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Inhaltsverzeichnis
I. Titel
II. Die Ilias eine Dichtung (ein Kunstwerk). Einteilungen
III. Gesamtzusammenhang der Ilias
IV. Eigenartigkeit des Gesamtzusammenhangs
V. Selbständigkeit der Teile
VI. Dramatischer Charakter der Ilias
VII. Die Homerkritik von Wolf bis heute
VIII Datierung
IX. Quellen der Ilias
X. Geschichtlicher Kern
XI. Textüberlieferung
XII. Handschriften
Ilias.
I. Titel. Ob der Dichter selbst seinem Werke den Titel I. gegeben hat, ist ebenso unsicher wie der Name des Verfassers selbst. Es mag sein, daß er erst mit der Zeit aufgekommen ist; wann und wo und bei was für Leuten das geschehen sein konnte, entzieht sich gleichfalls unserer Kenntnis.
Aber darum darf man noch längst nicht behaupten, es sei sicher, daß der Titel nicht vom Dichter selbst herstamme, wie es bereits Brauch geworden ist (z. B. Christ Gesch. d. griech. Lit.⁵ 29). Einen Grund für diese recht apodiktische Behauptung führt weder Christ an noch sonst jemand anders; sie ist auch wirklich nichts weiter als ein unbewiesenes Postulat bezw. eine Konsequenz der modernen Homerhypothesen. Sie hat eben nur das eine für sich, daß sich auch das positive Gegenteil nicht zweifelsfrei beweisen läßt.
Die moderne Homerkritik geht aber noch weiter. Sie behauptet nicht bloß, daß der Titel weder vom Dichter herstamme, noch überhaupt alt sei, sondern auch, daß er unpassend (Christ a. a. O. sagt: ,nicht ganz passend‘) sei. Doch steht er bereits Herodot. II 116ff. An diese Kritiker wäre zunächst die Frage zu richten, wie denn nach ihrer Meinung die unpassend betitelte Dichtung passend zu betiteln wäre. Die Antwort darauf dürfte schwerer als schwer sein. In Vorschlag ist gebracht worden: Μῆνις Ἀχιλλέως oder Ἀχιλληίς. Zunächst haben beide Bezeichnungen in der Tradition überhaupt keine Stütze; begründen lassen sie sich auch nur aus ganz bestimmten Hypothesen heraus, die heute wohl als überwunden gelten können. Beide Titel setzen gleichermaßen voraus, daß das Achilleische in der I. das Ursprüngliche und alles andere später hinzugekommen sei, womit denn von den Verteidigern dieser Bezeichnungen implicite selbst zugestanden wird, daß sie für die Dichtung, wie sie uns vorliegt, unpassend sein würden. Höchstens ein ,älterer Kern‘, (s. u.) könnte so oder ähnlich betitelt gewesen sein. Für die Μῆνις Ἀχιλλέως beruft man sich auf den Eingangsvers Μῆνιν ἄειδε θεὰ Πηληιάδεω Ἀχιλλῆος, aber man braucht nur unbefangen weiterzulesen, um zu erkennen, daß mit dem Hinweise auf den Zorn des Achilleus nicht der Titel des Werkes gegeben werden soll, auch nicht der Titel eines älteren Kerngedichts.
Das Prooimion, als Ganzes genommen, bezieht sich offenbar weder auf das erste Buch oder einen [1001] Teil des ersten Buches, noch gar auf einen älteren Kern, sondern auf die ganze uns vorliegende Dichtung (Robert Studien zur Ilias 213 sagt: daß das Prooimion nicht zur Urilias gehört, betrachte ich als selbstverständlich und keines Beweises bedürftig usw.). Leider hat man durch gewaltsame Interpretation oder Verstümmelung (nämlich durch Ausmerzung von Α 4 und 5; vgl. Schol. zu Α 4f.) desselben den einfachen Sachverhalt häufig auf den Kopf gestellt. Im Mittelpunkte dieser Interpretationsversuche steht der Halbvers Διὸς δ’ ἐτελείετο βουλή (Α 5 b). Man stößt ihn völlig aus unter Berufung auf Zenodotos oder übersetzt: vollendet wurde ein Ratschluß des Zeus und fragt nun, was das für ein Ratschluß gewesen sei, der, die Erde zu entvölkern, wie die Kyprien bewußt umdeuteten (vgl. Schol. zu Α 5f.), oder der, daß die beiden Helden, Agamemnon und Achilleus, in Streit geraten sollten? Oder man meint, der Ratschluß des Zeus sei die εἱμαρμένη überhaupt. Und doch ist kein Zweifel, daß der Ρatschluß des Zeus gemeint ist, der Ratschluß, welcher in unserer I. im Mittelpunkte des Geschehens steht, der, von dem Zorn des Achilleus ausgehend und auf ihn sich immer beziehend, den Faden bildet, durch welchen der Dichter das Ganze zusammenhält: der Ratschluß des Zeus, die Troer siegen zu lassen, bis dem Achilleus volles Genüge seitens des Agamemnon geleistet worden sei (s. Mülder Die Ilias u. i. Qu. 1910, 121ff.; Jahresber. CLVII 212ff.). Andererseits benutzt man wohl auch die beanstandeten beiden Verse zu dem Beweise, daß Ω jung und ein Ersatz für einen älteren weniger versöhnlichen Schluß der I. sei. In jener älteren I. sei der Leichnam des Hektor der Ankündigung dieser beiden Verse entsprechend wirklich den Hunden und Raubvögeln preisgegeben worden (Helbig Der Schluß des äolischen Epos vom Zorne des Achill, Rh. Mus. 1900, 55–61).
I. bedeutet eine Dichtung, in deren Mittelpunkt Ilios steht; nicht mehr. Aber man denkt bei dieser Bezeichnung gar zu leicht an ein Werk, in welchem der Hauptton auf dem Schicksal von Ilios liegt, und erwartet von einer I. eine wirkliche und vollständige Geschichte von Ilios. Man schreibt ihr eben sehr viel mehr geschichtlichen Charakter zu, als der Titel verlangt. Da nun in der I. nur oin geringer Teil der vermeintlich historischen Begebenheiten des troianischen Krieges, vor allem nicht der Abschluß des Ganzen, die Eroberung von Ilios, geschildert wird, man aber von einem ,Ilias‘ betitelten Buche so etwas erwarten zu müssen glaubt, so will man unser Werk höchstens als Ausschnitt aus einer ursprünglich vollständigeren I. gelten lassen. Diese vollständigere I., eine ab-ovo-Ilias, wie man wohl sagt, kann man sich verschieden vorstellen, gemeiniglich denkt man an einen gewaltigen Vorrat troischer Einzellieder, in denen jede Episode des Krieges von dem ersten Ursprung bis an sein alleräußerstes Ende wiederholt behandelt war. Sieht man jedoch, wie es sich gehört, in der I. nichts ab eine Dichtung, die Phantasieschöpfung eines einzelnen, so ist ein ganz wesentliches Stück der dichterischen Leistung dieses Mannes darin zu sehen, daß er alle seine Figuren auf einen und denselben Schauplatz – eben nach Ilios – versetzt hat, auf dem sie nun in Bezug auf eben [1002] dies Ilios zu einer und derselben Zeit aus einem und demselben Grunde und zu demselben Zwecke handeln, leiden (und reden). Wenn man also von der an und für sich sehr wahrscheinlichen Annahme ausgeht, daß die Einheitlichkeit der Zeit, des Ortes und der Handlung nicht von der Tradition hergegeben, sondern durch dichterische Kunst geschaffen ist, so bezeichnet der Titel ,Ilias‘ nicht bloß treffend, sondern so einzig das Wesentliche dieser Leistung, daß man den Dichter selbst für ihn in Anspruch nehmen möchte. So angesehen bezeichnet der Titel I. also eine Dichtung, in welcher Ilios der Schauplatz einer nach Ursache und Zweck einheitlichen und gleichzeitigen auf Ilios bezüglichen Handlung ist; je bunter und gegensätzlicher die in der Überlieferung dargebotenen und erst durch den Dichter vereinigten Figuren und Handlungseinzelheiten vor dieser ihrer Zusammenfassung waren, desto höher muß die künstlerische Leistung der Vereinigung bewertet werden, desto bedeutungsvoller und zutreffender der Titel I. erscheinen.
II. Die Ilias eine Dichtung (ein Kunstwerk). Einteilungen. Diese Ansicht von der I. als einem reinen Werke der Kunst schließt den Gedanken, der troische Krieg sei eine geschichtliche Tatsache, unbedingt aus. Sie schließt ferner den Gedanken aus, es habe vor ihr Lieder oder Dichtungen gegeben, die den troischen Krieg oder Teile desselben zum Gegenstande hatten. Der Kampf des verbündeten Hellas gegen Ilios, der Kriegsgrund und der Grund der Verbündung, die Versammlung der Teilnehmer in Aulis, der Oberbefehl Agamemnons und alle in der I. berichteten Kämpfe und sonstigen Vorgänge vor und um Ilios sind rein dichterische Erfindungen und niemals wirklich gewesen. Es kann deshalb weder die I. als Ganzes noch irgend ein Abschnitt, Teil oder Buch derselben auf ältere Einzellieder aus dem troischen Sagenkreise zurückgehen. Einen troischen Sagenkreis hat es vor der I. überhaupt noch nicht gegeben; dieser ist erst durch die I. begründet worden.
Wenn der Inhalt der I. nicht tatsächlich ist, so ist auch offenbar, daß es nicht des Dichters Absicht gewesen sein kann, Tatsachen zu erzählen oder zu besingen. Es darf demnach auch nicht etwa bloß als eine bemerkenswerte Äußerlichkeit angesehen werden, daß der Dichter nicht den ganzen troianischen Krieg, sondern nur eine Episode desselben, nämlich eine Handlung von 51 Tagen, besinge, es ist vielmehr ein wesentliches Merkmal des dichterischen Kunstwerks I., daß der weitere geschichtsähnliche Hintergrund der knappen dramatischen Handlung nicht mehr, als zum Verständnisse irgend nötig, ausgemalt wird. Es ist eigentlich schon eine Verkennung des Kunstwerks und entspricht dem Glauben an geschichtliche Vorgänge, wenn man seine Handlung nach Tagen einteilt (Tageberechnungen bei Lachmann Betrachtungen über Homers Ilias 90. Bergk Kl. Schr. II 409ff.; in der I.-Ausgabe von Ameis-Hentze. Die Nebensächlichkeit der Tagangaben und -berechnungen erweist A. Gemoll, Progr. Wohlau 1879, 22–25). Das umfangreiche Werk wird (wie die Odyssee) in 24 Bücher eingeteilt, die fortlaufend nach den 24 Buchstaben des griechischen Alphabets bezeichnet werden. Die Wiederkehr [1003] der Zahl 24 und die Übereinstimmung mit der Buchstabenzahl des griechischen Alphabets weist darauf hin, daß bei der Bucheinteilung kein künstlerisches Bedürfnis, sondern nur das philologische genauesten Zitierens vorgewaltet hat. Es ist darum sehr wahrscheinlich, daß sie alexandrinischen Ursprungs ist.
Daneben gibt es eine ältere Einteilungsweise: Überschriften von der äußersten Sparsamkeit und Kürze. Nach diesen zitieren die griechischen Schriftsteller (die älteste Stelle Herodot. II 116 ἐν τῇ Ἰλιάδι - ἐν τῇ Διομήδους ἀριστείῃ), indem sie, wo es not tut, die gemeinten Verse durch einen sachlichen überschriftlichen Zusatz leichter auffindbar machen (z. B. Ἀγαμέμνων ὁρκίζων ἐν τῇ μονομαχίᾳ (Γ) Aristot. 1502 b 31; manchmal wird auch die Überschrift als selbstverständlich weggelassen (Πάτροκλος ἐν τῷ ἀναιρεῖσθαι προαγορεύων περὶ τῆς Ἕκτορος ἀναιρέσεως = Π 852ff. Aristot. 1476 a). Einige Überschriften sind zusammengestellt bei Aelian. var. hist. XIII, der ebenda auch bezeugt: τὰ Ὁμήρου ἔπη πρότερον διῃρημένα ᾖδον οἱ παλαιοί. Solche Teilstücke der Dichtung nennt Aristoteles ἐπεισόδια und nennt als Beispiel für ein solches ἐπεισόδιον den Κατάλογος νεῶν (περὶ ποιητικῆς 1459 a, 36). Leider sehen wir bezüglich dieser Überschriften keineswegs klar. So ist das Zitat des Herod. ἐν τῇ Διομήδους ἀριστείῃ für uns falsch; die zitierte Stelle steht nämlich Z 289ff. Ist das nun ein Versehen des Schriftstellers, oder waren die Szenengrenzen so flüssig, wie es hiernach scheinen möchte? Warum hat ferner die zweite Hälfte des Β einen Doppeltitel: Βοιώτεια ἢ κατάλογος νεῶν? Thuk. I 9 zitiert aus Β ἐν τοῦ σκήπτρου τῇ παραδόσει, Aristot. π. τ. ζῷα ἴστ. I c 32 eine Stelle aus den Ἕκτορος λύτρα als ἐν τῇ τοῦ Πριάμου ἐξόδῳ: ist das ein fester Nebentitel bezw. Untertitel der λύτρα oder ist die Bezeichnung von Aristoteles für den besonderen Fall geprägt, um die Stelle innerhalb der λύτρα genauer zu bezeichnen? Sind die Λιταί identisch mit der Πρεσβεία πρὸς Ἀχιλλέα wenn nicht, wie sind die Λιταί innerhalb der Πρεσβεία abzugrenzen? usw. Kurz, es fehlt uns die Möglichkeit zwischen alten Szenentiteln (solche scheinen z. B. διάπεια, κόλος μάχη, Θεομαχία, μάχη παραποτάμιος, Μενελάου ἀριστεία zu sein, vgl. v. Wilamowitz Über das Θ der Ilias S. 372. 388; dazu Mülder Jahresber. CLXI 74, auch unten III Anm. 50) sicher zu unterscheiden; es fehlt uns auch oft die Möglichkeit, Anfang und Ende einer so oder so betitelten Szene bestimmt zu bezeichnen. Es hat aber doch den Anschein, als ob die Alexandriner bei der Einteilung in 24 Bücher nach Möglichkeit Rücksicht genommen hätten auf Szenenanfänge und -Schlüsse; fallen doch Buch- und Szenenanfänge, Buch- und Szenenschlüsse gewöhnlich zusammen. So taucht gleich die prinzipielle Frage auf: wie verhält sich das Ganze zu den Teilen und wie die Teile zum Ganzen?
Grundlage jeder Diskussion über die I. sollte eine wirklich wissenschaftliche Texterklärung sein. Wie unzulänglich diese noch immer ist, zeigen die kommentierten Ausgaben (s. u.), die über der Jagd nach Kompositionsfugen und Realien die großen Zusammenhänge aus den Augen verlieren oder mißdeuten, zeigen auch die Inhaltsangaben (von Neueren geben solche: O. Jaeger Homer [1004] u. Horaz im Gymnasialunterricht 1905. Finsler Homer 1908. Rothe Die Ilias als Dichtung 1910). Ich gebe deshalb, vorab (III) eine knappe Darstellung des Gesamtzusammenhangs, deren Notwendigkeit ein Vergleich mit Fr. A. Wolfs Summaria klarmachen kann, die auch der neueste Herausgeber (Ludwich) noch wieder abdruckt. Sie ist bestimmt, die künstlerische Einheitlichkeit der Dichtung sicher zu stellen. Der nächste Abschnitt soll die Eigenartigkeit dieser künstlerischen Einheitlichkeit beleuchten und so erklären, warum sie so oft verkannt wird (IV). Dem gleichen Zwecke dient Abschnitt V: über die Selbständigkeit der Einzelszenen. In den Anmerkungen zu III gebe ich eine Nachweisung der hauptsächlichsten und folgenreichsten Verkennungen der dichterischen Zusammenhänge in der I. Die Skizze beschließt eine Betrachtung über den dramatischen Charakter der Dichtung (VI).
III. Gesamtzusammenhang der Ilias (unter Bezugnahme auf die Überschriften). Ein verbündetes[1] Griechenheer, das im Interesse der Atriden[2] (Α 158) unter Führung Agamemnons [1005] übers Meer gekommen ist (Α 71) und gegen Ilios (Α 71), die Stadt, und die Troer, das Volk des Priamos und seiner Söhne, schon lange Zeit (Α 125) im Felde steht, wird durch den Ausbruch einer Pest (λοιμός) lahmgelegt (Α 59–61). Dieser Zustand lastet am schwersten auf Achilleus. Er beruft unter Mißachtung der Rechte des Oberbefehlshabers[3] eine Heeresversammlung, in welcher er diesen heftig angreift. Tatsächlich hatte nämlich Agamemnon dem Apollon dadurch Anlaß zum Zorn gegeben, daß er die Lösung der Chryseis, einer Tochter des Apollonpriesters Chryses, seines Ehrenanteils an der bisherigen Beute, ihrem Vater verweigert hatte. Über die schnöde Abweisung seines Priesters erzürnt und durch dessen Gebet zu Hilfe gerufen, hatte Apollon die Pest ausbrechen lassen. Diesen Zusammenhang deckt der Heeresprophet Kalchas, geschützt von Achilleus und im Einvernehmen mit diesem, auf. Agamemnon kann nicht wohl anders als sich fügen, er sagt die Rückgabe des Mädchens zu. Aber um den aufsässigen Achilleus zu ducken[4], verlangt er Ersatz für den Verlust seines Ehrenanteils, und zwar eben des Achilleus Ehrenanteil, die Briseis. Das formale Recht dazu kann nun jener wieder dem Oberbefehlshaber nicht wohl bestreiten. Um so heftiger betont er die Unbilligkeit dieser Forderung. Bestehe der König auf ihr, so sehe er seinerseits das Bundesverhältnis als gebrochen an und werde nach Phthia, seiner Heimat, zurückkehren. [1006] Dieser Drohung begegnet Agamemnon mit derartigem Hohne, daß nun der Pelide von blutiger Gewalttat nur durch das Eingreifen der Athene abgehalten wird (Deus ex machina s. Abschn. IV). Aber in rasendem Zorne (μῆκις), der seiner Beschaffenheit nach dem Zürnenden selbst verhängnisvoll werden muß, hebt er jede Gemeinschaft mit Agamemnon, mit der atridischen Sache und dem ganzen Griechenheer auf. Einen Vermittlungsversuch als objektiver Dritter macht Nestor. Achilleus soll anerkennen, daß er sich dem Befehlshaber unterzuordnen habe, dafür solle ihm jener das Mädchen lassen (Α 275ff.)[5]. Da es sich für den Agamemnon tatsächlich um diese Machtfrage handelt, so erklärt er sich bereit, diesen Vorschlag anzunehmen (Α 286), doch nun erklärt Achilleus gleichfalls in Anerkennung dessen, worum es sich handelt: ,Was schiert mich schließlich das Mädchen (Α 298), mag er’s nehmen, wenn er will. Aber dem Menschen mich unterzuordnen, fällt mir gar nicht ein‘ (Α 294ff.). So kann Agamemnon das Mädchen nehmen, dem weit überlegenen Gegner zum Trotz und doch ohne dessen Gegenwehr (vgl. Abschn. IV). Doch hält die Ruhmbegierde in Achilleus den Wunsch wach, trotz der erlittenen Ehrenkränkung zu bleiben. Dies Bleiben ermöglicht ihm ein auf seinen Wunsch[6] von der Thetis dem Vater Zeus abgedrungener Schicksalsschluß (Διὸς βουλή), vgl. Prooimion (Α )5 b): die Griechen sollen unterliegen, bis dem Achilleus volle Genugtuung geleistet ist[7]. (Episode: Rückführung der Chryseis) [8].
[1007] Β. Dazu bedarf es des sowieso durch den Plan der Dichtung verlangten Beginnes der militärischen Handlung. Das Zusammentreffen der feindlichen Heere hätte sich dadurch erreichen lassen, daß der Dichter die Ilier zum Angriff gegen die durch den Zwiespalt geschwächten und entmutigten Griechen hätte vorgehen lassen [9]. Da er aber Offensive der Griechen will (vgl. Abschn. V), so sendet Zeus dem Agamemnon einen betörenden Traum (ὄνειρος), der ihm der Lage der Dinge zuwider (Deus es machina vgl. Abschn. IV) Erfolg gerade an jenem Tage verheißt. Agamemnon läßt sich nur zu gern betören, da er von dem Wunsche beherrscht wird zu zeigen, daß er auch ohne Achilleus fertig werden kann (Α 174ff.). Aber da die Mannschaft entmutigt sein wird, muß man [1008] sie aufstacheln. Das geschieht in einer allgemeinen Heeresversammlung, nachdem vorher die Rollen in einer Gerontenversammlung schlau verteilt sind. Agamemnon schlägt der Volksstimmung entsprechend Verzicht auf das ganze kriegerische Unternehmen und Abzug in die Heimat in der Weise vor, daß er selbst dem Odysseus die zur Widerlegung und Anfeuerung verwendbaren Stichworte [10] liefert (διάπειρα). Der Plan gelingt (Thersitesepisode). Der Angriff auf Ilios wird mit Begeisterung beschlossen. An das Ausrücken schließt sich eine Übersicht über das griechische Heer und seine Führer (Βοιώτεια ἢ κατάλογος νεῶν) [11], dann über das troische und [1009] dessen Führer (siehe unter Exposition Abschn. VI) [12].
Γ. Schon beginnt der Kampf[13] da macht Hektοr den Vorschlag, die beiden Gegner, Paris (Alexandros) und Menelaos, sollen um den Streitgegenstand, um Helena, einen Einzelkampf ausfechten, die Völker sich aber vertragen. Der Vorschlag wird angenommen, der Vertrag feierlich geschlossen (ὅρκοι) [14]. Die Vorgänge finden statt [1010] unter den Mauern von Ilios vor den Augen seiner Bewohner, auch Helenas (Τειχοσκοπία s. Exposition Abschn. VI). Der Zweikampf findet statt; zwar siegt Menelaos, aber Paris bleibt am Leben (Deus ex machina, s. Abschn. IV), (Πάριδος καὶ Μενελάου μονομαχία). Episode Thalamosszene [15].
Δ. (vgl. Mülder N. Jahrb. 1904, 635. v. Wilamowitz Herm. XXXVIII 585. Finsler Herm. XL 426). Die durch den Ausgang des Zweikampfes schon stark in Frage gestellte Friedensaussicht [16] wird durch einen törichten (Deus ex machina) und verräterischen Schuß des Pandaros auf Menelaos endgültig [17] beseitigt (ὁρκίων σύγχυσις). Die Troer rücken an, und während sich die griechischen Truppenteile ordnen, feuert Agamemnon die Führer derselben der Reihe nach an [18] (Ἀγαμέμνονος ἐπιπώλησις).
E. (Lillge Komposition und poetische Technik der Διομήδους ἀριστεία, Gotha 1911) Szenen aus der ersten großen Schlacht [19], besonders Heldentaten des Diomedes (Διομήδους ἀριστεία), darunter Bestrafung des eidbrüchigen Pandaros, Bestrafung der Aphrodite durch eine Verwundung, Verwundung des Ares. (Episode Sarpedon-Tlepolemos 471–496. 628–698).
Ζ. (Bethe Ber. Sächs. Ges. d. Wiss. 1909). Die Bedrängnis der Troer wird groß [20]; da veranlaßt den
1011 Hektor sein Bruder Helenos in die Stadt zurückzukehren und eine Prozession zum Tempel der Stadtgöttin Athena zu veranstalten. Das geschieht (Glaukosepisode)[21], und auf dem Rückwege zum Schlachtfeld trifft Hektor mit seiner Gattin Andromache zusammen (Ἕκτορος καὶ Ἀνδρομάχης ὁμιλία). Hektor kehrt auf das Schlachtfeld zurück zusammen mit Paris, der sich seit dem Zweikampf zu Hause gehalten hatte, und greift erfolgreich in den Kampf ein.
Η. (W. Deecke De Hectoris et Aiacis certamine, Göttingen 1906). Auf Verabredung der Athene und des Apollon, deren Gespräch Helenos vernimmt und in einen Rat an Hektor umsetzt (Deus ex machina), fordert letzterer den Tapfersten unter den griechischen Fürsten zum Zweikampf heraus (Ἕκτορος καὶ Αἴαντος μονομαχία)[22]. Dieser bleibt unentschieden (Kunst des Dichters). Nun wird auf beiden Seiten das Ergebnis der bisherigen Kämpfe überlegt: auf griechischer Seite beschließt man in Verbindung mit der Bestattung der Gefallenen (es scheint das als List gemeint zu sein: um die Aufmerksamkeit der Troer abzulenken)[23] ein befestigtes Lager zum Schutze für die Schiffe und das Heer zu bauen, auf troischer [1012] den Griechen einen Waffenstillstand anzubieten zur Bestattung der Toten. Einen noch weitergehenden Vorschlag der Troer weist man stolz zurück, den Waffenstillstand nimmt man an – um jenes Zwecks willen (νεκρῶν ἀναίρεσις).
Θ. (v. Wilamowitz S.-Ber. Akad. Berl. 1910. de Sanctis Riv. Fil. 1904, 42). Mit der Bestattung der Toten hat die erste Schlacht, welche eben durch diesen Abschluß als eine vollständige Schlacht[24] sich darstellt, ihr Ende erreicht; das Ergebnis ist nicht ganz so[25], wie es dem Ratschluß des Zeus entsprochen hätte. Um diesen vollständiger durchzusetzen, verbietet Zeus allen Göttern weitere tätliche Teilnahme [26] am Kampfe und nimmt die Leitung der Sache energisch in die Hand, indem er sich persönlich in die Nähe des Kampfplatzes auf einen Gipfel des Idagebirges begibt (Schicksalswage)[27]. Durch Eingreifen mit Blitz und Donner verschafft er den Troern schnell die Oberhand. Von seiner Absicht jedoch, die Griechen so glimpflich zu behandeln, wie es sich mit seinem Ratschluß eben verträgt, bringt ihn die Widersetzlichkeit der Hera und Athene ab, die trotz seines entschiedenen Verbots[28] zu Gunsten [1013] der Griechen tätlich in den Kampf einzugreifen versuchen. Zeus tritt ihnen energisch entgegen und verkündet jetzt gereizt die Absicht, die Griechen stärker zu schädigen. Den Kampf unterbricht die Nacht (κόλος μάχη unterbrochene Schlacht im Gegensatz zu der ersten vollständigen, welche mit Rückzug der Troer in die Stadt, Verschanzung der Griechen und Totenbestattung endet). Jetzt biwakieren sie auf dem Schlachtfelde, entschlossen, die Griechen an dem zu erwartenden Abzuge zu hindern[29].
Ι. Auch die Griechen sind sich bewußt, daß sie unterlegen sind. Agamemnon schlägt unrühmlichen Abzug vor. Dem Vorschlage widerspricht heftig Diomedes, allgemeine Billigung seiner Worte beseitigt ihn. Es werden Vorposten ausgestellt, und in einer Gerontenversammlung wird beraten, was nach Beseitigung des Abzugsgedankens zu tun sei. Da Agamemnon gewitzigt ist, so erklärt er sich zur Versöhnung mit Achilleus bereit. Eine Gesandtschaft, bestehend aus Odysseus und Aias, soll das Versöhnungsangebot des Königs überbringen: Rückgabe der Briseis, reiche Geschenke und das Anerbieten, die Tochter des Agamemnon zu heiraten. Aber dabei bleibt Agamemnon: seinem Oberkommando fügen muß sich Achilleus[30]. Als Einführer der Gesandtschaft[31] geht dessen Pflegevater [1014] Phoinix, der sich eigens zu diesem Zwecke bei Agamemnon befinden muß, mit. Volles Vertrauen zum Gelingen bat man nicht[32]. Ausdrücklich bittet Nestor, die Sache doch ja recht diplomatisch anzufassen[33] (πρεσβεία πρὸς Ἀχιλλέα). Trotz der sehr diplomatischen Rede des Odysseus[34] weist Achilleus das Versöhnungsangebot ab, er traut dem Frieden nicht; Agamemnon ist längst nicht genug gedemütigt: er will sich nicht von ihm übers Ohr hauen lassen. Phoinix unterstützt den Antrag der Gesandten durch dringliche Bitten (Λιταί) (Episode: Meleagersage[35]. Aber sein Gebieter verweist ihm seine Fürsprache. Dann appelliert noch Aias an die Freundschaft, gleichfalls vergebens. Dann entfernen sich die Gesandten und überbringen die Antwort; Diomedes bedauert, daß man dem Peliden soweit entgegengekommen ist [36].
Κ. (Shewan The lay of Dolon, London 1911. W. Witte Stud. zu Homer, Frankf. O. 1908). Beiderseitiges Biwak, dabei nächtliches Intermezzo (sorgfältig vorbereitet durch den Eingang des Ι.). Odysseus und Diomedes fangen den Dolon, einen troischen Späher (Δολώνεια)[37]. [1015] Λ. Auch Zeus ist sich dessen bewußt, daß dem Achilleus sein Recht noch nicht geworden ist; er setzt seine Bemühungen fort, seinen Ratschluß zu vollenden: durch die Eris (Deus es machina) verhindert der Dichter, daß die Griechen jetzt, wo ihnen die Hilfe durch Achilleus verschlossen ist, auf den naheliegenden und im Hinblick auf das andere Aushilfsmittel, die Gesandtschaft an Achilleus, zunächst aufgegebenen Gedanken an Abzug[38] zurückkommen (Λ 1–66). 1 Im erneuten Kampfe zeichnet sich zwar Agamemnon aus (Ἀγαμέμνονος ἀριστεία), wird aber verwundet (Λ 67–311), ebenso Diomedes, Odysseus, Machaon. Da muß auch Aias weichen, dann wird noch Eurypylos verwundet (Λ 595). Der Sieg der Troer ist vollendet. Da merkt Achilleus, daß nun bald volle und süße Rache naht (Λ 609f.)[39]; er schickt den Patroklos aus, um nähere Kunde einzuziehen. Diese Nachrichten erhält er bei Nestor; durch dessen bewegliche Klage (656ff. Pylische Episode)[40] aber steigt bei Patroklos starkes Mitleidsgefühl auf, das durch [1016] die weitere Begegnung mit Eurypylos noch wächst (837ff.).
Μ. Dem Siege im freien Felde folgt der Kampf um die Lagerbefestigungen (τειχομαχία)[41] der mit deren Erstürmung endet. Flucht der Griechen zu den Schiffen.
Ν. (Mülder Homer u. die altionische Elegie, Hannover 1906). Weiter folgt naturgemäß der Kampf bei den Schiffen (Μάχη ἐπὶ ταῖς ναυσίν). In diesem Augenblicke, wo der Ratschluß des Zeus schon im Begriff ist, sich zu vollenden, setzt eine Gegenhandlung des Poseidon und der Hera gegen ihn ein, die einen Aufschub schafft. Diese Gegenhandlung umfaßt die Bücher ΝΞ und den größten Teil von Ο; im übrigen Teil des Ο wird bereits die ursprüngliche Situation durch Zeus wiederhergestellt. Diese Retardatio der βουλὴ Διός wird durch die dichterische Erfindung erreicht, daß Zeus, überzeugt, alle denkbaren Hindernisse derselben aus dem Wege geräumt zu haben[42], sich anderen und erfreulicheren Betrachtungen widmet[43]. Die Unachtsamkeit des Zeus benützt Poseidon, um trotz des Verbotes des Zeus den Griechen beizustehen. Schlachtbilder[44].
Ξ. Um dem Poseidon gründlich Zeit zu geben zur Unterstützung der Griechen – die ja jeden Augenblick von Zeus unterbunden werden könnte – schläfert Hera den Zeus auf seinem Wachtposten auf dem Ida ein (Διὸς ἀπάτη)[45]. Poseidon führt nun eine vollständige Überlegenheit der Griechen herbei.
Ο. Die Troer werden aus der Nähe der Schiffe und aus dem Lager verscheucht (παλίωξις παρὰ τῶν νεῶν), bis Zeus aus seinem Schlafe erwacht, die Situation wiederherstellt, und nun, noch mehr gereizt[46], die Not der Griechen bis zum Äußersten steigert.
[1017] Π. Von Mitleid überwältigt, bittet Patroklos den Achilleus, doch jetzt zu helfen. Dieser schlägt die Bitte zwar ab, gewährt ihm aber die andere[47], selbst an der Spitze der Myrmidonen den Bedrängten Hilfe leisten zu dürfen, unter der Bedingung, daß er nur das Äußerste verhüte, da er ihn ja sonst um den ganzen Erfolg seiner Kampfenthaltung bringe[48]. Nachdem er die Troianer aus dem Lager vertrieben, läßt sich Patroklos im Siegestaumel dazu hinreißen, die Befehle seines Herrn zu übertreten und die Feinde bis unter die Mauern von Ilios zu verfolgen. Dort fällt er (Πατρόκλεια)[49].
[1018] Π. Menelaos macht sich um Achilleus dadurch hoch verdient[50], daß er die Leiche des Patroklos schützt and dessen Erleger [51] erschlägt. Bei dem weiteren Kampf führt der Dichter die Sache so, daß dio Rüstung des Achilleus in die Hand des Hektor fällt, der Leichnam aber den Griechen verbleibt[52].
Σ. (Mülder Rh. Mus. LIX 256). Durch den Tod des Patroklos ist Achilleus höchst persönlich getroffen; er, der früher betont hatte, daß ihm die Troer nichts zuleide getan, und daß er persönlich keine Veranlassung habe, sie zu hassen, gerät in Zorn[53]. Da er zunächst einer neuen Rüstung bedarf, schmiedet ihm Hephaistos auf Bitten der Thetis eine solche[54]. [1019] Τ. (Eitrem S.-Ber. Akad. Kristiania 1901. v. Wilamowitz Herm. XXXV 583). In der wieder von Achilleus berufenen Versammlung verzichtet er auf weiteres Grollen (Μήνιδος ἀπόρρησις). Nestor verlangt loyal nochmals eine Erklärung der Unterordnung unter Agamemnon. Achilleus geht darauf gar nicht ein [55], er treibt zur Eile. Man bereitet sich zu einem neuen Kampfe vor; Achilleus beklagt den Patroklos.
Υ. Die ganze Dichtung beruht auf der Voraussetzung[56], daß Hektor und die Seinen sich vor der Kampfenthaltung des Achilleus nie ins Feld gewagt hatten. Daß jetzt Achilleus wieder mitkämpft, wissen die Troianer; hat er doch seine fürchterliche Stimme erschallen lassen [57]. Hektor müßte deshalb jetzt sich wieder in die Mauern zurückziehen, da ja der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt ist. Zur Beseitigung dieses ihm aus seiner eigenen Kompositionsweise erwachsenden Hindernisses erfindet der Dichter eine tumultuarische Beteiligung fast des ganzen Götterhimmels am Kampfe (Θεομαχία)[58]. Ihre Beteiligung hat eben den Zweck, die Menschlein aufeinander zu hetzen (Deus ex machina); sie hat auch den Erfolg, Hektor und die Seinigen die gebotene Vorsicht vergessen zu lassen. Sie werden geschlagen und in zwei Heerhaufen gespalten.
Φ. (zu 404ff. vgl. v.Wilamowitz S.-Ber. Akad. Berl. 1906, 38). Der eine, bei dem Hektor sich befindet, wird von Achilleus zunächst nicht verfolgt, Hera hält ihn durch einen Nebel solange zurück, bis Achilleus mit dem anderen gründlich fertig geworden ist. Letzterem bietet der Skamander ein Hindernis, Achilleus mordet im Strom und diesseits und jenseits desselben [59] derart, daß der Skamander persönlich gegen ihn vorgeht. Die Hilfe des Hephaistos rettet den Achilleus. So sendet ihn der Deus ex machina wieder auf das ursprüngliche Schlachtfeld und gegen die ursprünglichen Gegner. Diese fliehen in die Stadt hinein. Χ. (Mülder Rh. Mus. 1904, 256–278). Nur Hektor flieht nicht weiter als ins Stadttor. Wechselnde Empfindungen, vor allem Scham über die von ihm durch Außerachtlassung der gebotenen Vorsicht verschuldete Niederlage [60] veranlassen [1020] ihn zum Zweikampf mit Achilleus. Er fällt Ἕκτορος ἀναίρεσις).
Ψ. (Hans Jobst Die Kampfspiele zu Ehren des Patroklos, Passau 1908/9). Darnach bestattet Achilleus den Patroklos und veranstaltet Spiele an seinem Grabe (ἆθλα ἐπὶ Πατρόκλῳ)[61].
Ω. (Groeger Der Einfluß des Ω auf die Komposition der Odyssee, Rh. Mus. LIX 1). Dem unglücklichen Priamos aber liefert Achilleus die Leiche seines Sohnes aus (Ἕκτορος λύτρα). Er gewährt auch einen Waffenstillstand, um eine feierliche Bestattung der Gefallenen zu ermöglichen[62].
IV. Eigenartigkeit des Gesamtzusammenhangs (die beigesetzten Zahlen weisen auf die Anmerkung zu III. zurück). Was hier am meisten auffällt, ist die Unwirklichkeit der Zusammenhänge und Fortleitungen, eine Unwirklichkeit, die weit hinausgeht über das, was in ernster geschichtlicher oder geschichtsartiger Dichtung erlaubt, ja möglich erscheint. Wer an die Geschichtlichkeit des troianischen Krieges und die Tatsächlichkeit des Kerns der in der I. gegebenen ,Berichte‘ glaubt, muß unbedingt von vornherein gegen diese unwirklichen, ja unmöglichen Zusammenhänge zwischen den einzelnen ,Begebenheiten‘ blind sein. Ebenfalls muß es der sein, welcher die in der I. schaltende Kunst für einfach, ursprünglich, volkstümlich und naiv hält und seine Erwartung auf geradliniges Erzählen einfach großer Taten und Begebenheiten gerichtet hält (vgl. z. B. Bergk Lit.-Gesch. I 517 wohl nach Aristoteles poet. c. 24. Aber wenn der sagt, die I. sei ἁπλῆ – er sagt aber auch καὶ παθητική – so meint er damit ganz etwas anderes), ja ein solches Erzählen von der Dichtungsgattung, welcher er die I. prinzipiell zurechnet, prinzipiell verlangen zu müssen glaubt. Überall findet ein solcher sich in seinen Erwartungen (und in den allersichersten am gründlichsten) getäuscht und schreitet nun zu Athetesen in irgendeiner Form, um zu erklären, daß etwas da ist, was er nicht erwartet und was sich mit seinen Begriffen nicht verträgt, während das fehlt, was er durchaus erwartet und verlangt. Dazu kommt, daß der Klassizismus in der I. etwas höchst Vollkommenes sieht und daß der prästabilierten Vollkommenheit gerade das am [1021] allermeisten zu widersprechen scheint, was mit den eigenen Vorbegriffen nicht im Einklang steht. So kommt es, daß so manche, die den Dichter töten, das in dem Glauben und in dem Wunsche tun, ihm zu seinem Rechte zu verhelfen.
Da hier der Grundfehler der modernen Homerkritik liegt (die antike ist vorangegangen, hat aber bessere Entschuldigung), so seien hier die wichtigsten unwirklichen Voraussetzungen und Fortleitungen, an denen diese Kritik gescheitert ist, aufgeführt:
Unwirklich ist das Verhältnis der Unterordnung unter Agamemnon, in welches selbständige Könige und Helden hier gebracht sind[1], unwirklich sind die Besitz- und Zeitverhaltnisse [11]. Durch und durch unwirklich ist ein Agamemnon, der in solcher Stellung und Lage es unternimmt, einem Helden wie Achilleus sein Mädchen zu nehmen (welche Vorstellung muß man gleich von einem solchen Menschen bekommen![4], und ein Achilleus, der trotz rasenden Zorns und spielender Leichtigkeit, die so tief empfundene Unbill abzuwehren, sich das nicht bloß gefallen läßt (welche Selbstverleugnung und welcher Edelmut!), sondern auch an der Seite des Verbündeten bleibt, der ihn so maßlos gekränkt hat. Recht unwirklich ist es auch, daß Agamemnon gerade in dem Augenblicke zum erstenmal zum Angriff schreiten läßt, wo die größte Niedergeschlagenheit herrschen müßte[10], und daß das Heer ihm mit Begeisterung folgt. Neun Jahre soll bereits auf der Troas Krieg geführt worden sein, und an diesen neunjährigen Kämpfen sollen sich die Ilier unter Hektor, die doch die Urheber der ganzen kriegerischen Verwicklung sind, niemals beteiligt haben, sollen auch noch niemals direktes Ziel der Kriegführung ihrer Gegner gewesen sein, dergestalt, daß im zehnten Jahr des Krieges (das gleichzeitig das erste der Unternehmung gegen Ilios selbst ist) noch der Versuch einer schiedlich-friedlichen Beilegung des Streites durch einen Zweikampf der beiden Privatfeinde gemacht werden kann und ausgerechnet gerade in dem Augenblicke, wo die beiden Heere soeben handgemein geworden sind. Und sofort mißlingt dieser Versuch, obwohl, nachdem er einmal gemacht war, alle Vorbedingungen des Gelingens gegeben waren[15] u. [16]. Kann man es sich als tatsächlich vorstellen, daß ein Feldherr, ein Führer von Zehntausenden wie Hektor, mitten im schwersten Kampfe das Schlachtfeld verlassen haben könnte, um persönlich eine Bestellung in der Stadt zu machen[20], und daß er nicht lange darauf wieder mitten in der Schlacht, im Augenblick, wo er im Begriff ist, Vorteile zu erringen [22], den Kampf hätte abbrechen lassen können, um sich mit irgendeinem heldenhaften Kämpfer der Gegenseite im Zweikampfe zu messen? Unbegreiflich ist es, daß die Griechen nicht während der Zeit erzwungener Muße oder nach der Absage des Achilleus, sondern am Ende des ersten Schlachttages eine Lagerbefestigung errichten [23]. Und als wie fest und kunstgerecht müssen wir uns dies in kürzester Frist und in solcher Lage errichtete Lager vorstellen! (Thuk. I 11 ist ein hübsches Beispiel, wie durch Addition und Subtraktion aus solcher dichterischer Phantasie ein historischer Kern gewonnen wird; ähnlich Thuk. I 9 in Bezug auf Agamemnon« Oberbefehl, [1022] s. u. Abschn. Χ). Hat es schon Schwierigkeit, sich in Gedankengang und Stimmung des Achilleus zu versetzen, der, von seinen schwerbedrängten Landsleuten und Freunden flehentlich gebeten, die Hilfeleistung ablehnt [30] (zumal eines solchen Ausbundes von Selbstverleugnung und Edelmut, s. o.), so ist es ganz wirklichkeitsunähnlich, wenn er bald darauf, halb im Zorn beharrend, halb erweicht, seinen Freund und Untergebenen Patroklos mit allen Myrmidonen zur Hilfeleistung aussendet mit einer Beschränkung seines Auftrages, der nach Anlage der Dichtung unerläßlich, aber ganz unmilitärisch ist[48]. Wie unwahrscheinlich sind die zwei Erleger des Patroklos [50] [51], wie unwahrscheinlich der Vorgang, daß von einem rüstungbekleideten Leichnam die Rüstung den Feinden, der Leib den Freunden anheimfällt![52] Die Erfindung, daß Achilleus während der Zeit, wo er wegen Mangels an einer Rüstung einer Kampfespause bedarf, die Gegner durch fürchterliches Geschrei in Untätigkeit versetzt[57], ist allerdings sehr heroisch, aber ebenso phantastisch. Nachdem dann der schwer gereizte Achilleus wieder in den Kampf eingetreten ist, er, der so fürchterlich ist und gefürchtet wird, daß schon sein Geschrei alles lähmt, sollten die Troer und Hektor nach der zwar phantastischen, aber doch grundlegenden Voraussetzung der ganzen Dichtung sich schleunigst hinter die schützenden Mauern von Ilios zurückziehen – aber gerade jetzt halten sie im freien Felde stand. Nachdem die Troer nun geschlagen sind, verfolgt Achilleus nicht die Hauptmacht der Troer, bei welcher sich sein Todfeind Hektor befindet, sondern einen Truppenteil, der wie durch Hexerei von der Hauptmacht abgesprengt wird [59]. Selbstverständlich müßte die Hauptmacht sich währenddessen in die Stadt retten, aber gerade das darf unmöglich geschehen. Nun folgt Hektors Erlegung, aber wir erhalten keinen einfachen, natürlichen Bericht, sondern eine raffinierte Symphonie von Unmöglichkeiten. Und schließlich sehen wir den eben noch Rache schnaubenden Achilleus in versöhnlicher Stimmung dem Vater seines Todfeindes dessen Leichnam ausliefern. Alles ist dabei wirklichkeitsunähnlich: ein Priamos, der, ohne daß Waffenstillstand geschlossen ist, die Reise zu seinem schrecklichen Feinde wagt, und ein Achilleus, der, ohne Agamemnon zu fragen oder nur zu benachrichtigen, einen Waffenstillstand gewährt, der doch, wie der Fortgang zeigt, auch den Agamemnon gebunden haben muß, einen Waffenstillstand, bei dessen Abschlusse der Hauptbeteiligten ebensowenig gedacht wird wie des Kriegsgrundes und Kriegszweckes.
Diese Unwirklichkeit steckt auch im Kleinen und Kleinsten. Der Dichter verfügt aber auch über einen äußerst bequemen technischen Handgriff, der es ihm gestattet, seine Phantasie über alle materiellen, psychologischen und logischen Widerstände triumphieren zu lassen. Das ist der Deus ex machina. Dieses rein technische Mittel hat mit Theologie nichts zu tun. Daß die Homerkritik sich gegen diese Einsicht so lange verschloß, erklärt sich aus dem herrschenden Grundirrtum, daß, wie alles bei Homer, so auch das Religiöse‘ einfach, natürlich, altertümlich und volkstümlich sein müsse. Von Nägelsbachs Homerischer [1023] Theologie und Welckers Griech. Götterlehre über Useners Stoff d. griech. Epos bis auf den heutigen Deus ex machina ist ein weiter Weg. Aber es ist zweifellos so: wenn der Dichter will, daß Achilleus handelt, wie er weder brauchte, noch sollte, so zupft ihn Athene ins Haar (Α 194ff.), zu ähnlichem Zwecke läßt er den Zeus einen betörenden Traum zu Agamemnon senden (Β 1ff.), die Athena den Pandaros zu seinem törichten und verräterischen Pfeilschuß bewegen (Δ 86ff.), den Seher Helenos dem Hektor den Gang in die Stadt anraten (Ζ 73ff.), Athene und Apollon den Zweikampf zwischen Hektor und Aias veranlassen (Η 17ff.) usw. Die Einsicht in dies Verhältnis wird allerdings dadurch erschwert, daß obendrein das ganze dichterische Gewebe durchzogen wird von der βουλὴ Διός. Auch sie ist zweifellos ein Stück Deus ex machina. Durch sie werden nämlich die allgemeinen Kampfesergebnisse dem Ausfall der kriegerischen Einzelbilder zum Trotz nach dem Willen des Dichters reguliert. Sie verwandelt mit einem Schlage Niederlage in Sieg und Sieg in Niederlage. Aber die βουλὴ Διός hat auch die Eigenschaft, daß sie sich in ihrem Verlaufe mehrfach zu breiteren Götterszenen von selbständigem Gehalt und besonderer Art erweitert. Das ist kein bloßer Deus ex machina mehr, sondern tatsächliche Beteiligung des Himmels, aber man darf auch nicht übersehen, daß die Olympier einzeln und in ihrem Verhältnisse zueinander nicht mit den Augen des Theologen, sondern des Schwankdichters gesehen werden. Der in der I. weitreichende Humor hat seine Stätte vor allem in den Götterszenen (vgl. Nestle Anfänge einer Götterburleske bei Homer Neue Jahrb. 1905, 161–182. Mülder Die Ilias u. i. Q. Kap. VI). Daß vor dieser Erkenntnis der Glaube an die Geschichtlichkeit der I. (und an ihr unvergleichliches Alter) keinen Stand hält, ist klar, darum sucht man aus diesem Glauben heraus nach Theorien, diese die Geschichtlichkeit ausschließende Tatsache trotz alledem mit ihr in Einklang zu bringen. Nachdem die Meinung, das Sichbewegen der Götter unter den Heroen sei ein getreues Spiegelbild uralten Volksglaubens, hat schwinden müssen, ist uns die Hypothese nicht erspart geblieben, daß die Unterstellung der natürlich geschichtlichen troischen Begebenheiten unter ein ,einheitliches Weltregiment‘ ,nachträglich‘ stattgefunden habe (Finsler Die olymp. Scenen der Ilias, Bonn 1906).
V. Selbständigkeit der Teile (Einzelszenen, Episoden). Eine zweite Besonderheit des Gesamtzusammenhangs ist noch hervorzuheben: er erschöpft nicht den Inhalt der I. Es ist oben schon hie und da auf einige mit dem Gesamtzusammenhange nur lose verbundene Episoden hingewiesen worden wie die Rückführung der Chryseis, die Thersitesszene, die Thalamosszene, die Glaukos-Diomedesepisode. Derartige Abschnitte sind dem Verdacht, spätere Zudichtungen oder Einlagen zu sein, am ersten ausgesetzt. Aber man muß sich durchaus an den Gedanken gewöhnen, daß der Episodenreichtum eine organische Eigenschaft der I. ist. Derlei Literaturwerke, in welchen ein (notwendigerweise phantastischer und phantastisch fortgeleiteter) Faden ein buntes Allerlei von ziemlich selbständigen Szenen zusammenhält, sind gar nicht so selten [1024] (Dickens Pickwickier). Je nachdem nun die Einzelszenen kürzer oder länger, loser oder fester mit dem Gesamtzusammenhange verbunden sind, erscheinen sie mehr oder weniger episodenhaft. Entfernte man die Glaukos-Diomedesszene, so gäbe es keine andere Lücke als unausgefüllte Zwischenzeit; auch die Rückführung der Chryseis könnte fast ebensogut entbehrt werden. Fiele die Thalamosszene aus, so bliebe die Haupthandlung unverletzt, aber wir würden psychologische Aufschlüsse über Helena vermissen. Ähnlich steht es mit so manchem anderen, z. B. dem Meleagerreferat, der Dolonie, der Schildbeschreibung, der Aineiasepisode, den ἆθλα. Unter diesen Episoden (ersten Grades möchte man sagen) ist keine, die nicht athetiert worden wäre. Aber selbst wenn man all dies Gerank rücksichtslos entfernte, bliebe doch der Drang zum Episodischen in der übrigen Dichtung gar nicht zu verkennen. Wenn es dem Dichter nur darauf ankäme, die Geschichte der Menis des Peliden und der βουλὴ Διός zu absolvieren, hätte er die Diomedie, die Patroklie, die λύτρα und soviel anderes sehr kurz und einfach gestalten können. Auch die große Retardation der βουλὴ Διός, sowie die kleinere von Ηektors Fall (Φ) hätte sich mit leichter Mühe ersparen lassen. Diese Szenen setzen also zwar den Gesamtzusammenhang fort, ihre Bedeutung liegt aber weniger in dem, was sie zum Handlusgsfortschrittt beitragen, sondern in ihrem eigenen Gehalt (Episoden zweiten Grades). Aber selbst diejenigen Szenen, welche das Fundament des Gesamtzusammenhangs erst konstruieren, die Streitszene und die Himmelsszene in Α, die Heeresversammlung und der Schiffskatalog in Β (gerade dieser ist ganz unentbehrlich), die in den Zweikampf zwischen Menelaos und Paris gruppierte Darlegung der Vorgeschichte usw., selbst sie sind ins Episodische ausgesponnen. Daß es dem Dichter (nicht darum zu tun ist, eine einheitliche dichterische Fabel in Anfang, Mitte und Ende gleichmäßig zu gestalten, ist leicht zu ersehen. Wäre der Zorn des Achilleus wirkliches Hauptziel der Darlegung und nicht bloß ein einheitlicher Faden, bestimmt, bunte Mannigfaltigkeit zusammenzuhalten, so würde mindestens der seelische Anteil des Achilleus an den Vorgängen, die sich ohne ihn abspielen, zum Ausdruck kommen müssen. Aber der Dichter begnügt sich, nur ganz äußerlich der Tatsache, daß ,Achilleus zürnend bei den Schiffen liegt‘, soweit Erwähnung zu tun, daß sie nicht vergessen wird. Schließlich wird das Streitproblem überhaupt nicht gelöst, es findet nicht einmal der so eindrucksvoll dargestellte Streit selbst einen entsprechenden Abschluß. Welch wirkungsvolles Thema wäre eine Aussöhnung zwischen Achilleus und Agamemnon! Aber eine solche gibt es in der I. nicht; die μήνιδος ἀπόρρησις; wird mit Unrecht für eine Aussöhnung gehalten, der Dichter wischt nur eine ihm für die beabsichtigte Fortleitung hinderliche Vorstellung aus. Solche Partien, deren Bedeutung eigentlich nur negativ ist, sind in der I. zahlreich; dürftig, wie sie ihrem Zwecke nach sind, und der Erwartung widersprechend, verfallen sie leicht der Kritik. Wollte man dem Prooimion zuwider die Geschichte des Kampfes gegen Ilios um der Rückgewinnung der Helena willen für die eigentliche dichterische [1025] Fabel erklären, so verliefe sie völlig im Sande. Es ist also nicht anders: die mannigfaltigen und selbständigen Einzelszenen sind von vornherein das oberste Ziel des Dichters; und der troianische Krieg hat nur die Bedeutung eines gemeinsamen Hintergrundes, die μηνις und βουλὴ Διός die eines zusammenhaltenden Fadens. Die Selbständigkeit der Einzelszenen hat noch eine weitere Eigentümlichkeit gezeitigt, welche der Homerkritik Anlaß zu weitreichenden Kombinationen gegeben hat; jede bedarf im der Vollständigkeit und Anschaulichkeit willen immer aufs neue der Voraussetzungen und Erläuterungen, welche den Gesamtzusammenhang beschweren, ihm zuwiderlaufen oder wenigstens durch ihn keine Erklärung finden. Auch zwischen den einzelnen Szenen liegt so manches Unausgeglichene. Bei dem phantastischen Charakter des Gesamtzusammenhangs ist es kein Wunder, daß solche Angaben der Einzelszenen oft vorstellbarer (wirklichkeitsähnlicher) sind, als die durch den Gesamtzusammenhang geschaffenen Vorstellungen. Ein berühmtes Beispiel ist Ζ 433ff. Wenn hier Andromache, um ihren Mann zu bewegen, sich vorsichtig mit der Verteidigung der Mauern zu begnügen, mehrmaliger höchst bedrohlicher Angriffe auf einen schwachen Punkt der Festung gedenkt, so ist das an sich sehr wirklichkeitsähnlich; nach dem Gesamtzusammenhange aber ist es unvorstellbar, wann und wo diese Angriffe stattgefunden haben sollen. Soweit es angängig ist, bereitet der Dichter durch entsprechende Notizen auf solche Bedürfnisse und Eigenheiten der einzelnen Szenen (oft von langer Hand) vor, gleicht aus oder trägt ihren Konsequenzen Rechnung. Aber in der Stelle des Ζ war das nach Lage der Dinge unmöglich – solche Stellen sieht die eine Richtung der Homerkritik als interpoliert (vgl. die Aineiasepisode) an, die andere betrachtet sie als Reste anderer Versionen. Auffallende Annahmen macht auch der dramatische Charakter der Dichtung notwendig, z. B. die Anwesenheit des Phoinix bei Agamemnon für die Zeit, wo der Dichter seiner dort bedarf. Ähnlich liegt es mit den Voraussetzungen und Nebenvorstellungen, welche die Aineiasepisode schafft. Ferner wird unendlich oft in der I. zitiert – was mehrfach übersehen wird – und welches Zitat deckte sich wohl restlos mit dem Fall, auf den es angewandt wird! Auch so ist viel Unausgeglichenes und Widerspruchsvolles in die I. gekommen. Desselben Ursprungs sind die Schwierigkeiten, welche sich aus dem Wiedergebrauch geformten Materials für die Interpretation ergeben, sie komplizieren sich zu homerischen Problemen da, wo aus schillerndem Ausdruck Nebentriebe der Sage entstanden sind (vgl. πάλιν πλαγχθέντας im Zusammenhang gemeint als ἀπράκτους – an das πλάζειν knüpft das πλάσμα τῶν νεωτέρων, der Zug nach Mysien, an). Alles in allem ist die Ausführlichkeit und Selbständigkeit der Einzelszenen das Komplement der Unwirklichkeit des Gesamtzusammenhangs, und der Deus ex machina ist der handgreifliche Ausdruck des Verhältnisses zwischen beiden.
VI. Dramatischer Charakter der Ilias. Zum Verständnis der I. gehört unbedingt Einsicht in ihren dramatischen Charakter. Man nennt sie gewöhnlich ein Epos und schreibt ihr Eigenschaften [1026] zu, welche die ästhetische Theorie als Merkmale dieser Gattung anzusehen pflegt. Dabei schiebt man das bekannte Urteil des Aristoteles, der sie zu der dramatischen Gattung stellt, dadurch beiseite, daß man es nur auf die dialogische Form bezieht. Aber der Dialog ist hier wie überall nur ein äußeres, freilich das handgreiflichste Merkmal des Dramatischen.
Überall in der I. tritt objektiver Bericht gegen subjektives Handeln, Urteilen und Empfinden zurück. Das Auftreten der Figuren geschieht in einer Folge von Einzelszenen, die kunstvoll in einen einheitlichen Rahmen gespannt sind, dergestalt, daß die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit des Gehalts der Einzelszenen die oben gekennzeichnete phantastische Beschaffenheit des Gesamtzusammenhangs bewirkt. Man spricht deshalb vielleicht besser von einer szenischen Komposition der I. als allgemein von einer dramatischen. Aber der Trieb zu szenischer Gestaltung ist auch so stark, daß selbst unwichtige Teile des Gesamtzusammenhangs und nebensächliche Mitteilungen, die nur für eine einzige Szene Wert haben, in dramatische Form eingekleidet werden. So treten denn viele Figuren in militärisch aussehendem Gehaben auf die große Bühne des Verfassers, die nun einmal eine militärische ist, entsenden Speere, verwunden, werden verwundet und fallen, aber sie erfüllen nicht damit ihren dichterischen Zweck, sondern durch das, was und wie sie sprechen. Man vergleiche die kriegerische Begegnung des Achilleus mit Aineias und mit Lykaon, die des Glaukos und Diomedes usw.
Geht schon das landläufige Urteil in die Irre, wenn es überall in der I. als einem Epos objektiven Bericht und Tatsächliches sucht, so ist darüber hinaus dramatische Dichtung an und für sich geeignet (eben infolge ihres subjektiven Charakters) Zweifel wachzurufen. Z. B. was hat Schillers Wallenstein tatsächlich dem Wiener Hofe über Buttler berichtet? Wir haben darüber zwei sich durchaus widersprechende Berichte; wer sagt die Wahrheit, Wallenstein oder Oktavio? Im modernen, ernsten Drama sind solche Zweifel verhältnismäßig selten; die Logik des Gesamtzusammenhangs leitet meistens das Urteil auf den richtigen Weg. Aber gerade an dieser Logik fehlt es bei dem phantastischen Charakter des Gesamtzusammenhangs in der I. Es fehlt auch ausreichende Einsicht in die Charaktere, die das Urteil leiten könnte, da die Umrisse der Figuren mit den Bedürfnissen der Einzelszenen und des Gesamtzusammenhangs wechseln. So bleibt denn außerordentlich vieles mißverständlich oder ist schwer zu erkennen (z, B. der prinzipielle Gegensatz zwischen Achilleus und Agamemnon). Der Dichter kennt und verwendet auch die im Drama gebräuchlichen Aushilfsmittel, z. B. das Urteil des objektiven Dritten (z. B. des Nestor in Α), ferner Bühnenanweisungen (da sprach dieser und jener ,spöttisch', hinterlistig‘ usw., vgl. Φ 212. Mülder D. Ilias u. i. Q. 231ff.), und dann die ἀνακεφαλαιώσεις (= Rekapitulationen) genannten Berichte mithandelnder Personen über szenische Vorgänge (z. B. den des Achilleus über seinen Zusammenstoß mit Agamemnon Α 364ff.). Sie rücken den Eindruck, welchen die lebendige Szene machte, zurecht entweder im Sinne der berichtenden [1027] Person oder zum Zwecke der vom Dichter beabsichtigten Fortleitung des Gesamtzusammenhangs.
Als Drama erweist sich die I. auch durch die ganz dramatische Exposition der Vorfabel. Sie stellt nicht etwa, wie man es von einem Epos erwartet, die Dinge in zeitlicher Reihenfolge dar, beginnend mit dem Anfange, sondern setzt an einem weitvorgeschrittenen Punkte der Handlung ein. Dadurch bekommt die Handlung die bewunderungswürdige Geschlossenheit, deren greifbarster Ausdruck die Einheit des Ortes ist. Die Dichtung versetzt uns nicht etwa erst nach Ilios, dann nach Sparta, nach Argos, Phthia, Aulis, nach dem Hinterlande von Ilios und dann schließlich in das Kriegslager vor dieser Stadt, sondern die Bühne stellt ein für allemal die Ebene vor Ilios dar – nur einige Szenen spielen in Ilios, sozusagen innerhalb des Hauses. Auch die Einheit der Zeit ist mit so gewaltsamem Griffe hergestellt worden, daß die künstlerische Absicht garnicht verkannt werden durfte. Schließlich mag ein Hinweis darauf, daß der Dichter (wie bei einem so großen Werke natürlich) kunstgerecht einen Wechsel zwischen Spannung durch hohes Pathos und Entspannung durch Scherz anstrebt (vgl. die Thersitesszene, das nächtliche Intermezzo der Dolonie, die Spiele am Grabe), und daß auch im kleinen mancherlei Humore (unmögliche Verwundungen, Parodien) das Werk durchziehen, diese Skizze beenden (Mülder D. Ilias u. i. Q. 342).
VII. Die Homerkritik von Wolf bis heute. Die hier entwickelte Ansicht von einer zwar eigenartigen, aber doch künstlerischen Einheitlichkeit der I. ist heute noch keineswegs allgemein oder gar allein herrschende Ansicht. Der Glaube sowohl an die Geschichtlichkeit des troianischen Krieges, als auch an das außerordentliche Alter der I. und die Schwierigkeit, unter diesen beiden Voraussetzungen eine befriedigende Formel für ein geschichtliches Verständnis dieses ganz eigenartigen Literaturdenkmals zu finden, haben Anlaß gegeben zu der bekannten Hypothese, die allmählich in so viele Spielarten ausgeartet ist, daß es schwer ist, eine alle diese umfassende Definition und einheitliche Bezeichnung zu finden (Glaube an eine Mehrzahl von Verfassern, Liedertheorie, Entstehungs-, Entwicklungshypothese). Begründet wurde sie von Fr. A. Wolf Prolegomena ad Homerum 1795, (3. Ausg. von Peppmüller, Halle 1884, mit Briefwechsel zwischen Wolf und Heyne). Deutsche Übersetzung in Reclams Universalbibliothek. Wolf ist heute nicht in der Mode (v. Wilamowitz Hom. Untersuch. 401; Gesch. der gr. Lit. 4ff. Finsler Homer 524–548; dagegen s. die Bemerkungen von Reiter N. Jahrb. 1903, 96 und Mülder Jahresber. CLVII 197), man hebt gern Chr. G. Heyne oder G. Hermann gegen ihn auf den Schild. Gewiß ist Wolfs Hypothese unrichtig, es mag auch buchstäblich wahr sein, daß von ihr kein Stein auf dem anderen geblieben sei, aber unendliche Anregung ist von ihr ausgegangen. Seine Prolegomena sind der Prolog der ganzen modernen Homerforschung, und auch Heyne und Hermanns Homerhypothesen gehören zu seiner Sphäre. Sie suchen sich neben ihm zu behaupten, aber sie unterliegen doch der Eindringlichkeit [1028] und dem Glanze seiner Dialektik. Sie haben die Entstehungstheorie zwar variiert, aber in der Hauptsache doch angenommen. Weder Heyne noch Hermann haben den Würfel geworfen, sondern Wolf (iam iacta est alea, Proleg. 138, 84). Nur er ist Original, bei Heyne und Hermann ist nur Variation, die obendrein des glänzenden Schmelzes, der das Original ziert, gänzlich entbehrt. Bei Heyne gar ist diese Variation nichts als ein Ausdruck seines Schwankens zwischen der alten und der neuen Ansicht. In Wolfs Hypothese ist freie Spekulation mit literarhistorischer Forschung verbunden, und in dieser Mischung ist das spekulative Element stärker vertreten, als Wolf zugeben mag, der nach Möglichkeit dem Nachweis historischer Kontinuität überall nachstrebt. Aber es ist doch auch wahr, daß das Altertum erheblich vorgearbeitet hat. Dessen Kritik setzt das Alter der I., ihre absolute Vollkommenheit und zugleich die Geschichtlichkeit ihres Inhaltes stillschweigend voraus und gebraucht diese Axiome unbefangen als kritischen Maßstab. Was diesen nicht entsprach, wurde aufgezeigt, angemerkt und hin- und wiedererwogen. Obendrein ist die I. von Sonderlichem voll, so daß der Probleme und Aporien kein Ende ist. Soweit nun Widersprüche zwischen verschiedenen dem Homer zugeschriebenen Dichtungen nachweisbar waren, pflegte man das Problem durch Annahme einer Mehrheit von Verfassern zu lösen (v. Wilamowitz Hom. Unters. 305); so spricht schon Herodot. II 117 die Kyprien dem Homer ab. So hat man schließlich auch die Widersprüche zwischen I. und Odyssee zu lösen versucht (die Chorizonten). Es ist nun durchaus dieselbe Methode, wenn man schließlich zur Erklärung der Widersprüche und Sonderbarkeiten innerhalb der I. allein zu der nämlichen Hypothese einer Mehrzahl von Verfassern griff. Eine solche, nach dem Verlaufe der Homerkritik des Altertums folgerichtige wissenschaftliche Hypothese und beileibe keine durch kontinuierliche Tradition verbürgte Tatsache ist die vielberufene peisistratische Redaktion. Es ist sehr schade, daß wir den geistreichen Kopf nicht kennen, der sie erfunden hat. Die Zeugnisse führen aber in eine recht späte Zeit (Wolf Proleg. 142 Anm. 5. Cic. de orat. III 34. Paus. VII 26 p. 594. Joseph. c. Apion. I 2. Aelian. var. hist. XIII 14. Liban. Panegyr. in Iulianus t. I p. 170 [Reiske] usw., vermehrt um ein plautinisches Scholion durch Ritschl Die Alexandr. Bibliothek u. d. Samml. d. Hom. Ged., Breslau 1838, 3ff. 36ff. und Corollarium disput. de bibl. Alexandr., Bonn 1840, jetzt Opusc. I 1ff). Die peisistratische Redaktion ist nichts als die notwendige Ergänzung zu der Annahme einer Mehrheit von Verfassern für ein einziges Werk; wenn diese Hypothese auf die I. angewandt werden soll, so bleibt ja umgekehrt zu erklären, wie denn die Werke der vielen zu einer Einheit (wie sie vorliegt) geworden sein sollen. Die Hypothese ist nach jeder Sichtung höchst interessant, zeigt sie doch, wie stark schon im Altertume das homerische Problem empfunden wurde, auch die Zeit und der Ort der angenommenen Sammlung und die Persönlichkeit, mit der sie in Verbindung gebracht wird, gibt zu denken. Auf [1029] diese Überlieferung nun baute Wolf seinen Satz, daß die Homerischen Gedichte in Rhapsodenschulen einzeln abgefaßt und fortgepflanzt, und daß diese einzelnen Lieder durch Peisistratos gesammelt, geordnet und aufgeschrieben worden seien. Auch den ersten Punkt (,Rhapsodenschulen‘) suchte Wolf auf eine historische Basis zu stellen. Daß sich die philologischen Gegner zunächst gegen die geschichtlichen Stützen der Theorie wandten, war natürlich. Beide widerlegte (die ,Rhapsodenschulen‘ endgültig) G. Nitzsch Meletemata de hist. Homeri maximeque de scriptorum carminum aetate, Hannover 1830; De Aristotele contra Wolfianos s. de carminibus cycli hom. Trojani recte inter se comparandis disput., Kiel 1831 und Allgem. Encyklop. Sect. III s. Odyssee, wiederholt in Sagenpoesie der Griechen, 1852, Geschichte der epischen Poesie 1862. Definitiv ist Wolfs Ansicht von der Jugend der Schrift erst später beseitigt worden durch Kirchhoff Griech. Alphabet (4. Aufl. 1887) und anschließend durch v. Wilamowitz Hom. Unters. 286.
Aber ein allzu starker Stoß ist auch hierdurch der Wolfschen Hypothese (Mehrzahl von Verfassern, allmähliche Entstehung) nicht versetzt worden; stehen doch sogar Kirchhoff und v. Wilamowitz selbst noch ganz und gar auf ihrem Boden. Und die Wolfsche Behauptung von dem ersten Aufschreiben unter Peisistratos stand von vornherein auf schwachen Füßen. Zwar sagt er selbst (Proleg. 142, 5): nunc vero nihil opus est, coniecturas capere. Historia loquitur. Nam vox totius antiquitatis et, si summam spectes, consentiens fama testatur, Pisistratum carmina Homeri primum consignasse litteris, et in unum ordinem redegisse, quo nunc leguntur; aber die vox totius antiquitatis und die consentiens fama besteht, was das Aufschreiben betrifft, einzig und allein in der Josephusstelle, wo obendrein der Zweck der Behauptung (Erweis des höheren Alters der jüdischen Literatur) offen zutage liegt; alle anderen Zeugen reden nur von einer Sammlung und Ordnung durch Peisistratos. So ist der Glaube an das Aufschreiben durch Peisistratos oder seine Kommission heute beseitigt (vgl. Abschn. IX). Die Nachrichten von der Sammlung und Ordnung waren aber damit keineswegs widerlegt; die Herbeiführung der jetzigen Ordnung und Reihenfolge der Lieder konnte vielleicht auch auf andere Weise bewirkt sein als durch Aufschreiben – durch die Vortragspraxis. Für diese These sind zur Hand zwei Stellen, a) Platon Ps.-Hipparch. p. 228 B und b) Dieuchidas bei Diogenes von Laerte I 2, 9, die besagen, daß a) Hipparch, b) Solon die Verordnung erlassen habe, daß (bei den Panathenaen a) die Homerischen Gedichte (ἐξ ὑπολήψεως ἐφεξῆς a, ἐξ ὑποβολῆς, οἷον ὄπου ὁ πρῶτος ἔληξεν ἐκεῖθεν ἄρχεσθαι τὸν ἐχόμενον b) d. h. im Zusammenhange (über ὑποβολή Nitzsch Meletemata 30. Böckh Ind. lect. Berlin 1834. Gottfr. Hermann Opusc. V 300. v. Wilamowitz Hom. Unters. 239ff.) vorgetragen werden sollten. Indem man diese Stellen mit dem Peisistratischen ,in Ordnung bringen‘ ausglich, entstand die These, daß diese Verordnung eine Zusammenfügung und Ordnung der Einzelgedichte zum Zweck gehabt und erreicht habe. Offenbar ist die Verordnung [1030] aber nur unter der Voraussetzung verständlich, daß der Zusammenhang bereits da war; sie widerspricht also direkt dem Bericht von der Peisistratischen Sammlung und Ordnung (um nicht auf den Punkt zurückkommen zu müssen, erledige ich ihn hier vollständig). Beide Berichte sind also ganz auseinanderzuhalten, sie müssen auch ganz verschiedenen Quellen entstammen; sie können auch ein sehr verschiedenes Alter haben (über Homer an den Panathenäen Lykurg c. Leocr. c. 26 und Isokrates Panegyrikos c 42). Kontaminiert hat sie Ritschl (Opusc. I 54), der an die Peisistratische Sammlung und Ordnung glaubte, durch seine Ergänzung jener (lückenhaften) Stelle bei Diogenes von Laerte. Diese erwähnt außer der Solonischen Verordnung eine Interpolation des Peisistratos, nämlich der Verse οἱ δ’ ἄρ’ Ἀθήνας εἶχον κτλ. Dieuchidas stellt hier rühmend des Solon Verdienst der Fälschung des Peisistratos gegenüber: μᾶλλον (scil. ὁ Σόλων) οὖν Ὅμηρον ἐφώτισεν ἢ Πεισίστρατος, ergänzt von Ritschl ὄσπερ συλλέξας τὰ Ὁμήρου ἐνεποίησέ τινα εἰς Ἀθηναίων χάριν; die Ergänzung billigt v. Wilamowitz Hom. Unters. 240. Cauer Grundfr.² 130). Aber der Kontext verlangt das συλλέξας τὰ Ὁμήρου durchaus nicht, er verlangt nur die Erwähnung des ἐμποιεῖν. Er widerspricht ihm viel eher, da es die Antithese Solon-Peisiatratos nur schwächen würde; wäre doch das συλλέγειν kein geringes Verdienst, sondern noch ein größeres als die Solonische Verordnung! Die Sache wäre geringfügig, wenn durch die unrichtige Ritschlsche Ergänzung die Peisistratische Sammlung nicht in eine viel frühere Zeit gerückt würde, als nach den wirklichen Zeugnissen nötig ist. Nach v. Wilamowitz a. a. O. gehört Dieuchidas in das 4. Jhdt. v. Chr. Da haben wir also bei ihm 1. eine ältere Nachricht die panathenäische Verordnung betreffend, 2. eine Behauptung des Dieuchidas selbst, Peisistratos habe den Text interpoliert, die sich zweifellos als Zweckerfindung des Megarers darstellt, aber wir lesen bei ihm nichts von 3. der Sammlung des Peisistratos. Die beiden ersten Notizen setzen einen Dichter und einen fertigen Text, die dritte eine Mehrzahl von Dichtern und einen unfertigen Text voraus. Diese dritte ist auch bei weitem die jüngste Angabe, sie ist gewiß nachalexandrinisch. So erklärt es sich auch, worüber man sich mit Recht gewundert hat, daß die Scholiasten von der ganzen Haupt- und Staatsaktion nichts wissen. Wohl aber kennen sie, was nach der Dieuchidasstelle nicht verwunderlich ist, ein ἐμποεῖν des Peisistratos (Schol. Townl. zu K 6: φασὶ τὴν ῥαψῳδίαν ὑφ’ Ὁμήρου ἰδίᾳ τετάχθαι καὶ μὴ εἶναι μέρος τῆς Ἰλιάδος, ὑπὸ δὲ Πεισιστράτου τετάχθαι εἰς τὴν ποίησιν) und berichten davon auch ihrerseits in einer Form, die eine Mehrzahl von Dichtern und eine spätere Sammlung und Vereinigung ihrer Werke durch Peisistratos ausschließt. Die Sammlungshypothese ist also durchaus jung; sie mag sich an der älteren Interpolationshypothese des Dieuchidas gebildet haben, ist aber soweit davon entfernt mit ihr identisch zu sein, daß vielmehr die eine die andere ausschließt. Wie man gerade auf Peisistratos kam, kann den nicht wundern, der erkennt, daß der Nestorsohn Peisistratos in der Odyssee nach dem großen athenischen Monarchen heißt (Mülder D. Ilias u. i. Q. 353; gegen v. Wilamowitz, [1031] der der Meinung ist, der berühmte König habe früher einen plebeischen Namen gehabt und sich den des sagenberühmten Nestorsohnes, um seine Herkunft zu verbessern, nachträglich beigelegt. Daß eine so irrige Ansicht Zustimmung finden konnte, erklärt sich nur aus der Furcht vor den Konsequenzen der Wahrheit, die allerdings für die Entstehungshypothesen und die Ansichten von dem unvergleichlichen Alter der Homerischen Gedichte vernichtend ist). So dürfte denn heute nicht bloß die Peisistratische Niederschrift, sondern auch die Sammlung und Zusammenfügung (Ordnung) durch ihn als eine zwar geistreiche, aber junge und geschichtlich schlecht beglaubigte Hypothese zu bezeichnen sein. Ob man an die Peisistratische Interpolation glauben mag oder kann, hat mit dem Glauben an sie nichts zu tun; die Solonische Verordnung aber ist ein direkter Gegenbeweis gegen sie. Wichtigste Literatur für und wider: Ritschl a. a. O. Lehrs De Arist. stud. hom.³ 425ff. v. Wilamowitz Homer. Unters. II 1. Valeton Mnemosyne 1896, 405–426. Cauer Grundfr.² (1909, 125ff.). Ludwich Arist. Hom. Textkr. II § 43. Besser als der historische Einschlag des Wolfschen Systems hat der rein spekulative standgehalten, die coniectura (quam ,vulqus diffamare solet nomine hypothesium‘ p. 109). Die Hypothese soll erklären, was sonst unerklärbar erscheint, daß ein so weitläufiges Werk in altersgrauer, schriftloser Zeit entstanden sein soll, obendrein ohne daß ihm etwas Einfacheres derselben Art voraufgegangen wäre. Wäre das Werk, als ein solches, wie es ist, in dem Umfange, den es hat, von einem Dichter beabsichtigt, so könnte es nur auf Leser berechnet sein – was der Entstehungszeit widerspricht, p. 109–113. Nach dieser Seite hin hat Wolf Vorgänger (vgl. darüber Volkmann Geschichte u. Kritik der Wolfschen Prolegomena, Leipzig 1874). Er selbst nennt Anm. 84: Perrault De Composit. vett. et recentt. und Hedelin Conjectures académiques ou Diss. sur l’Iliade, Paris 1705. Wood An Essay on the Original Genius of Homer 1769, 2. Ausg. 1775, deutsch von Michaelis, Frankf. 1778 und Vico Principi di scienza nuova d’intorno alla commune natura della razione, Neapel 1744 (Mailand 1836) (bes. tom. III 456ff., deutsch von Weber, Leipz. 1822, vgl. S. 632ff.). Er beruft sich auch auf Casaubonus und Bentley (Anm. 84), dessen Satz … These loose Songs were not collected together in the Form of an Epic Poem till about 500 years after auch hier zitiert zu werden verdient. Feststehendes Axiom ist in dieser Theorie der Glaube an das ungeheure Alter der Homerischen Epen, während sich die Kritik gegen den Glauben an den göttlichen Genius des Dichters richtet. Seiner Betätigung werden menschliche Schranken gezogen, eine Entwicklung wird postuliert. Das Homerische Epos wird als Naturgesang angesprochen. Auch auf die Widersprüche und Unstimmigkeiten, die Nachahmungen und Wiederholungen, auf das Unbedeutende und Frostige in der Dichtung wies er hin (p. 138), sich die Erledigung dieser Fragen für eine spätere Zeit vorbehaltend. Für seinen Beweis hat er jedoch auf diesen Punkt ausdrücklich verzichtet (p. 138 Schluß). Das ist deshalb merkwürdig, weil die [1032] von ihm übernommene Peisistratoshypothese des Altertums nur dieser Seite des Problems entstammt, wie das ausdrücklich in der von ihm so überaus geschätzten Josephusstelle (s. o.) ausgesprochen ist: καί φασιν οὐδὲ τοῦτον ἐν γράμμασι τὴν αὑτοῦ ποίησιν καταλιπεῖν, ἀλλὰ διαμνημονευομένην ἐκ τῶν ᾀσμάτων ὕστερον συντεθῆναι, καὶ διὰ τοῦτο πολλὰς ἐν αὐτῇ σχεῖν τὰς διαφωνίας (und φασίν bedeutet für Wolf etwa: es ist die allgemeine Überzeugung). Das scheint dafür zu sprechen, daß ihm der entscheidende Anstoß für seine Hypothese weniger aus philologischem Studium als aus moderner Lektüre gekommen ist. Aber gerade dadurch, daß das Werk trotz seines philologisch-historischen Gewandes mehr schöngeistig als philologisch, mehr modern als historisch ist, wie es denn auch zwar nicht philologisch-historische Schnitzer, aber durchaus philologisch-historische Plattheiten und Geschmacklosigkeiten vermeidet, und ferner dadurch, daß es ein Produkt seiner Zeit ist (vgl. Herders Aufsätze: Homer ein Günstling der Zeit; Homer und das Epos; Homer und Ossian), hat es auf diese so gewaltig gewirkt und nicht bloß philologisches, sondern allseitiges Interesse wachgerufen. Der eigentliche Vollender der Liedertheorie war Lachmann, der es unternahm, die einzelnen Lieder, aus welchen die I. zusammengesetzt sein sollte (nach ihm 15 bezw. 16), zu scheiden und die späteren Zusätze zu ihnen auszusondern (Lachmann Betrachtgen. üb. Homers Ilias 1846, 2. Aufl. von Haupt mit Zusätzen, Berlin 1865; vgl. Abh. Akad. Berl. 1837, 155 und 1841, 1), Nichts kann besser als Lachmanns Vorgehen bei dieser Arbeit zeigen, wie vorbereitet der Boden war für den Samen, welchen Wolf ausstreute. Einer Nachprüfung der Hypothese fühlt sich Lachmann durchaus überhoben; jede epische Dichtung ist ihrer Begriffsbestimmung nach Volksdichtung, Bardengesang, Einzellied. Es ist selbstverständlich, daß das Volksepos I. aus Einzelliedern entstanden ist, daß diese Einzellieder durch Zusätze erweitert und schließlich vereinigt worden sind. Das Gefühl für die Einheitlichkeit des Ganzen wird hier – man sollte meinen aus Konsequenz gewaltsam – unterdrückt, während es bei Wolf trotz allem lebendig ist. Das Geschäft des Zerteilens wird ohne starke Inanspruchnahme philologischer Hilfsmittel nach stark subjektivem Geschmack ausgeübt; wie dilettantisch interpretiert wird, dafür ist das Δια δ’ οὐκ ἔχε νήδυμος ὕπνος Β 1 bezeichnend. Hier soll ein Liedeinschnitt sein; gefolgert wird das aus dem Widerspruch gegen den Schlußvers des A, wo Zeus schläft. Ein schlafender Zeus am Ende eines Buches und ein nichtschlafender am Anfange des nächsten – welche Kompositionsfuge! Ein anderer würde allerdings schließen, daß, wenn in zwei aufeinanderfolgenden Versen vom Schlafe des Zeus die Rede ist, daß da ursprünglicher Zusammenhang ist, und würde diesen durch philologische Interpretationsmittel aufzuhellen versuchen. Dabei steht die ganz unangreifbare Erklärung schon im Schol. A zu B 2. Der Schlaf hielt den Zeus nicht; er schlief wohl, aber nicht bis zum Morgen wie die anderen Götter und Menschen – μεριμνῶν – aus dem Grunde, der B 3 steht, und der so selbstverständlich ist. Fortgebildet [1033] wurde dann die Kleinliedertheorie durch Benicken in zahlreichen ausführlichen Erörterungen über die einzelnen Lieder Lachmanns (vgl. auch Lauer Geschichte d. Hom. Poesie, Berlin 1850), wobei er die Lachmannschen Lieder verschiedenen Verfassern zuwies. Die rückhaltloseste Zustimmung fand Lachmann dann bei Köchly (vgl. Opusc. I), der auch eine Ausgabe der Lachmannschen Lieder (Iliadis carmina XVI, Leipzig 1861) veranstaltete.
So großen Anklang Wolf gefunden hatte, der Glaube an die Einheit verschwand doch keineswegs. Goethe schwankte und gelangte schließlich zur Ablehnung der Hypothese (M. Bernays Goethes Briefe an Fr. A. Wolf 1868); Schiller war immer ihr Gegner. Sehr energisch trat für die Einheit ein Voß Antisymbolik II 231 (zur Geschichte des Streites um die Wolfsche Hypothese vgl. Körte Leben und Stud. Fr. A. Wolfs 1833, 263–312), der sowohl als Philologe wie als Dichter und Homerübersetzer den Anspruch machen konnte, gehört zu werden. Genannt wurde schon der unermüdliche philologische Verteidiger der Einheit Nitzsch.
1802 erschien die I.-Ausgabe von Heyne. Hierin wird die Ansicht entwickelt, daß die I. aus einer Anzahl größerer Epen dadurch entstanden sei, daß ein Redaktor alles einem einheitlichen Gesichtspunkte (Zorn des Achilleus – Ratschluß des Zeus) unterordnete (Theorie der Entstehung« aus größeren Epen). Über Heynes Verhältnis zu Wolf ist oben gesprochen worden; der Briefwechsel zwischen beiden bei Peppmüller Proleg.³; man braucht nur den Glauben des ganzen Altertums und der Neuzeit an einen Homer sich ins Gedächtnis zu rufen, um zu erkennen, daß Heyne in seiner Verwerfung dieses Glaubens, in der Annahme einer Mehrzahl von Verfassern Wolfianer ist. Ebenso steht es mit G. Hermann, der mit Heyne das stärkere Gefühl für den Gesamtzusammenhang teilt und unsere I. dadurch entstanden sein läßt, daß an einen älteren Kern (ein Gedicht vom Zorn des Achilleus von nicht großem Umfang, das aber andere troische Dichtungen an Geist, Kraft und Kunst derart übertraf, daß alle anderen dagegen in Vergessenheit gerieten) allmählich eine Menge von Erweiterungen sich ansetzten (Kernhypothese). Von der Heyneschen unterscheidet sich diese Theorie sehr wesentlich dadurch, daß jener die μῆνις und was damit zusammenhängt für das Jüngste, dieser für das Älteste erklärt (G. Hermann De interpolationibus Homeri, Leipzig 1832 = Opusc. V 52f.; De iteratis apud Homerum, Leipzig 1840, vgl. auch Wiener Jahrb. 1831 ,Über die Behandlung der griech. Dichter bei den Engländern, nebst Bemerkungen über Homer und die Fragmente der Sappho‘ = Opusc. VI 70). Ausdrücklich akzeptiert G. Hermann die Wolfschen Gründe für die Annahme einer Mehrzahl von Dichtern; aber die Qualität derselben hat er durch seine Variante der Hypothese sehr verschlechtert. Alle die vielen Sänger sangen des einen ursprünglichen Homer (des Dichters der μῆνις) Gesänge und blieben, soweit sie auch ändern, verbessern, ausschmücken, hinzufügen mochten (und das Hinzufügen war natürlich die Hauptsache), immer bei dem einen Thema. Anderes hätten sie überhaupt nicht singen [1034] ,dürfen‘. Da haben wir schon die Sänger, die nicht dürfen, die Ahnherren der unzähligen, die nicht dichten, sondern nur hinzufügen, erweitern, nach- und eindichten, flicken und leimen, verwirren und wieder in (unzulängliche) Ordnung bringen ,konnten‘. Was ihm durch die Wolfsche Hypothese (mit Recht) nicht genügend erklärt erscheint, ist die Tatsache, daß die Dichtung sich auf einen so kleinen Teil der troischen Begebenheiten beschränkt; diesem Bedenken trägt seine Variation Rechnung. Er ersetzt die äußerliche Sammlung und Zusammenfügung (Wolfs Kommission des Peisistratos, den Redaktor Heynes) durch einen mehr innerlichen Vorgang, eine fast mechanische Kristallisation.
Seine Peisistratische Redaktion hatte Wolf folgerichtig durchdacht. Schwerlich konnte sie alle Ströme der zerstreuten Überlieferung erfassen, und auch das, was sie erfaßte, hatte von Ursprung und Art her die Tendenz auseinanderzustreben. Erhielt sich doch selbstverständlich die althergebrachte mündliche Fortpflanzung. Wie hätte sich auch jeder Rhapsode sofort ein Peisistratisches Textexemplar verschaffen können oder wollen! Die Theorie bedurfte also eines nochmaligen Sammlers und Ordners der höchst mannigfaltigen und ungleichen Überlieferung: das ist für Wolf Aristarch. Dessen Herausgebertätigkeit muß nach seiner Theorie durchaus eine außerordentlich eingreifende und willkürliche gewesen sein. Und diesen Eindruck erhält Wolf auch wirklich aus den Scholien. Möglich auch, daß der Gedankenverlauf umgekehrt war, daß er von dem Späteren auf das Frühere ging; sicher ist, daß das Bild, welches sich Wolf von den Bemühungen der Alexandriner, besonders Aristarchs, um Homer machte, genau seinem System entspricht.
Diesen Punkt hat das Werk von Lehrs De Arist. stud. Hom.¹, Leipzig 1833 gründlich erledigt. Lehrs kam durch ein eindringendes Studium der Aristarchischen Exegese und Kritik zu dem Ergebnis, daß Aristarch dem überlieferten Text gegenüber die äußerste Vorsicht und Zurückhaltung gewahrt habe, daß also der gute und einheitliche Buchtext viel älter ist als Aristarch, und daß somit Wolfs Ansichten über die Überlieferung von Peisistratos bis zu den Alexandrinern – und damit auch die über den Zustand vor Peisistratos – in der Textgeschichte keine Stütze finden.
Wenn Lehrs einerseits auch zeigt, daß die Athetesen Aristarchs nicht zu Ausstoßungen aus dem Text geführt haben, sondern Beanstandungen geblieben sind, so ist er von der Richtigkeit dieser Beanstandungen durchweg überzeugt. Es handelt sich hiernach wirklich um Textinterpolationen, die von dem Dichter nicht herrühren können. Ihre Entstehung erklärt sich Lehrs aus der Sitte mündlichen Vortrags. Sie sind ziemlich zahlreich, und es ist sehr wahrscheinlich, daß Aristarch längst nicht alle beobachtet hat. Diese Hypothese ermöglicht es also, die Ansprüche des einen Dichters dadurch zu wahren, daß alles Nichtharmonierende, alles nicht zu Verteidigende Interpolatoren zugeschrieben wird (Interpolationshypothese). In dieser Form wird seit Lehrs die Hypothese einer Mehrzahl von Dichtern vorzugsweise bekämpft und die Einheit verteidigt (vgl. [1035] die Schriften von Ludwich s. u. Kammer Ein ästhetischer Kommentar zu Homers Ilias 1889. Rothe Jahresber. d. phil. Ver. s. u. und neuerdings ders. Die Ilias als Kunstwerk, Paderborn 1910). Welche Menge von Interpolationen und wie große dabei angenommen werden, zeigt in einer Kritik Rothes Mülder Jahresber. CLVII 308. Für den ganzen Homer treten ein Gladstone Studies of Homer 1868; ders. Landmarks of Homeric Study 1870 (deutsche Bearbeitung von Schuster). Vgl. auch H. Grimm Homer I 1890. II 1895. V. Terret Etude historique et critique, Paris 1899. O. Jäger Homer u. Horaz im Gymnasialunterricht.
Eine neue Wendung in der Homerkritik führte Grote herbei durch seine History of Greece (1846–1856); vgl. Friedländer Die Hom. Kritik von Wolf bis Grote 1853. Er sucht zu zeigen, daß die I. dadurch entstanden sei, daß in eine Achilleis (bestehend aus Buch 1, 8, 11–22) ein anderes Gedicht (2–7) eingelegt worden sei; Buch 9, ferner 10, schließlich 23, 24 seien noch spätere Zusätze und Erweiterungen. Diese Hypothese entspricht der tatsächlichen Disposition der I.: Vorgänge ohne Achilleus – Vorgänge mit Achilleus. Ist die I. nun eigentlich eine Achilleis, so müssen die Vorgänge ohne ihn (2–7) notgedrungen später eingelegt sein. Zu der Heldenfigur des Achilleus paßt es bei dieser Voraussetzung auch nicht, wenn er das Hilfegesuch seiner Kameraden abweist, zumal da dies Hilfegesuch eben das ist, worauf er so sehnlich wartet: darum ist Buch 9 eine Eindichtung. Das soll dadurch bestätigt werden, daß das Π das Hilfegesuch nicht kenne, sage doch Achilleus dort 72 b. 73 a selbst εἴ μοι κρείων Ἀγαμέμνων ἤπια εἰδείη – obwohl sich ihm Agamemnon in Ι als ἤπιος gezeigt habe! Κ und Ψ, Ω waren bereits vor Grote stark beargwöhnt, und dessen auch heute noch vielgerühmte Hypothese besteht wesentlich darin, daß er auch Ι zu den späteren Einlagen rechnet. Ein Fortsetzer der Groteschen Hypothese ist Geddes The problem of the Homeric poems, Lond. 1878, welcher diese ‚jüngeren‘ Zusätze zur I. Β–Η einerseits und Ι, Κ, Ψ, Ω andererseits als ,nachodysseisch‘ zu erweisen suchte (alte Achilleuslieder formierten die Achilleis, etwas längere Odysseuslieder die Odyssee; unter dem Einflusse der letzteren wurden dann jene späteren Eindichtungen in die I. verfaßt). Diese Behauptung hat, soweit sie Β–Η betraf, keinen Anklang gefunden, wohl aber in Bezug auf Ι, Κ, Ψ, Ω. Noch heute werden diese vielfach als odysseisch oder nachodysseisch angesprochen. Vor allem gilt Κ als nachodysseisch, eben weil darin Odysseus eine bedeutende Rolle spielt, dann auch wegen der bekannten Notiz des Scholions über Κ (s. o.), vgl. Gemoll Das Verhältnis des X. Buches der Ilias zur Odyssee, Herm. XV 557. Ranke Die Dolonie, Goslar 1881. Nachdem Grote obendrein noch das Ι verdammt hatte, war Buch 8 nur umgeben von lauter Eindichtungen, kein Wunder, wenn es sich auch als ursprünglich nicht behaupten konnte, vgl. v. Wilamowitz Über das Θ der Ilias. Nach ihm ist das ganze Stück Η 345–Κ579 in eine altere I. eingelegt. So gehen die Heynesche Hypothese einer Entstehung aus größeren Epen, die Kernhypotheee und die Interpolationshypothese fast ineinander über; der Streit [1036] geht fast nur noch darum, welchen Umfang das Ursprüngliche gehabt habe. So bemißt z. B. Croiset Hist. de la Lit. grecque die alte ursprüngliche I. nur auf Α, Λ, Π, Χ.
Eine Sonderbarkeit ist Bergks Diaskeuastenhypothese (Gesch. d. griech. Lit. Bd. I 1872). Er meint, daß der ungleiche Charakter des Homerischen Epos nicht dadurch entstanden sei, daß einmal Zerstreutes und Ungeordnetes gesammelt und geordnet wurde, sondern daß in Geordnetes Unordnung gebracht wurde durch eine besondere Gattung von Leuten, die ältere und jüngere Dichtungen aus nichttroianischen Sagenkreisen in die Homerische Poesie einflochten (Diaskeuasten). Die Peisistratische Redaktion galt nur der Wiederherstellung der Ordnung. Bergks Hypothese berücksichtigt vor allem die den Grundlagen der Entstehungshypothesen widersprechende Tatsache, daß die I. soviel Nichttroianisches enthält. Wie ist es, wenn eine so überwältigende Fülle von Troialiedern vorhanden war, möglich, daß in jene Sammlung der Peisistratischen Kommission nur Lieder, die einen so kurzen Zeitraum umfassen, eingelegt wurden? Wie konnte eine zur Sammlung von Iliosliedern eingesetzte Kommission, gar statt in den unendlichen Vorrat hineinzugreifen, so viel Andersartiges aufnehmen? Diese Erwägung an sich ist geeignet, die Hypothese einer Sammlung völlig umzuwerfen, aber so stark ist überall der Wolfsche Gedanke, daß es jedesmal nur zu einer Variation desselben kommt (so ist es schon bei G. Hermann, so auch bei Grote).
Alle Entstehungshypothesen beruhen, um überhaupt denkbar zu sein, auf der Annahme, daß die Dichter troianischer Vorgänge die Tatsachen (der Geschichte oder Sage) fertig überkamen. Hätte jeder Dichter das Tatsächliche, das er sang, selbst erfinden müssen – wie weit wären alle diese ganz subjektiven Erfindungen auseinandergegangen! Wie hätten sie durch eine Sammlung in einen einheitlichen Zusammenhang gebracht werden können! Es muß vielmehr der einheitliche Zusammenhang in den Dingen selbst gesteckt haben, d. h. also: alles, was in der I. berichtet wird, muß als Stoff bereits vor aller Dichtung existiert haben und verbreitet gewesen sein. Diese Ansicht, feiner oder grober, zieht sich durch das ganze Hin und her des Streites um Homer, sie regiert die Beweisführung der Wolfianer sowohl wie die ihrer Gegner. Es ist Nieses (Die Entwicklung der Hom. Poesie 1882) Verdienst, diesen Punkt richtig gestellt zu haben. Nach ihm existierte vor dem Dichter kein Sagenstoff, erst der Dichter schuf ihn. Soweit Wirklichkeit Quelle des Sagenstoffs ist, ist diese dem Sagenstoff sehr unähnlich. Diese sehr richtige Ansicht, die dem Dichter zuerkennt, was ihm gebührt, das ποιεῖν (die Inventio), verbindet Niese mit dem Glauben an eine Mehrzahl von Dichtern, und so versetzt er sich selbst in die Lage, in praxi zurückzunehmen, was er theoretisch postulierte: nur dem allerersten Dichter ist wirkliche Inventio zuzusprechen, spätere Dichter folgen immer wieder den Anregungen und Spuren der früheren, und so entsteht durch die Arbeit vieler, die sich jedesmal nicht bloß an den grundlegenden Plan des ersten (und einzigen) Erfinders, sondern auch an die Gedanken und Ziele der Fortsetzer und Erweiterer [1037] gebunden erachteten (so sehr gebunden erachteten, daß sie auch Reihenfolge und Ordnung heilig hielten) unsere I. Jeder Sänger übergab sie dem anderen als Ganzes und immer in etwas erweiterter Gestalt. Alle diese Sänger sind nicht Volksdichter, sondern Kunstsänger, sie wandern auch formell einer in des anderen Spuren. Ähnlich wie Niese läßt Ehrhardt (D. Entstehung der Hom. Ged., Leipzig 1894) die I. durch einen geschichtlichen Prozeß entstehen, aber bei ihm sind die Weber der Lieder keine Kunstsänger, sondern das ganze Volk selbst (,Volksepik‘ in des Wortes verwegenster Bedeutung). Hier hat sich nun der eine Dichter nicht bloß zu einer Vielzahl, sondern die Vielzahl hat sich bereits zur Zahllosigkeit und Allgemeinheit verflüchtigt. Fortgesetzt wurde die Ehrhardtsche Volksgesangtheorie durch Immisch Die innere Entwicklung des griech. Epos, Leipzig 1904. Ihm ist die althellenische epische Poesie schon keine Volkspoesie mehr, sondern Kollektivpoesie nach dem Vorbilde der schwarzkirgisischen Epik. Voraufgegangen auf diesem Wege war ihm bereits Drerup Homer (Die Anfänge der hellenischen Kultur, München 1903), der auf Brugmanns Anregung das finnische Epos (Kalewala) zum Vergleich heranzog, auf welches auch schon Jebb An introduction to Homer, hingewiesen hatte, Lönnrot mit Peisistratos vergleichend.
Erschien die I. seit Wolf als eine Sammlung von Gedichten vieler voneinander abhängiger, sich zeitlich folgender Sänger, so ergab sich ganz natürlich einmal die recht eigentlich wissenschaftliche, aber gefährliche Arbeit, eine zeitliche Reihenfolge zwischen den Liedern herzustellen. Das Material dazu schien in dem Sprachmaterial der Dichtung, vorzüglich in den formellen Rückgriffen der Dichter (Wiederholungen) fertig zur Aufarbeitung dazuliegen. Über die Wiederholungen hatte gehandelt G. Hermann De iteratis apud Homerum u. Geppert Über den Ursprung der Hom. Ged., Leipzig 1840, 250. Der oben bezeichneten Aufgabe unterzog sich schon seit 1832 Kayser, doch wirkten seine Untersuchungen eigentlich erst nach seinem Tode (Kaysers Hom. Abhandlungen ges. u. herausg. v. Usener 1881). Die einzelnen Dichtungen chronologisch zu ordnen und so Bausteine zur Geschichte des Epos zu liefern, ist nach ihm von manchem versucht worden. Im Mittelpunkte der Frage haben mit Recht immer die Wiederholungen gestanden, dies der Homerischen Poesie so ganz Eigentümliche. Es schien auf den ersten Blick auch nicht allzu schwer, wenigstens bei größeren Stellen ähnlichen Wortlauts zwischen Original und mehr oder weniger ungeschickter Nachahmung zu scheiden (Düntzer D. Bedeutung der Wiederholungen für die Hom. Kritik, N. Jahrb. 1863, 729). In eigenartiger Weise hat Christ diese Frage angefaßt (Die Wiederholungen gleicher und ähnlicher Verse in der Ilias, S.-Ber. Akad. Münch. 1880, 221-272; Zur Chronologie des griech. Epos, ebd. 1884, 1; Homer oder Homeriden 1884, 2. Aufl. 1885 und in seinen Prolegomena zur Ilias und in der griech. Lit.-Gesch.), indem er prinzipiell (ungefähr) Lied = Buch setzt. Er betrachtet also, um einen festen Grund für seine Untersuchungen zu haben, die Bücher als dichterische Einheiten – und baut [1038] damit sofort auf Sand. Der Wirrwarr auf diesem Gebiete ist allmählich groß geworden, da die Voraussetzungen für das Urteil an und für sich subjektiv sind und auch vielfach in der Entdeckerfreude vorschnell geurteilt worden ist. Dabei ist bei der Zersplitterung der Ansichten bald von einer Chronologie der ,Bücher‘, bald der ,Partien‘, dann wieder der ,Lieder‘ die Rede. Solche Behauptungen über ,alt‘ und ,jung‘ werden wahl- und zahllos immer aufs neue aufgestellt und vielfach unter Berufung auf einen Vorgänger ohne Nachprüfung zur Voraussetzung weiterer Untersuchungen gemacht. In diesem Funkte ist der Homerbetrieb ganz unwissenschaftlich geworden, und es ist kein Wunder, daß die Bedeutung der Wiederholungen für die Homerkritik überhaupt in Frage gestellt worden ist: Rothe Die Bedeutung der Wiederholungen für die Hom. Frage 1890 (es ist aber gewiß, daß die Wiederholungen als das ganz Eigentümliche der Homerischen Poesie des eingehendsten Studiums bedürftig sind, vgl. Mülder Analyse d. 10. und 12. Buches d. Odyssee, Philol. 1906, bes. 203ff. Ὁρκίων σύγχυσις, N. Jahrb. 1904, 635ff.; Die Ilias u. i. Q. 76ff.; Jahresber. CLVII 273ff.). So hat man denn nach anderen Grundlagen für das Urteil gesucht. So haben wir das linguistische Kriterium erhalten. War die I. (oder ihr Kern) so alt, wie man annahm, so konnte sie ursprünglich nicht wohl anders als in einem vorionischen (d. h. äolischen) Dialekt verfaßt worden sein. Bestätigt wurde dieser Schluß durch den Nachweis des ϝ und sonstiger äolischer Spuren in der I. Zunächst hatte man im Eifer gleich die ganze I. als ursprünglich äolisch angesetzt: Fick Die Homer. Ilias nach ihrer Entstehung betrachtet und in der ursprünglichen Sprachform wiederhergestellt 1886; später, als man auch Ionisches genug anerkennen mußte und da die Theorie einer Mehrzahl von Dichtern die Annahme zeitlicher Differenzen zwischen den einzelnen Teilen der Dichtung, also eine Erklärung der tatsächlich vorhandenen Dialektmischung in der epischen Sprache zuließ, wurde der Versuch gemacht, zwischen älteren äolischen und jüngeren ionischen Bestandteilen zu scheiden. So von Robert Studien zur Ilias mit Beiträgen von Bechtel, Berlin 1901. Neben den linguistischen Kriterien machte Robert auch hoplistische seinen Untersuchungen dienstbar. Er lehnte sich hierbei an an Reichel Über hom. Waffen, Wien 1894, wie denn die an den Ausgrabungen erstarkende Archäologie in die Homerkritik immer stärker eingegriffen hat. Stichwort für diese archäologische Homerkritik sind die ,Kulturschichten‘ (,Kulturstufen‘ sagt Cauer Grundfragen d. Homerkritik 1. Aufl. 1895, 2. Aufl. 1909, 257ff.), als wäre die I. (wie die Stadt Ilios) eine große Trümmerstätte, in der die verschiedenen Kulturen vieler Jahrhunderte übereinandergeschichtet liegen. So läßt man denn alle Realien (Kleider und Schnallen, Berufs- und Arbeitszeug, Haus und Hof, Leben und Sterben usw.) Aussage geben über das Alter der Partien, in denen sie vorkommen, und unterscheidet darnach mykotische und andere Partien des Epos. Im allgemeinen besteht hier das Bestreben, um die Parallelen mit den Ergebnissen der Ausgrabungen nicht preiszugeben, möglichst vieles möglichst [1039] weit zeitlich hinaufzusetzen, soweit, daß mit den realen Kriterien die linguistischen nicht einmal mehr Schritt halten können. So ist denn, besonders in England, der äolische Heldengesang bereits durch den achäischen überholt worden, Leaf The Iliad edited 1886; A Companion to the Iliad and the Odyssee 1892. Jebb An introduction to the Iliad and the Odyssee, Glasgow 1887, übers. von Schlesinger 1893. Und für Monro Homer and the early history of Greece (Engl. Historical Review 1886 nr. 1) ist dieser achäische Dialekt der Urdialekt des europäischen Griechenlands. In der alten epischen Sprache sieht in ähnlicher Weise eine äolisch-ionische (noch nicht differenzierte) Gemeinsprache Drerup Homer 48. 55. 107.
Schließlich ist noch Erwähnung zu tun der Versuche, durch das Studium der Technik des Dichters Ergebnisse für die Homerische Frage zu gewinnen. Sie gehen durchweg aus von dem Glauben an ein ungeheures Alter des Homerischen Epos und gipfeln in dem Nachweise, daß Homer dies oder das noch nicht gekannt oder schon gekannt habe. Derart ist der Aufsatz von Zielinski Die Behandlung gleichzeitiger Ereignisse im antiken Epos, Leipzig 1901 (Philol. Suppl. VIII 3). Er konstatiert z. B., daß der Dichter den Kunstgriff nicht kannte, mit einem ,Inzwischen hatte‘ in die Vergangenheit zurückzugehen. Darum erzählt er Dinge, die gleichzeitig geschehen, nacheinander (was wohl nicht gerade etwas Besonderes wäre), sondern er bildet sich auch ein, daß die (gleichzeitigen) Dinge, die er nacheinander erzählt, nacheinander geschehen seien, und diese seine verkehrte Vorstellung wirkt nun auf seine Darstellung selbst zurück. Angeregt durch Zielinski ist die Dissertation von Hedwig Jordan Der Erzählungsstil in den Kampfszenen der Ilias, Zürich 1904, in welcher eine Gleichartigkeit der Darstellungsmittel bei den ,iliadischen‘ Dichtern, und eine Verschiedenheit in der Fertigkeit, diese Darstellungsmittel zu gebrauchen, Ziel der Beweisführung ist.
VIII Datierung. Die Nachrichten des Altertums über das Alter der I. s. unter Homeros. Es ist unter diesen jedoch keine, die urkundlichen Wert hätte; alle beruhen auf Schlüssen, für welche ein Zeitansatz für den troianischen Krieg den Obersatz und subjektive Vorstellungen von dem zeitlichen Abstände des Chronisten von den geschilderten Begebenheiten den Untersatz bilden. Die meisten gelangen so zu einem sehr hohen Alter durch einen zweifellosen (auf einem falschen maior und minor beruhenden) Fehlschlusse; nur der Historiker Theopomp und der Philolog und Dichter Euphorion, die den Homer zum Zeitgenossen des Archilochos 2|Archilochos machten, bilden eine rühmliche Ausnahme. Anzuerkennen ist auch, daß diese beiden zu diesem Ansatze anscheinend nicht durch einen Schluß vom troianischen Kriege her gekommen sind – schade, daß wir ihre Gründe nicht kennen (Clemens Alex. Stromat. 1 c. 21. Tatian Oratio ad Graecos c. 21. vgl. Sengebusch Diss. Hom. I 14. Rohde Stud. z. Chronol. d. griech. Lit. Rh. Mus. XXXVI).
In der Neuzeit hat die Frage eigentlich ein doppeltes Gesicht bekommen, verlangt doch die Wolfsche Theorie zwei Datierungen, eine für [1040] die Abfassung der Einzellieder, eine andere für die Zeit der Sammlung. Der Kampf gegen die Hauptstütze der Wolfschen Theorie, die Peisistratische Sammlung, gestaltete sich sofort auch zu einem Kampfe gegen den zweiten Zeitansatz. Fußend auf der Überzeugung, daß die Homerischen Epen die ältesten griechischen Literaturwerke seien, traten die Gegner den sog. literarischen Zeugenbeweis an (z. B. Nitzsch; am eingehendsten Naber Quaestiones Homericae, Amsterdam 1877). Durch Zitate aus den ältesten Literaturdenkmälern (z. B. Tyrtaios, Archilochos, den Kyklikern) wollte man beweisen, daß die I. sehr viel älter sei als Peisistratos. Dieser Beweis gilt ziemlich allgemein als gelungen; soweit man an einer ,Sammlung‘, bezw. Vereinigung ursprünglicher Einzellieder festhält, wird nun der Zeitpunkt für diesen Vorgang weiterhinaufgerückt. Schenkt man gar den für die Dichter des Kyklos überlieferten Daten Glauben, so rückt die Vereinigung der Einzellieder schon erheblich vor den Beginn der Olympiadenrechnung, die Entstehung der Einzellieder direkt an die Zeit des troianischen Krieges heran. Aber selbst da ist die neuzeitliche Homerwissenschaft nicht stehen geblieben. Die archäologischen, historischen und linguistischen Bemühungen um Homer haben auch diese – man sollte meinen – phantastischste Zeitgrenze schon überschritten. Die Schlußfolgerungen verlaufen etwa so: Der Kern der I. ist aus Achilleusliedern entstanden, die Heimat des Achilleus ist Thessalien, dort werden Lieder zu Ehren dieses Heros zuerst gesungen sein (Υ 204). Diese alten Lieder nahmen thessalische Auswanderer mit in ihre neue kleinasiatische Heimat – und so steigt man denn mit den ältesten Liedern hinauf bis in die Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr. Zu einem ähnlichen Ansatz gelangt man, wenn man annimmt, daß die vor der dorischen Einwanderung aus dem Peloponnes weichenden ,Achäer‘ ihre Stammsagen mit sich übers Meer führten und daß diese Stammsagen (von Agamemnon, Diomedes, Nestor, Odysseus, Helena usw.) den Kern der I. ausmachen (in eigentümlicher Theorie phantastisch ausgemalt von Murray The rise of the Greek Epic, Oxford [2. Aufl.] 1911). Diesen historischen Erwägungen über Aus- und Einwanderungen (insbesondere die dorische Wanderung) laufen die archäologischen noch voraus: da ja die Wissenschaft des Spatens von der I. ausgegangen ist, so läßt das heiße Bestreben nicht nach, die Kultur der Ruinen und der Gräber in der I. wiederzufinden und so die I. zu erklären. Indem man sein Augenmerk ausschließlich auf das Altertümliche in der I. richtet (ist es doch bequem, das Moderne und Aktuelle ,Spätlingen des Epos‘ zur Last zu legen), erklärt man das Wesentlichste an ihr für achäisch bezw. mykenisch, jedenfalls vorionisch, malt wohl gar mit glühender Phantasie ein Bild dieser primitiven Entstehungszeit (Murray 72ff.).
Über ihr Alter Auskunft zu geben, ist zu allererst die I. selbst berufen. Es kann dabei auch nur eine einzige wissenschaftliche Methode geben, das ist die, die I. zu prüfen, wie sie als Ganzes überliefert ist, d. h. ohne Annahme unzähliger Interpolationen. Wenn es auch durchaus wissenschaftlich ist, die Zeit eines Literaturwerks zu bestimmen nach dem Jüngsten in ihm, so sollen [1041] hier doch jene als Interpolationen geltenden oder für solche erklärbaren Einzelstellen erst in zweiter Linie herangezogen werden. Betrachtet man die I. als Ganzes, so können starke Meinungsverschiedenheiten über die Zeit ihrer Abfassung nicht bestehen; man kann vielmehr sagen, daß, wenn man Abfassung durch einen Dichter annimmt, nur eine ziemlich eng begrenzte Zeit in Betracht kommen kann. Das ist so gewiß, daß Homerforscher, welche die Abfassung einer einheitlichen I., einer I., die etwa so war wie die unsrige, um (beispielshalber) 900 setzen, ihre Grundansicht damit selbst widerlegen. Die I. kann nur fallen in die Blütezeit der ionischen Literatur, etwa in die Zeit des Archilochos. Zeigt doch die I. überall ausgebildete politische Debatte und eine höchst entwickelte, ihrer Wirkungen sichere Rhetorik, Mülder Die Ilias u. i. Q. 85. 114. 164. 263. 360. Noch liegt die Exekutive in den Händen eines erblichen Magistrats, doch steht ihm eine βουλή zur Seite, und vor allem: die letzte Entscheidung liegt beim δῆμος. Wir haben in der διάπειρα ein Bild aus dem Leben und erhalten eine Vorstellung von der Schwierigkeit und den Mitteln der Volksleitung. Daß diese Szene ganz modern ist, kann man trotz der altertümlich drapierten Figuren garnicht verkennen. Nicht so handgreiflich ist das Moderne in Α; der ganze Wurf der Szene beweist aber, daß Kritik der Staatsleitung in der ἀγορά durch eine Opposition zu den gewöhnlichen Dingen gehört und daß auf die Volksstimmung die höchste Rücksicht genommen werden muß. Auf troischer Seite findet man ein ähnliches Bild: Hektor und den opponierenden Poulydamas. Hektor setzt seinen Willen durch, – aber nach dem Fehlschlage sucht er, um dem Hohn des Gegners und dem Zorn der Volksmenge zu entgehen (Χ 99–110), den Tod. Die Debatte in der Volksversammlung verläuft schon in geregelten Formen, lehrreich ist die Vorschrift Τ 79 ἑσταότος μὲν καλὸν ἀκούειν, ουδὲ ἔοικεν ὑββάλλειν – wenn wir nur genau wüßten, was ὑββάλλειν ist, man soll aber nur nicht meinen, daß es ein einfaches Stören durch Zwischenruf ist, da es ausdrücklich weiter heißt: χαλεπὸν γὰρ ἐπισταμένῳ περ ἐόντι. Durch ein solches würde sich kein Redner aus dem Konzept bringen lassen. Bezeichnend ist auch die Charakteristik zweier verschiedener Redner, Γ 204ff., ferner die Thersitesszene Β 212ff., bezeichnend auch der Name dieses Mannes (Θερσίτης von θάρσις). Überhaupt ist die Etymologie soweit durch die I. hin verbreitet (Mülder a. a. O. 114. 131. 139. 184. 234. 246. 263. 272), daß man nicht wohl anders kann, als systematischen Betrieb derselben annehmen, wie ja auch sonst mannigfache Beziehungen zur Wissenschaft (Geschichte, Geographie, zur spekulativen und zur ethischen Philosophie Mülder 43. 263) obenauf liegen. Auf eine späte Zeit weist auch die souveräne Behandlung der Volksreligion im Stile der Komödie (Mülder 128) und die vollendete dramatische Technik (Mülder 44), zu der auch der Deus ex machina gehört. Ganz modern ist die der ganzen Dichtung unterliegende Idee einer ganz Griechenland umfassenden Symmachie (Gercke Deutsche Rundschau 1909, 344–357 und Mülder a. a. O. 26 Anm.; Jahresber. CLVII 220) mit einem Bundesfeldherrn [1042] an der Spitze und die einer kriegerischen Expedition von Gesamthellas nach Kleinasien. Es läßt sich vorstellen, wie zur Zeit der Bedrohung ihrer Freiheit die kleinasiatischen Griechen ihre Blicke hilfesuchend auf die mächtige von den Agiaden geführte peloponnesische Symmachie richteten. Man liebt es, dies Zeitbild zu übersehen, indem man sich daran klammert, daß Agamemnon nach der I. ,Argiver‘ und nicht Spartaner sei, daß der Dichter den Gesamtnamen ,Hellenen‘ ,noch nicht kenne‘ usw., immer das Aktuelle in der zugleich archaischen und poetischen Einkleidung verkennend. Denkt man sich aber in dies Zeitbild wirklich hinein, so wird man sich auch nicht wundern, die Dichter der altionischen, militärisch-politischen Elegie in der I. zitiert und ihre Anweisungen durch Szenenbilder illustriert zu sehen (Mülder Homer u. d. altionische Elegie, Hannover 1906, vgl. Cauer Grundfr.² 529ff. u. Mülder Jahresb. CLVII 176). Es kann daher die I. keinenfalls über die Mitte des 7. Jhdts. hinaufreichen (noch etwas weiter geht hinab Michel Bréal Pour mieux connaître Homère, Paris 1906, der jedoch einen älteren Kern um 700 abgefaßt sein läßt. Viel weiter hauptsächlich aus sprachlichen Gründen geht Paley Ausg. d. Ilias 1866 und in kleineren Artikeln). Zu dieser Zeitbestimmung passen verschiedene Einzelstellen, die man sonst ihres zweifellos modernen Charakters wegen athetiert, das Poseidonopfer am panionischen Feste (Φ 404ff., vgl. v. Wilamowitz Panionion, S.-Ber. Akad. Berl. 1906, 38), der politische Zustand Attikas nach der I., die Zurechnung von Salamis zu Attika (Β 557f. Μ 331. Mülder a. a. O. 97 Anm.). Zu derselben Zeitbestimmung gelangt man von der Odyssee ausgehend, die als ein materiell und formell ganz und gar durch die I. bedingtes Werk schwerlich mehr als ein halbes Jahrhundert später als diese angesetzt werden kann. Für die Zeitbestimmung der Odyssee aber ist außer einem Archilochoszitat σ 136f. = frg. 70 (Croiset Revue des deux mondes 1907, 605 Anm., vergleicht auch frg. 55. 62. 64. 73. 78) und der Erwähnung der Kimmerier (Kirchhoff Die homer. Odyssee) entscheidend, daß der Dichter den in der Odyssee auftretenden Sohn des Nestor nach dem berühmten attischen Könige Peisistratos nennt (Mülder a. a. O. 353ff. gegen v. Wilamowitz (beiläufig: wenn der Erfinder der Peisistratischen Redaktion gerade den Peisistratos als Sammler nennt, so wird das davon herrühren, daß er hinter dem dichterischen Nestorsohne den geschichtlichen Athenerkönig wohl erkannte. Und damit stand er vor der Schwierigkeit, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie unter all das Vorgeschichtliche der geschichtliche Peisistratos kommt, wie ja auch Dieuchidas das Vorkommen einer geschichtlichen Angabe in vorgeschichtlicher Handlung [vom spezifisch megarischen Standpunkt aus] erklären wollte. Der Grund des Irrtums ist hier wie überall der Glaube, daß der troianische Krieg Tatsache und der Bericht der I. darüber authentisch sei).
IX. Quellen der Ilias. Im Banne der Grundvorstellungen des Altertums sehen die Neueren die Sache ähnlich an; in ihnen befangen, können sie durchaus nicht die Vorstellung zulassen, daß der Dichter antikisiere, d. h. eine von ihm selbst erfundene dichterische Handlung in ferner Vergangenheit [1043] spielen lasse; sie ziehen vielmehr jede noch so phantastische Hypothese diesem Gedanken vor (Cauer Grundfr.² 262ff.). Man hat auch gegen ihn einen für durchschlagend geltenden Einwand. Wenn man schon für einen ionischen Dichter der Blütezeit die Möglichkeit, daß er antikisiere, nicht abweisen kann, so behauptet man doch, daß er dies unmöglich mit durchschlagendem Erfolge habe tun können. Man setzt dabei, wieder im Banne der Vorstellungen des Altertums, voraus, daß das in der I. entworfene Bild heroischer Zeit echt sei. Diese Voraussetzung schwebt natürlich ganz in der Luft; sie ist nur ein Niederschlag des Eindruckes, daß die heroische Zeit folgerichtig geschildert werde. Aber dieser Eindruck hält vor dem kritischen Urteil nicht stand, wie die zahllosen Anachronismen allein schon beweisen, Anachronismen, welche eben der Glaube an die Echtheit des Berichteten für Interpolationen (dorische, attische, kretische usw.) erklärt Man kann ruhig behaupten, daß die geographischen und historischen Konstruktionen des Dichters zwar Urteil und Kenntnis verraten, aber durchaus – wie es ja auch nicht anders sein kann – unwirklich sind. Aber in diesem Punkte hat der Dichter doch – wenn auch keineswegs pedantisch – antikisieren wollen; die Art des Vorstellens und Empfindens ist dagegen bewußt modern. Das darf man nicht darüber übersehen, daß die Figuren, welche der Dichter mit diesem modernen Geiste erfüllt, sowohl als solche altertümlich sind, als auch in ihrem äußeren Gehaben viel Altertümliches zeigen. Aber andererseits ist doch auch die Frage, woher dies Altertümliche stammt, nicht von der Hand zu weisen, umso weniger, als dies materielle Verhältnis in dem Vorkommen altertümlichen Sprachgutes eine formelle Parallele hat. Die Lieder- bezw. Entstehungshypothese scheint eine glänzende Erklärung für dies Problem zu sein, und eben deshalb behauptet sie in grenzenloser Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit ein zähes Leben. Das Problem liegt aber keineswegs so, wie die ursprünglichere und ältere Form dieser Hypothese annimmt. Altertümliches und Modernes scheidet sich keineswegs nach Büchern, Liedern oder Partien, es liegt überall untrennbar nicht nur neben-, sondern auch in- und durcheinander, sodaß dieser Seite der homerischen Frage nur noch die modernsten Auswüchse der Entstehungshypothese (Volksgesang, Kollektivdichtung s. Abschn. VII gegen Schluß) gerecht werden konnten; dafür statuieren sie auch das Chaos.
Das Problem findet eine vollkommene und verständliche Erklärung in der Annahme einer Abhängigkeit eines Dichters von älterer Literatur. Diese Abhängigkeit muß allerdings von besonderer Art gewesen sein, vor allem viel tiefgehender, als es uns bei unseren Vorstellungen von geistigem Eigentum naheliegt. Aber man darf auch nicht an so etwas wie einen bloßen Redaktor denken, schon deshalb, weil es nichts (keine troischen Lieder) zu redigieren gegeben hat.
Lieder vom troianischen Kriege können nicht die Vorlagen des Dichters der I. gewesen sein. Der ganze Befund weist aber darauf hin, daß der Dichter Vorlagen gehabt hat. Müssen wir uns bei dieser Erkenntnis begnügen – oder können wir von diesen Vorlagen etwas wissen? Die ganze [1044] moderne Homerforschung wäre eitel und ergebnislos gewesen, wenn man jetzt, wo es mit den Liedern und Epen vom troianischen Kriege ein Ende hat nehmen müssen, sich begnügen und sagen würde: Ergebnis genug eines hundertjährigen wissenschaftlichen Betriebes, daß wir wissen, die Überlieferung hat recht (wir sind mehr als 100 Jahre in die Irre gegangen), die I. ist eine Einheit und hatte einen Dichter, und daß wir weiter natürlich auch wissen: fuerunt et ante Homerum poetae (so Rothe Die Ilias als Dichtung unter Annahme zahlloser Interpolationen). Wenn man eine starke und eigenartige Abhängigkeit des Dichters von irgend welchen Vorlagen voraussetzt, so kann man über den Dichter selbst kein Urteil haben, wenn man nicht wenigstens eine Vermutung über seine Quellen hat (Mülder Jahresber. CLVII 303).
Die Verhältnisse liegen für die Forschung nach den Quellen des Dichters garnicht ungünstig. Eine Eigentümlichkeit der I. widerstreitet direkt dem Gedanken, daß sie aus einer Sammlung troischer Lieder entstanden sei (Mülder a. O. 216f.): das Vorkommen sehr zahlreicher nichttroischer Beziehungen und Anspielungen, ja weitläufiger nichttroischer Partien. Eben aus diesem Gefühl heraus hat man dies Nichttroische so ziemlich ohne Ausnahme athetiert; Λ 664–762 (ein durchaus altertümliches Eeferat aus pylischer Sage) gilt als Interpolation schon seit Hermann (Epist. ad Ilgen. p. VIIIf.) und Lachmann (Betracht. 61), Λ 705 soll sogar aus ι 42 entlehnt sein (Friedländer Aristonikos 201 Sittl Die Wiederh. in der Odyss. 38, dagegen Gemoll Herm. XVIII 62f. und Mülder Das Kyklopengedicht der Odyss. Herm. XXXVIII 414ff.). Demselben Lose ist verfallen das gleichfalls altertümliche Referat aus kalydonischer Sage Ι 529–599 (La Roche Die Erzählung des Phoinix (von Meleagros, München 1859. Die Grotesche Hypothese beseitigt gleich das ganze Ι), desgl. die Erzählung von Tydeus Δ 370–400 (seit Köchly De Iliadis carminibus diss. IV, Zürich 1857 und Benicken Das 3. u. 4. Lied vom Zorne Achills, Halle 1874), andere verwerfen lieber gleich die ganze Epipolesis; Η 133–160 aus pylischer Sage verwirft La Roche Ztschr. f. österr. Gymnas. 1863, 169. Die Verse Ο 18–31 (Herakles) schrieb schon Zenodot nicht; für eine Interpellation erklärte sie la Roche Ztschr. f. österr. Gymn. 1863, 165, andere verwerfen mehr und größere Abschnitte des Ο; es gilt manchen ja auch die ganze Retardation Ν–Ο als ,Ein- oder Nachdichtung‘, zumal seit die Abhängigkeit des Ν von der Elegie zugegeben werden muß. Τ 95–133 (Herakles) wird ziemlich allgemein verworfen. Die Glaukosepisode (Referat aus der Bellerophontessage nebst Anspielungen auf den Zug der Sieben gegen Theben) Ζ 119ff. gilt schon auf Grund des Schol. Α zu Ζ 119 ὅτι μετατιθέασί τινες ἀλλαχόσε ταύτην τὴν σύστασιν als unecht Ψ 630ff. (Leichenspiele bei der Bestattung des Amarynkeus) haben schon deshalb keinen Kredit, weil sie in Ψ stehen. Von Ω 602-617 (Niobe) athetierten die Alten schon 614–617; wenn die Versuche, auch den Rest zu athetieren, nicht völlig durchgedrungen sind, so hat das seinen Grund darin, daß das ganze Ω sowieso als jung [1045] galt. Es ist überflüssig, alle die kürzeren nichttroischen Notizen aufzuführen, welche die größeren Abschnitte vervollständigen oder die Kenntnis anderer Sagen bezw. Dichtungen bezeugen. Nur zweier wichtiger Punkte sei noch Erwähnung getan: 1. der zahlreichen Berührungen mit der alten Elegie, besonders in Ν (zu Χ 71 bff. haben wir glücklicherweise das Original Tyrtaios frg. X 21ff. noch, Mülder Homer und die altion. Elegie; Die Ilias u. i. Q. 150ff.) und 2. der auffallenden Tatsache, daß die in der I. erwähnten Unternehmungen der ersten neun Kriegsjahre ausnahmslos Unternehmungen des Achilleus allein sind und daß diese einen ganz anderen Schauplatz haben, als ihn die eigentliche Handlung der I. hat. Offenbar haben wir hier Angaben aus älterer Achilleusdichtung, Mülder Die I. u. i. Q. 206ff. Das wichtigste Stück steht Υ 158bff. (Aineias und Achilleus), das zweitwichtigste Β 681–694 – das erste natürlich längst athetiert, das zweite als zu Β gehörig: ,spät‘.
Wenn man die Tatsache berücksichtigt, daß viele der Helden, welche unser Dichter zum Zuge gegen llios vereinigt, vorher Mittelpunkt einzelner Dichtungen gewesen sein müssen, deren Inhalt und deren Schauplatz nicht troisch war, so wird zu erwägen sein, ob nicht diese Dichtungen als Vorlagen des Dichters der I. zu gelten haben. Diese an und für sich naheliegende Annahme wird dadurch bestätigt, daß in der I. selbst solche Erlebnisse und Taten der jetzt vor llios handelnden Helden erwähnt werden. Diese Erwähnungen werden zwar durch sehr souveräne Anknüpfungsformeln (wie es übrigens geboten war, Mülder a. a. O. 44. 47. 50. 217. 234. 260. 268. 281) angebracht, aber sie stehen dafür in einem festen, innerlichen Verhältnis zur Ilioshandlung. Dies verkennt die Liedertheorie, verkennen auch alle Kritiker, die so geist- und trostlos athetieren. Die wichtigsten Sagen (Dichtungen), auf welche Bezug' genommen wird, sind 1. der Zug der Argiver gegen Theben; 2. eine Achilleusdichtung; 3. eine Dichtung von Nestor. Die Haupthelden dieser Dichtungen finden wir persönlicn oder in Substitution vor Ilios wieder: Achilleus, Nestor, Diomedes (= Tydeus), Sthenelos (= Kapaneus), Agamemnon (als Oberfeldherr und Argiver = Adrastos Β 572), und manche der alten Vorgänge erneuern sich hier. Die Beziehungen zweier anderer Dichtungen zur I. liegen nicht so oben auf, weil ihre Helden nicht am Zuge gegen Ilios teilnehmen, Meleager und Herakles. Aber gerade sie sind für die I. besonders vorbildlich. Der Meleagerdichtung entstammt die Idee der Kampfenthaltung des Helden aus Zorn, die Bittgesandtschaft und deren Abweisung, die Wiederbeteiligung in der höchsten Not auf Grund beweglicher Fürbitte (Achilleus ein anderer Meleager, Mülder a. a. O. 18–53); dem Herakles,schwank‘ entstammt die βουλὴ Διός, die allem Entgegenwirken der Hera zum Trotz sich durchsetzende wohlmeinende Absicht des Zeus mit dem Helden (Achilleus ein anderer Herakles, Mülder a. a. O. 117–142). Diese βουλή überbrückt auch die Kluft zwischen Achilleus und Meleager; sie ermöglicht, daß Achilleus vor Ilios trotz der erlittenen Kränkung bleibt wie Meleager in Kalydon blieb (vgl. Abschn. III).
Haben wir diese Dichtungen als Quellen für [1046] die I. als Ganzes anzusehen, so folgt daraus auch etwas für die Einzelszenen. Wenn die Nestordichtung die Erlegung eines Riesen in einem Zweikampfe berichtete und wenn auf diese Tatsache bei der Gestaltung des Zweikampfes zwischen Hektor und Aias ausführlich hingewiesen wird (Mülder a a. O. 39), so läßt sich kaum bezweifeln, daß wir hier die Quelle für die Zweikampfszene der I. in Händen halten. Ganz ebenso wird in den Leichenspielen für Patroklos derjenigen für Amarynkeus Erwähnung getan (Mülder a. a. O. 45). Gelegentlich weist der Dichter auch darauf hin, daß in seiner Vorlage die Dinge anders verliefen als bei ihm, z. B. Bestrafung der Hera für die Διὸς ἀπάτη), woraus dann mit ziemlicher Sicherheit gefolgert werden darf, daß die allgemeine Idee der Szene bis dahin (bis zu jener Abweichung) der betreffenden Vorlage entstammt (Mülder a. a. O. 124). So werden sehr viele Einzelszenen diesen (oder anderen) Vorlagen entstammen; wie weit die Anlehnung geht, ist dabei eine Frage, die wohl noch der Nachprüfung wert ist; es ist aber ersichtlich, daß der Dichter der I. überall neuert und umgestaltet. Sein eigenes dichterisches Ziel geht sehr häufig auf Steigerung des Pathos, (Mülder a. a. O. 68 u. ö.); deutlich kenntlich ist das in Hektors Lösung (Mülder a. a. O. 256ff.); mit aller Kunst wird das Ziel verfolgt, das Schicksal des Priamos zur tragischen Höhe des Niobeschicksals zu erheben. Dies Bestreben des Dichters würden wir übersehen, wenn das Niobezitat nicht einen Fingerweis gäbe. So ist das Niobezitat also ein Quellenhinweis, wie es deren bei dem Dichter der I. (z. B. beim Zweikampf zwischen Hektor und Aias, den Leichenspielen für Patroklos, der Strafandrohung des Zeus an Hera) wie in aller Literatur genug gibt. Auf derlei beiläufige und überraschende, nichttroische Notizen – die natürlich der in die Irre gehenden Homerkritik durchweg verdächtig sind – muß man sein Augenmerk gerichtet halten. Der Raub der Helena ist zweifellos altes Sagengut; in die I. ist dies eingegangen in starker Umgestaltung (Entführung übers Meer, durch einen Barbaren, ins Barbarenland, Verführung, Zwang seitens der Aphrodite). Wenn wir nun in der Teichoskopie Helena nach ihren göttlichen Zwillingsbrüdern ausschauen sehen und hören, wie sie konstatiert, daß diese ihr in diesem Falle nicht Befreier sein konnten (Γ 236ff.) – muß man nicht schließen, daß diese – wie es ja fast selbstverständlich ist – ihre Befreier in der ursprünglichen Sagenform waren? Und sollte nicht auch die merkwürdige Tatsache, daß bei dieser Gelegenheit eine Aithra (als Sklavin, als Königin hatte sie neben der Hekabe ja keinen Platz) im Gefolge der Helena erscheint (Γ 144), einen Rückschluß auf die ursprüngliche Sagenform gestatten?
X. Geschichtlicher Kern. Der Glaube an die Geschichtlichkeit der Handlung der I. ist auch in der Neuzeit noch mächtig. Aus diesem Glauben in seiner naivsten Form heraus hat Schliemann in Hissarlik gegraben, und die Ergebnisse seiner Ausgrabungen haben diesem Glauben neue Nahrung gegeben. Auch Dörpfeld (Troia und Ilion 1902) hält trotz gründlicher Korrektur der Schliemannschen Ansicht (vgl. Mülder Jahresb. CLXI 137ff.) an der Überzeugung [1047] fest, daß die Grabungen die Geschichtlichkeit des ,Berichts der I.‘ dartäten, Sonst nimmt man gemeiniglich nur noch einen ,geschichtlichen Kern‘ an, den man durch Reduktionen des vorliegenden Berichts (so verfährt schon Thukydides, s. o. Abschn. IV) herstellt. Auch Dörpfeld kommt ohne sehr erhebliche Verkleinerungen nicht aus; ist doch das von ihm ausgegrabene ,Ilios‘ keine Großstadt, ja überhaupt nicht einmal eine Stadt, sondern eine ,Gaugrafenburg‘. Das Streben, Abstriche vorzunehmen an der Zahl der Teilnehmer des Zuges, an der Größe der Stadt Ilios und der Zahl ihrer Verteidiger und so den historischen Kern zu konstruieren, geht weit hinaus über archäologische Kreise. Die Einschränkungen erfolgen aber zumeist nicht so sehr aus starken inneren Gründen, sondern gewissen voreiligen Hypothesen zuliebe. So streicht man von der Liste der Teilnehmer der Reihe nach die athenischen Helden, die dorischen, den Diomedes und so manchen anderen, selbst des Achilleus Teilnahme wird angezweifelt. Am liebsten würde man (vgl. Mülder Jahresber. CLVII 175) nur in den Atriden und ihrem Gefolge die wirklichen echten Troiakämpfer sehen. Aber selbst in dem so übrig bleibenden atridischen Handlungskomplex sieht noch vieles sehr unhistorisch aus: z. B. der Kriegsgrund. Man würde an seine Stelle gerne einen weniger romantischen setzen – aber wo bliebe dann der ,historische‘ Zweikampf zwischen Menelaos und Paris? Auch die unwahrscheinliche Versammlung in Aulis und die zehn Kriegsjahre sitzen in der Überlieferung zu fest, als daß man an ihnen zu rütteln wagte.
Nun liegt der Schauplatz der I. in einem Landstrich, der, ursprünglich barbarisch, von Griechen kolonisiert wurde. Diese Kolonisation wird langjährige Kämpfe gekostet haben – da ist auch ein realer Kriegsgrund: ein Kampf um Wohnung und Acker. So sieht man denn den geschichtlichen Kern der I. in Überlieferungen von der Kolonisation der Troas durch Ausgewanderte aus der Argolis (und dem übrigen Peloponnes). Als Grund dieser Auswanderung sieht man die dorische Wanderung an und nennt diese Auswandererscharen wohl südachäisch, da die Argiver in diese Hypothese nicht recht eingehen. Nun erhebt sich die Frage, wie denn in diese Einwanderungs- und Kolonisationssage der ,Südachäer‘ alle anderen Stämme und Helden hineinkamen. Dafür soll die Sagenwanderungshypothese eine Erklärung geben‘. Spätere Einwanderer aus den übrigen Bezirken Griechenlands brachten ihre Stammsagen mit in die Troas, und diese verschmolzen mit der dort alles überstrahlenden Troiasage in eins, derart, daß die heimatlichen Kämpfe dieser Stammeshelden um ein Stück Land sich nun vor Ilios abspielten. Da das ursprüngliche Lokal dieser Kämpfe aber die Heimat (vor allem Thessalien) war, so gibt es in dem Bericht der I. über diese Vorgänge noch Reminiszenzen an das Ursprüngliche. Auf Grund derselben kann man diese Helden und ihre Kämpfe wieder aus der Troas zurück in ihre ursprüngliche Heimat verweisen. Begründet ist die Theorie von Dümmler Hektor i. Anhang zu Studniczkas Kyrene 1890, weiter ausgeführt von Bethe N. Jahrb. 1901, 657ff. und 1904, 1ff., aufgenommen von Cauer [1048] Grundfr.² 195ff. Sie bekämpft Crusius S.-Ber. Akad. Münch. 1905, 749ff. Mülder Jahresber. CLVII 246ff., vgl. Cauer Grundfr.² 541ff. Zu erwähnen ist noch, daß, während Dümmler die Kämpfe zwischen Achilleus und Hektor in der vermeinten ursprünglichen Heimat (Theben) stattfinden ließ, Bethe den Kampf zwischen Aias und Hektor in die Troas verlegte, weil Aias ein Grab beim Rhoiteion besäße, also da ,zu Hause‘ sei. Auf Bethe geht dann die Neigung zurück, in Aias den ursprünglichen Helden der Troiasage zu sehen und von uralten Aiasliedern zu fabeln, Cauer Grundfr.² 198ff. Vorangegangen in der Aiasverehrung war schon Brückner in Dörpfelds Troia und Ilion c. IX.
Wenn man die Frage nach dem ältesten Kern richtig stellt, so kann es wohl nur eine Antwort geben. Von allen Helden und Stämmen, die wir vor Ilios versammelt finden, stehen nur Achilleus und die thessalischen Achäer in ursprünglicher Beziehung zur Troas. Das Atridische ist gewiß ein ebenso wichtiger Bestandteil der Dichtung von Ilios wie das Achilleische, aber es gibt keine Spur dafür, daß Agamemnon und Menelaos vor der I. (d. h. geschichtlich) irgend etwas mit der Troas zu tun gehabt haben. Von uralten Beziehungen des Achilleus zur Troas ist die I. selbst Zeugin. Sie berichtet von kriegerischen Unternehmungen desselben gegen Lesbos und andere Inseln und gegen namentlich aufgeführte Städte auf der Troas (Thebe Ζ 397ff. Β 691. Α 366. Χ 479, Lyrnessos Γ 296. Β 690. Τ 60. Υ 92. 191, Pedasos Ζ 85. Φ 87. Υ 92, Dardanie Υ 216. Mülder a. a. O. 241) und ihre Herrscher und Bewohner (darunter Aineias Υ 187ff.). Hier wird die äolische Kolonisation (E. Meyer Gesch. d. Troas 1877, 79ff.; Griech. Gesch. II § 132. Cauer Grundfr.² 206ff. Mülder Jahresh. CLVII 170ff.) als ältester geschichtlicher Kern der Sage vom troischen Kriege durchschimmern. Aber diese Sage selbst hat der Dichter der I. geschaffen im wesentlichen dadurch, daß er jenen ältesten geschichtlichen Kern durch die aktuelle universale Idee befruchtete und aus dem Kampfe gegen eine Landschaft einen solchen gegen eine Stadt (Ilios = ein neues Theben) machte. Die realeren Überlieferungen über Kämpfe des Achilleus und der Seinen in der Landschaft Troas verband er mit seinem Darstellungsziel, dem Kampfe gegen die Stadt Ilios, derart, daß er diese (räumlich und zeitlich) an jene anschloß. Um seine universale Idee auszugestalten, griff der Dichter auf eine ganze Menge nichttroischer Sagen zurück (Zug der Sieben gegen Theben, Meleager, Nestorsage u. a.). Ob nun auch diesen etwas Historisches zugrunde liegen mag, kann hier dahingestellt bleiben; es genügt, zu wissen, daß in der Handlung der I. kein anderer troischer Sagenbestandteil steckt als der achilleische. Insbesondere ist es ein Irrtum, zu meinen, daß der Streit zwischen Agamemnon und Achilleus auf einen geschichtlichen Vorgang zurückgehe, nämlich auf einen Streit zwischen Nord- und Südachäern wegen einer Beuteteilung (Fick Das alte Lied vom Zorne Achills (- Urmenis - Götting. 1902, 129). In historischer Ausdeutung dieser oder jener Szene oder Angabe sind andere noch weiter gegangen; so konstatiert v. Wilamowitz Panionion 74 aus der Art, wie [1049] die Troer geschildert werden: ,Im Grunde fühlen ja selbst Troer und Achäer keinen Rassegegensatz‘. Diese Objektivierung willkürlicher Poetenerfindung ist also unzulässig.
Über Sprache und Metrik vgl. o. Bd. VIII S. 2213 (Witte).
XI. Textüberlieferung. Der Widerstreit der Meinungen über die Entstehung der I. spiegelt sich in den Ansichten über die Textüberlieferung. Wenn der Text der I. viele oder mehrere Jahrhunderte lang nur mündlich gestaltet und fortgepflanzt worden wäre – welches Bild würde er bieten und welchen Anspruch auf Echtheit und Ursprünglichkeit könnte er machen! Nun besitzen wir aber handschriftlich einen keineswegs flüssigen, sondern durchaus festen, vortrefflichen Text; wie ist diese Tatsache mit jener Annahme vereinbar? Wolf macht sich die Antwort bequem (Proleg. 256): wir verdanken unsern Text (hanc politam et concinnam διασκευὴν Ὁμηρικήν) der sehr durchgreifenden und willkürlichen (Proleg. 281. 236) Herausgebertätigkeit des Aristarch. Er denkt sich den diesem vorliegenden hsl. Text (seiner ganzen Theorie gemäß) außerordentlich verschieden, so daß Aristarch auch nicht einmal in der Lage gewesen wäre, selbst wenn er gewollt hätte, den ursprünglichen Dichtertext herzustellen; es kam ihm nur darauf an, ein zusammenhängendes, leidlich widerspruchsfreies Buch zu schaffen. Aristarch war die letzte Hand, die Hand, welche die I. als (sozusagen) ,Buch‘ erst schuf. Unser I.-Text muß demnach unweigerlich der Aristarchische sein (Aristarchum huius διασκευῆς nostrae confectorem appello Anm. 41). Diese Behauptung war von zwei Seiten angreifbar; 1. konnte gezeigt werden, daß die Herausgebertätigkeit Aristarchs nicht derartig war, wie sich Wolf das vorstellt, sondern im Gegenteil vorsichtig und die Überlieferung schonend. Diesen Nachweis hat Lehrs in ganz überlegenere Weise geführt, wenn auch der Ausspruch: et hoc memorabile, nunquam illum (scl. Aristarchum) eius modi versus coniectura sanasse, sed nota apposita damnasse (de Aristarchi studiis Homericis 359) eine Übertreibung enthält, und damit festgestellt, daß die I., wie wir sie als Buch lesen, bereits vor Aristarch und den übrigen Alexandrinern vorhanden war. 2. ließ sich bezüglich des voralexandrinischen Textes feststellen, daß er keineswegs im Sinne der Entstehungshypothesen schwankend und flüssig, sondern ganz von der Art des aristarchischen war. Das zu zeigen hat Ludwich unternommen in der Schrift ,Die Homervulgata als voralexandrinisch erwiesen‘ durch Vergleichung der Zitate bei Platon, Aristoteles und Aischines einerseits (= ältere Vulgata) und ebensovieler Zitate aus dem Lexikon des Apollonius Sophistes andererseits (jüngere Vulgata) mit dem aristarchischen Text. Da es sich herausstellte, daß die jüngere Vulgata dem( aristarchischen Text durchaus nicht näher steht als die ältere, so hat er das Ergebnis (S. 14) in die Worte gefaßt, daß der Text der homerischen Gedichte im großen und ganzen ungeschädigt, aber auch ungeläutert durch das alexandrinische Fegfeuer hindurchgegangen sei. Mag hier noch der Einfluß des Aristarch auf die Überlieferung unterschätzt sein, gewiß ist, daß [1850] Wolfs Vorstellung sich als ganz unhaltbar erwiesen hat.
So mußte denn von Wolfs Nachfolgern der Zeitpunkt, an dem die I. Buch wurde, zurückgerückt werden. Es geht nicht wohl an, die Frage, wann und auf welche Weise sich aus dem Fluß der bunten dichterischen Überlieferung ein einheitliches Literaturwerk herauskristallisiert haben könnte, ungeduldig abzuweisen und einfach mit v. Wilamowitz Die griechische Literat, des Altert. 4 zu konstatieren: ,um 700 … war die I. im wesentlichen so, wie wir sie lesen, vorhanden, damit also ein wunderbares Werk‘. Eine solche Annahme fällt schon ganz aus dem Rahmen der Entstehungshypothese heraus, die nicht wohl vorstellbar ist ohne einen einmaligen und endgültigen Akt der Textherrichtung. So meint denn Cauer in der (problematischen) Peisistratischen Sammlung diesen Akt sehen zu sollen. Er sagt Grundfr.² 146: ,man kann versuchen, die homerischen Gedichte so zu drucken, wie sie von der Kommission des Peisistratos aufgeschrieben worden sind. Diese Gestalt des Textes würde dann etwa dem entsprechen, was bei anderen literarischen Werken das ursprüngliche Manuskript des Autors bedeutet.‘ Zwar lehrt schon Wolf: Pisistratum carmina Homeri primum consignasse litteris, aber er verband diesen Satz mit dem zweiten et in eum ordinem redigisse, quo nunc leguntur, und nahm für diese beiden zu einer Behauptung verbundenen Sätze die vox totius antiquitatis und die consentiens fama als Zeugen in Anspruch. Aber alle Zeugen Wolfs reden wie gesagt nur von einem Sammeln, bezw. einem Ordnen, nur der einzige Josephus c. Apionem I 2 behauptet in οὐδὲ Ὅμηρον ἐν γράμμασι τὴν αὐτοῦ ποίησιν καταλιπεῖν, aber von einem ,Aufschreiben‘ redet auch er nicht, geschweige denn von einem Aufschreiben durch Peisistratos oder seine ,Kommission‘. Und die ,Kommission‘ wiederum geht allein auf Tzetzes zurück, der aber von keinem Aufschreiben, sondern nur von einer Redaktion (redegit … in ea quae nunc exstant volumina) redet, aber die einzelnen Teile der homerischen Dichtung bereits vorher aufgeschrieben sein läßt (nam carptim prius Homerus et non nisi difficillime legebatur). Was Wolf verschlagen in Verbindung mit ,Sammlung‘ und ,Ordnung‘ insinuierte, das steht bei Cauer als eine über jeden Beweis erhabene Tatsache nackt und bloß da, vgl. S. 145: ,die peisistratische Redaktion (= erste Abschreibung durch die peisistratische Kommission und das Manuskript derselben) ist eine äußerlich wohl bezeugte, historisch durchaus verständliche, durch innere Gründe befestigte Tatsache. Es ist Zeit, sie von der Geringschätzung zu befreien, der sie durch die Macht der Mode unterworfen worden ist!‘
In Wirklichkeit ist das Manuskript der peisistratischen Kommission ein äußerlich durchaus unbezeugtes und nur vom Standpunkte des Wolfianismus verständliches Ding. Wenn nun auch unser Text in letzter Linie auf das Manuskript des ionischen Dichters zurückgeht, so konnte immerhin doch Athen auf die Textüberlieferung einen tiefgreifenden Einfluß ausgeübt haben. War doch Athen nach dem Fall Ioniens seine Erbin [1051] auf geistigem Gebiet und literarisch Jahrhunderte hindurch die Hauptstadt von Hellas. Welche Stellung Homer in der attischen Literatur einnimmt, zeigt der erste Blick. Die Annahme liegt daher nahe, daß auch ein solcher Vorgang wie die offizielle Einführung der ionischen Schrift in Athen nicht ohne Einfluß auf den Text der I. blieb. Auch die Scholiasten rechnen damit, daß bei der Differenzierung der überlieferten ε in ε, ει oder η oder ο in ο, ω oder ου Fehler in den Text gekommen sein könnten. Schol. Townl. zu Η 238 βῶν ἀζαλέην – αἱ Ἀριστάρχου ‚βῶν‘· ἡ Ἀριστοφανεία ‚βοῦν‘ κτλ. ἐν τοῖς παλαιοῖς ἐγέγραπτο ‚βόν‘, ὅπερ οὐκ ἐνόησαν οἱ διορθωταί. Schol. A zu Λ 104 (ἀρχαϊκή συνήθεια). Genfer Schol. zu Θ 363 ὁ μεταγράφων εἰς τὴν νῦν γραμματικήν. Es ist nun nicht gerade sehr viel, noch sehr wichtig, was hier berichtet wird. Aber es enthält die I. eine bedeutende Anzahl sprachgeschichtlich unkorrekt geschriebener Formen, die durch Annahme einer falschen Umsetzung aus ε und ο erklärt und berichtigt werden können; z. B. στείομεν statt στήομεν, εἵαται statt ἥαται u. a. m. Diese Meinung begründete Wackernagel in Bezzenb. Beitr. IV 265. Doch erklärte sich sowohl v. Wilamowitz Homer. Unters. in einem besonderen Kapitel (οἱ μεταγραψάμενοι) als auch Ludwich Arist. hom. Textkr. II 45 gegen diese Theorie, während sie Cauer Grundfr.² 113 ausführlich verteidigt. Der letztere hat diese Wiederherstellungen (nebst den ‚unkontrahierten Formen‘), auch in seinen Text aufgenommen. Die Theorie hat, für sich allein betrachtet, in ihrer Einfachheit etwas Bestechendes, doch ist es schwer begreiflich, weshalb die Alexandriner, die doch die Fehlerquelle kannten, diese einfachen Verbesserungen nicht vorgenommen haben sollten.
Während er die Peisistratische Redaktion sowohl wie den einmaligen Einfluß der Umschreibung leugnet, nimmt v. Wilamowitz doch eine von der Zeit des Peisistratos an fortdauernde Einwirkung Athens auf den Text an. Galt es doch, vom Standpunkt der Entstehungstheorie zu erklären, woher die sprachlichen und sachlichen Attizismen im Texte stammen. Zur Erklärung der letzteren nimmt er bekanntlich eine peisistratische Interpolation an: die ersteren stammen nach ihm daher, daß Athen als geistige Kapitale von Hellas den Buchhandel zentralisierte (Homer. Unters. 255ff.). Auch diese Hypothese hat etwas Bestechendes; sie stimmt aber bezüglich des Homer nicht zu dem, was wir von der Herausgebertätigkeit des Aristarch hören; unter den von ihm benutzten Handschriften wird nicht eine athenische genannt. Es ist aber auch nicht nötig, diese Tatsache aus der Geschichte der Textüberlieferung zu erklären, wenn man sich auf den hier überall eingenommenen Standpunkt stellt, daß die I. ein Erzeugnis eines Kulturkreises ist, zu dem Attika durchaus gehörte. Es sind dann sowohl die sog. athenischen Interpolationen wie die sprachlichen Attizismen etwas der I. von Ursprung an Eigentümliches. In der Odyssee haben wir dann die direkte Beziehung zu Peisistratos.
Ein Niederschlag des Athenischen in I. und Odyssee ist dann des Aristarch Ansicht, daß Homer [1052] ein Athener gewesen sei. Dagegen denkt v. Wilamowitz im Grunde weniger an die Einwirkungen des zentralisierten Buchhandels als an ein ‚Ein-, Nach- und Weiterdichten auch noch in Athen‘ (S. 255ff.). Freilich, der in der Literaturgeschichte S. 4 eingenommene Standpunkt (die I. im wesentlichen, so wie wir sie lesen, ein um 700 fertiges Buch) läßt nun auch eine solche in den Homer. Unters. statuierte Metamorphose in Athen wie allerorten nicht recht mehr zu.
Unser I.-Text beruht im wesentlichen auf dem vorzüglichen cod. Ven. A und den ihm nahestehenden Hss. Nun wäre es kein Wunder, wenn dieser Text von dem ursprünglichen dadurch erheblich abwiche, daß in dem vielgelesenen und vielbehandelten Werke die Sprache im Laufe der Jahrhunderte modernisiert worden wäre. Doch gestatten die voralexandrinischen literarischen Zitate keinen derartigen Schluß, auch die Papyrustexte (Verzeichnis von Ludwich N. Jahrb. Suppl. XXVII 34 und praef. zur Iliasausg. I, vgl. auch für die neueste Zeit die Literarischen Übersichten bei Wilcken Archiv f. Pap.) weisen auf keine altertümlichere Überlieferung, hin als die wir im Cod. Ven. besitzen. Für die Papyri ist bezeichnend ein erhebliches Mehr von Versen, aber das Mehr sind durchweg Flickverse bezw. Verswiederholungen (ein Beispiel bei Cauer Grundfr.² 46), eine Ausnahme macht der Papyrus Grenfell and Hunt The Hibeh Papyri I nr. 20, der einen Vers mehr, aber dafür drei andere weniger hat als cod. Ven. A. Daß diese ausgearteten Texte später verschwunden sind, wird als Verdienst der Alexandriner angesehen werden müssen (Hibeh Pap. I 67).
Es ist dann noch seitens der Sprachwissenschaft versucht worden, mit ihren Hilfsmitteln zu einem älteren und besseren Homertext als dem überlieferten vorzudringen. Ausgangspunkt dieser Bemühungen sind metrische Anstöße und sprachwissenschaftlich unmögliche Formen in unserem Texte z. B. κεκληγῶτες statt κεκληγότες, das aber ein metrischer Fehler sein würde. Als ursprüngliche Form wird vermutet und eingesetzt äolisches κεκλήγοντες. Letztere Form haben schon die Alten erwogen, teils gebilligt, teils verworfen; auch ist sie hsl. überliefert. Ähnliche Formen liegen vor von τεθνηώς (τεθνηώτων usw.) und κεκμηώς; wird nun der Text wirklich ursprünglicher und richtiger, wenn wir hier Formen mit ντ schreiben? Und soll der Nominativ κεκλήγων usw. geschrieben werden? Aristarch schrieb in seiner ‚2. Ausgabe‘ auch wieder κεκληγῶτες Schol Π 430, nachdem er zuerst κεκλήγοντες gebilligt haben soll (s. o.), ein Beweis, daß er die Schwierigkeit weder verkannt noch übersehen hat. Wir lesen aber auch τεθνηότος usw. mit kurzem ο, das man doch beibehalten müßte. So würden denn die äolischen ντ-Formen unvermittelt neben denen mit τ herlaufen. Wir hätten dann, wo das Metrum eine gedehnte Silbe verlangt, ein äolisches, und wo es eine Kürze verlangt, ein ionisches Lied. Und doch ist die entscheidende Frage immer nur: welche Form geht ins Metrum? (z. B. κεκληγῶτες und κεκληγότες usw.; κεκμηῶτες und κεκμηότες usw.; τεθνηῶτες und τεθνηότες – aber nur πεφυζότες und andererseits μεμαῶτες). Nur metrisches Bedürfnis entscheidet; [1053] und wenn der Dichter das kurze ο, das er selber sprach, auch metrisch lang gebraucht, so folgt er darin älteren (äolischen) metrischen Vorbildern: Parallelen hat das überall. Und was für die Wiederherstellungswünsche bezüglich der ντ-Formen gilt, das gilt auch bezüglich des ϝ. Gewiß gibt es manches Flickwort in der I. um des verschwundenen ϝ willen, aber es ist längst nicht jede Partikel, die dem Wunsche, ein wirksames ϝ einzusetzen, im Wege steht, ein Flickwort.
Schließlich ist noch ein anderer Versuch, über den Ven. A hinauszukommen, erwähnenswert. Leaf The manuscripts of the Iliad, Journal of Phil. XVIII 181, XX 237 und dann T. W. Allen Class. Rew. XIII 110 haben, angeregt durch Hoffmann Das 21. und 22. Buch der Ilias nach Hss. und Scholl. herausg. 1864, den Versuch gemacht, durch Vergleichung einer großen Menge von Hss. einen Archetypus zu gewinnen, der neben A Bedeutung beanspruchen könnte; der Versuch ist jedoch im wesentlichen mißlungen, Ludwich N. Jahrb. 1900, 31.
XII. Handschriften. Eine leicht erreichbare und sehr vollständige Übersicht bei Ludwich Ausg. d. Ilias I S. VIIff. Die wichtigsten: 1. der oft beschriebene cod. Venetus der Marcianischen Bibliothek (Marcianus 454) mit Scholien, aus dem 10. Jhdt. Photographische Wiedergabe in Codices graeci et latini photographice depicti tom. VI (Homeri Ilias cum scholiis, codex Venetus A. Marcianus 454 praefatus est Comparetti, Leyden 1901); 2. Venetus B (Marcianus 453) gleichfalls mit Scholien, 11. Jhdt. An Alter überragt diese und andere Hss. ein Fragment einer Mailänder Hs. aus dem 5. Jhdt. n. Chr., herausgegeben von Mai, Mailand 1819 (bei Ludwich Θ). Es enthält je einige Verse aus der großen Mehrzahl der Gesänge. Ein etwas jüngeres Fragment (aus dem 6. Jhdt.) besitzt das ssBrit. Mus. in London (mus. Brit. add. 17210), publiziert von Cureton Fragments of the Iliad of Homer from a Syrian palimpsest, London 1851. Die ehrwürdigsten Zeugen sind die ägyötischen Papyrusfragmente, die bereits in großer Menge vorliegen. Übersicht bei Ludwich a. a. O.
Über die Scholien kann hier nicht gehandelt werden; es sei auf die Art. über die einzelnen Homererklärer (z. B. Aristarchos o. Bd. II S. 862) verwiesen.
Ausgaben: Ed. princ. von Demetrius Chalcondylas, Florenz 1488; wiederholt Ven. auch apud Aldum 1504. 1517. 1524. Am Eingange der modernen Homerkritik steht die Ausgabe von Fr. A. Wolf, Halle 1795, mit den Prolegomena (kritische Nachprüfung des Textes). Der Text selbst erst Halle 1806; vgl. dazu Wolfs Vorles. z. d. ersten 4 Ges. von Usteri, Bern 1839. Es folgt die von Chr. G. Heyne mit lat. Übers. u. erklär. Anm., Leipz. 1802, mit ϝ. Für die Textgestaltung grundlegend die Ausgabe von Bekker Bonn, 1. Ausg. 1843, 2. Ausg. 1858, mit einem an die Scholien anschließenden kritischen Kommentar, untrennbar davon, die Textgestaltung begründend und erläuternd, dessen homerische Blätter, Berlin 1862. Dem Text ist das ϝ eingesetzt. In dieser Beziehung hat Bekker neben Heyne einen Vorgänger an dem Engländer Payne-Knight [1054] (Ausg. der Ilias, London 1820, mit rücksichtsloser Textvergewaltigung). Als um Text und Erklärung verdiente Ausgabe ist dann die von Spitzner zu nennen, IV vol., Gotha 1835. Den Text nach dem Cod. Ven. A gibt die Ausgabe von Dindorf, Leipzig 1826; die Aufgabe, den Text nach den besten Hss. herzustellen, löste die I.-Ausgabe von La Roche, Leipzig 1873 (mit reichem kritischen Apparat), wogegen wieder Nauck Ilias (und Odyssee), Berlin 1877, subjektivere Bahnen einschlug, ebenso die ebenfalls mit kritischem Apparat ausgestattet Ausgabe von van Leeuwen und Mendes da Costa, Leyden (2. Aufl. 1897). Die Überlieferung jetzt am besten bei A. Ludwich Homeri carmina recensuit et selecta lectionis varietate instruxit: Ilias I 1892. II 1898. Außerdem nenne ich die I.-Ausgabe von Rzach, Leipzig 1886, Schulausgaben mit Erklärungen von Ameis-Hentze in 8 Bdchen. (mit einem die kritische und exegetische Literatur im Anschluß an Text und Kommentar in großer Vollständigkeit verarbeitenden Anhang); Cauer, Faesi-Francke-Hinrichs, La Roche; ziemlich eigenartig sind die Erklärungen in Düntzers Ausgabe.
Erklärungen und Ausgaben von Teilen der I.: Nägelsbach Anmerkungen zur Ilias I. II 1–483 nebst Exkursen usw., Nürnberg 1834, neubearbeitet (Α, Β, Ι von Autenrieth 1864. C. A. J. Hoffmann Φ und Χ, Clausthal 1864. Peppmüller Kommentar des 24. Buches der I., Berlin 1874. Benicken Der 12. und 13. Gesang vom Zorn des Achilleus, Innsbruck 1884.
Keine eigentlichen Ausgaben, sondern nur Illustrationen zu gewissen Homerhypothesen sind Köchly Iliadis carmina XVI, Leipzig 1861 (Lachmanns Lieder ausgeschieden), Christ Iliadis carmina seiuncta emendata I und II, Leipzig 1884, Fick die homerische Ilias in der ursprünglichen Sprachform wiederhergestellt, Göttingen 1886, und Bechtels Ausgabe von Roberts (äol.) Urmenis in dessen Studien zur I.
Hilfsmittel zur Orientierung in der Homerliteratur. Die außerordentlich weitschichtige Homerliteratur hier vollständig aufzuführen, ist unmöglich. Wichtigstes Hilfsmittel zur Orientierung: Anhang zur Ausgabe von Ameis-Hentze, doch fehlt dem zweiten Herausgeber die Überlegenheit eigenen Urteils. Außerdem veraltet der Anhang immer mehr. Die ältere, die höhere Kritik betreffende Literatur auch bei R. Volkmann Geschichte und Kritik der Wolfschen Prolegomena, Leipzig 1874. Übersicht über die neueste Literatur in den Jahresberichten Rothe Bd. XXVIff. A. Gemoll Bd. LXII. P. Cauer Bd. CXII. Mülder CLVII. CLXI; desgl. Jahresber. des philol. Vereins in der Ztschr. f. d. Gymnasialw. von Rothe (seit 1870). Einen bedeutenden Teil der einschlägigen Literatur verarbeitet und verzeichnet P. Cauer Grundfragen der Homerkritik² 1909, desgl. Christ Griech. Lit.-Gesch.⁵, München 1908. Ein brauchbares Verzeichnis neuester Literatur (Bibliographie critique) auch im Anhang bei van Gennep La question d’ Homère, Paris 1909, verfaßt von A. J. Reinach. Zu empfehlen auch Leaf Ausg. d. Ilias in 2 Bden. (2. Ausg. London 1900.
Lexikalische Hilfsmittel. Wichtigstes: [1055] Lexicon Homericum ed. Ebeling, Leipzig 1885; Benutzbar auch C. Ed. Schmidt Parallelhomer, Göttingen 1885 (Nachträge dazu in Festschrift für Friedländer, Leipzig 1895). Mendes da Costa Index etymologicus dict. Homericae, Leyden 1905.
Höhere Kritik. Die umfassendsten Publikationen von Wolf bis heute (Abschn. VII) sind oben angeführt worden. Einzelfragen behandeln: v. Wilamowitz-Möllendorf Herm. XXXV (1900) 561–565 (über Τ 369-424). Helbig Rh. Mus. LV (1900) 55–61 (Ursprünglicher Ausgang der I.: ,Hektors Leib wird den Hunden und Vögeln hingeworfen‘). Gercke N. Jahrb. VII (1901) 1. 81. 185. Zur dichterischen Technik: Cauer Rh. Mus. XLVII 74 (Über eine eigentümliche Schwäche der Homerischen Denkart). Zielinski Die Behandlung gleichzeitiger Ereignisse im antiken Epos 1901. Hedwig Jordan Der Erzählungsstil in den Kampfszenen der I., Zürich 1904. Römer Homerische Gestalten und Gestaltungen, Erlangen 1901; Zur Technik der hom. Gesänge, S.-Ber. Akad. Münch. 1907, 195ff. Cauer Homer als Charakteristiker, N. Jahrb. 1900, 597ff. Bölte Rhapsodische Vortragskunst N. Jahrb. 1907, 571ff.; vgl. auch Plüß N. Jahrb. 1909, 305ff. und 1910, 465ff. Analyse im Dienst des Nachweises dichterischer Einheitlichkeit: Mülder Ἕκτορος ἀναίρεσις, Rh. Mus. LIX 256; Ὁρκίων σύγχυσις N. Jahrb. 1904, 635; Homer und die altionische Elegie, Hannover 1906 (zugleich Beitrag zur Zeitbestimmung). Eine wichtige Kompositionsfrage (Achill im ersten Teile der I.) behandelt Wecklein Studien zur Ilias, Halle 1905. Zur Dolonie: Shewan The lay of Dolon, London 1911. R. M. Henry The place of the Doloneia in epic poetry, Class. Rev. XIX 192. Zu Θ: v. Wilamowitz Über das Θ der I., S.-Ber. Akad. Berl. 1910, 371ff. Zu Ε.: Lillge Komposition und poetische Technik der Διομήδους ἀριστεία, Gotha 1911. Zu Φ 404ff. (panionisches Fest): v. Wilamowitz Panionion, S.-Ber. Akad. Berl. 1906, 38; Über die ionische Wanderung ebd. 59. Zu Γ und Δ: Finsler Herm. 1905, 426ff. Zu Ψ Jobst Die Kampfspiele zu Ehren des Patroklos und der 8. Ges. d. Odyssee, Passau 1908/9. Zu Ζ: Bethe Hektors Abschied, S.-Ber. Leipzig. Ges. 1909, XXVII 12. Eine Reihe Homerischer Probleme behandelt van Leeuwen Commentationes Homericae, Leyden 1911.
Sprachkunde (vgl. o. Bd. VIII S. 2273): Döderlein Hom. Glossarium, Erlangen 1850. Buttmann Lexilogus⁴, Berlin 1865. Göbel Lexilogus. Hoffmann Quaest. Homericae, Clausthal 1842. Classen Beobachtungen über den hom. Sprachgebrauch, Frankfurt 1867. Hartel S.-Ber. Akad. Wien 1871ff. (Homerische Studien). Von Monographien führe ich nur einige neuere an, die bei Ameis-Hentze, Ebeling und Witte (o. Bd. VIII S. 2213) nicht genannt sind: F. Gloeckner Hom. Partikeln mit neuen Bedeutungen, Heft I κε, Leipzig 1897. Sturatsch D. Genetivus bei Homer, Olmütz 1889. Vogrinz Der Gebrauch der Partikel εἲ bei Homer, Brunn 1893. J. Stark Der latente Sprachschatz Homers, München 1908. La Roche Hom. Unters., Leipzig 1898; Wiener Stud. 1897 (Stellung des Adjektivums). Stolz Bausteine zu einem sprachwiss. [1856] Kommentar d. hom. Ged., Wien. Stud. 1890. 57. A. Dyroff Geschichte des Pronom. reflex. (bei Schanz Beiträge III³), Würzburg 1892. Stiebeling Beiträge zum hom. Gebrauch der temp. praeterita, Siegen 1887. K. Franke De nominum propriorum epithetis Homericis, Greifswald 1887. Hildebrandt De verbis et intransitive et causative apud Homerum usurpatis, Halle 1890. Kowaleck Über Passiv und Med. vornehmlich im Sprachgebrauch des Homer, Danzig 1887. Mutzbauer Die Grundlagen der griech. Tempuslehre u. d. hom. Tempusgebrauch, Straßburg 1893; ebd. D. Wesen des Coni. u. Opt. im Griech., Ztschr. f. d. Gymn-W. 1896, 509ff. Cauer Zur hom. Interpunktion, Rh. Mus. 1889, 347ff. Ogden De infinitivi finalis vel consecutivi constructione, New-York 1909. Klinghardt De genet. usu Hom. et Hesiodeo, Halle 1879. Prodinger Die Menschen- und Götterepitheta bei Homer in ihrer Beziehung auf die hellen. Personennamen I. II, Kaaden 1904. Wilh. Schulze Quaest. epicae 1892. Kurze Bemerkungen zu einzelnen Homerstellen usw. zusammengestellt bei E. Naumann (Jahresber. d. phil. Ver. ,Homer mit Ausschluß d. höh. Kritik‘ in der Ztschr. f. Gymnasialw.).
Grammatiken: Monro Grammar of the Homeric dialect, Oxford 2. Aufl. 1890. Vogrinz Grammatik des hom. Dialektes, Paderborn 1889. W. Ribbeck Hom. Formenlehre, Berlin 1880. Hartel Abriß der Gramm. d. hom. u. herod. Dialekts, Wien 1887.
Realien: Buchholz D. hom. Realien, Leipzig 1871–1885. Helbig Das hom. Epos aus den Denkmälern erläutert. Ohnefalsch-Richter Kypros, die Bibel und Homer, Berlin 1893. Reichel Über homerische Waffen, Wien 1894. Doerpfeld Troia und Ilios (2 Bd. 1902). Day Seymour Life in the Homeric Age, New-York 1907. Niese Der Schiffskatalog 1873.
Lokal: G. Sortais Ilios et Iliade, Paris 1872. Kluge N. Jahrb. 1896. Noack N. Jahrb. 1898, 575. Stier Schauplatz der Ilias, Progr. Magdeburg 1899. Busse Der Schauplatz der Kämpfe vor Troia, N. Jahrb. 1907, 457. Robert Topographische Probleme der Ilias, Herm. XLII 78. Obst Der Skamander-Xanthus i. d. Ilias, Klio 1909, 220.
Nautik: Breusing Nautisches zu Homer, N. Jahrb. 1885, 81. 1886, 81. 1887, 1; Die Nautik der Alten, Bremen 1886.
Häuser und Paläste: Joseph Die Paläste im hom. Epos², Berlin 1895. Noack Hom. Paläste, Leipzig 1903; Ovalhaus u. Palast in Kreta 1908.
Kriegswagen: van Leeuwen Comment. Hom. Helbig in Mélanges Nicole 1905. Studniczka Areh. Jahrb. 1907.
Waffen- und Kampfschilderungen: H. Kluge Vorhomerische Kampfschilderungen in der Ilias, N. Jahrb. 1893, 81. F. Albrecht Kampf u. Kampfschilderungen b. Homer, Naumburg I 1886. II 1895. Mülder Homer und die altionische Elegie; auch H. Jordan, vgl. o.
Schild des Achilleus: Kluge N. Jahrb. 1894, 81.
Kleider: Studniczka Beitr. s. altgriech. Tracht 1886. Pinza Herm. XLIV 522. G. Perrot Journal des Savants 1896, 144. 230.
Farbenkenntnis: Veckenstedt Geschichte [1057] der griech. Farbenlehre, Paderborn 1888. O. Weise Die Farbenbezeichnungen bei den Griechen und Römern, Philol. 1888, 593ff. Euler Über die angebliche Farbenblindheit Homers, Progr. Marburg 1903. H. Schultz Das koloristische Empfinden der älteren griechischen Poesie, N. Jahrb. 1911, 11.
Bestattungssitten, das Jenseits: Doerpfeld Ztschr. f. Ethnologie XXXVII 538; Mélanges Nicole 1905, 95; Athen. Mitt. XXX 284. 598. Südwestd. Schulblätter XXV 295. Rouge N. Jahrb. 1910, 385. M. Mayer Berl. Philol. Wochenschr. 1909, 153ff. Helbig Herm. XLI378. Zehetmayer Leichenverbrennung und Leichenbestattung im alten Hellas, Leipzig 1907. Reinach Les rites funeraires en Grèce, des origines à l’époque du Dipylon 1909.
Verfassung: L. Bréhier La royauté homérique et les origines de l’état en Grèce, Revue historique tom. 84 und 85 (1904). Finsler Das homerische Königtum, N. Jahrb. 1906, 313. 393.
Religion und Mythologie: Naegelsbach Homer. Theologie³, Nürnberg 1883. H. Usener D. Stoff. d. griech. Epos, Wien 1897. W. Nestle Anfänge einer Götterburleske bei Homer.
Flora und Fauna: Fellner Flora homerica, Wien 1897. Wegener Die Tierwelt bei Homer, Königsberg 1887.
Medizin: Daremberg La Médecine chez Homère, Paris 1865. O. Koerner Wesen und Wert der hom. Heilkunde, Wiesbaden 1904.
[Mülder.]
Man übersieht, daß das Vorbild für die unwirkliche Symmachie die reale des peloponnesischen Bundes ist. Wie dieser hat sie als Bundesfeldherrn den einen von zwei Doppelkönigen, während der andere eine Amtsstellung im Bunde überhaupt nicht besitzt (Mülder Klio 1913, 39ff.)_ Die Einsicht in dies Verhältnis ist dadurch erschwert, daß der Dichter die beiden Bruderkönige nicht ein Reich zusammen, sondern in ganz unwirklicher Weise je ein Reich regieren läßt (Β 587 b, vgl. Mülder D. Ilias u. i. Q. 62f.). Die dem Dichter vorschwebenden Rechtsverhältnisse werden dadurch weiter verdunkelt, daß die Stellung der verbündeten Könige zum Bundesfeldherrn dargestellt wird nach dem Bilde der Geronten zum Landeskönige in einer einheitlichen politischen Gemeine Α 277ff., vgl. Mülder D. Ilias u. i. Q. 296ff. Die Einsicht in Rechtsfragen wird dadurch überhaupt erschwert: vgl. L. Bréhier La royauté homérique usw., Revue histor. T. 84. 85. Finsler Das hom. Königtum 313-336. 393-412; dazu Mülder Jahresber. CLXI 117ff.
2) Genannt wird der Atride schon v. 7; der Name Agamemnon kommt erst v. 24 nach; Α 307" heißt Patroklos bloß Menoitiades. Das gilt seit Lachmanns ,Betrachtungen‘ als Beweis für die Präexistenz der Sage (vgl. auch Schol. A zu A 307). Aber der Schluß geht viel zu weit. Die Figuren der I. sind großenteils bekannte (aber aus anderen Sagen bekannte) Sagenfiguren, die ganze troische Verwicklung ist aber eine Erfindung des Dichters der I. Man beachte auch, daß die Umrisse dieser Figuren weniger vorausgesetzt, als dramatisch in Rede und Gegenrede entworfen werden. Das staatsrechtliche Verhältnis zwischen dem Oberfeldherrn und den übrigen Fürsten wird statuiert (Α 138. 145); die Figuren nach ihrer Bedeutung für die Handlung gekennzeichnet: Kalchas 69–72. Agamemnon 16ff. 78f. 91. Achilleus 176ff. (Α 177 auf die Autorität von Schol. A zu E 891 auszuwerfen wie Ludwich tut, ist eine Verirrung. Das Sätzchen bedeutet ,weil du rechthaberisch und zänkisch bist‘. Nestor 247ff. Auch die drei gleichwertigen Gesamtnamen für die Verbündeten:[1005] Achäer, Danaer, Argeier (vgl. Mülder D. Ilias u. i. Q. 71ff.; gewöhnlich gilt nur der Name Achäer als echte Gesamtbezeichnung, vgl. Cauer Grundfr. 215) werden der Reihe nach beigebracht, daß die Handlung im heroischen Zeitalter spielt, gleich eingangs festgestellt (Α 4), auch ein Bild heroischer Sitte (29–31, auch v. 4) entworfen.
3) In der von dem peloponnesischen Bunde darin abweichenden Symmachie, daß sie keine bleibende Einrichtung, sondern zu einem vorübergehenden Zwecke geschlossen ist, ist Achilleus mit Bewußtsein und bekanntermaßen aufsässig (Α 176f.). Er glaubt Anlaß zur Beschwerde über die Führung des Bundes und seine Behandlung durch den Bundesfeldherrn zu haben (vgl. das vielzitierte εἴ μοι ἤπια εἰδείη κρείων Ἀγαμέμνων Π 72a. 73b; das bezieht sich nicht ausschließlich auf den vorliegenden Fall, sondern hat allgemeine Gültigkeit. Hier ist genauester Zusammenhang zwischen Α und Π). Daß Hera ihm die Berufung der Heeresversammlung eingibt (Α 55), soll nicht etwa die Berechtigung zu diesem Vorgehen, sondern nur das Folgenschwere dieses Schrittes unterstreichen. Es ist ein Ausfluß von Unbotmäßigkeit.
Agamemnons Verhalten wäre sonst geradezu widersinnig. Es ist durchaus irreführend, wenn man glaubt, daß blinde Habgier die treibende Kraft bei ihm sei. Wenn Achilleus das behauptet (Α 122), so ist das ganz subjektiv. Objektiv handelt es sich um eine Rechts- bezw. Machtfrage: Agamemnon verlangt Unterordnung seitens des Achilleus, wie sie von den anderen Bundesmitgliedern geleistet wird. Hier liegt das erste Glied einer wichtigen Gedankenreihe, die man nicht aus den Augen lassen darf.
5) Der in seiner Bedeutung oben gekennzeichnete Vorschlag des Nestor ist ein weiteres Glied in dieser Kette. Im weiteren halte man nicht auf die Briseis sein Augenmerk gerichtet, sondern auf diese politische Frage. Wie Agamemnon den Wert der Chryseis herausstreicht, so Achilleus sein Interesse an der Briseis. Aber das ist wesentlich Rhetorik, Mittel zum höheren Zwecke.
6) Der die ἀνακεφαλαίωσις Α 366–392 einleitende Vers Α 365 οἷσθα, τί ἤ τοι ταῦτ’ εἰδυίῃ πάντ’ ἀγορεύω; schließt diese nicht aus, ermöglicht sie vielmehr. Natürlich ist des Achilleus Bericht durchaus subjektiv. Daß Aristarch die Verse athetierte, beweist nur, daß er wahrhaftig nicht unfehlbar war.
7) In wunderlicher Verkennung dieses für den Gesamtzusammenhang wichtigsten Punktes will man durchaus in der βουλὴ Διός diesen Ratschluß nicht sehen. Finsler Homer 34. Dagegen Mülder Jahresber. CLVII 212ff.
8) Die Rückführung der Chryseis Α 430–492 ist für den Gesamtzusammenhang allerdings entbehrlich; seit Lachmann (Betrachtungen p. 4) gilt die Episode als späterer Zusatz. Besonders hat dies Hinrichs Herm. XVII 59 zu erweisen gesucht. Doch ist der Nachweis von Entlehnungen aus der Odyssee (und dem Hymnus auf Apollon v. 504) trotz Robert Stud. 216 durchaus mißlungen; die Sache liegt umgekehrt. Die Chryseisepisode ist für den Dichter der Odyssee die wichtigste Quelle für Verse von der Schiffahrt. Ihre Ursprünglichkeit beweist A. Gemoll Herm. XVIII 34. Für Lachmanns Kritik spielte ἐκ τοῖο Α 493 eine bedeutende Rolle, das durch die Einschiebung der Chryseisepisode beziehungslos geworden[1107] sein soll. In Wirklichkeit ist nur die unglückselige Tageberechnung Zenodots, Aristarchs, Lachmanns usw. an dem ganzen Wirrwarr schuld. Es steht nirgends, daß Agamemnon die Briseis noch am Tage des Streitausbruchs geholt habe, es ist dies auch aus psychologischen Gründen nicht einmal wahrscheinlich; es ist das ferner auch deshalb nicht wahrscheinlich, da die Ausrüstung des Schiffes und die Reinigung des Lagers mit allem, was dazu gehört, mehrere Tage in Anspruch genommen haben muß; Voß Krit. Bl. I 182 (und das war für Agamemnon dringendere Pflicht als die Abholung der Briseis); es steht auch nirgends, daß die Fahrt nach Chryse nicht bloß noch am selben Tage angetreten, sondern sogar vollendet worden sei, ja so früh vollendet worden sei, daß daselbst die ganze Arbeit noch am selben Tage erledigt werden konnte. Und da zu dieser Arbeit in Chryse ein ganztägiges Paiansingen gehört, so müßten die Abgesandten denn ja wohl schon am Morgen in Chryse angekommen sein, am Morgen desselben Tages, versteht sich, wo Achilleus die Versammlung berief. Wenn man nicht immer auf den Nachweis von Kompositionsfugen und Eindichtungen ausginge, würde man umgekehrt aus χθιζός ἔβη Α 424 und der Tatsache, daß Zeus und die anderen Götter am Tage des Streitausbruchs noch zu Hause waren, folgern, daß zwischen dem Streitausbruch und dem Besuche der Thetis bei Achilleus einige Tage liegen, während deren die Götter abreisten – eine Annahme, welche die vielen Geschäfte ja zweifellos erfordern. Aber daß Agamemnon sich einige Tage besonnen haben, daß er erst die Staatsgeschäfte gründlich erledigt haben könnte, bevor er seine (private) Drohung wahrmachte, das muß ihm ja wohl garnicht zuzutrauen sein. Da zieht man schon jede Athetese oder Konjektur vor.
9) Daß die Ilier jetzt zum erstenmale aus ihrer Stadt heraus den Feinden entgegenziehen können, ist die Folge der Kampfenthaltung des Achilleus. Daß sie sich bis dahin aus Furcht vor Achilleus nicht aus der Stadt herausgewagt haben, ist eine der wichtigsten Erfindungen des Dichters. Sie allein macht es vorstellbar, daß man sich im zehnten Jahre des Krieges befindet, und daß doch der Kampf gegen Ilios erst jetzt beginnt: so richtig Schol. B zu Α 56. Wie die Troer von des Achilleus Kampfenthaltung Kunde erhalten haben mögen, überläßt der Dichter seinem Publikum sich auszumalen.
Diese Erklärung der vielfach mißverstandenen διάπειρα (Robert 218 ,höchst deplazierte πεῖρα‘, S. 219 ,abgeschmackte πεῖρα‘, vgl. auch Schol. zu Β 110ff.) bei Mülder D. Ilias u. i. Q. 105ff. Damit ist auch ihre Stellung im Gesamtzusammenhange klar. Die Größe des hier herrschenden Mißverständnisses wird beleuchtet durch das Bestreben, die Gerontenversammlung Α 53–86 mit Lachmann und Haupt als interpoliert zu erweisen (die ,alberne βουλὴ γερόντων‘ sagt Robert Stud. 218). Das durchschlagende Stichwort ist: ,mit leeren Händen‘ (Β 119ff. 136ff. 297 a und 298) heimkehren.
Daß der Katalog eine späte Eindichtung sei, ist eine tiefeingewurzelte Ansicht (,Über den Schiffskatalog und den der Troer brauche ich keine Worte zu verlieren‘ Robert Stud. 220). Sogar Nitzsch stimmt hier zu (Sagenpoesie 127). Der Hauptgrund für diese Annahme ist, daß der Katalog soviel Unhistorisches (Unrichtiges) enthält, und daß er zeitlich soweit herabgerückt werden muß (Niese D. hom. Schiffskatalog als historische Quelle betrachtet, Kiel 1873), wie man die ganze I. durchaus nicht herabrücken will. Man führt auch Gründe des Stils an: das Katalogdichten sei hesiodisch, böotisch (Böotic!): Lauer Quaest. hom. I 84. Köchly gliederte ihn sogar strophisch (zu fünf Verszeilen). Ein dritter Grund erscheint in zwei einander widersprechenden Wendungen: 1. der Katalog ist nachträglich aus zerstreuten Angaben der I. angefertigt worden; 2. der Katalog ist unecht, weil er Angaben der I. an anderen Stellen widerspricht. Richtig ist dagegen, daß er weder wörtlich entspricht, noch widerspricht, sondern daß die entsprechenden Angaben in und außerhalb des Katalogs sich gegenseitig ergänzen. Sicher ist auch, daß die I. ohne den Katalog gar nicht verständlich wäre. Wer würde die Erwähnungen des Protesilaos N 681f. O 705. Π 286 verstehen ohne Β 695ff.?, wer das eigentümliche Doppelkönigtum (s. Anm. 1) und das Kommando des Agamemnon ohne 569ff. (bes. 577) und 581ff. (bes. 587)?, wer das Verhältnis zwischen Agamemnon und Diomedes ohne die Angabe des Katalogs ?, wer sich eine Vorstellung machen von den Unternehmungen des Achilleus in den vorhergehenden neun Kriegsjahren ohne Β 689ff. usw.? Dem Aristarch war die I. Geschichte; er athetierte Β 530 wegen der Πανέλληνες, die Neueren machen es ebenso oder athetieren lieber gleich den ganzen Katalog, und doch ist die Phrase Πανέλληνας καὶ Ἀχαιούς dichterische Fassung der eigentlich prosaischen Notiz: Ich, der [1009] Dichter, gebrauche den Ausdruck Ἀχαιοί (ebenso wie Δαναοί, Ἀργεῖοι) für Πανέλληνες, wäre doch Πανέλληνες in meiner Sagendichtung ein Anachronismus. Daß die attische Interpolation von Β 558 nicht Tatsache, sondern Literatenerfindung ist, sollte nicht zweifelhaft sein; wir kennen sogar den Erfinder, den megarischen Lokalhistoriker Dieuchidas, wir kennen auch den Zweck der Erfindung. Wäre v. 558 nicht überliefert, sondern hätten wir v. 557 allein, so würde jeder vermuten, daß etwas ausgefallen wäre. Wer den v. 558 verwerfen will (wie Ludwich in seiner Ausgabe), darf das allein tun auf die Autorität des Schol. zu Γ 230. An dieser Stelle (der Mauerschau) steht Aias neben Idomeneus, und hierin findet das Schol. (das auf Aristarch zurückgeführt wird) einen Widerspruch gegen die Angabe des Katalogs, daß er neben den Athenern gestanden habe. Hält das wirklich jemand für durchschlagend, Aristarch hin, Aristarch her? Und wenn der Vers durch Γ 230: verdächtigt wird, wird er dann nicht auch wieder durch M 331 gehalten? Aber in diesem Schol. wird der Vers auch als ὑπό τινων γραφόμενος bezeichnet, und so werden dann zwei Viertelsgründe ein halber Grund und der halbe ein ganzer (über den Schiffskatalog vgl. Mülder D. Ilias u. i. Q. 86ff.; über den Troerkatalog ebd. 91f. Plüß N. Jahrb. 1909, 305ff.).
12) Es gilt als ausgemacht, daß der Zusammenhang zwischen A, B einerseits und Γ andererseits gering sei. Aber im Gegenteil: I setzt nicht bloß die Kampfenthaltung des Achilleus voraus, sondern es wäre ohne Α gar kein Γ möglich: wenn Achilleus nicht sich des Kampfes enthielte, würden die Ilier ihre Stadt überhaupt nicht zu verlassen wagen. Es würde dann derselbe Zustand weiterherrschen, wie in den früheren neun Jahren. Daß nach Achill bei der Teichoskopie überhaupt nicht gefragt wird, beweist auch, daß die Ilier von seiner Kampfenthaltung wissen (vgl. Anm. 8).
13) Die ,Schlacht‘ dient nur dazu, die Heere kurz zu charakterisieren, dann den Paris vorzustellen. Die griechischen Akteure waren in Α und Β vorgestellt, desgleichen Hektor im Troerkatalog. Auch in dieser Beziehung ist Γ die glatte Fortsetzung von A, B.,
14) Auch der positive, gegen den ursprünglichen Zusammenhang zwischen A, B und Γ vorgebrachte Grund, der Abschluß der ὅρκοι sei mit der βουλὴ Διός unvereinbar, ist hinfällig. Die βουλὴ Διός ist mit Widerstreben gefaßt Α 511ff. und bereitet dem Zeus wegen der für ihn selbst zu fürchtenden Weiterungen Kopfzerbrechen Β 1f.; nachdem er die Sache durch den οὖλος ὄνειρος zunächst einmal in der Richtung seiner βουλή) in Gang gebracht, kann er das Weitere erst einmal ruhig abwarten. Daß Hera und Athene es nicht zum Frieden kommen lassen werden, worin er sie nur gewähren läßt, weiß er auch.
Über den Zweikampf selbst und sein Verhältnis zu dem zwischen Hektor und Aias Mülder D. Ilias u. i. Q. 32ff.; über den Zweck der Thalamosszenc ebd. 27ff.
Der Sinn des Vertrages war doch, daß der Kampf auf Leben und Tod gehen sollte.
17) Diesen Zweck erfüllt die Pandarosszene im Gesamtzusammenhange; sie beseitigt aufs gründlichste alle den weiteren Absichten des Dichters zuwiderlaufenden Möglichkeiten. Wie sich Zeus für seine βουλή diplomatisch ins Zeug legt und in überlegener Weise die Hera und Athene ihr dienstbar macht, das schildert köstlich die Götterversammlung Δ 1–73. Und dabei gilt es der modernen Kritik als festgestellte Tatsache, daß die βουλὴ Διός in Γ und Δ sogut wie vergessen sei, daß ,die‘ Dichter dieser Lieder die βουλὴ Διός nicht gekannt hätten. Es fehlt diesen Kritikern das Verständnis für den Humor dieser Götterszenen.
18) Man kann die ἐπιπώλησις Ἀγαμέμνονος auch als Episode ansehen. Für den Gesamtzusammenhang ist wichtig, daß Diomedes als Gegenstück zu Achilleus vorgestellt wird. Der ganze Nachdruck liegt da auf Δ 413–417.
19) Ε ist keine Diomedie, keine irgend einmal selbständige Dichtung. Dem allgemeinsten Umrisse der Gesamthandlung nach ist Diomedes der nächste nach Achilleus, aber auch sein intimster Gegner. Er ist sich dessen bewußt, daß ihn die Kampfenthaltung des Achilleus in den Vordergrund bringt (I 696, vgl. auch Inhaltsangabe von I gegen Schluß), er läßt sich deshalb von Agamemnon auch etwas gefallen (Δ 413–417, vgl. Anm. 18).
Vom Standpunkt des Gesamtzusammenhangs ist fast das ganze Ζ Episode. Angeschlossen an die nach der βουλὴ Διός sich abspielende Schlachthandlung wird es durch die ganz unwirkliche Erfindung, daß Hektor in der Not kein besseres Mittel weiß, als persönlich eine Prozession [1011] in der Stadt zu bestellen. Diese durch Diomedes’ große Taten herbeigeführte Not schwindet sofort, sobald sie ihren Zweck erfüllt hat, sobald Prozession und Homilie vorbei sind und Hektor wieder auf dem Schlachtfelde erscheint.
21) Auf die durch den Fortgang Hektors leer gewordene Bühne treten Glaukos und Diomedes zu einem Zwischenspiel. In diesem ist übrigens weder Kampf, noch Waffentausch, noch die Idee des Gastrechts die Hauptsache, sondern die Bellerophontesgeschichte. Die v. 433–439 verwarf schon Aristarch, vgl. aber Mülder D. Ilias u. i. Q. 72 und Jahresber. CLVII 251, auch v. Leeuwen Commentationes homericae 133ff.
Auch die Monomachie ist in demselben Sinne Episode wie die Homilie. In die Schlachthandlung eingeschlossen ist sie, wenn möglich, noch lockerer als jene. Der Kampf steht jetzt so, daß keine von beiden Parteien durch Fortsetzung oder zeitweiligen Abbruch des Kampfes besonderen Vorteil oder Nachteil hat. Daher können Athene und Apollon die Monomachie – die der Dichter will – verabreden; jeder ohne seiner Klientel etwas zu vergeben. Nur ein klein wenig düpiert Athene ihren Gegner; sie sieht die Überlegenheit der Troianer kommen (Η 17f.).
Es gibt kaum einen Punkt, an dem die Homerkritik so gescheitert wäre wie am Mauerbau. Der letzte Grund der Mißverständnisse liegt natürlich in dem Glauben an die Materialität der Heldensage. Über das Verhältnis von Thuk. 111 zu Η vgl. Mülder Berl. Phil. Wochenschr. 1912, 1051. Daß der Mauerbau etwas rein Poetisches ist, sagt der Dichter selbst Μ 1ff. Es ist nebenbei ein Irrtum, wenn man meint, die Mauer sei gebaut, nachdem man zehn Jahre vor Ilios gelegen. In Wahrheit liegt man erst kurze Zeit vor der Stadt. Die übrigen neun Kriegsjahre spielen anderswo. Obendrein war keine Befestigung nötig, solange Achilleus mitkämpfte. Was die Bedeutung des Mauerbaus betrifft, so ist er ein unentbehrliches Glied in einer zweiten für den Aufbau [1012] des Gesamtzusammenhangs höchst wichtigen Gedankenkette. Es soll sich nämlich die Kampfschilderung in folgender Weise steigern: 1. Kampf im freien Felde; 2. Kampf um die Lagerbefestigung; 3. Kampf bei den Schiffen nach Eroberung der Lagerbefestigung.
24) Νεκρῶν ἀναίρεσις bestätigt, daß die erste Schlacht wirklich beendet ist, und daß die erste Schlacht eine vollständige Schlacht (keine κόλος μάχη wie die zweite) ist.
25) Wenn die Troer in diplomatischer Verhüllung (Η 385–393) um einen Waffenstillstand zur Bestattung der Toten ersuchen (Η 394–397), so ist das der Form nach ein Eingeständnis des Unterlegenseins; wenn die Griechen sich jetzt verschanzen, so ist das ein praktisches Eingeständnis derselben Art. Dies ist die erste Stufe in der βουλὴ Διός; auch diese hat ihre Geschichte und erfährt eine Steigerung: mit Bedenken gefaßt und lässig betrieben (vgl. Anm. 13), erwächst sie an Gegenwirkungen zum festen Entschluß und gelangt zu immer entschiedenerer Durchführung.
26) Zeus ist aber noch längst nicht mit aller Energie bei der Sache; wie harmlos selbst dies Verbot noch gemeint ist, zeigen die freundlichen Worte an Athene (Θ 39f.), die man ohne Umstände als Widerspruch gegen dies Verbot selbst aufzufassen und deshalb mit dem Vorhergehenden (Θ 28ff.) zu verwerfen pflegt. Man täte besser, die Art. in welcher der Großherr Zeus mit den beiden leidenschaftlichen Damen verkehrt, eingehend zu studieren. Es stecken dort überall feinste Humore, vgl. Anm. 16. Nur tätliches Eingreifen verbietet Zeus; Rat geben dürfen die Götter ihren Schützlingen. Hera macht ja selbst die Probe auf das Exempel.
27) Über die Schicksalswage und das Verhältnis zu Χ 209ff. Mülder Rh. Mus. LIX 256.
28) Trotz des Verbots probieren Athene und Hera, wieweit Zeus’ Entschlossenheit hinsichtlich desselben geht. Schränkte er es Athene gegenüber soweit ein, daß er nur persönliches, leibhaftiges, sozusagen übernatürliches Eingreifen verbot,[1013] Ratgeben aber gestattete – nun die Grenzlinie ist fließend, und vielleicht will Zeus nicht einmal merken, wenn sie etwas überschritten wird. Aber Zeus macht Ernst. So bleibt der Versuch Heras und Athenes eitel. Das landläufige Verständnis wundert sich über diesen ergebnislosen Versuch und athetiert ihn. Und doch hat er vortrefflichen Sinn; was gewollt und erreicht wird, ist die Reizung des Zeus.
29) Man beachte, wie das Siegesgefühl bei Hektor steigt. Auch Hektors Stimmung hat im Gesamtzusammenhange eine Entwicklung, was gemeiniglich verkannt wird. Vor der Kampfenthaltung des Achilleus hatte er sich nicht aus der Stadt gewagt (höchstens bis zum skäischen Tor und (φηγός Ι 553ff.); nach der ersten Schlacht zog er sich noch in die Stadt zurück; jetzt biwakiert er schon auf dem Schlachtfelde im Angesicht der Feinde. Bald wird er, stolz über weitere Erfolge, selbst nach dem Wiedererscheinen des Achilleus im Felde standhalten – und fallen.
Das steht ausdrücklich da (Ι. 160) und ist der Angelpunkt des Ganzen. Es lehrt die Abweisung der Bittgesandtschaft durchaus verstehen (damit ist die Grotesche. Hypothese erledigt, vgl. Anm. 32 u. Abschn. VII). Zwischen Agamemnon und Achilleus besteht nicht ein Streit um ein Mädchen, sondern ein prinzipieller Gegensatz (vgl. Anm. 4 und 5) von großer Tragweite. Eine Art Unterordnung läge schon darin, wenn Achilleus des Agamemnon Tochter heiratete. Ein starkes Stück Nichtwirklichkeit haftet übrigens dem Heiratsvorschlage, besonders der Mitgift, an.
31) Auch die unerklärte und unerklärbare Anwesenheit des Phoinix bei Agamemon gehört zu den nichtwirklichen Voraussetzungen und Annahmen des Dichters (Auftreten einer Person in einer Szene, ohne Begründung, der Wahrscheinlichkeit zuwider). Sonst ist hier alles in Ordnung. Phoinix dient als Einführer der Gesandtschaft (Ι. 168, die Gesandten [1014] sind zwei, daher der Dual. Da Christ das nicht verstand, erklärte er Phoinix für später ,hinzugekommen‘: das ist auch so ein Eckpfeiler der Homerkritik; vgl. Bethe Dtsch. Lit.-Ztg. 1910, 2532. Dagegen Mülder Jahresber. CLVII 219.
32) Die Abweisung der Bittgesandtschaft steht mit nichten im Widerspruch zu dem früheren Verhalten und den Absichten des Achilleus (vgl. Anm. 3–5). Man nimmt ganz mit Unrecht an, daß Agamemnon, die Gesandten und die übrigen Griechen die Annahme des Angebots seitens des Achilleus als selbsverständlich erwarten, und erwartet mit Unrecht auch selbst die Annahme als selbstverständlich. Wenn Π 72 b. 73 a Achilleus sagt εἴ μοι κρείων Ἀγαμέμνων ἤπια εἰδείη (= wenn Agamemnon mich nur leiden möchte), so ist das kein Widerspruch gegen das Ι, auf den hin man mit Grote Ι für spätere Einlage erklären müßte, sondern ein Ausdruck für den tiefgehenden Gegensatz, den seinerseits Agamemnon schon Α. 177 feststellte und ohne den der Ausbruch des Streites mit Agamemnon überhaupt undenkbar gewesen wäre.
33) Ι 180. Auch dies unterstreicht die hier aufgezeigte Gedankenverbindung.
34) Natürlich platzt Odysseus mit der Forderung der Unterordnung nicht gleich heraus.
35) Über die Bedeutung der Meleagerdichtung als eine der I.-Quellen s. u. Abschn. IX.
36) Ι 696ff. vgl. Anm. 18 und 19.
37) Auch die Doloneia ist eine Episode. Wenn an der Notiz des Schol. Victor, (φασὶ τὴν ῥαψῳδίαν ὑφ’ Ὁμήρου ἰδίᾳ τετάχθαι καὶ μὴ εἶναιμέρος τῆς Ἰλιάδος, ὑπὸ δὲ Πεισιστράτου τετάχθαι εἰς τὴν ποίησιν etwas sein sollte, so müßte schon von einem jüngeren Dichter in die fertige Ι. hinein nicht Κ. allein, sondern auch Θ 489–Ι 182 gedichtet sein. Denn dieser Abschnitt ist nur um der Doloneia willen da. Als Einzellied oder Einzeldichtung kann die Doloneia im engeren oder weiteren Sinne nie existiert haben; sie könnte nur als Erweiterung für die fertige I. und zwar nur für diese Stelle gedichtet sein. Versuche, sprachliche [1015] Abhängigkeit der Doloneia von der Odyssee zu erweisen, sind durchaus gescheitert; umgekehrt ist die Odyssee von der Doloneia abhängig. Am deutlichsten zeigt das die Umdeutung des πολύτλας (wagemutigen) Odysseus der Doloneia in den πολύτλας (= Dulder) der Odyssee, genau wie die Umdeutung von πολυτλήμων Η 152 in πολυτλήμων σ 319; vgl. v. Wilamowitz über das Θ der I., Mülder Philol. Wochenschr. 1912. Scott Class. Philol. V nr. 1 Humoristische Färbung der Dolonie. R. M. Henry Class. rev. 1905, 192.
38) Dieser Zweck der Sendung der Eris wird durchweg verkannt. Es handelt sich um die Verhinderung des φεύγειν. Zu den Troern braucht eine derartige göttliche Botschaft nicht geschickt zu werden; Hektor ist ohnedies infolge seiner Erfolge kampfeslustig, Λ 61ff. So richtig Schol. A zu Λ 11, B zu Λ 13. Aber die Beziehung der Anfeuerung auf das φεύγειν leugnet ein anderes Schol. A zu Λ 61; dieses nimmt die Anfeuerung absolut. Wer aber dies will, muß Λ 13f. auswerfen; das haben nach A und Townl. zu Λ 13 Aristophanes und Aristarch getan – offenbar aus eben diesem philhellenischen Grunde. Zenodot schrieb ihn gar nicht – offenbar aus demselben Grunde. Die beiden Verse stehen auch Β 453f.; 1 sie stehen aber hier ebenso gut. Nachdem die modernen Kritiker mit den Alexandrinern die Beziehung auf das φεύγειν weggeschafft haben, haben sie gut reden von der Sinnlosigkeit des Verfahrens des Zeus, der den Griechen seiner βουλή zuwider jetzt Mut einschreien läßt. Aber die Überlieferung behält den Alexandrinern gegenüber auch hier durchaus Recht.
39) In der Beurteilung des Charakters und der Beweggründe des Achilleus geht die Homerkritik durchweg irre. Deshalb muß auch hier hervorgehoben werden, daß seine Initiative hier nicht einer erwachenden Teilnahme für das Schicksal der Achäer, sondern nur seinen Rachegefühlen entspringt.
40) Anläßlich seiner beweglichen Klage läßt der Dichter den Nestor aus einer pylischen Dichtung erzählen.
41) Über die Zerstörung der Mauer durch Poseidon vgl. Anm. 23. Auch die Notiz ἡμιθέων γένος ἀνδρῶν hat ähnliche Bedeutung.
42) Ν 8.
43) Dieser Zeus ist nach der Zeichnung des Dichters höchst selbstbewußt; seine Behaglichkeit läßt er sich aber nicht gern und nicht zu lange stören.
44) Die Schlachtbilder sind in Ν anderer Art als in den früheren Büchern. Der Dichter arbeitet stark mit sentenziösem Material und baut die Kampfszenen derart auf, daß derartige Zitate angebracht bezw. illustriert werden. Eine vollständige Predigt in der Art der Elegie hält Poseidon in der Rolle des Heerpriesters Kalchas Ν 95–124. Die Poseidon-Idomeneusszene Ν 206–238 und die Idomeneus-Merionesszene Ν 240-329 (vorbereitet durch Ν 155–168) gipfeln im Zitat. Das Schlachtfeld ist hier nur die zum Sprechen einmal gegebene Bühne, und der Speerwechsel motiviert nur das Auftreten der Sprecher, wie anderswo der Erzähler.
45) Das mit behaglicher Breite ausgesponnene Motiv wächst zu einer fast selbständigen Episode aus.
46) Der Zorn müßte sich auch gegen die Hera richten. Doch bringt der Dichter sie durch den oft besprochenen Reinigungseid aus dem Spiel: Zeus beschuldigt sie eines Komplotts mit Poseidon, Hera beschwört, mit diesem keine Verabredungen [1017] getroffen zu haben, womit Zeus sich zufrieden gibt. Dieser Reinigungseid fällt aus dem Rahmen der sonstigen Götterschilderung nicht heraus.
47) Π 36ff. Eingegeben war dem Patroklos diese Eventualbitte durch Nestor Λ 794–803.
Das Verhalten des Achilleus ist alles andere als folgerichtig. Es tritt hier wie auch sonst die Folgerichtigkeit der Charakteristik vor dem Bedürfnisse des Dichters, die Handlung fortzuführen und so fortzuführen, wie es ihm paßt, zurück. Und wie sollte er sie wohl anders fortführen, als eben durch die Eventualbitte des Patroklos? Im dichterischen Plane ist diese Eventualbitte eben die Hauptbitte. Wenn Patroklos diese Bitte ganz aus sich vorbrächte, wie würden sich die Kritiker verwundern! Nun mildert der Dichter die Schroffheit des Übergangs, das Willkürliche der von ihm beliebten Fortführung, indem er den Nestor ihm die Bitte in Herz und Sinn legen läßt – dafür athetieren dann die Kritiker die entsprechenden Worte des Nestor. Soll der Dichter nach Abweisung der Bittgesandtschaft (in Ι) etwa eine zweite Bittgesandtschaft an Achilleus schicken lassen, um die Handlung weiterführen zu können? Weil der Wiedereintritt des Achilleus in die Handlung nicht auf dem bequemen Wege der Erhörung einer Bittgesandtschaft des Agamemnon erreicht werden soll, sondern auf dem reizenden Umwege über den Fall des Patroklos, läßt der Dichter den Achilleus die Bittgesandtschaft abweisen. Die Kritiker streichen die Abweisung der Bittgesandtschaft (das Ι einfach aus. Es soll also Patroklos, ganz auf eigenen Antrieb, ferner ohne daß vorher dem Achilleus irgendwie Genugtuung (durch die Bittgesandtschaft) geworden war, seine Bitte nebst Eventualbitte vorgetragen haben – und Achilleus soll ihm diese gewährt haben! Das ergäbe denn eine Patrokleia von ganz anderen Grundlagen als die unsrige – eine ursprünglich selbständige Patrokleia. Es ist nur noch nötig, die allersinnfälligsten Zurückweisungen auf das vorige (etwa 66ff., die ja genau die tatsächliche in Μ Schluß geschaffene und Ο Schluß wiederhergestellte Lage zusammenfassend schildern) gleichfalls auszuwerfen.
49) Auch die Patrokleia erwächst zu einer Szene von selbständiger Bedeutung. Mit ihr wird der Strom der Handlung in ein anderes Bett übergeleitet. Aus der atridischen Handlung wird jetzt die achilleische. Es ist für das Verständnis des Ganzen und für die Einsicht in seine Eigenart höchst wichtig, diesen Punkt scharf ins Auge zu fassen.
Daß der Dichter bei der Rückführung der Leiche des Patroklos sich gerade den Menelaos hervortun läßt, dient dazu, die Schroffheit dieses Übergangs vom Atridischen zum Achilleischen zu mildern. So kommt es, daß wir an dieser Stelle der I. eine Aristie des Menelaos haben! Wie Menelaos sich hier um Patroklos verdient macht, so wird jetzt Achilleus die Sache des Menelaos wieder zu der seinigen machen. Die irregehende Homerkritik beansprucht, daß hier nicht Menelaos, sondern Aias sich betätige. Wir haben hier also im Titel Μενελάου ἀριστεία eine tiefe und lange verlorene Kenntnis des Zusammenhangs.
Patroklos hat aus dem Grunde zwei Erleger, Euphorbos und Hektor, damit Menelaos sich dies Verdienst erwerben kann und damit trotzdem der Erleger der Rache des Achilleus aufgespart wird. Diesen phantastischen Erfindungen des Dichters gegenüber versagt die Kritik und merzt den Euphorbos einfach aus.
Es sollto dem Gedanken an eine Vielheit von Dichtern die Tatsache ein Ende machen, daß die gewollte Fortsetzung immer von langer Hand eingefädelt wird. Der Dichter will die Hoplopoiia Σ und die ἆθλα ἐπὶ Πατρόκλῳ. Damit dem Achilleus eine neue Rüstung verfertigt werden kann, muß Achilleus seine erste verlieren. Das ist bei der überragenden Heldengröße des Achilleus und bei seiner Kampfenthaltung durch ihn selbst unmöglich. Daher legt Patroklos dessen Rüstung an, nur um sie zu verlieren. Und damit dies geschieht und trotzdem der Leichnam des Patroklos um der ἆθλα willen gerettet wird, läßt der Dichter den Kampf um die Leiche entsprechend ausgehen. Die Kritiker erklären einen solchen Ausgang für eine Unmöglichkeit – und athetieren.
53) So gleitet auch hinsichtlich des Kriegsgrundes die Handlung in das achilleische Bett. Nicht wegen Entführung der Helena und gegen Paris, sondern wegen Tötung des Patroklos und gegen Hektor kämpft jetzt Achilleus – und alle mit ihm.
54) Nicht der Verlust der Rüstung und das Schmieden einer neuen ist eigentlicher Gegenstand dichterischer Kunst, sondern die dichterischen Bilder, welche in diesen Rahmen gefaßt sind. Der ganz materiellen Homerkritik ist hier die Frage die interessanteste, wie diese dichterischen Bilder auf einem materiellen Schilde Platz gehabt haben und angeordnet gewesen sein könnten. Und doch schmiedet den Schild ein Gott, und es führt die poetische Regie ein Dichter, der alles Materielle [1019] belächelt. Nicht der Gesamtzusammenhang ist hier die Hauptsache, sondern was in ihn eingelegt ist.
55) Auch darüber darf man sich nicht wundern. Bühnentechnisch gesprochen verschwindet jetzt Agamemnon in der Versenkung.
56) Ι 352ff. Ο 719ff. Σ 285ff. Das ist von der höchsten Wichtigkeit, vgl. Anm. 8.
Diese von der Kritik beanstandete (phantastische) Erfindung hat einen doppelten Zweck: 1. den aufgeführten, 2. muß ja Kampfespause sein während der Zeit, wo dem Achilleus die göttlichen Waffen geschmiedet werden.
58) Diese Zusammenhänge sind allerdings eigener Art und für uns fremdartig. Aber das ist’s, was wir lernen müssen: uns des Fremdartigen in der I. bewußt werden.
Die zweifache Anwendung der Göttermaschinerie ermöglicht ein seitweises Auftreten des Achilleus sozusagen auf einer andern Bühne und gegen andere Gegenspieler.
60) Vgl. Anm. 29. Diese ,Schuld‘ des Hektor [1020] wird von langer Hand vorbereitet Σ 254ff., und auf diese Vorbereitung wird dann im entscheidenden Augenblick (wie es immer geschieht) Χ 100ff. hingewiesen.
61) Man würde auf den Gedanken, das Ψ zu athetieren, schwerlich gekommen sein, wenn man Sinn hätte für die dort spielenden Humore. Das Ψ bringt die zwischen der Tragik des Χ und Ω notwendige Entspannung.
62) Das Atridische ist fast restlos beseitigt; der Möglichkeit, die Auslieferung der Helena jetzt durchzusetzen, wird garnicht gedacht. Und des Oberbefehls des Agamemnon gedenkt Achilleus jetzt nur noch im leichtesten Ton Ω 649. Hier kann man den Unterschied zwischen Geschichte und Dichtung studieren; historischer wäre es schon, wenn Achilleus und Priamos die Auslieferungsfrage erörterten – aber welchen Abstrich an der allgemein menschlichen Tragik und der Szene würde das zur Folge haben.
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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