Epikteta (Ἑπικτήτα;; der Name ist nicht so unaristokratisch, wie Studniczka Kyrene 80 meint – vgl. Ἐπίκτητος Καλλιγνώτου Θηραῖος πρόξενος Ἀρκεσινέων Bull. hell. XII 1888, 228f., 2; der Vater nennt sein jüngstes, spätgeborenes Kind das hinzuerworbene; vgl. Kirchner Prosopogr. att. I 4918 um 350). Seit langer Zeit kennt jeder griechische Altertumsforscher eine große, in acht Kolumnen mit im ganzen 288 Zeilen, die auf vier aneinander passende Blöcken geschrieben sind, sorgfältig verzeichnete und verhältnismäßig gut erhaltene Urkunde, gemeinhin das ,Testament der E.’ genannt. Sie ist eine wichtige Quelle für griechisches Rechtswesen, Vereins- und Privatleben in einer kleinen, abgelegenen Gemeinde am Anfange des 2. Jhdts. v. Chr.; aber erst allmählich und durch Bemühungen vieler ist man zu einer geklärten Beurteilung der auf sie bezüglichen Einzelumstände gelangt. Einst waren die vier Platten die Basis (ὑπόβασις), oder ein Teil derselben, von vier Statuen der E., ihres Gatten und ihrer beiden Söhne in einem Μουσεῖον genannten, mit Musenreliefs geschmückten Gebäude auf Thera. Sie wurde an Onorio Belli nach Candia geschickt, der sie im J. 1586 oder bald darauf weiter nach Venedig sandte; von da überführte sie Scipione Maffei in sein Museum nach Verona. Die Kunde von der wahren Heimat war unterdessen verloren gegangen, gerade so wie der Name Thera im Mittelalter lange vergessen war; aus dem Vorkommen der Ephoren schloß [124] man natürlich auf Sparta. Erst Boeckh wurde durch ein genaues Studium der Personennamen auf Thera geführt; er hat nach derselben Methode auch andere Inschriften, die ihm zum Teil mit wissentlich gefälschter Provenienzangabe zugeschickt waren, als theräisch erkannt. Dann hat S. Ricci den archivalischen Nachweis geführt, und hat der Spaten der französischen Schule in Delos eine der Persönlichkeiten, die genannt werden, in zwei Dekreten als Theräer aufgezeigt; haben Ricci und Homolle die Zeiten näher bestimmt, B. Keil, Ricci und v. Hiller den Text am Original nachgeprüft, haben die Herausgeber der Inscriptions juridiques und B. Keil die juristischen, O. Benndorf und Dragendorff die baulichen Verhältnisse beleuchtet, Blass die Sprache kritisch behandelt. Nach alledem wird sich wesentlich Neues kaum noch sagen lassen; nur der Stammbaum und der Ort sind noch nicht klargestellt; dazu fehlt auch jetzt noch das Material. Aus dem Inhalt der Urkunde selbst können wir Folgendes entnehmen:
Phoinix, offenbar einem alten theräischen Adelsgeschlecht angehörig, das sich selbst in dieser Zeit, gleichviel, ob mit Recht, für kadmeisch, also schon für Herodot phoinikisch ausgab (das zeigen die Namen, wie Boeckh ausgeführt hat), erbaute ein ,Museum’ für sich und seinen vor ihm verstorbenen Sohn Kratesilochos, den ihm seine Frau E., Tochter des Grinnos, geboren hatte, und ließ sich dazu (etwa aus Paros oder Rhodos) einen Musenfries, seine Statue und die des Sohnes und τὰ ἡρῶια kommen (ἀγαγόντος hätte keinen Sinn, wenn die Sachen in Thera selbst gefertigt wären; wir wissen aber, daß auch fremde Kunstler dort arbeiteten). Zwei Jahre später starb auch der zweite Sohn, Andragoras, ohne daß der Bau inzwischen weiter gediehen war. Nun übernahm E. die Ausführung der letzten Wünsche ihres Gatten und zweiten Sohnes. Und als der Bau und der angrenzende Bezirk mit den Heroa fertig war und auch die Statue des Andragoras (dazu erst nach ihrem Tod [?] ihre eigene) erhalten hatte, stiftete sie, auch auf Wunsch des Andragoras, für den Verein des Männermahls der Verwandten, das κοινὸν τοῦ ἀνδρείου τῶν συγγενῶν, aus ihrem Privatvermögen, als Hypothek auf ihren selbst hinzuerworbenen Gütern, eine Summe von 3000 Drachmen, die zu 7% angelegt jährlich 210 Drachmen abwarfen, um mit den Zinsen die Kosten für ein jährlich im Monat Delphinios 2 auf drei Tage zu veranstaltendes Gedächtnisfest zu bestreiten, bei dem man am ersten Tage den Musen, am zweiten den Heroen Phoinix und E., am dritten dem Kratesilochos und dem Andragoras opferte. Diese Feier sollte im Museion stattfinden, dessen Besitz nebst dem Priestertum der Heroen immer dem ältesten Nachkommen der Tochter der E., Epiteleia. verblieb, die auch das Recht erhielten, dort ihre Hochzeit zu feiern. Außerdem wird genau festgesetzt, wer von der Sippe, einschließlich seiner Deszendenz, das Recht hatte, an den Feiern teilzunehmen. Veräußerung des Museums oder des Temenos waren verboten, auch Veränderungen; nur wurde gestattet, eine Halle hineinzubauen, die dann wohl innen an der Temenosmauer entlang gelaufen wäre.
Die Zeit dieser Urkunde wird dadurch bestimmt, [125] daß einer der Berechtigten, Archinikos, Sohn des Gorgopas, der bereits mit seinem Sohne Archinikos in der Liste genannt wird, durch zwei Beschlüsse der Delier geehrt worden ist, für die sich als Zeit ungefähr die J. 210–195 ermitteln lassen (Homolle). Man wird also nicht ohne Not unter das erste Viertel des 2. Jhdts. hinuntergehen.
Nun starb E., und ihr Testament kam zur Ausführung. Der Verein beschloß seine Annahme und erließ die Ausführungsbestimmungen, welche die dritte bis achte Kolumne einnehmen. Die Sprache des Statuts mag den an attische Kunstprosa gewöhnten Ohren hart und bäurisch, die Anordnung ungeschickt und weitläufig vorkommen, immerhin ist die Disposition verständlich und einfach. Nach der Einführung werden die Pflichten und Rechte der Vereinsbeamten behandelt. Es sind 1. die ἐπιμήνιοι, deren jeder einen Tag im Amte war. Zunächst hatten alle Familienmitglieder nach der Folge der Anciennität die Pflicht, einmal umsonst diese Funktion zu übernehmen; dann wurde sie wiederum nach derselben Folge gegen eine bestimmte Entschädigung übernommen. Sie hatten die Opfer zu besorgen und das Festmahl anzurichten, guten Wein, Kränze, Musik (einen Musiker nach Blass), Salböl, ein Opfertier jeden Tag, Kuchen aus Weizen und Käse und Fische zu besorgen (bis v. 202); 2. der ἐπίσσοφος (vgl. ἐπίσκοπος; der zweite Teil muß den Verbalstamm enthalten, von dem auch σοφός kommt, Blass), der Schrift- und Rechnungsführer und erste Vorsitzende; 3. der ἀρτυτήρ), der Schatzmeister, der die Gelder eintreibt und den ἐπιμήνιοι die festgesetzten Beiträge gibt und der Kontrolle des ersten Vorsitzenden untersteht; 4. besondere Männer in beliebiger Anzahl, die der Verein wählen darf, wenn der Vorstand seine Schuldigkeit zu tun unterläßt, damit sie alles tun, was die Majorität beschließt – sie darf aber alles beschließen außer der Auflösung des Vereins, der Abschaffung der Heroenopfer oder der Minderung des Vereinsvermögens. Wenn der Epissophos sich nicht fügt, so wird noch ein besonderer Mann gewählt, der über seinen Kopf hinweg die Vereinsbeschlüsse einschreibt und dadurch festlegt (bis v. 267). Der Schluß enthält die einleitenden Bestimmungen über die Wahl des ersten Epissophos, die Aufzeichnung des νόμος und der διαθήκα auf die Basis der Standbilder im Museum und auf eine Holztafel, die Anfertigung des Archivschrankes (γλωσσοκόμον) und die Anstellung eines Archivwächters γραμματοφύλαξ). So hat man sorglich vorgesehen, daß alles möglichst beim alten bleibe; und das Fortdauern der alten Namen bis in das 1. und 2. Jhdt. n. Chr. läßt uns annehmen, daß sich auch die Vereinstradition auf lange hin erhalten hat. Leider ist es der Forschung noch nicht gelungen, das Museum auf Thera nachzuweisen, obwohl man meinen sollte, daß sich ein Bau von diesen Dimensionen, der bis etwa 1586 doch anscheinend vorhanden war (falls er nicht schon eher zerstört und seine Teile einem andern Bau einverleibt waren, aus dem man sie damals hervorgezogen haben würde), in seinen Resten bis heute erhalten hätte. Ähnliche Gebäude sind sicherlich das Heroon bei der Echendra, nahe dem Hafen ,Eleusis’, und das größere beim Evangelismos, am Nordostabhange [126] des Stadtberges. Aber Dragendorff hat gezeigt, daß beide nicht passen. So wird man zunächst in die Gegend südlich vom Stadtberge, zwischen Perissa und dem heutigen Dorfe Emporion, geführt, wo in der römischen Kaiserzeit eine nicht unbedeutende Niederlassung gewesen ist, wo sich auch Heroeninschriften, ferner auf einem großen cylindrischen Heroon (der Erasikleia?), das an die Caecilia Metella erinnert, römische Katasterinschriften des 3. oder 4. Jhdts. n. Chr. gefunden haben, was doch auf einen Mittelpunkt des politischen Lebens jener Zeit hinweist; wo dann große Klosteranlagen und Kirchen entstanden, die schon zu Beginn der neueren Zeit wieder verschwunden waren, und wo im 15. Jhdt. Cyriacus von Ancona seine epigraphischen Studien gemacht hat. Die Architektur werden wir uns nach Analogie anderer Bauten auf Thera schlicht und einfach zu denken haben; den Musenfries vielleicht nicht größer als das Relief vom Grabe eines rhodischen Schulmeisters, das über der Türe eines Heroon stand und ungefähr gleichzeitig ist (Robert Hermes XXVII 121ff.); in Rhodos war ja nicht lange vorher durch Philiskos der Typus für die Musen neugeschaffen (wie Watzinger im Winckelmannsprogramm der Berl. Arch. Ges. 1903 ausgeführt hat). Wie die ἡρῶια waren, wissen wir gar nicht; es können kleine ναΐσκοι mit Reliefs, Darstellungen des Heroenmahls, gewesen sein, wie sie in späterer Zeit auf Thera so zahlreich vorkommen.
Literatur sehr umfangreich; vor allem: Boeckh CIG II 2448. B. Keil Herm. XXIII 1888, 289ff. Deneken Myth. Lex. I 2530ff. (mit Literatur). O. Benndorff Das Heroon von Gjölbaschi-Trysa 1889, 44ff. S. Ricci Mon. ant. dei Lincei II 1893, 69–158. Th. Homolle Ἐφημ. ἀρχ. 1894-141ff. Dareste Rec. inscr. jur. II 1, 1898, 77ff. (Literatur!). Hiller v. Gaertringen IG XII 3, 330 und Thera I 170f. Blass Dial.-Inschr. 4706 (mit wichtigen Bemerkungen über den Dialekt, auf den hier nicht einzugehen war). Dragendorff Theräische Gräber (= Thera II) 239f. 250.
[Hiller v. Gärtringen.]
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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