ART

4) Hermas nennt sich der Verfasser einer altchristlichen Apokalypse, welche den Titel Ποιμήν führt (Vis. I 1, 4. 2, 4 u. ö.). Er war von seinem θρέψας (Pflegevater? Herr?) nach Rom an eine gewisse Rhode verkauft worden (Vis. I 1, 1): zur Zeit der Abfassung des ‚Hirten‘ ist er allem Anschein nach libertus und lebt mit seiner Familie in Rom. Der Canon Muratorianus (s. d.) behauptet, der römische Bischof Pius sei sein Bruder gewesen. Er war einst ein reicher Mann, hat aber Unglück in seinen Geschäften gehabt und sein Vermögen verloren (Vis. III 6, 7 vgl. I 3, 1. II 3, 1). An seiner Familie hat er nicht viel Freude erlebt: seine Frau hat eine böse Zunge (Vis. II 2, 3), und seine Kinder haben in einer [723] Christenverfolgung nicht nur den Glauben verleugnet, sondern sogar ihre Eltern denunziert (Vis. II 2, 2, vgl. 3, 1; Sim. VII 2). Sein Unglück faßt er als Strafe des Himmels für die schweren Sünden der Seinigen und seine eigene Nachlässigkeit in der Erziehung der Familie (Sim. VII; Vis II 3, 1): ein Trost ist es ihm, daß die Seinen von ganzem Herzen Buße tun (Sim. VII 4). Christenverfolgungen haben vor kurzem gewütet und manche zum Abfall gebracht (Vis. II 2, 8. III 2, 1; Sim. VIII 3, 6. 6, 4. 8, 2. 4. IX 19, 1. 26, 3 u. ö.), aber die Märtyrer und Bekenner sind in hohem Ansehen (Vis. III 1, 9. 2, 1. 5, 2): nun stehen neue Verfolgungen bevor (Vis. II 2, 7. 3, 3. III 6, 5 u. ö.). Da erhebt H. in der Schrift vom ‚Hirten‘ den Bußruf und predigt noch eine einmalige Vergebung für alle, die mit Schuld beladen sind.

Erhalten ist uns der Text des Ποιμήν fast vollständig durch einen teils auf dem Athos, teils in Leipzig befindlichen Codex des 14./15. Jhdts., in welchem nur der Schluß (Sim. IX 30, 3–X 4, 5) fehlt. Das erste Viertel (bis Mand. IV 3, 6 άλλὰ ἐγώ σοι λέγω φη |) steht im Codex Sinaiticus der Bibel (ℵ saec. V), kleinere Stücke sind mehrfach auf Papyri erhalten (Liste bei C. Schmidt und Schubart Berliner Klassikertexte VI 16, wo auch die koptischen Reste gebucht sind), zahlreiche Zitate bei Kirchenschriftstellern kommen dazu. Sodann besitzen wir das ganze Buch in zwei lateinischen Übersetzungen, einer in vielen Hss. sich findenden, der sog. Vulgata, und einer jüngeren, die ein Palatinus Vaticanus saec. XIV bietet (Versio Palatina). Eine äthiopische Übersetzung hat Dillmann 1860 veröffentlicht (Abh. f. d. Kunde d. Morgenlandes II nr. 1). Der in Hilgenfelds Ausgabe von 1887 gedruckte griechische Schluß beruht auf einer Fälschung des Entdeckers des Cod. Athous, K. Simonides.

Das Buch ist vom Verfasser selbst in fünf ὁράσεις (Visiones), zwölf ἐντολάς (Mandata) und zehn παραβολάς (Similitudines) geteilt. Die ersten vier Visiones werden dem H. auf einem Acker an der Straße nach Cumae zuteil: die Vermittlerin der Offenbarungen ist eine ehrwürdige Alte, welche H. zunächst für die Sibylle hält, bis ihn ein schöner Jüngling darüber belehrt, daß es die Ἐκκλησία sei (Vis. II 4, 1). In der fünften Visio erscheint ihm ein Hirte, den Reitzenstein (Poimandres 1904) als Doppelgänger des Hermetischen Poimandres erkannt hat. Er bezeichnet sich als Schutzengel des H. sowie als ἄγγελος τῆς μετανοίας und heißt seinen Schützling die folgenden Mandata und Similitudines aufzeichnen. Die Mandata sind zumeist allgemein ethische Ermahnungen, unter denen besonders die Erörterungen über Ehescheidung sowie Taufe und einmalige Buße (Mand. IV 1, 4–4, 2), sowie die Darstellung der wahren und falschen Prophetie (Mand. XI) Interesse erwecken. Dem zaghaft Fragenden versichert am Ende der Bußengel sehr energisch, diese Gebote könne und müsse der Christ halten. Ohne Übergang beginnen dann die Similitudines, nur durch den Titel παραβολαί, ἃς ἐλάλησε μετ᾿ ἐμοῦ als neuer Abschnitt gekennzeichnet. Das erste Gleichnis stellt in Form einer Mahnrede die beiden wesensfremden πόλεις einander gegenüber: diese Welt und die künftige, [724] die wahre Heimat des Christen. Es ist das gleiche Bild, welches bei Augustin anders gewendet als Kampf der civitas dei mit der civitas terrena begegnet. Es folgen drei Baumgleichnisse (Sim. II–IV), ein Gleichnis vom treuen Weingärtner mit zwiefacher Auslegung (Sim. V), dann schaut H. den Strafengel im Bilde eines Hirten (Sim. VI) und spürt sein Wirken im eigenen Hause (Sim. VII), schließlich kommt eine breit ausgeführte Allegorie an das Bild eines Weidenbaums angeschlossen (Sim. VIII). Als Nachtrag zu Mandata und Similitudines gibt sich deutlich Sim. IX zu erkennen, deren verwunderlicher Schauplatz Arcadia sich wohl als Reminiszenz aus Hermetischer Literatur erklärt (Reitzenstein Poimandres 33): in größter Ausführlichkeit wird das bereits Vis. III behandelte Bild vom Bau eines die Kirche bedeutenden Turmes (über den Zusammenhang mit Cebes -πίναξ vgl. Taylor Journ. of Philol. XXVII 1901, 276ff.) wiederholt und weiter ausgeschmückt. Sim. X bringt den Abschied des Bußengel-Hirten von H.

Die krausen Gedankengänge, das unvermittelte Überspringen von einem Thema zum andern, die gelegentlich sehr starken Widersprüche zwischen Bild und Deutung, dazu eine Reihe von direkten Sinnlosigkeiten gehen hier über das Maß weit hinaus, welches man ohnehin apokalyptischen Schriftstellern zu konzedieren pflegt. So haben sich zahlreiche Hypothesen über die Entstehung des Werkes eingestellt, welche durch Aufteilung unter mehrere Autoren bezw. Interpolatoren die Rätsel zu lösen suchen (Thiersch Kirche im apost. Zeitalter² 350ff. de Champagny Les Antonins³ I 144. Hilgenfeld Nov. Test. extra can. rec.² Proleg. p. XXIff. Haussleiter De versionibus past. Herm. latinis 1884): am eindrucksvollsten hat dies F. Spitta (Zur Geschichte und Literatur d. Urchristentums II 1896) mit der Annahme einer jüdischen Grundschrift getan (ähnlich Völter D. apost. Väter I 1904 mit Retractatio in Die älteste Predigt aus Rom 1908). Harnack nimmt successive Entstehung aus der Feder desselben Autors an (Chronologie I 262ff.): I. Der Kern von Vis. II (d. h. 2, 2–3, 4) ist zuerst zu Vis. I–III, dann zu Vis. I–IV erweitert worden. II. Darnach ist der Ποιμήν, d. h. Vis. V bis Sim. VIII geschrieben. III. Beide Werke werden verbunden und durch Sim. IX erweitert. IV. Schließlich ist Sim. X hinzugesetzt. Mit glänzendem Scharfsinn und unerbittlich strenger Einzelinterpretation ist endlich Grosse-Brauckmann (De compositione Pastoris Hermae, Göttingen Diss. 1910) an das Problem herangetreten. Auch ihm ist mit Recht die Einheit des Verfassers unzweifelhaft erschienen. Er nimmt an, daß das Werk ursprünglich vom Verfasser nur zur Bekehrung seiner Familie geschrieben sei und anfangs lediglich Visionen enthalten habe, die nach einem Jahre durch Mandata erweitert seien. Vis. I. II. (IV). Mand. I–IV. Sim. VI. Vis. V. Sim. VII. Mand. V. IX. X. XII. Sim. X enthalten in dieser Reihenfolge den Grundstock des Buches. Dann habe H. sich entschlossen, das Werk zu einer Bußmahnung für die Gesamtkirche umzugestalten, und dabei eine völlige und vielfach entstellende Umarbeitung vorgenommen.

Für die Entstehungszeit gibt die Notiz des [725] Muratorischen Fragmentisten einen festen Anhalt: Pastorem vero nuperrime temporibus nostris in urbe Roma Hermas conscripsit sedente cathedra urbis Romae ecclesiae Pio episcopo fratre eius. Die Zeit des Pius meint Harnack (Chronologie I 158. 201. 258) mit einiger Wahrscheinlichkeit um 150 ansetzen zu können: Schwartz (Eusebs Kirchengesch. III p. CCXXV. CCXXIX) urteilt freilich ganz skeptisch über den chronologischen Wert der römischen Bischofsliste, aber hier tritt die von ihm betonte, übrigens im Pastor Hermae deutlich erkennbare Tatsache ins rechte Licht, daß ‚vor Soter ein monarchischer Episkopat in Rom nicht vorhanden war‘, und die Successionsliste deshalb notgedrungen ‚die Presbyter, die nebeneinander in der Zeit Hadrians und des Antoninus Pius besonders hervorgetreten waren, in eine Liste von Bischöfen, die aufeinander folgen mußten‘ einstellte. Denn der Vis. II 4, 3 genannte Clemens, welcher das Bußschreiben εἰς τὰς ἔξω πόλεις senden soll, wie es seines Amtes ist (ἐκείνῳ γὰρ ἐπιτέτραπται), dürfte mit dem an sechster Stelle vor Pius in der Liste genannten, vor 100 lebenden Verfasser des ersten Clemensbriefes identisch sein. Auch wenn Grosse-Brauckmann mit seiner Hypothese recht haben sollte und die Umarbeitung des Pastor für die Gesamtkirche erst die spätere Stufe darstellt, muß doch Clemens persönlich in den Gesichtskreis des H. getreten sein: dann wird man Pius nicht gerne über ein Menschenalter von Clemens abrücken und die letzte Redaktion des Ποιμήν durch H. spätestens 130–140 ansetzen. Dazu stimmt, was Harnack (Chronol. I 258) betont, daß von einer Auseinandersetzung mit den großen römischen Gnostikern, die um die Mitte des 2. Jhdts. eintrat, noch nichts zu merken ist.

Ausgaben mit Kommentar von A. Hilgenfeld Novum Testamentum extra canonem receptum III 2. ed. 1881. v. Gebhardt-Harnack-Zahn Patrum apostolicorum opera III 1877. Funk Patres apostolici ed. 2, 1901. Übersetzung mit Kommentar von H. Weinel bei E. Hennecke Neutest. Apokryphen I 217ff. II 290ff. Handausgaben von v. Gebhardt-Harnack und Funk. Weiteres bei Bardenhewer Altkirchl. Literatur I 557ff. Harnack Gesch. d. altchristl. Lit. I 49ff.; Chronologie I 257ff.
[Lietzmann.]

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