4) Glykon, einer der bedeutendsten der vom älteren Seneca in den Suasorien und Kontroversien erwähnten griechischen Rhetoren. Seine Bedeutung erhellt schon daraus, daß Seneca ihn von allen Griechen am meisten anführt (sämtliche Stellen verzeichnet in den Indices der Ausgaben von Kiessling 540 und Müller 602), nicht minder aus Senecas Beurteilung seiner Leistungen, die sich zwar nicht wie bei Niketes zu einem uneingeschränkten Lobe erhebt, vielmehr Lob und Tadel etwa gleichmäßig verteilt, was aber bei Senecas bekannter Abneigung gegen die griechischen Rhetoren, die in Rom tätig waren, immerhin viel bedeutet. Uns ist ein begründetes Urteil über den Mann schwer möglich – Senecas Anführungen aus den griechischen Deklamationen sind durchweg außerordentlich dürftig, und bei dem Zustande unserer Handschriften sind diese dürftigen in vielen Fällen noch dazu ausgefallen (so außer den unten angeführten Stellen bei G. contr. I 5, 9). Wir können also im wesentlichen nur Senecas Urteil reproduzieren, der ihn als einen gemäßigten Asianer charakterisiert. Am ausführlichsten äußert sich Seneca über G. am Schluß von suas. 1 (deliberat Alexander, an oceanum naviget), 16; nach Seneca gelang keinem Griechen diese Deklamation besser als G., freilich macht er sofort die Einschränkung: sed non minus multa magnifice dixit quam corrupte. Von beidem will Seneca seinen Söhnen Proben geben: et volebam vos experiri non adiciendo iudicium meum nec separando a corruptis sana; potuisset enim fieri, ut vos magie illa laudaretis, [1470] quae insaniunt, et (at C. Schenkl) nihilo minus poterit fieri, quamvis distinxerim. Dann ist aber in den Handschriften ausgefallen, was G. belle dixit, wie das, was Seneca wegen überflüssigen Schwulstes tadelte (sed fecit quod solebat, ui sententiam adiectione supervacua atque tumida perderet, ein Vorwurf, der den Asianern ganz allgemein gemacht wurde, vgl. Cic. orat. 230); erhalten ist nur am Schlusse eine Sentenz, über die mancher Urteil zweifelhaft sei, die Seneca aber unbedingt und gewiß mit Recht mißbilligt: ὑγίαινε γῆ, ὐγίαινε ἥλιε · Μακεδόνες ἄρα (γὰρ vg.) χάος εἰσάσσουσι (Gertz ἐσπλέουσι Haase). Lob spendet ihm Seneca contr. I 7, 18 egregie dixit; II 1, 39 satis dulcem dixit sententiam; IX 5, 17 hunc sensum semel dixit (den Montanus mehrfach wiederholt hatte) nec genere corrupto; Tadel contr. I 6, 12 Glyconis valde levis ut Graeca sententia, gemildert durch den Zusatz: tolerabilem dixit illam rem; X 4, 22 corruptam dixit sententiam, doch fügt Seneca hinzu: sed nostri quoque bene insanierunt; X 5, 27 meint Seneca, honeste ⟨dixisse⟩ Romanos fecit; multo enim vehementius insaniit quam nostri phrenetici; in Erinnerung an die von Zeuxis so überaus naturgetreu gemalten Weintrauben ließ G. nämlich in der bei den Griechen besonders beliebten Kontroversie von Parrhasios' Prometheus Geier aequo familiariter in templum ... subire ... quam passeres aut columbas. In der gleichen Kontroversie X 5, 20f. findet Seneca einen Gedanken G.s bei Euktemon sanius ausgedrückt und führt als solche, die G.s Sentenz imitierten, ferner an den Adaios, Damas (corruptissime), den Asianer Kraton (furiosissime). Nach contr. I 6, 12 Artemon (s. Bd. II S. 1447, 20) circa eundem (scil. Glyconis) sensum versatus est; G.s celebris sententia suas. 1, 11 τοῦτο οὐκ ἔστι Σιμόεις οὐδὲ Γράνικος· τοῦτο εἰ μή τι κακόν ἦν, οὐκ ἄν ἔσχατον (so Petschenig, v. Wilamowitz) ἔκειτο omnes imitari voluerunt; Seneca führt Plution, Artemon und Apaturius (s. Bd. I S. 2681, 5) an. Doch nicht nur Griechen lehnten sich an G.s Sentenzen an, sondern – was noch mehr für die Schätzung des Mannes spricht – auch Römer. Contr. X 5, 20 erwähnt Seneca auch die Umbiegung, die Triarius, ein nicht selten bei Seneca erwähnter lateinischer Rhetor, mit G.s Sentenz vorgenommen hat (ex aliqua parte, cum subriperet, inflexit). Nach contr. X 4, 19 hat P. (Nonius) Asprenas einen sensus G.s wiedergegeben eodem modo, uno verbo magis proprio usus. Auch Lepidus, Neronis praeceptor (M’. Aemilius Lepidus, cos. 11 n. Chr., s. Bd. I S. 551, 63) gab einen sensus G.s commodius wieder contr. II 3, 23. Diese Berührungen mit anderen Deklamatoren zeigen, daß G. gegen Ende der Regierung des Augustus und unter Tiberius blühte. Dazu stimmt, daß er (nach contr. X 4, 24) eine Stelle Ovids, met. XII 607f., im Sinne hatte bei seinem Satze: αὕτη μόνη (so Gertz; AYT ΜΟΝΗ C, artemon D vor Glycon dixit) τοῖς ταλαίπωροις χαρὰ καταλέλειπται, welche Ovidstelle P. Vinicius empfahl ad fingendas similes sententias ... memoria tenendum. – Erwähnt wird G., von dessen Lebensumständen uns sonst nichts bekannt ist, nur noch von Quintil. inst. VI, 1 41: G., cui Spiridion fuit cognomen; die Identität [1471] der Personen steht außer Zweifel, da auch Seneca contr. II 1, 39 (scyridion codd.) und II 6, 12 (syricon oder siricon C, syrion D) ihn G. Spyridion, X 5, 27 (hisperidion codd.) und 28 (syspiridio codd.) ihn einfach Spyridion (= das Körbchen) nennt. Quintilian erzählt a. a. O. folgende scherzhafte Anekdote: G. sah unter seinen Zuhörern einen Knaben weinen; auf seine Frage nach der Ursache der Tränen, die G. jedenfalls für eine Wirkung seiner Worte hielt, bekam er die Antwort: a paedagogo se vellicari. Vgl. Buschmann Charakteristik d. gr. Rhet. beim Rhet. Sen., Progr. Parchim 1878, 4ff.
[Münscher.]
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