.
Iudicium publicum scheint zunächst auf die iudicia populi hinzudeuten (Mommsen R. St.-R. I² 162), andererseits auf Prozesse, die das Volk betreffen (Cic. pro Archia 2,3. Mommsen Röm. Strafrecht 180, 2). Zu diesen würden auch die Streitigkeiten der Gemeinde mit dem einzelnen gehören, die Mommsen R. St.-R. I² 162, 2 iudicia inter populum et privatum oder Administrativsachen nennt und die in älterer Zeit einfach durch Staatszwang (coercitio) erledigt wurden, v. Mayr R. Rechtsgesch., Sammlung Göschen, I 1, 106. Man beschränkte aber den Ausdruck auf die Strafsachen wegen delicta publica, aber nicht wie z. B. Geib Geschichte des röm. Criminalprocesses 1842, 405ff. behauptet, auf alle. Iudicia publica waren vielmehr lediglich die Quästionenprozesse (s. u.), weil bei ihnen die Anklägerrolle jedermann zugänglich war, wie bei den zivilrechtlichen actiones populares die Klägerrolle, Dig. XLVIII 1, 1. Inst. IV 18, 1 (nach Zocco-Rosa Imperatoris Iustiniani Institutionum Palingenesia, Catania, II 384 aus einer unbekannten Quelle entnommen); vgl. auch [2500] R. Leonhard Institutionen des röm. Rechts. 1894, 542. Für diese Gerichtsform gab die Lex Iulia iudiciorum publicorum unter August (Wlassak Röm. Privatgesetze I 167) einen Prozeßgang (ordo), Dig. XLVIII 1, 8 (Mommsen Röm. Strafrecht 193). Daher hießen alle andern strafgerichtlichen Prozeßformen iudicia extraordinaria. Diese bildeten mit den iudicia publica zusammen die Strafprozeßsachen, für die es in Rom einen gemeinsamen Namen noch nicht gab; denn das Wort criminalis ist spät aufgekommen (vgl. criminalis bei Seckel Heumanns Handlexicon zu den Quellen des röm. Rechts⁹) und galt noch nicht als technischer Ausdruck, zu dem es erst in nachrömischer Zeit geworden ist.
Die iudicia publica lassen sich nur im Rahmen einer Darstellung des gesamten römischen Strafprozesses verständlich machen.
Der Ausgangspunkt ist eine scharfe Scheidung der Strafsachen von Privatstreitigkeiten seit der Staatsgründung. Hitzig in Th. Mommsens Fragen zur Rechtsvergleichung 1905, 33. S. Hitzig Art. Crimen o. Bd. IV S. 1712 und Delictum o. Bd. VII S. 2438, auch v. Mayr Röm. Rechtsgesch. (Göschen) I 1, 106. Hier gab es keine schiedsrichterlichen Privatleute, sondern Vertreter der Staatsgewalt, die entschieden: Volksversammlungen, Beamte und später Geschworenenkollegien unter dem Vorsitze eines Magistrats (quaestiones perpetuae).
Bei den Volkssachen müssen die bekannten drei Volksversammlungen unterschieden werden. Neben dem König, den Priestern (Geib a. a. O. 73ff.) und den Hausvätern (s. iudicia domestica unter Iudicium) kamen die Curiatcomitien als Strafrichter nur vor der Errichtung der Centuriatcomitien in Betracht. Hierfür ist der berühmte Horatierprozeß (Liv. I 26) von Bedeutung, dessen Schilderung trotz ihres sagenhaften Charakters immerhin ein Abbild altüberlieferter Rechtszustände ist (vgl. Karlowa Intra pomoerium und extra pomoerium 1896, 17ff. Mommsen R. Strafrecht 155. Hitzig Schweizerische Ztschr. für Strafrecht XIII 210. Girard Organisation judiciaire I 22). Dieser Prozeß bestätigt Cic. de rep. II 31, wonach unter den Königen bereits provocationes ad populum vorkamen (Rubino Untersuch. I 431. 472). Das beweist jedoch nicht, daß schon damals jeder Angeklagte ein Recht auf provocatio hatte. Der Überlieferung zufolge wurde dies Recht erst nach der Vertreibung der Könige durch eine Lex Valeria eingeführt; vgl. Dig. I 2, 2, 16. Dion. V 19, 70. Liv. II 8. X 9. Geib Gesch. d. röm. Criminalpr. 156, 16. Aus der Schilderung des Horatierprozesses ersehen wir, daß der König, wenn er die Verantwortung für einen ihm erwünschten Spruch, der den Angeklagten befreite, nicht übernehmen wollte, die Sache auf das Volk abwälzte, ohne sich dabei einer Abweisung seines Urteils auszusetzen. Er schob dann Beauftragte vor, die duumviri perduellionis, damit sie urteilten. Zugleich gab er gegen ihre Entscheidung eine provocatio ad populum. In derselben Weise entzog sich auch späterhin der Consul einer Berichtigung seiner Ansicht durch das Volk, indem der Quaestor statt seiner den Spruch fällte, [2501] der sodann vom Consul zur Nachprüfung dem Volke vorgelegt wurde (Schulin Geschichte des röm. Rechts 1889, 516). Es ist nicht sicher, ob auch noch nach Servius Tullius die Curiatcomitien Strafgerichtsbarkeit ausübten. So Walter Geschichte des röm. Rechts, Bonn 1840, 82. 532; vgl. Dion. VIII 77.
Die Centuriatcomitien traten wie in der Gesetzgebung, so bei der Strafgerichtsbarkeit an die Stelle der Curiatcomitien. Sie wurden bei Einführung des Provocationsrechts durch die Lex Valeria zur höheren Instanz. Kapitalsachen, d. h. solche, bei denen Tod oder Verbannung drohte (Dig. XLVIII 1, 2), durften nach einigen leges sacratae, die wir nicht näher kennen, und den zwölf Tafeln nur ihnen zur endgültigen Entscheidung vorgelegt werden, Cic. pro Sestio 30. Geib a. a. O. 31. Nur in Fällen politischer Notwehr durfte davon abgegangen werden. Bekanntlich war es im Falle des Catilina streitig, ob Cicero einen solchen voraussetzen durfte; vgl. Geib a. a. O. 38, 29. Cic. pro Sextio c. 34.
Die Tributcomitien erhielten frühe eine Gerichtsbarkeit zum Schutze der unverletzlichen Tribunen, Dion. VI 89. VII 17. Der Verletzer wurde nach einer Lex sacrata homo sacer und konnte als solcher ohne weiteres getötet werden. Außerdem konnten die Tributcomitien ihn sogar mit Kapitalstrafe belegen. Beispiele Liv. II 35. III 13, 58. XXV 4. Dionys. VII 64. X 5. XI 46. Niebuhr R. G. II 325. Geib a. a. O. 35. In den andern Kapitalsachen blieb das Vorrecht der Centuriatcomitien auf endgültige Entscheidung unangetastet. Da die Tributcomitien sogar Gesetzgebungsbefugnisse erlangten, so konnten sie auch – abgesehen von den erwähnten Kapitalsachen – auf Geldstrafen erkennen, und zwar wohl schon sehr frühe, eine Befugnis, die in politisch erregten Zeiten mit Willkür und im Übermaß verwertet wurde, vgl. Geib a. a. O. 37. Mommsen Röm. Strafrecht 156ff.; Röm. St.-R. II 296, und über die sog. Multklage der plebeischen Tribunen oder Aedilen Mommsen Röm. Strafrecht 169. Der Comitialprozeß fiel wahrscheinlich schon mit der Entstehung des Kaisertumes weg (Mommsen Röm. St.-R. III 359ff.; Röm. Strafrecht 476, 8), jedenfalls aber mit dem Verschwinden der Volksversammlungen.
Neben der Volksversammlung hatte der Magistrat Strafbefugnisse, die mehr und mehr durch das Provocationsrecht des Angeklagten beschränkt wurden. Seine Strafgewalt hieß ius gladii oder imperium merum (Dig. II 1, 3), d. h. ein imperium sine iurisdictione, nämlich ohne die Befugnis, bindende Privatrechtsbeziehungen herzustellen (Dig. II 1, 1), da diese im Strafrecht keinen Platz haben. Zweifelhaft ist dabei das Verhältnis der ihm zustehenden poena zu der ihm in gesetzlich bestimmter Höhe gestatteten multa (Mommsen Röm. St.-R. I 148). Multa war sogar bei Volksgerichten mit poena identisch (Liv. III 87. 58. VI 20), und diese Identität behauptet ausdrücklich Labeo. Dig. L 16, 244 Si qua poena est, multa est: si qua multa est poena est. Später freilich wurde beides unterschieden, vgl. Paulus eodem loco. Dig. L 16, 244.
Demnach nimmt man an (vgl. Mommsen Röm. St.-R. I 133ff.), daß multa den Ungehorsam [2502] gegen eine einzelne Verfügung bestrafte (sog. Coercitivstrafe), also mehr Verwaltungsakt als Strafe war, während die poena die Verletzung eines allgemeinen Rechtssatzes ahndete; vgl. Dig. L 16, 131, 1. Gegen poenae in diesem engeren Sinne richtete sich die appellatio der Kaiserzeit und machte die provocatio überflüssig. Bei Coercitivstrafen blieb dagegen die provocatio bestehen, doch ging sie nunmehr an den Kaiser und die von ihm Delegierten, nicht aber an das Volk, vgl. Dig. L 16, 244. Zu beachten ist hier namentlich, daß die provocatio die Prozeßsache vor der Entscheidung der untern Behörde entreißen konnte, die appellatio aber ein Urteil der untern Instanz voraussetzt (s. u.).
Nicht bloß an das Volk und die Beamten (auch die Munizipalbeamten, Geib a. a. O. 238ff.), sondern auch an den Senat konnte eine Strafsache kommen, namentlich, wenn sie einen verwaltungsrechtlichen Charakter hatte, wie die Strafe für die häufigen Ausbeutungen der Provinzen durch ihre Beamten (repetundae). Der Senat mochte dann im einzelnen Falle Kommissionen ernennen. Bei der Häufigkeit des Vergehens schuf eine Lex Calpurnia (605 urbis, Geib a. a. O. 170) ein dauerndes Schwurgericht für dieses Unrecht, die quaestio perpetua, Geschworene unter Leitung eines Beamten, Mommsen Röm. Strafrecht 186ff. Nach Hitzigs Vermutung (Die Herkunft des Schwurgerichts im römischen Strafprozesse, Zürich 1909) dienten hierbei griechische Einrichtungen als Vorbild. Die Prozesse dieser quaestiones perpetuae sind die iudicia publica mit dem ordo der Lex Iulia, der sich nur hinsichtlich der Möglichkeit einer publica accusatio in diesen Straffällen erhielt, im übrigen aber wegfiel, Dig. XLVIII 1, 8, und zwar wahrscheinlich bereits zu Traians Zeit (Geib 896. 397). Seit der Kaiserzeit trat der Kaiser als Strafrichter neben den Senat, er selbst beschränkte sich späterhin auf die Tätigkeit als Appellationsrichter und die Verfolgung höchster Beamten. Außer ihm richteten seine Beamten, s. Princeps und Praefectus, namentlich die praefecti praetorio, urbi, annonae und vigilum, s. Vigiles (Mommsen Röm. Privatrecht 274), vgl. auch Seeck Art. Defensor civitatis o. Bd. IV S. 2366. Kübler Art. Consulares Nr. 1 o. Bd. IV S. 1138), Iuridici und vicarius. In den Provinzen hatten die Statthalter von jeher die Strafgerichtsbarkeit (Mommsen Röm. Strafrecht 229ff.).
Alle Gerichte der kaiserlichen Beamten waren in doppelter Hinsicht extraordinaria. In der Form des Verfahrens setzten sie sich über den ordo der Lex Iulia hinweg, und nach ihrem Inhalte bestraften sie nicht bloß die gesetzlich verpönten Handlungen, sondern auch darüber hinaus die crimina extraordinaria (Dig. XLVII 11), die sich hiernach zu neuen Strafrechtsbegriffen neben den älteren delicta publica gestalteten. Die Zuständigkeit dieser Beamten band sich nicht an die Schranken der älteren magistratischen Strafgerichte.
Statt selbst zu richten, konnten diese Beamten andere beauftragen und somit von ihnen abhängige iudices delegati ernennen, sowie bei [2503] den iudicia privata (s. d.). In der späteren Zeit finden wir bevorzugte Gerichtsstände der Soldaten, Senatoren und höheren Beamten, besonders der Hofbeamten, Mommsen Röm. Strafrecht 286ff. Geib a. a. O. 498ff. Cod. Theod. XVI 2, 12. 23. Nov. 83. Auch für Geistliche kannte schon die heidnische Zeit eine pontifikale Strafgerichtsbarkeit (Mommsen 290), die christliche wenigstens für religiöse Vergehen, Geib a. a. O. 498ff. Cod. Theod. XVI 2, 23. XVI 11, 1. Cod. Iust. I 4, 29. Nov. 83, 1.
Die Einleitung des Prozeßverfahrens konnte bei den iudicia publica nur auf Wunsch eines Anklägers geschehen, den aber auch die Obrigkeit zur Stelle schaffen konnte. Gab es ja sogar ungeachtet der Abneigung gegen Denunzianten (Cic. de off. II 14, 50; pro Rosc. Am. 10, 20) Denuntiationsprämien (Mommsen Röm. Strafrecht 504ff.). Sonst konnte der Beamte aus eigener Kenntnis einschreiten. Die Verfolgung besonders wichtiger Verbrecher wurde ihm sogar an das Herz gelegt, Nov. 128, cap. 21. Walter Röm. Rechtsg. 888. Geib Criminalproceß 515–536. In der Regel gab aber auch hier eine Beschuldigung (delatio) Anlaß zum Einschreiten, s. Accusatio. Die römische Redeweise, wie die deutsche, unterschied nicht genau den bloßen Beschuldiger von dem wahren Ankläger im juristischen Sinne, s. Accusatio. Der Ankläger im technischen Sinne ist eine Prozeßpartei und übernimmt gewisse Pflichten, gegen deren Verletzung sich ein S. C. Turpillianum richtete, Dig. XLVIII 16. Cod. IX 45. Mommsen Röm. Strafrecht 499, 1. Falsche Anschuldigung, geheimes Einverständnis mit dem Gegner und böswillige Zurücknahme der Anklage unterlagen bei ihm der Bestrafung. Ein Anklagerecht besonderer Staatsanwälte gab es nicht. Man könnte mit ihnen höchstens die Quästoren vergleichen, die vor dem Volk eine Anklägerrolle spielten, doch waren auch sie weniger Angreifer, als Verteidiger eines vorher von ihnen gefällten Urteils, eine Erscheinung, die im Verfahren der Gegenwart kein Seitenstück hat. Mit Unrecht wird daher behauptet, daß der römische Prozeß kein Inquisitions-, sondern ein Anklageprozeß war (vgl. namentlich Geib a. a. O. 507ff.). Er war es bloß bei den iudicia publica. Nur darf man nicht die bloßen Beschuldiger mit wahren Anklägern verwechseln (richtig Schulin Gesch. des röm. R. 593).
Die Vorladungen des Angeschuldigten waren im Strafprozesse in der Regel Sache des Magistrats, im Quästionenprozesse aber Sache des Anklägers, Tac. ann. II 79. Schulin a. a. O. 560. Da der Magistrat in allen Fällen (unmittelbar oder mittelbar) eingreifen konnte, so kamen im Strafverfahren die auf die Erntezeiten berechneten Gerichtsferien nicht in Betracht, Dig. II 12, 3 pr., wohl aber die Feiertage, Cod. Theod. II 8, 19. Cod. Iust. III 12, 8. Das Verfahren war hier formloser als das Privatgerichtsverfahren und nur im Quästionenprozeß durch die Lex Iulia geregelt. Die Prozeßfrist der Lex Iulia iudiciorum privatorum kam nicht in Betracht, wohl aber das Ende der Amtsdauer des richtenden Magistrats (Mommsen Röm. Strafrecht 453). Auch beschränkte Iustinian auf [2504] zwei Jahre das vor ihm auf ein Jahr eingeengte Verfahren (Mommsen Röm. Strafrecht 487). Cod. III 1. 13 pr. IX 44, 3. Ein Verfahren, das mit einem Beschluß der Einleitung des Hauptverfahrens endigte, gab es nicht. Wohl aber ging dem Volksgericht ein Verfahren vor dem quaestor voran, das mit einem vorläufigen Urteile des Magistrats abschloß. Auch bei den Quästionen mußte zunächst ein Antrag (postulatio) auf Zulassung zur Anklageerhebung (nominis delatio) gestellt und angenommen werden. Bewarben sich mehrere um die Anklägerrolle, so mußte öffentlich darüber verhandelt werden, wer zu dieser verantwortlichen und wegen Kollusionsgefahr nicht unbedenklichen Rolle zuzulassen war. Dies hieß divinatio, ebenso die Rede des Beschuldigers in ihm, vgl. Cicero divinatio in Caecilium. Man könnte hier von einer bloßen Verdächtigungsrede sprechen im Gegensatze zu der späteren schuldbeweisenden Rede nach erhobener Anklage. Die näheren Bedingungen und Folgen der nominis delatio s. bei Mommsen Röm. Strafrecht 381ff. Geib a. a. O. 542ff.
Dem heutigen Rechte gänzlich fremd und daher für uns schwer verständlich war die Verwendung von Scheinwetten (sponsiones) zu dem Zwecke, über irgend einen Punkt eine Vorentscheidung durch einen Einzelrichter, der über die Wette urteilte, herbeizuführen; vgl. Bekker Die Aktionen des röm. Privatrechts I 249ff. Keller-Wach Röm. Civilproceß⁵ 119ff. § 26. Schulin Geschichte des röm. Rechts 589ff. Dadurch wurde das spätere Hauptverfahren entlastet, weil dann dieser Punkt nicht mehr untersucht zu werden brauchte. So erklärt sich die rätselhafte Wette darüber, wer von zwei Leuten melior (= sittlich zuverlässiger) sei (Gell. XIV 2, 26), eine Frage, von deren Beantwortung die Glaubwürdigkeit widersprechender Angaben abhängig gemacht wurde, auf die es aber auch ankam, wenn unter mehreren Bewerbern um die Anklägerrolle eine Auswahl zu treffen war. Ebenso die Wette des M. Lutatius Pinthias darüber, ob er ein vir bonus sei, d. h. wohl ein gut beleumdeter Mensch, Cic. de off. III 77. Val. Max. VII 2, 4. Keller Semestria ad M. Tullium I 1842 p. 7. Der damals bestellte Richter wollte sich freilich auf eine solche Entscheidung nicht einlassen, doch muß sie als möglich gegolten haben. Noch heutzutage spielt die Frage nach der Unbescholtenheit eines Verdächtigen in Strafsachen eine Rolle und ihre Untersuchung ist oftmals zeitraubend.
Das öffentliche Verfahren kam durch Verlegung in tabularia oder secretaria in Wegfall, Tac. de orator. 39. Nachdem Constantin seine Beobachtung eingeschärft hatte (Cod. Theod. de off. procons. I 12, 1), verschwand es trotzdem, Lyd. de magistrat. III 11. 27. 65. Geib a. a. O. 510. Die schriftliche Aufzeichnung der Verhandlungen wurde üblich. Namentlich bedurfte das Urteil der Schriftform.
Das Hauptverfahren war, wie in Zivilsachen, im wesentlichen formlos. Im Anklageprozesse war der Richter durchaus passiv. Bei den Reden wurde die Wasseruhr (clepsydra) als Zeitbeschränkung verwendet. Neben den patroni erscheinen auch laudatores, Gewährsleute für den [2505] guten Leumund des Beschuldigten (ein ,Charakterzeugnis‘ Mommsen Röm. Strafrecht 441).
Unter den Rechtsmitteln gegen einen Spruch war die provocatio dem Strafverfahren eigentümlich, s. Provocatio. Mommsen bezeichnet sie als die ,Verlegung des Prozesses an eine andere Stelle‘ (Röm. Strafrecht 473, 4. 478) Uralt ist die sog. comitiale Provocation (s. o. gegen ein Magistratsurteil. Diese fiel mit der Volksversammlungen fort. Daneben bildete sich seit der Gracchenzeit eine Provocation gegen die Sprüche der Feldherrn an das Volk, Mommsen a. a. O. 477. Diese erhielt sich, ging aber später an das Kaisergericht, ebenso wie die provocatio gegen eine multa (s. o.).
Die appellatio veränderte in der Kaiserzeit ihren ursprünglichen Charakter. Früher bedeutete sie einen Hilferuf, um eine intercessio d. h. Kassation eines Spruches, zu erlangen. In der Kaiserzeit erlangte der Kaiser nicht bloß als tribunus dies Kassationsrecht, sondern auch als maior potestas ein Entscheidungsrecht, das gleichzeitig mit der Kassation ein neues Urteil ermöglichte.
Die in integrum restitutio war in Strafsachen nicht den Magistraten gegeben, sondern dem Volk, später dem Kaiser als indulgentia (Begnadigung), s. Restitutio.
Ein eigenartiges Rechtsmitel, gerichtet auf Prozeßwiederholung (retractatio), war die gegen Urteile der praef. praetorio gerichtete supplicatio, Cod. Iust. I 19, 5.
Über die Urteilsfällung und Strafvollstreckung s. Mommsen Röm. Strafrecht 435ff. 897ff., auch Sententia und Poena.
Literatur. Geib Geschichte des römischen Criminalprocesses, Leipzig 1842 (woselbst ältere Literatur) und dazu Fritzsche Jahns Jahrb. 1843, XXXVIII 243–293. Mommsen Neue Jen. Literaturzeitung 1844, nr. 62. 63. 65–67. A. W. Zumpt Das Criminalrecht der röm. Republik, 4 Abt., 2 Bde., Berlin 1865. 1868. 1869. Walter Geschichte des Röm. Rechts, Bonn 1840, 853–896. Schulin Lehrbuch der Geschichte des röm. R., Stuttgart 1889 §§ 106ff. S. 505ff. § 115ff. S. 540. 560. 583. 600ff. Mommsen Röm. Strafrecht, Leipzig 1899, 135ff.–487 und dazu H. F. Hitzig Ztschr. f. schweizerisches Strafrecht XIII 202ff; ders. in Mommsens Sammlung zum ältesten Strafrecht der Kulturvölker, Leipzig 1905, 31–52; sowie die Herkunft des Schwurgerichts in römischen Strafprozeß, Zürich 1909. P. F. Girard Histoire de l’Organisation Judiciaire des Romains, Paris 1901, I 104ff. 232ff.
[R. Leonhard.]
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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