Erinna (Ἤριννα, auch mit dem Asper geschrieben: s. Meineke zum Del. Anth. p. 132 und die Grammatikerstellen bei Lentz Herodian. II p. 455, 9 adn.; der Name wird von Fick-Bechtel Gr. Personenn. 137 mit Meineke zu Ἥρα gezogen), griechische Dichterin. Literatur: Bergk PLG III p. 141. 114. Michelangeli Framm. della melica Greca I 117. Hartung Gr. Lyr. II 111 (abenteuerliche Gleichsetzung von E. und Kleobuline). Welcker Kl. Schr. I 145 (verarbeitet die ältern Untersuchungen). Bergk Gr. Litt. I 165 A. II 286f. Flach Gr. Lyrik 518; Rh. Mus. XXXVIII 464. Susemihl Gr. Litt. d. Alex.-Zeit II 527f. Garbato Erinna, Venetia 1885 konnte nicht benützt werden. E. Rohde Rh. Mus. XXXIV 569 = Kl. Schrift. I 373. R. Reitzenstein Epigramm u. Skolion 142f. Crusius Untersuchungen zu Herondas 118. Benndorf De Anthol. epigr. ad artem spect. 6f. Kalkmann Rh. Mus. XLII 504f. Aus dem antiken βίος bei Suidas (Hesych. Mil. p. 85 Flach = Eustath. Il. II 711 p. 326) ist nicht viel Gewinn zu ziehen.
I. Die verschiedenen Angaben über die Heimat der Dichterin (Hauptzeuge neben Hesychios Steph. Byz. 622, 4, beide zusammen wohl aus Philon von Byblos περὶ πόλεων, s. Rohde a. O.) sind an der Urkunde zu messen, die auch für die Entscheidung des Philon bestimmend war, an dem [456] Epigramm Anth. Pal. VII 710, wo eine συνεταιρίς der Dichterin Τηνία heißt (daß in dem hsl. τηνιδωσειδωντι mit Pauw und Stadtmüller Τηνία ὡς εἰδῶντι zu erkennen ist, liegt auf der Hand). Auffällig ist bei der Tenierin freilich die dorisch gefärbte Sprache. So gewinnt die dritte Angabe bei Suidas (ὡς δὲ ἄλλοι Τηλία· Τῆλις δέ ἐστι νησίδιον ἐγγὺς Κνίδου) einige Gewähr; man mag in dem maßgebenden Epigramm eine doppelte Lesart (Τηνία, Τηλία) gehabt haben. Beziehungen zu Rhodos (Suid. τινὲς δὲ καὶ Ῥοδίαν αὐτὴν ἐδόξασαν) wären unter dieser Voraussetzung nicht überraschend (s. Welcker a. a. O.), während die Verweisung nach Lesbos (Suid. ἢ Λεσβία, ebenso schon der Anonymus Anth. Pal. IX 190) eine Folge der willkürlichen Verbindung der E. mit Sappho ist, zu der die ästhetische Vergleichung der beiden berühmten Dichterinnen oder ein Epigramm wie Anth. Pal. VII 718 den Anlaß gegeben haben mag. Auf ähnlichem Wege sind Anyte und Nossis zu Mitylenäerinnen geworden, s. Reitzenstein o. Bd. I S. 2655; Epigr. und Skol. 143. Die Konjektur ὦ Ἤριννα bei Sappho frg. 77 p. 115 adn. Bgk. ist ohne jede Wahrscheinlichkeit; ebenso Schneidewins (Delectus poet. p. 318) Ἤρων = Ἤρινναν Sappho frg. 75; der Lemmatist des Palatinus VII 710, den Stadtmüller korrigiert, hat keinerlei Gewähr und wird durch den Text des echten Epigramms ad absurdum geführt.
II. Bei der Bestimmung der Lebenszeit der Dichterin ist Sappho ganz aus dem Spiele zu lassen; den Schluß der Suidasvita (ἦν δὲ ἑταίρα Σαπφοῦς καὶ ὁμόχρονος, mit den vorhergehenden Sätzen) hat A. Daub (De Suid. biogr. 415) längst als spätes Anhängsel erkannt, das nicht mehr wert ist, als das Autoschediasma des Lemmatisten; schon der Umstand, daß die chronologische Bestimmung so nachhinkt (statt auf die Notiz über die Heimat zu folgen), erweckt unser Mißtrauen. Die Chronographen (Eusebios und Ausschreiber) setzen die Blüte der Dichterin viel später, auf Ol. 106, 4 oder 107, 1 = 352. Diesen Ansatz hat zuerst Benndorf (a. O. 8) mit guten Gründen empfohlen (nur die Properzstelle II 3, 22, wo der Name E. interpoliert wurde, muß aus dem Spiel bleiben). Nun soll allerdings nach Tatianos adv. Gr. 51 Naukydes (dessen Akme auf Ol. 95 bestimmt wird) eine Statue der Dichterin gemacht haben. Das stimmt nicht zu dem Ansatz der Chronographen. Daraufhin griff Bergk PLG a. O. zu dem alten Hausmittel, zwei Erinnen anzunehmen (wie schon Jacobs Anth. graeca XIII p. 890 und Schneidewin). Aber was Tatian an verwandten Notizen bringt, trägt (wie die entsprechenden Nachrichten bei Christodor Ekphr. 108) fast durchweg den Stempel der Fiktion auf der Stirn; daß insbesondere der Katalog der Dichterinnen ein spätes Schwindelmachwerk ist, hat Kalkmann a. O. zur Evidenz dargetan. E. gehört also ins 4. Jhdt.; sie ist annähernd eine Zeitgenossin des Antimachos und steht neben ihm an der Schwelle der hellenistischen Epoche, deren Tonangeber sie und ihre Kleinkunst in überschwenglicher Weise feiern. Dazu stimmt es gut, daß ihr Name, zusammen mit dem der Nossis, von Herondas (VI 20) in bedenklichem Zusammenhang genannt wird; Herondas macht sich damit [457] wohl (wie im 9. Gedicht) das Vergnügen, den führenden Literaten ein Schnippchen zu schlagen. Vom Leben der E. wußte man wenig zu melden. Die erhaltenen Fragmente zeigen sie in einem Kreise von Genossinnen (Agatharchis, Baukis oder Bauko, Myro); eines ihrer Gedichte berührt sich mit denen der Nossis (Reitzenstein Epigr. u. Skol. 142), in einem andern Falle scheint sie sich mit Anyte begegnet zu sein (so löst sich das Aporem Plin. n. h. XXXIV 57, s. Welcker a. a. O. 147. Bergk PLG III 146). Auffällig ist es, daß die Dichterin, von der man ein Epigramm auf eine als Mädchen gestorbene Freundin las, selbst mit neunzehn Jahren gestorben sein soll; aber Asklepiades (Anth. Pal. VII 11) kann das immerhin aus gleichzeitiger dichterischer Quelle, etwa einem Grabepigramm, entnommen haben.
III. Für die Dichtungen der E. bietet die wichtigsten Zeugnisse die Anthologia Palatina. Schon Asklepiades feierte die Dichterin VII 11: ὁ γλυκὺς Ἠρίννης οὗτος πόνος, οὐχὶ πολὺς μέν, ὡς ἂν παρθενικῆς έννεακαιδεκέτεος, ἀλλ` ἑτέρων πολλῶν δυνατώτερος; ähnlich Antipater VII 113 παυροεπὴς Ἤριννα καὶ οὐ πολύμυθος ἀοιδαῖς: man pflegt diese Verse auf ‚die Elakate‘ zu beziehen (in Erinnam, unius eiusque exigui, sed egregii carminis auctorem, inscripti ἠλακάτη, Dübner p. 418); sichere Anhaltspunkte für diese Annahme gibt es nicht (auch die Kombination G. Knaacks Herm. XXV 86 hat nichts überzeugendes). Auf ein Epigramm der E. spielt jedenfalls Leonidas Anth. Pal. 13 an: παρθενικὴν νεαοιδὸν ἐν ὑμνοπόλοισι μέλισσαν Ἤρινναν … Ἄιδας εἰς ὑμέναιον ἀνάρπασεν· ἦ ῥα τόδ` ἔμφρων εἶπ` ἐτύμων ἁ παῖς· ‚βάσκανος ἔσσ` Ἀΐδα‘ (= Anth. Pal. VII 712 = frg. 6, 3 Bgk.); völlig neutral ist der Anonymus Anth. Pal. VII 145 σὸς δ` ἐπέων, Ἤριννα, καλὸς πόνος κτλ. Etwas ergiebiger sieht das gleichfalls anonyme Gedicht Anth. Pal. IX 190 aus: Λέσβιον Ἠρίννης τόδε κηρίον … οἱ δὲ τριηκόσιοι ταύτης στίχοι ἶσοι Ὁμήρῳ τῆς καὶ παρθενικῆς ἐννεακαιδεκέτευς· ἣ καὶ ἐπ` ἠλακάτῃ μητρὸς φόβῳ ἢ καὶ ἐφ` ἱστῷ ἑστήκει Μουσέων λάθρη ἐφαπτομένη (s. Sappho frg. 90 γλυκεῖα μᾶτερ). Σαπφώ δ` Ἠρίννης ὅσσον μελέεσσιν ἀμείνων Ἤριννα Ψαπφοῦς τόσσον ἐν ἑξαμέτροις (aus den letzten Versen folgert Reitzenstein 143, daß der E. μέλη zugeschrieben seien, was Welcker 151 bestritten hatte). Auch dieses Gedicht soll de sola colu verstanden werden (Welcker 151, ähnlich Dübner p. 184 u. a.); aber v. 5f. können doch ebensogut auf jene kleinen ποιημάτια passen, die wir aus der Anthologie und Athenaeus kennen lernen. Genauer betrachtet beruht die herrschende Vorstellung von der ἠλακάτη einzig und allein auf der Suidasstelle: ἦν δὲ ἐποποιός· ἔγραψεν Ἠλακάτην (ποίημα δέ ἐστιν Αἰολικῇ καὶ Δωρίδι διαλέκτῳ, ἐπῶν τʹ). ἐποίησε δὲ καὶ ἐπιγράμματα· τελευτᾷ παρθένος ἐννεακαιδεκέτις· οἱ δὲ στίχοι αὐτῆς ἐκρίθησαν ἴσοι Ὁμήρῳ· ἦν δὲ ἑταίρα Σαπφοῦς καὶ ὁμόχρονος. Aber es ist sehr fraglich, ob diese Suidasnotizen als selbständige Überlieferung neben den Epigrammen angesehen werden dürfen; die Zitate ἐννεκαιδεκέτις und ἶσοι Ὁμήρῳ zeigen, daß sie vielmehr von den Epigrammen abhängig sind. Dann wird auch das Vorhergehende (was noch Daub retten wollte) verdächtig; die ‚stichometrische Angabe‘ ἐπῶν τʹ [458] wird aus demselben Verse des Anonymus (οἱ δὲ τριηκόσιοι … στίχοι) stammen, der später zitiert wird, und damit erscheint es als eine sehr nahe liegende Möglichkeit, daß der zu phantasiereichen Rekonstruktionen benützte Gedichttitel ἠλακάτη (der einem Byzantiner ja aus Theokrit bekannt war) einfach mißverständlich aus den folgenden Versen (ἐπ` ἠλακάτῃ) herausgelesen ist. Jedenfalls haben wir (wie schon Knaack und Reitzenstein sahen) kein Recht, alle Hexameter mit Bergk unter diesem durchaus problematischen Titel zu vereinigen. Frg. 1 (πομπίλε … πομπεύσαις) ist ein προπεμπτικόν; frg. 3 könnte aus einem ἐπικήδειον herstammen. Athenaeus zitiert frg. 1 mit den Worten Ἤριννα ἢ ὁ πεποιηκὼς τὸ εἰς αὐτὴν ἀναφερόμενον ποιημάτιον (VII 283 D), es müssen also Zweifel über die Echtheit bestanden haben. Man wird an das Philainisproblem erinnern dürfen. Die lyrischen Hexameter in den Oxyrhynchospapyri (I p. 13) haben mit E. schwerlich etwas zu tun (gegen Blass Neue Jahrb. 1899, 80 s. v. Wilamowitz Abh. d. Ges. d. Wiss. zu Göttingen N. F. IV 3, 1900, 53; Gött. gel. Anz. 1898, 696). Sicher scheint nach alledem nur, daß man in frühhellenistischer Zeit eine Reihe von kleinen Gedichten (Hexameter, Distichen, nach Reitzenstein auch Melisches) unter dem Namen der E. besaß. Die Rundzahl 300 in der Anthologie IX 190 mag den gesamten Nachlaß der Dichterin bezeichnen sollen.
[Crusius.]
Nachträge und Berichtigungen
S. 455 zum Art. Erinna:
Ein Papyrus s. Ia (ed. G. Vitelli Pap. Soc. Ital. 9, 1929, nr. 1090, dazu Taf. IV und Vorrede S. XII, vgl. die Ausgabe von P. Maas Herm. 1934, Heft 1) enthält Reste von 54 Hexametern eines Trauergedichtes der E. auf Baukis, jener Gespielin, der auch die beiden Grabepigramme Anth. PaL VTI 710. 712 gelten, und wohl auch das Geleitgedicht frg. 1 Bergk (3 Diehl); denn [55] etc. etc.
[P. Maas.]
Erinna
Dichterin auf Telos aus der Mitte des 4. Jh. v. Chr. S VI.
[Hans Gärtner.]
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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