ganzes System der Rhetorik. Angehängt sind zwei Kapitel: de sermocinatione und de epistolis. Das Werk besitzt schon dadurch eine gewisse Bedeutung, daß es ältere rhetorische Doktrin dem Mittelalter vermittelte; bei der zweifellosen Unselbständigkeit des Verfassers muß die Bestimmung und Abgrenzung seiner Quellen die erste Aufgabe sein.
Quellen. Titel und Subskription nennen in einer durchaus ungewöhnlichen Weise sechs Männer (s. o.), und da wäre prinzipiell zu fragen, ob diese Angabe auf Iulius Victor selbst zurückgeht. Schwerlich entspricht eine solche Angabe im Titel der antiken Gewohnheit; dagegen fällt auf, daß in der ars selbst eine ungenannte Persönlichkeit mehrfach direkt angesprochen wird (374, 30. 33. 375, 34. 376, 19). Man ist versucht zu vermuten, daß Iulius Victor nach Art anderer artes seinem Buche eine Vorrede vorangeschickt hatte, die eine Widmung an jenen Unbekannten und dann wohl eine Übersicht über die benutzten Quellen enthielt; sie mag später entfallen sein, weil sie des praktischen Zwecks entbehrte, aber [873] die Namen des Titels könnten aus ihr stammen. Natürlich ist dies nicht die einzige Möglichkeit, die sechs Namen im Titel zu erklären, und das Wichtigste ist, daß die Probe auf Cicero und Quintilian durchaus stimmt. Die Kenntnis des Hermagoras ist allerdings, wie sich mit einiger Zuversicht behaupten läßt, dem Verfasser nur aus zweiter Hand vermittelt, und wenn er überhaupt Mittelquellen benutzte, so ist die Frage, wie weit er das Bedürfnis verspürte, diese zu nennen, oder ganz allgemein gesprochen, wie weit der, dem wir die Quellenangabe im Titel verdanken, sie nennen wollte oder konnte. Es ist mit antiken Quellenangaben eine eigentümliche Sache, und keineswegs liegt für uns ein Zwang vor, den gesamten Stoff des Werkes auf jene sechs Männer bis ins einzelne zu verteilen. Auf Hermagoras geht bei Victor die Lehre von den Ἀσύστατα zurück; deutlich ist die gemeinsame Grundlage mit Fortunatian, Ps.-Augustinus und den Excerpta rhetorica 586 Halm (s. jetzt die Tabelle bei Schäfer Quaestiones rhetoricae 83ff.) und die Gleichheit der Lehre mit Hermogenes (Münscher o. Bd. VII 46), deutlich dann insbesondere die engere, von Schäfer nicht genügend beachtete Beziehung zu Ps.-Augustin, dessen nahe Verbindung mit der hermagoreischen Lehre als erwiesen gelten darf. Fortunatian (s. Münscher a. O.) hat doch seine Besonderheiten; er nennt eine Art der Asystata (mit Hermogenes) monomeres statt καθ’ ἑτερομερίαν (welchen Namen er wenigstens kennt), er führt ein erläuterndes Beispiel, das Ps.-Augustin und Iulius Victor dem ἄπορον zuweisen, als Illustration der ἀντιστρέφουσα an. Bei der notorischen Unselbständigkeit der jüngeren Theoretiker sind solche Erscheinungen nicht gleichgültig. Daß Marcomannus für alle vier Lateiner in diesem Falle der Vermittler hermagoreischer Lehre war, wie Schäfer annimmt, ist unbeweisbar und nach Lage der Dinge nicht einmal besonders wahrscheinlich. Die Statuslehre erscheint bei Iulius Victor in der Form, daß zunächst das eigentliche System ausführlich vorgetragen wird. Weiterhin wird für jeden einzelnen Status eine besondere Topik entwickelt (385–395); diese divisiones werden von Fall zu Fall mit Hilfe von fingierten Beispielen klargemacht. Nun begegnet das Seltsame, daß das System der Status, wie es von Victor anfangs dargestellt wird, ein anderes ist als jenes, das er den divisiones zugrundelegt. Ohne weiteres ergibt sich dies aus der Tatsache, daß Victor an erster Stelle (380) die qualitas iuridicialis in absoluta (antilepsis) und relativa (antithesis) gliedert, an zweiter Stelle (390f.) dagegen in absoluta und adsumptiva, die adsumptiva selbst in relatio, remotio, compensatio, venia, d. h. er folgt hier dem gleichen System, das wir aus Fortunatian kennen. Wichtig zur Feststellung der Quelle ist die divisio der translatio legalis, wie sie bei Iulius Victor (392f.) gegeben wird: a propositione scripti, ab homonymia, a speciebus quae genere continentur, a fine, ab initio ad finem, a translativa qualitate, a communi qualitate, a coniectura (s. Reuter Herm. XXVIII 101). Sulpitius Victor, indem er die nämliche Teilung vorlegt (Rhet. min. 340, 29ff.), bemerkt ausdrücklich (bes. 341, 27f.), sie sei von Marcomannus [874] bei der translatio, die dieser praescriptio nannte, entwickelt worden; daß Victor von einer translatio legalis redet, mag demnach auffallen, doch zeigt das von ihm beigebrachte Musterbeispiel (392, 33f.) die Terminologie des Marcomannus und entlarvt so den Abschreiber: praescripsit ille … praescripsit dives. Folglich ist in den divisiones statuum bei Iulius Victor Marcomannus zum mindesten benutzt, die Angabe im Titel erfährt eine Bestätigung. Nun hat W. Schäfer (82ff.) mit guten Gründen gezeigt, daß das System der Status im ersten Buche Fortunatians deutliche Beziehungen zu Marcomannus aufweist; dieselbe Lehre wird aber von Iulius Victor seinen divisiones zugrundegelegt mit einer erheblichen Abweichung. Er nimmt die translatio rationalis als Status an und gibt auch von ihr eine divisio, während Fortunatian in Übereinstimmung mit anderen Technikern die translatio rationalis verwirft. Die Differenz ist nicht allzu schwerwiegend; denn es wäre möglich, daß Fortunatian (oder seine Zwischenquelle?, s. u.) sich durch die Anschauungen ihm bekannter Theoretiker bestimmen ließ, in diesem Punkte einen eigenen Weg zu gehen. Daß nämlich Iulius Victor die divisio der translatio rationalis abschrieb und zwar aus der gleichen Quelle, aus der die übrigen divisiones stammen, ist nicht gut zu bezweifeln. Charakteristisch für diese Quelle ist eine Teilung durch drei; sie ist um so bedeutsamer, weil ein anderer Theoretiker, den Iulius Victor benutzte, eine gleiche Neigung für die Zahl vier entwickelt zu haben scheint. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß Fortunatian (im II. Buch) gleichfalls divisiones statuum hat, die sich dabei an seine Statuslehre genau anschließen (Münscher 48), aber eine viel reicher entwickelte Topik bringen als Iulius Victor (Übersicht bei Reuter 93ff.). In Einzelheiten stimmen beide überein; vor allem hat auch Fortunatian bei der translatio die acht τόποι des Marcomannus. Aber in anderen Punkten weicht er erheblich von Victor ab, besonders bei der divisio der wichtigen coniectura. So kommen wir in Schwierigkeiten. Gesetzt, das System der status bei Fortunatian stammt unmittelbar von Marcomannus, so auch wahrscheinlich seine anschließenden divisiones statuum; wie erklären sich alsdann die Abweichungen bei Victor, der notorisch ein Abschreiber war? Es wäre also doch denkbar, daß die einfachere Form der divisiones bei Iulius Victor die echte des Marcomannus ist, während bei Fortunatian eine Erweiterung und weitere Komplizierung vorliegt, die Marcomannus durch irgendeinen Nachfolger erfahren hat. Möglich wäre auch, daß beiden die Kenntnis des Marcomannus erst durch eine Zwischenquelle vermittelt ist. – Wir gehen nun ein auf jenes System der Status, das Iulius Victor vor den divisiones bringt; es ist, wie bereits bemerkt, mit dem der divisiones nicht völlig identisch. Es scheidet vier Status rationales (coniectura, finis, qualitas, translatio) und vier status legales (ambiguitas, collectio, leges contrariae, scriptum et voluntas). Auch sonst tritt Vorliebe für die Vierzahl zutage; es gibt vier Arten der duplex coniectura (377, 6), die qualitas iuridicialis relativa fit per quattuor species (381, 8). Nach [875] allem, was Usener über die Vierzahl in der antiken Technologie gelehrt hat (Kl. Schriften II 265ff.), kann die Absicht nicht verkannt werden. Ein System von vier Status rationales und vier legales wird von Fortunatian (89, 29. 97, 26) höchst wahrscheinlich mit Unrecht dem Hermagoras beigelegt, der nach Quintilian nur die rationales als wirkliche Status gelten ließ, übrigens auch die qualitas vierfach, nicht zweifach, wie Victor, teilte. Vier status rationales und vier legales sind aber schon Quintilian bekannt (III 6, 55. 67ff.), und diese Teilung wird von ihm nach Ausschluß der translatio (removi translationem) akzeptiert. Er macht uns das wichtige Geständnis, er habe früher eine andere Statuslehre gehabt und lange Jahre hindurch vorgetragen; für seinen guten Ruf sei es vielleicht besser, hätte er nichts an seiner Überzeugung geändert, aber auch Hippokrates, Cicero und andere hätten umgelernt (III 6, 63ff.). Der Ausschluß der translatio wird in weitschichtiger Polemik begründet; natürlich weiß er, daß sie bald zu den legales bald zu den rationales (III 6, 78) wie bei Iulius Victor gezählt wurde. Der Gesinnungswechsel, den Quintilian unter so schweren Bedenken vollzog, läßt sich am ersten unter dem Einfluß eines Zeitgenossen begreifen, dessen Lehre Eindruck machte. Wir haben dann weiter in Betracht zu ziehen, daß Victor seine Quellenschriftsteller anscheinend in zeitlicher Ordnung vorführt: Hermagoras, Cicero, Quintilianus, Aquilius, Marcomannus, Tacianus; soweit wir diese Männer sicher bestimmen können, sind sie chronologisch geordnet. Also müßte der Mann, den wir suchen, Aquilius sein und in ihm wäre ein jüngerer Zeitgenosse Quintilians anzunehmen. In der Tat bietet sich der Name eines Mannes, der zum Kreise Domitians gehört, als Redner hervortrat und schriftstellerisch tätig war, Aquilius Regulus, bekannt aus den Erwähnungen Martials und des jüngeren Plinius, der ihn augenscheinlich bitter gehaßt hat (Teuffel-Kroll 326, 3). Wenn Quintilian selber nur ältere rhetorische Schriftsteller seiner Epoche, Verginius, Plinius, Tutilius nennt (III 1, 21), so fügt er doch hinzu: Sunt et hodie clari eiusdem operis auctores, qui si omnia complexi forent, consuluissent labori meo; sed parco nominibus viventium; veniet eorum laudi suum tempus; ad posteros enim virtus durabit, non perveniet invidia. Diese Darlegungen, eine so unsichere! Rechnung sie auch bieten mögen, müssen dennoch davor warnen, den überlieferten Namen Aquili bei Iulius Victor ohne Umstände in Aquilae zu verändern, wobei man bald an den Schriftsteller de figuris bald an einen Neuplatoniker und Kommentator des Hermogenes gedacht hat (Teuffel-Kroll 427, 8). Was die Argumentenlehre Victors anbetrifft, so wird auch hier wenigstens eine Vermutung über die Quellen durch offenbare Ungeschicklichkeit des Schriftstellers möglich. Obgleich er nämlich bereits für jeden einzelnen Status eine Topik entwickelt hat, beginnt er die Lehre von den Argumenten mit neuen, sehr ausführlichen, diesmal allgemein gültigen divisiones (395, 21). So stoßen bei ihm zwei Dinge hart aufeinander, die sich historisch ein jedes für sich entwickelt hatten. Das eine, ältere System ist eine allgemeine Topik der Argumente [876] auf Grund der περιστάσεις, das andere behandelt jeden Status für sich und ist selbstverständlich im Zusammenhang mit der Statuslehre entwickelt. Erst kompilatorische Arbeit kann beide Dinge zusammenwerfen. Iulius Victor hat selbst das Gefühl, daß er des Guten etwas zu viel tue, und deswegen sieht er sich veranlaßt, sein Verfahren zu beschönigen (395, 5ff.); er habe zwar schon zu jedem Status das Passende gesagt, aber es sei ein guter Behelf ad probationis abundantiam, si etiam, ut illi volunt, universos locos in commune traditos teneas. Demnach deutet Iulius Victor selber auf die Verschiedenheit seiner Quellen; wir müssen schließen, daß illi (wie er vorsichtig sagt) nunmehr bei ihm zu Worte kommen, d. h. andere Leute, als denen er die divisiones statuum verdankt. Wenn wir in diesen divisiones wenigstens die Spur des Marcomannus fanden, werden wir jetzt wohl gut tun, ihn aus dem Spiele zu lassen. Nun aber beginnt der Abschnitt mit den Worten (395, 22): artificialium distributio quadripertita est. und dann werden loci ante rem, in re, circa rem, post rem unterschieden. In wichtigen Einzelheiten stimmt Fortunatian, wie zuletzt Schäfer ausführlich darlegte (53ff.), der, um Celsus als Quelle zu erweisen, willkürlich Iulius Severianus und Quintilianus mit hereinbezieht. Wie der Vergleich von Minucian περὶ ἐπιχειρημάτων (Walz IX 605) oder Apsines περὶ ἐνθυμημάτων (285, 9 H.) lehrt, ist das Eigentümliche gerade die obere Teilung in vier Gruppen, die bei Apsines, Minucian, Iulius Severianus u. a. fehlt. Diese Vierteilung aber ist künstlich konstruiert durch Erfindung des locus circa rem; gut und alt, wenn auch sonst nicht gerade auf unseren Fall angewendet, ist eine Dreiteilung: πρᾶγμα, τὰ πρὸ τοῦ πράγματος, τὰ μετὰ τὸ πρᾶγμα (Striller De Stoicorum stud. rhet. 45). Die Urquelle ist griechisch; daher bei Fortunatian Reste griechischer Terminologie. Es berührt merkwürdig, daß hier bei Iulius Victor die Vierzahl wieder erscheint, wie in seiner Lehre von den ἀσύστατα und in seinem System der Status; bei aller Zurückhaltung wird man doch die Möglichkeit ins Auge fassen, daß die Spur einer zusammenhängenden Quelle sichtbar wird, die wohl als eine jüngere Ausbildung des hermagoreischen Systems zu verstehen ist. Schon für Hermagoras hatte die Zahl ,vier’ eine große Bedeutung, und er ist ein unverächtlicher Zeuge dafür, daß die auf die Vierzahl gebaute Schematisierung der Wissenschaft doch wohl älter ist, als Usener in seinem berühmten Aufsatz angenommen hat. Aber, wenn das Schweigen der Älteren etwas bedeutet, so hat er die Topik der Argumente noch nicht unter jene Hauptpunkte gebracht; das mögen jüngere Hermagorei getan haben. Aquilius, auf dessen Namen wir bei der Statuslehre gewiesen wurden, könnte das System den Lateinern vermittelt haben. Im übrigen tritt in der Argumentenlehre Iulius Victors sofort, nachdem die loci communes erledigt sind, die Benutzung Ciceros und Quintilians, von denen bisher nur wenige Spuren begegneten, stark in den Vordergrund, so daß die Abschnitte bis zur Lehre vom Enthymem fast wie ein Cento aus jenen Autoren aussehen. Enthymem und Epicheirem sind nach unbekannten Quellen bearbeitet. Die Grundlage der Theorie [877] ist auch hier griechisch; Beziehungen zur Schule des Neokles und Alexander Numeniu ließen sich aus dem Vergleich von Victor 412, 1 und Walz VII 763, 8 und 20 ableiten. Griechische Autoren (Aristot. rhet B 22 p. 1396 b 24, danach der Anonymus Walz VII 766, 3ff., Maximus Planudes bei Walz V 406, 18) kennen eine Teilung der Enthymeme in ἐλεγκτικά und δεικτικά, wir finden auch vier sog. Schemata des Enthymems, ἀποδεικτικόν, ἐλεγκτικόν, συλλογιστικόν, μικτόν oder ἐπιχειρηματικόν (Walz VII 766, 4, Schule des Neokles nach sonstigen Angaben dieser Quelle?). Die Excerpta Longini (209, 7 H.) endlich bemerken vom Enthymem: γίνεται ἢ δεικτικὸν ἢ ἐλεγκτικὸν ἢ γνωμικὸν ἢ παραδειγματικόν. Die aristotelische Lehre, die der Ausgangspunkt war, ist also in verschiedener Weise erweitert worden. Iulius Victor nennt fünf Formen: elencticon, dicticon, gnomicon, paradigmaticon, syllogisticon. Der Zusammenhang mit den Griechen ist klar, wesentlich jedoch, daß die Quelle die Vorgänger Victors kontaminiert hat, indem sie dem einen das γνωμικόν und παραδειγματικόν, dem anderen das συλλογιστικόν entnahm. Die gleiche Fünfteilung findet sich bei anderen spätlateinischen Theoretikern. Fortunatian (118, 33) hat nur die Namen, Cassiodor (499, 18ff.) und Isidor (511, 35ff.) haben lateinische Terminologie. Die Quelle Victors war nach den Beispielen, die Victor zur Erläuterung anführt, ein lateinischer Theoretiker; daß dieser die Fünfzahl akzeptiert, während er bei den Griechen die Vierzahl fand, verdient Hervorhebung, aber alles übrige bleibt dunkel. Von den Männern, die Victor als Gewährsmänner nennt, sind Aquilius Marcomannus Tacianus mehr oder weniger nur durch Vermutung zu erfassen; sind unsere Anschauungen über diese drei richtig, so sind sie wohl sämtlich älter als der Grieche Longin (über Marcomannus Glöckner Quaest. rhet. 108), andererseits ist ja auch nicht ausgemacht, daß Longin der Urheber der in seinen Exzerpten zu findenden Vierteilung sei, oder daß Victor immer unmittelbar auf die Quellen zurückgehe, die im Titel genannt sind. Nach Lage der Dinge hat es wenig Zweck, den Ursprung von Victors Lehren über das Enthymem bestimmter festlegen zu wollen, als oben geschehen ist. Im letzten Teile seines Werkes tritt die Benutzung Ciceros und Quintilians stets kräftiger in die Erscheinung; nicht alles ist direkt vermittelt (Reuter 122). Zuweilen erkennt man auch deutlich, wie Victor selber Übergänge schafft, um die Fugen zwischen den einzelnen Lappen seines Cento zu verkleistern (bes. 414, 2ff). Aber eine Frage ist von uns überhaupt noch nicht berührt, nämlich ob wir imstande sind, auch von jenem Tacianus eine Spur zu finden, der als Vorlage Victors genannt wird. Ein Rhetor dieses Namens ist unbekannt; die Verwandlung von Taciani in Titiani, die schon von Mai, nachher von Bergk (Rh. Mus, IV 129) empfohlen worden ist, kann vorläufig nur als hingeworfene Vermutung gelten. Nun stehen am Ende von Victors Werk zwei Abhandlungen unbekannter Herkunft, de sermocinatione und de epistolis, die nach Inhalt und Form einen ausgesprochen persönlichen Eindruck erwecken. Die Sprache ist knapp und auf das Volkstümliche [878] und Sentenziöse gestellt, und dem entsprechen auch die Gedanken, die nicht ohne Interesse sind. Gelehrte Gespräche bei Tisch soll man nicht führen, andererseits minime oportet vinum de poculo in mensam instillare idque digitulo diducere in lineas. Wir hören (447, 23) mala ista natio (überliefert satio) in convivio garrula ac per vinum diserta, et bene videas, qui sicci ac sobrii nihil sunt, eos madidos friguttire. Die Lehre, die der Autor vertritt: multum ad sermonis elegantiam conferent comoediae veteres et togatae et tabernariae et Atellanae fabulae et mimofabulae, diese Lehre ist an ihm selber nicht ohne Eindruck vorübergegangen. Vom Nutzen, den veterum exemplorum memoria stiftet, spricht er noch an anderer Stelle (446, 38), er empfiehlt für das Gespräch modica antiquitas (446, 16) und zitiert Cato (448, 3). Kein Wunder also, daß sein Stil an Apuleius erinnert (447, 38): in hoc genere et sententiarum pondera et verborum lumina et figurarum insignia conpendii opera requiruntur. Ist es gestattet, den dunkeln Namen Tacianus in Titianus zu ändern, so liegt nahe, in Titianus nicht den von Hieronymus genannten vir eloquens (Teuffel-Kroll 401, 10), sondern, wie Bergk (129) rein aus Vermutung wollte, vielmehr den Anhänger Frontos, Iulius Titianus (Teuffel-Kroll 364, 4) zu erkennen, von dem eine alte Randnotiz zu Isidor (orig. II 2, 1) zu bezeugen scheint, daß er auch theoretisch über Rhetorik schrieb, und ihm mindestens die Abschnitte über Gespräch und Brief bei Iulius Victor zuzuweisen. Auffallend ist nämlich, daß jener Titianus nach Apoll. Sidon. ep. I 1 gerade als Verfasser von (fingierten) Briefen hervorgetreten ist, wobei ihm Ciceros Briefstil zum Vorbild diente; dazu stimmen sehr gut die wiederholten und sehr speziellen Hinweise auf Cicero in Victors Traktat de epistolis, der auch dort, wo Cicero nicht genannt wird, genaue Kenntnis von Ciceros Art verrät (448, 29: Graece aliquid addere litteris suave est, si id neque intempestive neque crebro facias: et proverbio uti non ignoto percommodum est et versiculo aut parte versus). Es erübrigt endlich, zu bemerken, daß vereinzelte kleinere Partien in Iulius Victors Werk (von dem Abschnitt de partitione an) vorläufig nicht einmal eine Vermutung über bestimmte Quellenbenutzung gestatten; auffallende Übereinstimmungen mit Fortunatian in der Lehre von der σύνθεσις ὀνομάτων wurden schon von Simon notiert (Krit. Beitr. zur Rhet. des C. Ch. Fortunatianus 4) und erklären sich wahrscheinlich durch gemeinsame Vorlage, der eine vorzügliche griechische Tradition zur Verfügung stand. Für andere Zusammenhänge hat Reuter a. O. die Nachweise geliefert; so weist die Lehre von der narratio ἐγκατάσκευος möglicherweise auf indirekte Benutzung des Hermogenes (Reuter 109); einiges wenige bei Victor macht den Eindruck singulärer Tradition. Seinerseits hat Iulius Victor als Quelle für Albinus (Alcuin) gedient (Halm praef. XIII).
Überlieferung. Die Überlieferung beruht auf einer einzigen Handschrift, die sich jetzt im Vatikan befindet (saec. XII). Die Rhetorik Victors hat aber für uns noch deshalb eine besondere Wichtigkeit, weil große Partien aus Cicero und Quintilian manchmal in strenger Wörtlichkeit [879] übernommen worden sind. So gewinnt er für die Textgestaltung namentlich des Quintilian unmittelbaren Wert und gibt Fingerzeige für die Geschichte der Überlieferung der Institutio oratoria, weil eine bestimmte Gruppe von jüngeren Quintilianhandschriften, deren Hauptvortreter der Codex Vallensis ist, in auffallender Weise mit Victor zusammengehen und zwar auch an Stellen, die den Gedanken an eine etwaige Korrektur mit Hilfe einer Victorhandschrift ausschließen dürften (Radermacher Quintiliani inst. or. I praef. VII. Gemeinsame Ausfüllung einer Lücke Inst. or. V 14, 25). So ist der Schluß gegeben, daß jene Handschriften Quintilians auf einer guten alten Überlieferung beruhen.
Zeit. Der Zeit nach dürfte Iulius Victor älter sein als Fortunatian, dessen Systematisierung der Rhetorik bedeutend künstlicher ist. Man pflegt ihn dem 4. Jhdt. n. Chr. zuzuweisen. Vermutungen über die Persönlichkeit entbehren der Grundlage; keine Identifizierung, wie die Bergks 129, läßt sich irgendwie wahrscheinlich machen.
[Radermacher.]
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