Gerrhos. 1) Fluß Südrußlands, in der Nogaischen Steppenregion zwischen Borysthenes (Dniepr) und Maiotis. Steph. Byz.: τόπος καὶ ποταμὸς προςεχὴς τῷ Βορυσθένει. Nach dem der Ptolemaios-Karte (III 5, 4) zugrunde liegenden Periplus des Asowschen Meeres mündet er von Norden her in den Bykessee, der dem ,faulen‘ Meer auf dem Isthmus der taurischen Halbinsel (Krym) entspricht. Ptolemaios zeichnet sehr schlecht, wenn er den See in voller Breite auf die Maiotis öffnet, während Plin. IV 83 richtig angibt: a Coreto Maeotis lacus sinu petroso discluditur dorso, das ist der sehr lange Küstenwall, der den Sumpf fast völlig abschließt. Plin. a. a. O. läßt den G. gleichfalls in den Sumpfsee auslaufen, und Val. Flaccus VI 67 nennt den ,Gerus‘ wenigstens unmittelbar neben dem Byces lacus. Alle drei müssen auf dieselbe letzte Quelle zurückgehen (Artemidor). Der G. muß mit der Moločna voda gleichgesetzt werden, die an dem Städtchen Melitopol vorbeifließt und heute in einen fast ganz vom Asowschen Meere abgeschlossenen Strandsee mündet, dem Moločnoje-See, der früher sehr wohl mit dem Ukljukski Liman in Verbindung gestanden haben kann. Dieser bildete einen Teil des alten Coretusgolfes, der von einigen mit dem Bykessee identifiziert wurde: so erklärt sich [1274] die nicht ganz zutreffende Angabe des alten Periplus über die Mündung des G. Dagegen hat Herodot in die Geographie des Dnjeprgebietes eine merkwürdige Verwirrung gebracht. Er nennt zunächst IV 55 östlich der Borysthenesmündung als Küstenfluß den Hypakyris, der bei der Stadt Karkine in die nach dieser benannte Bucht (sinus Carcinites) ausläuft, – in Übereinstimmung mit Plin. IV 84. Dieser Bach – heute ein wasserloses Rinnsal – soll den G. aufnehmen, der sich vom Borysthenes abzweige oberhalb der Gegend gleichen Namens. Diese liegt nach IV 53 angeblich 40 Tagefahrten flußaufwärts, eine Zahl, die Herodots übrigen Zahlenangaben auf das stärkste widerspricht (s. Nr. 2) und in 14 korrigiert werden muß: danach müßte der Borysthenes damals ein umfangreiches Delta besessen haben, dessen Längsdurchmesser 2800 Stadien betragen hätte. Dieses Delta wäre das Gebiet der nomadisierenden Skythen, die nach IV 85 und 20 der G. von den ,königlichen‘ Skythen längs des Westrandes der Maiotis schied (s. u. Skythai). Der Plateaucharakter des östlichen Borysthenesufers verbietet die Annahme, daß der Strom wirklich einmal ein ähnliches Delta gehabt habe. Die Ableitung des G. aus dem Borysthenes erklärt sich durch eine von Herodot angenommene räumliche Beziehung zwischen dem Landstrich und dem Fluß gleichen Namens; möglicherweise gab es aber auch in jenem einen Fluß G., der der heutigen Worskla entspräche (s. Nr. 2); der Name wandert ja immer mit dem Stamm, so auch zum Kaspischen Meer (s. Nr. 3). Dagegen bleibt die von Herodot vermutete Vereinigung des G. mit dem Hypakyris unerklärlich, wenn man nicht annehmen will, daß er zwei sich widerstreitende Angaben über die Grenze zwischen den Nomaden und dem Königsstamme (erstens am G., zweitens an dem Grenzgraben = τάφρος der taurischen Chersonnes nach IV 20; die erstere gehörte wohl Hekataios an, jedenfalls ist für die Beschreibung Skythiens eine schriftliche Quelle benützt, s. Skythai) zu vereinigen sucht, indem er den G. nach Westen rückte und nicht in die Maiotis, sondern westlich von der Krym in die Bucht von Karkine münden ließ. Die falsche Konstruktion Herodots hat sich durch mehrere Zwischenglieder hindurch bis zu Mela II 4 fortgeerbt, nur mit der leichten Verbesserung, daß aus dem Deltaarm G. ein selbständiger Küstenfluß wurde: sinus Carcinites. in eo urbs est Carcine, quam duo flumina G. et Hypacares uno ostio effluentia adtingunt.
[Kiessling.]
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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