Erycina (Erucina, Ἐρυκίνη). Die auf dem Eryx von den Elymern verehrte, von den Phöniziern als Astarte (CISem. I 135. 140, Erek-Hayim, vgl. Perrot-Chipiez Hist. de l’art III 308) angesehene Göttin wurde von den hellenischen Ansiedlern Westsiziliens der griechischen Aphrodite, von den Römern der Venus gleichgesetzt und seitdem als Aphrodite Ἐρυκίνη bezw. Venus Erucina verehrt. Das Heiligtum auf dem Berge (vgl. den Art. Eryx Nr. 1) lockte sowohl wegen seiner strategisch bedeutsamen Lage als auch wegen seines Reichtums und seiner religiösen Bedeutung die verschiedensten Machthaber und Stämme an; die einen versuchten es mit Gewalt und Eroberung, die andern durch Güte, Weihgeschenke und Privilegien ihren Interessen dienstbar zu machen. So wurde es zu dem ,an Reichtum und sonstigem Vorrang bedeutendsten Heiligtum Siziliens‘ (Polyb. I 55, 8, vgl. II 7, 9), dem ,seit ältester Zeit angesehensten und an Reichtum nicht hinter dem Tempel der Aphrodite von Paphos zurückstehenden Heiligtum‘ (Paus. VIII 24, 6).
In die Gründungssagen westsizilischer Orte wird Aphrodite E. auf verschiedene Weise verflochten. Sie gebiert dem Poseidon den Eryx (s. d. unter Nr. 2), der die gleichnamige Stadt gründet und den Tempel der Göttin stiftet. Oder sie rettet den Argonauten Butes (s. o. Bd. III S. 1081f.), der dann von ihr Vater dieses Eryx wird. Oder sie gebiert einem einheimischen König Butes jenen Eryx. Die Sage erzählte ferner von dem Schatz, den die Göttin jenen Troern oder Troerinnen gewährte, die nach Sizilien gekommen sein sollten, wie die Töchter des Phoinodamas, die zum Dank den Tempel der E. stifteten (Lykophr. 472. 952. 958 nebst Schol. und Tzetz. zu diesen Stellen), andere Vorfahren des Aigestes (s. o. Bd. I S. 951f.) und sonstige Troer vor oder nach Ilions Untergang. In römischer Zeit gewann die Version Anerkennung, [563] daß Aineias seiner Mutter Aphrodite den Tempel auf dem Eryx und seinem Vater Anchises dort ein Heroon gestiftet habe, vgl. Verg. Aen. V 759ff. Hyg. fab. 260. Serv. Aen. I 570. Myth. Vat. I 53. Pompon. Mel. II 119.
Am eingehendsten schildert die Sagen und den Kult Diodor. IV 83, wo sowohl die Sagen von Butes, Eryx (vgl. IV 23, 2) und Aineias wiedergegeben, als auch die Pracht des Tempels und die Fülle der Weihgeschenke (über die Werke des Daidalos vgl. Diod. IV 78, 4f.; s. o. Bd. IV S. 2005) hervorgehoben werden; Aphrodite habe dies Heiligtum vor allen andern geliebt (vgl. V 77. Theokrit. XV 101. Apoll. Rhod. IV 917), und daher den Namen E. erhalten; trotz aller politischen Verwicklungen sei das Heiligtum stets gleich angesehen geblieben; Einheimische und Fremde, Eryx, Aineias, die Sikaner, die Karthager und schließlich die Römer wetteiferten in der Verehrung; speziell die römischen Beamten (vgl. die aus dem Verresprozeß bekannten Episoden, z. B. Cic. Verr. II 21f. 93. 115f. u. ö.) bedachten die Göttin mit glänzenden Opfern und Ehren und nahmen ungezwungen und froh an den Freuden teil, die einen wesentlichen Bestandteil des Kultes bildeten. Diodor charakterisiert diese als παιδίας καὶ γυναικῶν ὁμιλίας; Strab. VI 272 betont, das Heiligtum sei früher voll gewesen von weiblichen Hierodulen (über die servae und libertae vgl. Cic. div. in Caecil. 55ff.; daneben viele servi Venerii, vgl. Cic. pro Cluent. 43; Verr. III 50. 55. 89. 92. 93. 105), welche Leute aus Sizilien und von andern Orten der Göttin gelobt und geschenkt hätten; zu seiner Zeit freilich τῶν ἰερῶν σωμάτων ἐκλέλοιπε τὸ πλῆθος. Für die Art, wie die Römer das Heiligtum schätzten, ist auch charakteristisch der bei Diod. IV 83, 7 erwähnte Senatsbeschluß, durch welchen den 17 treuesten Städten Siziliens das Recht der Chrysophorie für den Kult der E. verliehen und eine Tempelwache von 200 Mann genehmigt wurde, ferner der Umstand, daß Tiberius die Wiederherstellung des Tempels übernahm (Tac. ann. IV 43), die Claudius später vollendete (Suet. Claud. 25).
Eine weitere Schilderung der reichen Weihgeschenke gibt Thukyd. VI 46, ferner Aelian. nat. anim. X 50, wo zugleich berichtet wird, wie Tag für Tag Einheimische und Fremde Opfer darbringen; auf dem großen Altar im Freien brenne beständig das Feuer, aber trotzdem finde sich keine Asche, sondern jeden Morgen zeigten sich Tau und frische Blumen (die λυχνίς galt dort als heilige Blume, Athen. XV 681f.). und freiwillig gingen dort die Opfertiere zum Altar.
Das Hauptfest bildeten die Anagogia, an denen angeblich Aphrodite mit allen heiligen Tauben, deren es eine große Zahl im Heiligtum gab, nach Libyen zog, und die Katagogia, neun Tage später, an denen zunächst eine Taube, von Farbe πορφυρᾶ (daher Aphrodite πορφυρέη, Anacr. 2, 3), dann die Göttin selbst heimkehrt und prächtige Schmausereien und lärmende Freudenbezeugungen veranstaltet werden, Aelian. nat. an. IV 2; var. hist. I 15. Athen. IX 394 f. 395 a.
Über die Darstellung der E. geben die Münzen von Eryx Aufschluß, die teils den Kopf der Göttin zeigen, teils die thronende Aphrodite mit der Taube auf der Rechten und Eros zur Seite; vgl. [564] Catalogue coins Brit. Mus. Sicily 62f. Wissowa Ges. Abhandl. 11ff.
Erwähnt wird die Aphrodite vom Eryx sehr oft, teils mit, teils ohne die Epiklesis E. Daß letztere auch an der Hauptkultstätte gebräuchlich war, lehren die Inschriften vom Eryx, IG XIV 281 = CIG 5499. CIL X 7253-7257;[1] vgl. ferner außer den schon angeführten Stellen bei Polyb. Diod. Strab. Paus. Cic. div. in Caecil. 55; Verr. II 21. 93 noch Steph. Byz. s. Ἔρυξ. Anon. Laur. X 5 = Schoell-Studemund Anecd. var. I 269. Ovid. heroid. XV 57; met. V 363. Serv. Aen. V 759. Die römischen Dichter gebrauchen E. sehr oft ohne direkten Bezug auf den Eryx oder die römischen Filialkulte als Hauptnamen der Venus; vgl. Catull. 64. 72. Horaz carm. I 2, 33. Ovid. amor. II 10, II. Senec. Phaedr. 204.
Außerhalb Eryx finden sich Weihinschriften oder Kulte der E. in Syrakus: Weihinschrift CIL X 7121[2] = I 1474. Aspis-Clupea in Africa: Kult von Sizilien herübergebracht, Solin. 27, 8. Dann in Unteritalien: Potentia: Weihinschrift CIL X 134.[3] Puteoli: desgl. X 8042. 1 = I 1495. Herculaneum: E. mit der oskischen Herentas gleichgesetzt, Zvetajeff Syllog. inscript. Oscar. 60 b, vgl. Wissowa in Roschers Myth. Lex. I 2298; Relig. u. Kult. d. Röm. 236. Ähnlich wurde in Latium die alte latinische Göttin Frutis mit E. gleichgesetzt, indem man behauptete, Aineias habe ihr Bild aus Sizilien mitgebracht. Preller Röm. Myth. I 436, 4. Rom: zwei Kulte der E., eingehend behandelt von Wissowa Ges. Abhandl. 9ff.; Relig. u. Kult. d. Röm. 236f. Der Tempel der Venus E. auf dem Kapitol wurde nach der Schlacht am trasimenischen See im J. 217 v. Chr. durch den Dictator Q. Fabius Maximus auf Grund der Sibyllinischen Bücher gelobt und 215 durch ihn geweiht, Liv. XXII 9, 7–10. 10. XXIII 30, 13f. 31, 9, vgl. Steph. Byz. s. Ἔρυξ. Der zweite Tempel der Venus E. vor der Porta Collina wurde 181 v. Chr. von L. Porcius Licinus nach einem Gelöbnis seines Vaters geweiht, Liv. XI. 34, 4, vgl. XXX 38. 10. Appian. bell. civ. I 93. Strab. VI 272. Ovid. remed. amor. 549ff. CIL VI 2274.[4] Da der Stiftungstag dieses zweiten Kultes, der 23. April (CIL VI 2295),[5] zugleich der Tag des Iupiterfestes Vinalia priora war, hielt man irrtümlich auch dieses Fest für eines der Venus E., Ovid. fast. IV 863ff. (wo die beiden Kulte Roms vermischt sind). Plut. quaest. Graec. 45 p. 275 E. Zugleich galt das Fest der Göttin, in Anlehnung an die Hierodulensitten von Eryx für ein besonderes Fest der Meretrices, vgl. Fast. Praenest. zum 25. April. Mommsen CIL I2 p. 316.[6] Ovid. fast. a. a. O. Den Thron und das Kultbild dieser E. vor der Porta Collina glaubt Petersen Röm. Mitt. VII 77f. in erhaltenen Monumenten nachweisen zu können, vgl. [Wissowa Ges. Abhandl. 13. Daß die Römer den Zusammenhang ihrer beiden Kulte mit dem sizilischen Kult besonders anerkannten, lehren auch die römischen Münzen mit dem Eryx, Babelon Monn. de la républ. Rom. I 376. In Griechenland ist der Kult der E. bezeugt für Psophis in Arkadien. Der Tempel der Aphrodite E., der zu Pausanias Zeiten verfallen war, sollte nach der Legende von den Kindern der Psophis errichtet worden sein; diese Psophis, eine Tochter des sizilischen Eryx, [565] sollte einst Herakles von Sizilien mit sich geführt haben, Paus. VIII 24, 6, vgl. 24, 2 und Steph. Byz. s. Ψωφίς. Gruppe Griech. Myth. I 371 sieht in diesem Kult die Heimat des sizilischen E.-Kultes. Immerwahr Kulte u. Mythen Arkad. I 172f. vermutet, daß die tyrsenischen Pelasger die Träger des Aphroditekultes waren. Das Urteil über diese Fragen ist bedingt durch das Urteil über die Sagen von Aineias und den Kult der Aphrodite Aineias.
[Jessen.]
Anmerkungen (Wikisource)
Corpus Inscriptionum Latinarum X, 7253.
Corpus Inscriptionum Latinarum X, 7121.
Corpus Inscriptionum Latinarum X, 134.
Corpus Inscriptionum Latinarum VI, 2274.
Corpus Inscriptionum Latinarum VI, 2295.
Corpus Inscriptionum Latinarum I, 316.
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