Geier (γύψ, voltur). Γύψ bedeutet den Buckligen (urvw. κύπτω); voltur, auch volturius (Liv. XXVII 11) und volturus (Ennius ann.) bezieht sich auf die schönen Kreise, die er beim Fluge zieht, wenn er oft hinaufsteigt in die höchsten Lüfte. Statt der Formen mit vo kamen seit Quintilians Zeit die mit vu in Schwang, vultur und vulturius (Schol. Hor. epod. 17, 67 codd. v b); provinziell muß valtur entstanden sein, woraus das französische vautour (Schuchardt Vokalismus I 178). Griechische Dialekte besaßen das Wort τόργος = γύψ (Hesych. 1464).
Die einzelnen Arten werden im Altertum gewöhnlich nicht unterschieden, und selbst Aristoteles spricht nur von zweien (hist. an. VIII 3): einer kleinen weißlicheren und einer größeren ,mehr aschfarbigen‘. Damit können zunächst nur gemeint sein der kleine Aasgeier (Neophron percnopterus) und der größte der europäischen Aasgeier, der graue G. (Gyps oder Voltur cinereus).
Den ersteren meint Homer, der ja oft von den G. und Hunden spricht, denen die Leichen zum Fraße bestimmt seien. Standvogel in Afrika und West- und Südasien, ist er dagegen in Südeuropa ein Zugvogel, der Ende September aus Griechenland abzieht und Ende März wieder zurückkehrt. Er wird 70 cm lang, 1,6 m breit. Da er von Aas und Abfällen lebt und niemand etwas zuleide [932] tut, so daß selbst die Tauben keine Furcht vor ihm haben, genießt er heute noch bei vernünftigen Völkern Schutz und Schirm, und in Kairo ist eine schwere Strafe auf seine mutwillige Tötung gesetzt.
Der graue oder grauköpfige G. (Voltur cinereus oder monachus) wird 1,16 m lang, 2,3 m breit, ist wie ein Teil der Zoologen wohl mit Recht annimmt, an jener Aristotelesstelle zusammengenommen mit dem braunen Voltur fulvus, der dritten Art, die für Südeuropa in Betracht kommt; dieser letztere ist weißköpfig, heißt auch Gänse-G. – denn diese großen G. rauben gelegentlich, im Unterschied vom kleinen G., Gänse und anderes Geflügel; er wird 1 m lang. Außerdem spricht Plinius von schwarzen G. (voltures nigri), vielleicht Lämmergeiern, griech. αἰγυπιοί (Hom. Od. u. s.). Sie seien die stärksten unter allen, sagt Plinius. Dieser Raubvogel kommt auch heute noch auf den Hochgebirgen Griechenlands und Italiens vor. Plinius nennt ihn an anderm Orte deutlich aquila barbata, und Dionysius de avib. I 4 beschreibt ihn genau unter dem Namen ἅρπη. Die heutige Zoologie nennt ihn Gypactus barbatus. Wir lassen uns aber hier auf diesen zwischen Adler und G. in der Mitte stehenden Raubvogel nicht ein, sondern beschränken uns auf die eigentlichen G.
In Ägypten achtete man das im Flug sehr imponierende und zugleich überaus nützliche Geschöpf als heilig, und man glaubt, sein Kultus gehe gleich dem des Ibis in die urälteste Zeit zurück (Pietschmann). Als Hieroglyphe findet er sich hundertmal dargestellt, z. B. Dümichen Resultate der archäol.-photogr. Expedit. Taf. XL. Gut getroffen mit seinem kahlen Halse erschien er mir einst auf einem leider sehr ruinierten Wandgemälde aus Pompei im Museum zu Neapel neben andern ägyptischen Tieren verschiedener Art (Helbig Campan. Wandgem. nr. 5). Von steinernen G.-Bildern, die einst in Konstantinopel aufgestellt waren, spricht Gyllius De topograph. Constantinop. lib. II cap. 26. Ausgezeichnet gemacht ist der (große) G. auf einer Drachme von Byblos in Phönizien (Imhoof-Keller M. u. G. V 14): er sitzt auf einem toten Wiederkäuer, vielleicht einer Ziege. Der Kopf eines libyschen Lämmergeiers mit einer Schlange im Schnabel erscheint auf einem Tetradrachmon von Kyrene (ebd. V 9). Amulettgemmen ägyptischen Ursprungs zeigen den Vogel wiederholt neben andern prophylaktisch-magischen Tieren: so ein Hämatit des Britischen Museums (ebd. XX 58): zwei unverkennbare große ägyptische G. (Voltur barbarus) einander gegenüberstehend, unter ihnen ein Löwe, der über eine erlegte Antilope springt. Ferner ein Hämatit des gleichen Museums (ebd. XVI 26): ein G., der auf einen ruhig dasitzenden ägyptischen langohrigen Hasen stößt; dabei ein Löwe, der über eine Gazelle herstürzt, eine Sphinx usw. Drittens ein Pariser Siegel aus weißem Marmor (Chabouillet 1270): zwei G., Löwe, Antilopen, Hase usw.
Die Perser nützten die Aasliebhaberei des Tieres sogar für die Versorgung der Menschenleichen aus. Wie Herodot (I 140) berichtet und es heute noch im Orient vorkommt, legten sie ihre Toten unter den freien Himmel und ließen [933] ihnen das Fleisch durch die heiligen Vögel von den Gebeinen lösen. Ebenso machten es nach Aelian nat. an. X 22 die spanischen Barkäer (Basken? Steph. Byz. erwähnt die Βακκαῖοι, ein spanisches Volk) mit den auf der Wahlstatt gefallenen oder doch überhaupt in der Schlacht bewährten Kriegern.
Von Eigenschaften wird bei den klassischen Autoren hervorgehoben seine Feigheit. Quintus Smyrnaeus (III 353) spricht von ,erbärmlichen G.‘ (αὐτιδανοί), weil sie vor den Adlern feig entfliehen. Ferner hat der G. einen widerlichen Geruch (πικρὸν ὄζει Alciphr. III 59, 4) nach Aas und Leichen. Leichenvogel (funereus) heißt er in der Anthologie (I 390 R.). In der Tat durchdringt das ganze Gefieder des Vogels ein furchtbarer Aasgeruch, und aus den Nasenlöchern strömt zu jeder Zeit eine stinkende Flüssigkeit; geängstigt speien sie sogar den entsetzlichen Inhalt ihres Kropfes aus (Poppig Illustr. Naturgesch. II 42). Sophokles nennt sie triefig oder triefend von ihrem Fraße, γλαμυροὶ κατὰ φορβάν (Sophokl. in den Μάντεις. Schol. Arist. Frö. 595 [596]). Tote Vögel und Pestleichen berühren sie übrigens nicht (Liv. XLI 21). Wenn Löwen und Eber sich zerfleischen, fliegen sie voll Erwartung über ihnen hin und her (Aesop. Fab. 253 H.), auch fressen sie die von Löwen getöteten Schafe (Quint. Smyrn. III 355). Wo ein lebendes Wesen verenden will, greifen sie erst an, nachdem das letzte Zucken vorüber ist. Nicht übel sagt der sarkastische Seneca epist. 95 von jemand, der aufs Erben hoffend bei einem kranken Freunde sitzt: voltur est, cadaver expectat.
Freie Erfindung gegen die Natur ist es, wenn Euripides Androm. 74f. Menelaos und Helena mit zwei ,mordenden‘ G. vergleicht oder Homer (Od. XI 578f.) des Tityos Leber in der Unterwelt von zwei G. benagen ließ. Sie sind der mythische Ausdruck für die wilden Begierden, die im Leben an ihm genagt (L. Schmidt Eth. I 97). Auch am gefesselten Prometheus benagte ein G. die Leber, und das ist allerdings Tatsache, daß er gleich manchen andern Tieren die edlen Eingeweide besonders gerne frißt. Auf einem Gemälde Polygnots zu Delphi sah Pausanias den schwarzen Dämon Eurynomos, wie er zähnefletschend auf dem ausgebreiteten Balge eines G. saß (X 28, 7). Grattius 79 und Iuvenal 13, 54 geben dem G. das Beiwort ater. Sein Geschrei in der Nacht ist ominös.
Gesicht und Geruch gelten für wunderbar scharf. Zugleich aber sollte das Tier gegen gewisse Gerüche (τῶν μύρων) auch äußerst empfindlich sein. Wenn man es einsalbe oder ihm mit scharfen Gerüchen (μύροις) versetzte Speisen zu fressen gebe, müsse es sterben (mirab. ausc. 147 [159]). Nach Hieronymus (t. VI 71 d) und Isidor (XII 7. 12) wittern sie (sentiunt) die Leichen jenseits des Meeres; nach dem Talmud erblicken sie von Babylon aus ein Aas in Palästina (Lewysohn Zool. d. Talm. 167). Plutarch (mor. p. 87 c) und Neuere haben geglaubt, sie fliegen dem Geruche des Aases nach; allein genaue Versuche haben erwiesen, daß sie vom Gesicht geleitet werden (Lenz Zool. der alten Griech. u. Röm. 273): daher auch ihre Fähigkeit und Gewohnheit, in höchste Höhen aufzusteigen. In tanta altitudine [934] volat, quanta humor terrae sursum ascendit sagt die heilige Hildegardis VI 7. Und eben weil er gleich den Göttern im Olymp ganze Länder übersieht, gilt er den Indern als allwissend (s. über den Mythus vom allwissenden G. Gātāyus de Gubernatis Zool. mythology II 185), und in der griechischen Melampussage schlachtet dieser Seher dem Zeus einen Stier, schneidet ihn in Stücke und ruft die Götter zum Mahle; er fragt sie, aber sie wissen alle nichts bis auf einen G. (Preller Griech. Myth. II 335). Inter alias volucres velut propheta est schreibt Hildegardis VI 7. So war es keine Entwürdigung für Zeus, wenn er in Gestalt eines G.s die sizilischen Paliken erzeugt haben sollte (Creuzer Symb. III 612). Diese Paliken, wahrscheinlich semitischen Namens und Ursprungs (Roscher Myth. Lex. s. v.), hausten im schwefeldampfenden Palikensee (olentia stagna Palici), sie wußten und wahrsagten die Zukunft, wie man es dem G. zuschrieb, und auch ihr Geruch mag dem eines G. verglichen worden sein.
Daß sich an das sonderbare, dem Menschen stets fremd bleibende und in gewissem Betracht unheimliche Tier allerlei Fabeln hefteten, davon haben wir schon einige Proben gesehen. Drei (Plin. n. h. X 19), ja sieben Tage vorher (Hora polio I 11) sollten sie einem Platz zufliegen, wo es Leichen geben würde. Die Sage ist offenbar entstanden aus der richtigen Wahrnehmung, daß sie oft zu Tausenden den Heereszügen folgen (Aelian. n. a. II 46. Arist. hist. an. VI 5. Basilius hexaëm. u. a.). Das tun sie natürlich nicht, weil sie in prophetischem Geiste eine große Schlacht voraussehen, sondern weil schon während des Marsches einer großen Armee Tag für Tag Zugtiere genug fallen und ihnen zum Fraße dienen. G., Rabe und Wolf sind die eigentlichen Aasfresser (Babr. 122, 5). Schwer ist es, des G.s Brut zu finden, pflegt er doch auf unzugänglichen Felsenspitzen seinen Horst zu gründen (Arist. hist. an. VI 5. Antigon. 42 [48]); daher der sonderbare Glaube, sie fliegen aus einer andern Welt hernieder (Plut. Rom. 9). Das Vernünftigste findet sich wieder bei Aristoteles, der a. a. O. mit Recht von zwei Eiern im Neste spricht. Der Interpolator des 9. Buches verschlechtert dies, indem er es auf 1–2 Eier vermindert. Alexandrinische Fabelweisheit bietet Plutarch (quaest. Rom. 93). Theophylaktos (dial. c. 8), viele Kirchenväter usw., von denen wir belehrt werden, daß es nach ägyptischer Lehre keine männlichen G. gebe (Horap. I 11), sondern bloß weibliche, die um zu empfangen, gegen den Süd- oder Ostwind fliegen, worauf sie drei Jahre lang trächtig seien; alsdann bringen sie keine Eier, sondern lebendige gefiederte Junge zur Welt. Auch die sonderbare Sage vom Pelikan, der seine Jungen mit dem eigenen Herzblut füttert, geht ursprünglich den G. an und ruht auf einem Wortspiel der hebräischen Sprache, wie bereits der geniale Bochart Hieroz. II 803 bemerkt hat, zwischen rahēm Mitleid, Erbarmen und rāhām Geier.
Eigentliche religiöse Beziehung des G.s findet sich bloß am Nil. G. und Käfer hielt man für mannweiblich und aus diesem Grunde wurden sie, wie wir aus Horapollo (I 13) wissen, für die beiden mannweiblichen Götter Pthah = Hephaistos und Neith = Athene hieroglyphisch verwendet: [935] Käfer und G. bedeutete Pthah, G. und Käfer die Neith = Athene. Euripides (Tro. 594) teilt gleichfalls den Vogel der Athene zu, womit ja auch die Vorstellung von seiner Weisheit harmoniert. Der Neophron percnopterus war der Isis = Hera heilig. Die Ägypter schmückten den Kopf der Isisbilder mit G.-Federn (Aelian. nat. an. X 22). Der große G. der Skulpturen aber, Voltur barbarus oder nubicus (Wilkinson M. and cust. III² 261), war der Maut, der Göttin der Mütterlichkeit, Eileithyia geweiht, weil man glaubte, es gebe nur weibliche solche G. Darum hatte auch eine G.-Feder geburtshelfende Kraft (Plin. XXV 44).
Außer den Federn schrieb man auch dem Herzen und der Leber des Vogels medizinische Wirkungen zu (Plin. n. h. XXIX 24. 38. Galen. IV 8. Ps.-Sext. de medic. ex anim. II 2. Quint. Seren. c. 47 u. a.), ja sogar seinem Kote (Dioskurides und arabische Ärzte): Γυπὸς ἄφοδος ἀποθυμιαθεῖσα ἔμβρυα ἐκτινάσσειν παραδέδοται Diosk.).
Bei der großen Ähnlichkeit zwischen G. und Adler und dem späteren Überwiegen des letzteren in der Symbolik und Mythologie ist die Verwechslung von beiden Vögeln oft vorgekommen und zwar stets so, daß der Adler fälschlich statt des G.s gesetzt wurde. So ist in der Bibelübersetzung der G. durch den Adler verdrängt worden, so hat man bei den babylonisch-assyrischen Göttern Nisroch und Nattig (vgl. Hesekiel 1, 10. 10, 14) den ursprünglichen G.-Kopf als Adlerkopf angesehen und aus dem ägyptischen, später auch persischen Sieges- und Königszeichen, dem G. mit ausgebreiteten Schwingen, z. B. auf dem Siegelzylinder des Dareios (Keller Ant. Tierwelt I 40 Fig. 10), hat sich im Lauf der Zeit unser Münz- und Wappenadler entwickelt.
Literatur: Thompson A glossary of Greek birds, Oxford 1895, 47–50.
[O. Keller.]
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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