Dipoinos, kretischer Künstler. Bruder des Skyllis, mit dem er immer zusammengenannt wird. [1160] Über diese beiden Brüder besitzen wir eine doppelte Überlieferung. Die eine bei Plinius (XXXVI 9. 10. 14), die vermutlich auf Varro zurückgeht, bezeichnet sie als Schöpfer der Marmorplastik und lässt sie noch unter der Herrschaft der Meder, etwa Ol. 50, geboren sein; ein Ansatz, der wie C. O. Müller (Kleine deutsche Schriften II 634) gezeigt hat, auf der bei Moses von Chorene II 12 allerdings in sehr getrübter Fassung erzählten Legende beruht, dass Kyros in Lydien einen von diesen Künstlern gefertigten Herakles aus vergoldeter Bronze erbeutet habe. Sie sollen dann nach Sikyon übergesiedelt sein, wo man ihnen die Anfertigung der Cultbilder des Apollon, der Artemis, des Herakles und der Athene übertragen habe, vor deren Vollendung aber von den Sikyoniern gekränkt zu den Aitolern geflohen seien. Darauf Misswachs und Hungersnot, bis das delphische Orakel befiehlt, die Künstler zurückzurufen und die Götterbilder vollenden zu lassen, was endlich mit vieler Mühe und unter erheblichem Kostenaufwand gelingt. Ausser in Ambrakia und Sikyon sollen sich auch in Argos und Kleonai zahlreiche Werke von ihrer Hand befunden haben. Nicht minder märchenhaft klingt die zweite Überlieferung, der Paus. II 15, 1 folgt; darnach wären sie Schüler des Daidalos oder gar seine Söhne aus seiner Ehe mit einer Gortynierin (vgl. o. unter Daidalos Bd. IV S. 2004), also viele Jahrhunderte älter gewesen, als nach dem plinianischen Ansatz; auch weiss diese Überlieferung nichts von Marmorstatuen, sondern nur von Holzbildern der beiden Brüder, stimmt aber insofern mit Plinius und seiner Quelle überein, als auch sie Werke von ihnen in Kleonai und Argos kennt, in der einen Stadt ein Cultbild der Athene, in der andern (Paus. II 22, 5) solche der Dioskuren nebst ihren Gemahlinnen Phoibe und Hilaeira und ihren Söhnen Anaxis und Mnasinoos, und zwar scheinen die Dioskuren zu Pferde dargestellt gewesen zu sein. Dagegen werden die Bilder in Sikyon von Pausanias nicht erwähnt, was H. v. Rhoden zu der unrichtigen Annahme verleitet hat (Arch. Zeit. 1876, 122), sie seien zur Zeit dieses Periegeten schon zerstört gewesen, wofür die Angabe des Plinius, dass das Athenebild in Sikyon vom Blitz getroffen worden sei, nur scheinbar eine Stütze bietet. Clemens Alexandrinus (Protr. IV 42 Pott.), der eine ähnliche Quelle zu benutzen scheint, wie Pausanias, nennt ausserdem noch einen Herakles in Tiryns und bezeichnet die sikyonische Artemis, der er den Beinamen Munichia giebt, im Widerspruch mit Plinius als ein Holzbild.
An Thatsächlichem lässt sich aus diesen beiden Legenden nur soviel entnehmen, dass es in Sikyon, Kleonai, Argos und Tiryns, und wohl auch in Ambrakia signierte Bildwerke von D. und Skyllis gab, und da die Zufügung des Ethnikon in Künstlersignaturen seit alter Zeit Sitte ist, wird auch an der kretischen Herkunft der beiden Brüder nicht zu zweifeln sein. Diese Werke waren teils aus Holz mit aufgesetztem Elfenbeinschmuck, teils aus Stein, wenn auch schwerlich aus Marmor; denn etwas Thatsächliches muss der Behauptung, dass diese Künstler die Erfinder der Marmorarbeit seien, doch zu Grunde liegen. Hingegen ist es möglich, dass Plinius den Herakles [1161] von Tiryns und die Athene von Kleonai irrtümlich nach Sikyon versetzt. Als hinlänglich bezeugt würden dann übrig bleiben: 1. Apollon und Artemis in Sikyon, 2. Athene in Kleonai, 3. die Dioskuren mit Familie in Argos, 4. Herakles in Tiryns, 5. eine oder mehrere unbenannte Statuen in Ambrakia, für so alte Künstler schon eine recht stattliche Anzahl signierter Werke. Gänzlich apokryph ist natürlich die vier Ellen hohe Athena Lindia aus Smaragd, von der Kedrenos (I 564 IC Bonn.) wissen will, dass sie ein Geschenk des Sesostris an Kleobulos gewesen sei und dass sie sich später im Palast des Lausos befunden habe. Im besten Fall liegt hier eine unklare Reminiscenz an die Athene in Kleonai vor.
Die Lebenszeit der Künstler ist gänzlich problematisch. Höchstens darf man daran erinnern, dass der Kypseloskasten in ähnlicher Technik ausgeführt war, wie ihre Holzbilder in Tiryns. Schwerlich wird man sie unter 600 herabrücken dürfen.
Die antiken Kunstschriftsteller haben die beiden kretischen Brüder an die Spitze einer Kunstschule gestellt, die die neuere Archaeologie mit einem in dieser Verwendung durchaus modernen Ausdruck als Daidaliden bezeichnet (s. o. unter Daidalos Bd. IV S. 2004). Die Spartaner Theokles, Medon und Dorykleidas, der Rheginer Klearchos, endlich die Schöpfer des delischen Apollonbildes Tektaios und Angelion, sollen ihre Schüler, Kallon von Aigina ihr Enkelschüler sein. Es handelt sich hier lediglich um antike Combinationen, die zu kunstgeschichtlichen oder chronologischen Schlüssen zu verwenden äusserst bedenklich ist. Wer an sie glaubt, ist gehalten, ebenso an Daidalos als eine historische Persönlichkeit und persönlichen Lehrer des D. und Skyllis zu glauben, Brunn Künstlergesch. I 47. W. Klein Arch.-epigr. Mitt. V 86ff. C. Robert Arch. Märch. 1ff. Studniczka Arch. Jahrb. II 1887, 154. Furtwängler Meisterwerke 720f. Overbeck Gr. Plast. I⁴ 84ff. Murray Greeck Sculpt. I 177. Collignon Sculpt. gr. I 131. 222. Loewy Rendic. d. Accad. d. Lincei 1891, 599.
[C. Robert.]
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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