11) Ion von Chios, Sohn des Orthomenes mit dem Beinamen Ξοῦθος (Harpokr. s. Ἴων. Suid. s. Ἴων Χῖος), wie einstmals auch der Vater des Eponymos des ionischen Stammes geheißen hatte (‚ein Komikerscherz‘? Diels a. a. O. 285), stand im alexandrinischen Kanon allein mit Achaios neben den drei großen Tragikern, deren Zeitgenosse er war. Eine Monographie über ihn schrieb im Altertum Baton von Sinope, der mit Arat gleichalterig war (s. Athen. X 436 F). Nach seinem eigenen Ausspruch (frg. 4. Plut. Cim. 9) hat I. παντάπασι μειράκιον – gewiß noch nicht zwanzigjährig – in Athen einem Gastmahl beigewohnt, das Laomedon dem Kimon zu Ehren gab und an dem auch Themistokles teilnahm. Kimon erzählt bei dieser Gelegenheit eines seiner Strategeme nach der Einnahme von Sestos und Byzantion (s. Bruns a. a. O. 53f), die frühestens 476/5 erfolgte (s. Busolt Griech. Gesch. III l, 4). Das Gelage aber fand auch nicht wesentlich später statt, da Themistokles nicht verbannt wer, die Folge des Ostrakismos von 474–472. Die Dauer des Aufenthaltes I.s in Athen ist unbekannt, sicherlich aber weilte er in der 82. Olympiade (452/49 v. Chr.) wiederum dort, als er nach Schol. Arist. Pax 835 (= Suid. s. Ἴων) sein erstes Drama aufführte. In eben diese Zeit (vor Ol. 83) weist auch die Weihinschrift IG I 395 '[Ἴ.] ἀνέθηκεν ἄγ[αλμα … τ]ῆι Ἀθηναίηι: das scheint auf einen Sieg zu deuten. In die Zwischenzeit – wenn nicht anläßlich des ersten Aufenthaltes – fällt ein Zusammentreffen mit Aischylos (gest. 456) bei den Isthmischen Spielen (frg. 4. Plut. de prof. in virt. 8), wo der Alte, als einer der Kämpfer von einem wuchtigen Faustschlag getroffen wurde, zu seinem Nachbar I. sagte: ὁρᾷς οἷον ἡ ἄσκησίς ἐστιν· ὁ πεπληγὼς σιωπᾷ, οἱ δὲ θεώμενοι βοῶσι. Nach Korinth weist ein Geständnis I.s in seinen Elegien (frg. 7 B⁴ bei Athen. X 436 F) von seiner Liebe zur Chrysilla, der Tochter des Teleos. Im J. 462 scheint I. in Athen auch die Rede Kimons mitangehört zu haben, durch die Kimon im Gegensatz zu Ephialtes seine Landsleute zur Unterstützung der von den Messeniern und Heloten bedrängten Spartaner auf deren Ansuchen hin (Thuc. I 102) vermochte (frg. 7. Plut. Cim. 16). Die Erstaufführung eines Dramas I.s fällt in die Zeit nach der Aussöhnung des Perikles und Kimon, nach Kimons Rückkehr aus der Verbannung. Damals und auch in der Folgezeit mag I. auch Perikles näher getreten sein, dessen stolze Zurückhaltung ihn abstieß (frg. 5. Plut. Perikl. 5 Ἴ. μοθωνικήν φησι τὴν ὁμιλίαν καὶ ὑπότυφον εἶναι τῦ Περικλέους καὶ ταῖς μεγαλαυχίαις αὐτοῦ πολλὴν ὑπεροψίαν ἀναμεμεῖχθαι καὶ περιφρόνησιν τῶν ἄλλων), während er Kimons Umgänglichkeit und feine Bildung lobte (ἐπαινεῖ τὸ Κίμωνος ἐμμελὲς καὶ ὑγρὸν καὶ μεμουσωμένον ἐν ταῖς περιφοραῖς Plut. a. a. O.). Auch I.s politischer Standpunkt mag sich näher mit dem des Lakonerfreundes Kimon berührt haben (s. u). Über einen freilich nur mutmaßlichen Aufenthalt des I. am Hofe des [1862] Spartanerkönigs Archidamos nach Abschluß des 30jährigen Friedens zwischen 445 und 441 s. u. bei der Erörterung der Elegien. Zur Zeit des samischen Krieges 441/40 weilte I. in Chios‚ wo er im Hause des Hermesileos mit Sophokles, der vom samischen Kriegsschauplatz aus als Stratege mit einigen Schiffen nach Lesbos abkommandiert war, zusammentraf, worüber dann I. in seinen Ἐπιδημίαι ausführlich berichtete, was wir wörtlich bei Athen. XIII 603 Eff. lesen (frg. 1). Die Schilderung I.s vom köstlichen Intermezzo mit dem rotwangigen Mundschenk, dem Sophokles einen Kuß raubt – das Strategem, auf das er sich am besten verstände – analysiert und charakterisiert feinsinnig Bruns a. a. O. 50ff. Hat I. Perikles’ Prahlerei wegen seines Sieges über die Samier (Plut. Per. 28 τοῦ μὲν Ἀγαμέμνονος ἔτεσι δέκα βάρβαρον πόλιν, αὐτοῦ δὲ μησὶν ἐννέα τοὺς πρώτους καὶ δυνατωτάτους Ἰώνων ἑλόντος) mit eigenen Ohren gehört, so ist er auch im vierten Jahrzehnt des 5. Jhdts. in Athen gewesen. Das nächste sichere Datum aus I.s Leben weist in das J. 428, in dem er nach der Didaskalie des Euripideischen Hippolyt im tragischen Agon gegen Euripides und Iophon unterlag s. den Art. Iophon). Als Aristophanes seinen Frieden aufführte (421), war I. gerade verstorben (Pax 835ff., s. u. zu den Dithyrambenfragmenten), so daß sich das Leben I.s durch die Zeit kurz vor 490 bis etwa 422 umgrenzen läßt.
In literarischer Hinsicht war I. ein ungemein vielseitiger und fruchtbarer Autor. Nach Schol. Arist. Pax 835 dichtete er Dithyramben, Tragödien und μέλη, außerdem Komödien, Epigramme, Paiane, Hymnen, Skolien, Enkomien und Elegien, unter seinem Namen ging eine Ktisis, ein Κοσμολογικός, Ὑπομνήματα u. a. m. Harpokration (s. Ἴων) bezeichnet I. als Verfasser zahlreicher μέλη, von Tragödien sowie einer philosophischen Abhandlung des Titels Τριαγμός s. u.), Suid. nennt ihn Tragiker, Lyriker und Philosoph und gibt die Zahl seiner Dramen auf 12 bezw. 30 bezw. 40 an (s. u.). Umstritten war die Echtheit eines Πρεσβευτικός in Prosa (Schol. Arist. Pax 835), fälschlich in Zweifel gezogen der Τριαγμός.
Erhalten sind nur Fragmente auf Grund der indirekten Überlieferung, wodurch bezeugte Buchtitel zum Teil berichtigt und ergänzt werden. Unter den Prosafragmenten nehmen die Auszüge des Plutarch (v. Cim.; v. Pericl.) und Athenaios aus I.s Ἐπιδημίαι‚ welche mit den Ὑπομνήματα der Aristophanesscholien entweder identisch sind oder einen Teil derselben darstellen, den Ehrenplatz ein (frg. 1–9 bei Müller und Phot. Lex. 40, 27R.). Aus der Κτίσις Χίου – so ist Κτίσις Schol. Arist. zu verstehen – haben Pausanias, Athenaios und die Lexikographen einiges ausgehoben (frg. 13–15). Identisch erscheinen auch auf Grund der spärlichen Fragmente Κοσμολογικός und Τριαγμός, ein in den biographischen Notizen nicht genanntes Prosawerk Συνεκδημητικός; (s. u. wäre der Liste beizufügen oder als Buchtitel er Ὑπομνήματα zu verzeichnen, als Gegenstück zu den Ἐπιδημίαι. Spuren von Komödien I.s sind nicht nachweisbar, doch dürfte auf die Satyrspiele verwiesen werden, von denen Ὀμφάλη Σάτυροι namentlich bekannt. Besonders zahlreich sind Auszüge aus Tragödien erhalten, daneben Trümmer von Elegien, Epigrammen [1863] (?), Dithyramben, Mele und eines Hymnos: spurlos untergegangen sind somit die Paiane, Skolien und Enkomien.
An Erfolgen im Tragikeregon hat es I. nicht gefehlt: Schol. Aristoph. Pax 835 bezeugt einen gleichzeitig im Dithyrambos und in der Tragödie errungenen attischen Sieg und knüpft daran die auch bei Athen. I 3 F überlieferte Notiz, daß I. zum Dank für jeden athenischen Bürger einen Krug Chierwein übersandt habe. Den Tod des Dithyrambikers erwähnt Aristophanes im Frieden 835ff, und zwar mit einer Reminiszenz aus I.s Dithyramben, in den Fröschen zitiert er zweimal (706. 1425) Verse aus Tragödien I.s: wiewohl I. bereits lange Jahre tot war, muß das Publikum die Anspielungen verstanden haben. Die Aufnahme in den Tragikerkanon bestätigt das hohe Ansehen, dessen sich I. erfreute: einer der ältesten alexandrinischen Gelehrten, Epigenes, hat Ausdrücke I.s, wenn nicht ein ganzes Werk, interpretiert (Athen. XI 468 C), Kallimachos erwähnte in seinen Choliamben I.s umfangreiche literarische Tätigkeit (Schol. Aristoph. Pax 835), er hat sich angeblich auch mit der Echtheitsfrage des Τριαγμός befaßt (Harpokro s. Ἴων, doch s. u.), in seiner Biographie bezeichnete Baton (s. o.) den I. als φιλοπότης und ἑρωτικώτατος (Athen. X 436 F; vgl. Aelian. var. hist. II 41), offenbar auf Grund der sympotischen Elegien und Dithyramben (s. u.) sowie wegen erotischer Details in den Ἐπιδημίαι und Elegien (s. u.). Kommentare des Aristarch und Didymos zu I.s Dramen, sowie das Urteil des Dionysos oder Longinos περὶ ὕψους werden weiter unten erwähnt. Der Scholiast zu Aristophanes nennt ihn περιβόητος und δόκιμος; Plutarch teilt das Urteil I.s über Perikles nicht: Pericl. 5 Ἴωνα μὲν ὥσπερ τραγικὴν διδασκαλίαν ἀξιοῦντα τὴν ἀρετὴν ἔχειν τι πάντων καὶ σατυρικὸν μέρος ἐῶμεν. Und doch danken wir gerade Plutarch, der die Bedeutung I.s trotzdem würdigte, und Athenaios die meisten ausführlicheren Exzerpte aus I.s Werken, die im übrigen vornehmlich die Lexikographen interessiert haben, wie Pollux und Hesych lehren. Die direkte Benützung der Werke I.s scheint mit dem 3. Jhdt. aufgehört zu haben.
Das bedeutendste Prosawerk I.s waren die Ἐπιδημίαι‚ auch Ὑπομνήματα genannt (oder ein Teil derselben ?), ein Memoirenwerk, ‚Reisebilder‘, in denen I. seine Eindrücke und Erlebnisse bei Begegnungen mit den großen Männern seiner Zeit geschildert hat (vgl. den t. t. Ἐπιδημία für die Erscheinung eines Gottes an einem Orte, und für ‚Reisebilder‘ Rose Ion und Ioannes Alexandrinus, Herm. V 187l, 208). Der Titel begegnet nur bei Athenaios III 93 A. 107 A. XIII 603 E, dasselbe Werk hat fernerhin Plutarch für seine Βίοι des Kimon und Perikles zu Rate gezogen, desgl. de prof. in virt. 8. Über Versuche, nicht ausdrücklich Bezeugtes auf I. in den Plutarchischen Viten zurückzuführen, s. Holzapfel a. a. O. 128ff. Busolt a. O. 6. 2. 7, 1. Vereinzelte Fragmente vermitteln Diog. Laert. II 25 und Phot. a. a. O. (s. o.). Das jüngste aus den Ἐπιδημίαι bezeugte Ereignis ist der erfolgreiche Abschluß der samischen Expedition des Perikles im J. 440 v. Chr.‚ sodaß die Niederschrift frühestens in die dreißiger Jahre des 5. Jhdts. anzusetzen ist. Aischylos und Sophokles, Kimon, Themistokles und Perikles sind [1864] die Männer, über deren Begegnung mit I. die Exzerpte des Athenaios und Plutarch berichten. Nachdem K.–Fr. Hermann (Ind. lect. Marburg 1836, 9, Roscher (Leben, Werk und Zeitalter des Thukyd.‚ Göttingen 1842, 292), Köpke (De hypomnemat. Graec. II 8f.) u. a. über I.s Memoiren ziemlich abfällig geurteilt, hat zuerst Schoell a. a. O. 155ff.) und nach ihm Bruns (a. O. 50ff.) I.s Bedeutung und Können ins rechte Licht gerückt: ohne Prätention und Vorurteil hat I. es unternommen, unmittelbar gewonnene Eindrücke bedeutender Männer seiner Zeit – auch Äußerlichkeiten: Plut. Cim. 5 (über Kimon) ἦν δὲ καὶ ἰδέαν οὐ μεμπτός …, ἄλλα μέγας, οὔλῃ καὶ πολλῇ τριχὶ κομῶν τὴν κεφαλήν – zu fixieren, ihm kam es darauf an, sie als Menschen zu schildern mit ihren Schwächen und Vorzügen: so erscheint Sophokles in dem Hauptstück als der ewig junge geistvolle und schlagfertige Gesellschafter ohne Prüderie und Pedanterie (Athen. XIII 603 E), Aischylos als der abgeklärte feine Beobachter (Plut. de prof. in virt. 8), Kimon als bescheidene, harmonische und einnehmende Persönlichkeit von vollendeten gesellschaftlichen Formen (Plut. Cim. 9). Im Gegensatz zu ihnen schneiden bei I. der finstere Themistokles (Plut. Cim. 9) und renommierende Menschenverächter Perikles (Plut. Pericl. 5. 28) schlecht ab, was der politischen Bedeutung dieser Männer keineswegs Abbruch tut: eine für das Individuelle und rein Menschliche weltgeschichtlicher Persönlichkeiten sich nicht mehr interessierende Zeit ignorierte entweder das Werk I.s oder verurteilte ihn.
Im Titel erinnert an I.s Ἐπιδημίαι der nur einmal bei Pollux onom. II 89 Bethe (frg. 10 M.) erwähnte Συνεκδημητικός, der von gemeinsamem Auswandern handelte: in dieser sicherlich in Prosa abgefaßten Monographie hieß einer σπανοπώγων.
In der Κτίσις Χίου, aus der allein Paus. VII 4, 8 ein umfangreicheres Exzerpt gibt, hat I. nach Art der Logographen die Gründungssagen seiner Heimat behandelt. Daß er dieselbe Materie auch poetisch bearbeitet hat, lehrt ein Pentameter bei Plut. Thes. 20 τήν ποτε Θησείδης ἔκτισεν Οἰνοπίων (s. u.).
Philosophischen Inhalts in Anlehnung an die Pythagoreer war die Prosaschrift Τριαγμός oder Τριαγμοί (Harpokr. s. Ἴων, wo die Pluralform auf Demetrios von Skepsis und Apollonides aus Nikaia zurückgeführt wird. In der Mehrzahl auch Diog. Laert. VIII 8. Clem. Alex. Strom. I 16l p. 222, 6 St. Suid. s. Ὀρφεύς [wo irrtümlich τριασμούς‚ s. Lobeck Aglaophamus 353 b]) ‚Dreikampf‘, aus dem Harpokr. a. a. O. das Fragment zitiert. (H. Diels): ⟨Ἴων Χῖος τάδε λέγει ⟩ (s. auch v. Wilamowitz Herakles I¹ 124. 4) ἀρχὴ δέ μοι τοῦ λόγου· πάντα τρία καὶ οὐδὲν πλέον ἢ ἔλασσον τούτων τῶν τριῶν· ἑνὸς ἑκάστου ἀρετὴ τρίας· σύνεσις καὶ κράτος καὶ τύχη. Zum Anfang ἀρχὴ δὲ (wo noch Lobeck a. a. O. 385 ἥδε gewaltsam änderte) vgl. jetzt auch Kalinka Die pseudoxenophontische Ἀθηναίων Πολιτεία, Leipzig 1913, 85f., der in engerer Anlehnung an die Worte Harpokrations auch die Überschrift Ἴωνος Χίου Τριαγμός in Erwägung zieht. I.s Lehre von einer Urdreiheit, wie sie die Pythagoreer annahmen (s. Aristot. de caelo α 1. 268 a, 10), bestätigt Isokr. antid. 268, daß πῦρ, γῆ und ἀήρ seine Elemente gewesen, [1865] behauptet Philopon. de gen. et corr. S. 207, l8 Vit. Auch Aet. II 25, 11 (A 7 D.)‚ daß I. den Mond als σῶμα τῇ νὲν ὑελοειδὲς διαυγές, τῇ δ’ ἀφεγγές bezeichnet habe, kann auf den Triagmos zurückgehen. Eine Notiz in I.s Triagmos, daß Pythagoras einige seiner Lehren dem Orpheus in den Mund gelegt (frg. 2 D. nach Diog., Clem. Alex. aa. OO.; vgl. Cic. nat. deor. I 38), hat Suidas mißverstanden und das Werk Τριαγμός dem Orpheus zugeschrieben. Auf ein ähnliches Mißverständnis geht Harpokrations Bemerkung (s. Ἴων), Kallimachos habe den Τριαγμός dem Alexandriner Epigenes zugesprochen, zurück, wie aus dem Vergleich mit der Clemensstelle hervorgeht (doch s. auch Susemihl Gesch. d. alex. Lit. I 344f. Diels a. a. O. 287. Cohn o. Bd. VI S. 65, 10ff.). Der im Scholion zu Aristoph. Pax 835 erwähnte Κοσμολογικός darf vom ‚Dreikampf‘ nicht getrennt werden. Nicht fest steht der Titel der Prosaschrift, welche Plut. de fort. Rom. I 316 D (frg. 3 D.) charakterisiert als τὰ καταλογάδην αὐτῷ γεγραμμένα, in denen σοφία und τύχη, so ungleich in ihrem Wesen, so ähnlich in ihren Wirkungen einander gegenüber gestellt werden (desgl. quaest. conviv. VIII 1, 1). Von einem καταλογάδην geschriebenen Werk, betitelt Πρεσβευτικός, bemerkt der Scholiast zu Arist. Pax 835 νόθον ἀξιοῦσιν εἶναί τινες καὶ οὐχὶ αὐτοῦ.
Dem typischen Epitheton ὁ τραγικός entsprechend waren vor allem I.s Tragödien im Altertum Gegenstand philologischer Studien von seiten der Lexikographen und Fundgruben für Verfertiger von Anthologien und Exzerptenliteratur. Nach Suid. s. Ἴων Χῖος schwankte die Zahl seiner Dramen zwischen 12, 30 und 40 (= Schol. Arist. Pax 835), eine Dissonanz, welche Köpke a. a. O. 6. Welcker Griech. Trag. III 946. Schoell a. a. O. 151f. zu beheben versucht haben, indem sie in den drei Zahlen den Niederschlag der in der Alexandrinerzeit tatsächlich erhaltenen Stücke (12), der Tragödien I.s allein (30), der Tragödien und Satyrdramen insgesamt (40) erblickten. Für die Deutung der Zahl 12 mag der Umstand sprechen. daß trotz der Bereicherung der Tragödienfragmente I.s um zehn aus dem Anfang des Photioslexikons kein neuer Titel in die Erscheinung getreten ist, die große Zahl der Satyrspiele hingegen bei nur 30 Tragödien – nichts weist auf Tetralogien hin – bliebe bedenklich. Etwa 80 Fragmente aus neun Tragödien: Ἀγαμέμνων, Ἀλκμήνη, Ἀργεῖοι, Εὐρυτίδαι, Λαέρτης, Μέγα Δρᾶμα, Τεῦκρος, Φοῖνιξ ἢ Καινεύς (so frg. 38ff. Athenaios und Schol. Arist.), bezw. Φοῖνιξ (frg. 36f. Athen. Pollux. Phot. p. 98. 13 R.), bezw. Φοῖνιξ δεύτερος (frg. 42f. Athen. und Hesych), Φρουροί, dem Satyrspiel Ὀμφάλη Σάτυροι und ungenannten Dramen danken wir Aristophanes (frg. 41. 44), Strabon (frg. 18. 66), Plutarch (frg. 54ff.), Philon (frg. 53?), Athenaios (frg. 1. 10. 14. 20ff. 26. 29. 36. 38ff. 42. 45. 50f.)‚ Sextus Empiricus (frg. 63), Stobaios (frg. 2), Choiroboskos [frg 67), den Scholiasten zu Arist. (frg. 5. 33. 41. 44), Euripides (frg. 60f.), Platon (frg. 48), Vergil (frg. 62), sowie Harpokration (frg. 32), Pollux (frg. 7. 15. 25. 30. 37. 59. 64), Hesych (frg. 3. 4. 6. 8f. 11ff. 16f. 19. 31. 34f. 43. 46f. 49. 52. 65. 68), Proklos (chrestom. 460 das Argument zu den Φρουροί?), Photios (frg. 28 + 10 neue [1866] Fragmente aus dem Anfang des Lexikon des Photios, herausg. v. Reitzenstein, Leipzig 1907, und zwar zwei zum Φοῖνιξ S. 47, 16. 98, 13, je eines zur Ἀλκμήνη S. 47, 17, zu den Ἀργεῖοι S. 113, 3, zum Τεῦκρος S. 47, 15, und fünf aus unbekannten Stücken S. 89, 19. 24. 99, 5. 121, 2. 143, 26), Etym. M. (frg. 27), insbesondere also Athenaios, Pollux, Hesychios und Photios, von denen letzterer die Tragödien I.s sicherlich nicht mehr gelesen hat, was auch für Hesych zweifelhaft ist. Das 3. Jhdt. n. Chr. dürften die Dramen I.s kaum überlebt haben; daß hingegen Athenaios und Pollux noch aus eigener Kenntnis schöpften, steht fest. Aristarch kommentierte nach Athen. XIV 634 C das Satyrspiel Ὀμφάλη, den Agamemnon Didymos (Athen. XI 468 D), der in seinem Kommentar zu ἔκπωμα δακτυλωτόν eine Erklärung des alexandrinischen Grammatikers Epigenes anführte (Athen. XI 468 C), ob nach einer Exegese dieses Autors, muß dahingestellt bleiben (s. Cohn o. Bd. VI S. 65, 215.).
Die Rekonstruktion auch nur einer der Tragödien des I., die hauptsächlich dem troischen Sagenkreis entnommen und dem Heraklesmythos, ist infolge der Dürftigkeit der Fragmente ausgeschlossen; nur in großen Zügen liegt vielleicht die Fabel der Φροῦροι vor, welche Welcker Die griech. Trag. III 948 durch Heranziehung des Scholion zu Aristoph. Ran. 1425 ποθεῖ μεν, ἐχθαίρει δέ, βούλεται δ’ ἔχειν – Aristophanes parodiert einen Ausspruch der Helena zu Odysseus σιγᾷ μέν, ἐχθαίρει δέ, βούλεταί γε μήν – in Proklos’ Chrestomathie S. 460 erkannt hat: Ὀδυσσεὺς δὲ αἰκισάμενος ἑαυτὸν κατάσκοπος εἰς Ἴλιον παραγίνεται, καὶ ἀναγνωρισθεὶς ὑφ’ Ἑλένης περὶ τῇςἁλώσεως τῆς πόλεως συντίθεται· κτείνας τε τινὰς τῶν Τρώων ἐπὶ τὰς ναῦς ἀφικνεῖται: im wesentlichen also das, was Helena in der Odyssee IV 242ff. zum besten gibt. Im Satyrspiel Ὀμφάλη wurde der verhängnisvolle Einfluß des orientalischen Harems auf die abgehärteten peloponnesischen Naturburschen geschildert.
Der Autor περὶ ὕψους 33, 5 p. 63, 9ff. V⁴ charakterisiert Bakchylides und I. (den Tragiker) als ἀδιάπτωτοι (unfehlbar, korrekt) καὶ ἐν τῷ γλαφυρῷ πάντη κεκαλλιγραφημένοι (und im zierlichen allenthalben eines schönen Stils sich befleißigend), während Pindar und Sophokles ὁτὲ μὲν οἷον πάντα ἐπιφλέγουσι τῇ φορᾷ, σβέννυνται δ’ ἀλόγως πολλάκις καὶ πίπτουσιν ἀτυχέστατα: mit ihrem Schwung entzünden sie alles, erlahmen aber auf die Dauer oft und fallen ab.
Unter I. des Chiers Elegien nehmen die sympotischen naturgemäß eine hervorragende Stelle ein, aus denen zwei prächtige Ausschnitte – auch dies für den Verfasser des Sophistenmahles eigentlich selbstverständlich – Athen. X 447 D (frg. 1 B⁴) und 463 B. 496 C (frg. 2) überliefert: frg. 1 schildert einleitend in kühnen Bildern das Werden des Weinstocks, alsdann, fast in Rätseln, das Reifen und Spenden des Weins. Mit herzerquickendeμ Übermut bringt er (frg. 2) einen Toast aus auf Landesfürst und seine Genossen, der ausklingt in die Worte: πίνωμεν, παίζωμεν· ἴτω διὰ νυκτὸς ἀοιδή· ὀρχεισθω τις· ἑκὼν δ’ ἄρχε φιλοφροσύνης· ὅντινα δ’ εὐειδὴς μίμνει θήλεια πάρευνος, κεῖνος τῶν ἄλλων κυδρότερον πίεται (s. auch Crusius o. Bd. V S. 2275, 36ff.). [1867] An dieses Elegeion knüpft Köhler a. a. O. eine Episode aus dem Leben des Dichters: I. als Gast bei Archidamos II. von Sparta, und zwar, als Sparta und Athen sich vertrugen, nach Abschluß des 30jährigen Friedens, in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, als auch der Staatsmann Thukydides, des Melesias Sohn, der Gegner des Perikles, als Ostrakisierter in Sparta weilte. Ein von Plutarch vit. Pericl. 8 überliefertes ἀπόφθεγμα des Thukydides über Perikles gelegentlich eines Gespräches mit dem Spartanerkönig möchte Köhler auf I.‚ der als Gast der Unterhaltung lauschte, zurückführen statt auf Stesimbrotos, an den Schmidt Perikles I 273. Holzapfel a. O. 152 dachten. Dahingegen hegt v. Wilamowitz Timotheos’ Perser 75, 1 gegen die Autorschaft des treuen Anhängers Athens, des Chiers I.‚ Bedenken, der Archidamos schwerlich als ἡμέτερος βασιλεὺς σωτήρ τε πατήρ τε apostrophiert haben dürfte. Daher möchte v. Wilamowitz die Verse dem Samier I. zuschreiben, der sie in Asien auf Agesilaos dichtete. Dagegen passen Stimmung dieses Trinkspruches und Einzelheiten sowohl zu Eleg. frg. 1 als zum Dithyrambenfragment 10 (πίνωμεν, παίζωμεν ∼ πίνειν καὶ παίζειν, ἴτω διὰ νυκτὸς ἀοιδή ∼ ἀοῖον ἀεροφοίταν ἀστέρα μείνωμεν), für welche I.s Autorschaft feststeht. Und Sympathien des I. für Sparta verrät auch das tragische Fragment 63 N.² οὐ γὰρ λόγοις Λάκαινα πυργοῦται πόλις, ἀλλ’ εὖτ’ ἂν Ἄρης νεοχμὸς ἐμπέσῃ στρατῷ, βουλὴ μὲν ἄρχει, χεὶρ δ’ ἐπεξεργάζεται, eine Vorliebe, die I. mit seinem Freunde Kimon teilte (Busolt a. O. 5). Erotischen Charakters scheint die Elegie gewesen zu sein, der Athen. X 436 F frg. 7 entnommen. Daß I. auch in Versen die Gründung seiner Heimat Chios besungen, lehrt frg. 6 (aus Plut. vit. Thes. 20); vgl. frg. 5 aus Athen. II 68 B. Daß in des Chiers I. Elegienbuch Fremdes geraten, war längst aus dem Epigramm auf den toten Euripides in der Anth Pal. VII 43 erwiesen. Durch den Fund der Perser des Timotheos, der sich selbst als den Schöpfer der elfsaitigen Leier bekennt (241f.)‚ ist auch das Epigramm auf die ἑνδεκάχορδος λύρα bei Kleonides isag. harm. 12, 202 Jan (frg. 3 B.4. Diels Festschrift für Gomperz 11; Vorsokratiker I³ 288, s. v. Wilamowitz Herm. XXXVII 306; Timotheos’ Perser 75, 1) als frühestens dem 4. Jhdt. angehörig erwiesen. In beiden Fällen aber möchte v. Wilamowitz den Verfassernamen I. schützen: ein Elegiker I. aus Samos, der für das delphische Weihgeschenk des Lysandros nach dem Sieg von 404 spätestens zu Anfang des 4. Jhdts. das Weihepigramm dichtete (s. Homolle Comptes rendus de l’Acad. des inscr. 1901; Arch. Anz. 1902, 18) konnte ebensowohl den Tod des Euripides preisen als die moderne Leier (s. auch v. Wilamowitz Timotheos a. a. O.). Diels a. O. hält auch die Autorschaft des Samiers beim Leierepigramm für ausgeschlossen und das Ganze für eine Fälschung alexandrinischer Zeit. Zweifelhafter Gewähr endlich erscheint Diels (a. a. O. S. 288) das von Diogenes Laertios I 120 aus Duris’ des Samiers Ὧραο geschöpfte Grabepigramm auf Pherekydes und Pythagoras, des I. den Chier zum Verfasser haben soll (frg. 4 B⁴).
Von I.s zahlreichen lyrischen Schöpfungen sind nur spärliche Reste erhalten. Der Scholiast [1868] zu Apoll. Rhod. I 1165 (frg. 11 B.⁴) beruft sich auf Ἴ. ἐν Διθυράμβῳ, daß Aigaion, der Beschützer des Zeus, ein Sohn der Thalassa war, und nach dem Argumentum zur Sophokleischen Antigone (frg. 12 B.⁴) ließ Ἴ. ἐν τοῖς Διθυράμβοις Antigone und Ismene durch den Sohn des Eteokles, Laodamas, im Heiligtum der Hera verbrennen. Zwei von Liebe, Wein und Gelage handelnde Fragmente (9. 10) in lyrischen Rhythmen und dorisch-äolischem Dialekt bei Athen. II 35 E (Ἴ. ὁ Χῖός φησιν) und im Scholion zu Aristoph. Pax 835 (s. auch Diels a. O. 285 Ἴων ὁ Χῖός … ἐποίησε δὲ ᾠδήν, ἧς ἡ ἀρχή) werden gleichfalls seinem Dithyrambenbuch zugeschrieben, das letztere wegen der unmittelbar zuvor (v. 829) von Aristophenes genannten διδυραμβοδιδάσκαλοι, welche Aristophanes wegen ihrer kühnen Phantasie, Wortbildungen und Rhythmen verhöhnte, wofür I.s Ἀοῖος ‚Morgenstern‘ ein Beleg sein sollte, eine Neubildung, mit der er selbst im Jenseits sofort apostrophiert wurde, während ein drittes Bruchstück des Ἴ. ὁ τραγικός bei Philon II 466 (= TGF 53 S. 743 N.²) wegen seines tragischen Inhaltes und der auffallenden metrischen Übereinstimmung mit frg. 41 N.² der Chorpartie einer Tragödie, des Phoinix oder Kaineus, entnommen sein kann. Das frg. 13 B⁴ endlich erledigt sich durch Schwartz Schol. Eur. Andr. 63l [Ἴβυκος ὁ Ῥη]γῖνος.
Einen Ὕμνος εἰς Καιρόν, den jüngsten der Zeussöhne‚ erwähnt Paus. V 14, 9.
Literatur: Bentley Opusc. (Leipzig 178l) 494ff. Köpke Dissertatio de Ionis Chii poetae vita et fragmentis, Berol. 1836. Schöll Rh. Mus. XXXII (1877) 145ff. Holzapfel Untersuchungen über die Darstellung der griech. Gesch. von 489–413, Leipzig 1879, 126ff. Bergk PLG II⁴ 251ff. Hiller-Crusius Anthol. lyr. 125ff. Nauck Frag. trag.² 732ff.; Trag. dict. ind. XXV. Köhler Aus dem Leben des Dichters I., Herm. XXIX (1894) 156ff. Busolt Griech. Geschichte III 1, 4ff. Bruns Das literarische Porträt (Berlin 1896) 50ff. Ferdinandus Allègre De Ione Chio Thesis Paris Leroux 1890 (war mir nicht zugänglich). Christ-Schmid G. d. gr. L.⁶ 390. 458. Diels Vorsokratiker I³ 285ff.
[Diehl.]
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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