Chryseïs (Χρυσηΐς). 1) Tochter des sminthischen Apollonpriesters Chryses (s. d.) im ersten Gesang der Ilias (13. 20. 95. 98 ohne Namen, einfach als Mädchen und Tochter bezeichnet; 111. 143 Χ. κούρη; 182. 310. 369. 439 Χ. schlechthin genannt, niemals Χρυσῆος θυγάτηρ, während doch Βρισῆος θυγάτηρ in den jüngeren Abschnitten des Epos steht). Sie lebt als Gefangene im Zelt des Agamemnon, der dem flehenden Vater die Auslieferung verweigert; erst durch die Pest des Apollon, den Chryses als Rächer aufgerufen hat, wird er bewogen, sie zurückzuschicken ἐς Χρύσην (431) und zum Altar, dessen Priester ihr Vater ist (440). Diese Örtlichkeit (ἐς Χρύσην 390) ist auch beibehalten in der von Aristarchos (Schol. A 365) athetierten Palillogie (364–392). Während somit die Annahme nahe liegt, dass Ch. ebenda auch seiner Zeit gefangen genommen worden sei (Eustath. Il. I 366 p. 118, 42f.), was auch noch andere unten zu erörternde Spuren bestätigen, liefert dieses schon Aristarchos störende recapitulierende Einschiebsel eine andere Erzählung (366): als Achilleus die Stadt des Eetion, Thebe, zerstörte und plünderte, behielten die Achaier aus der Beute, die sie im übrigen unter sich teilten, die Ch. dem Agamemnon vor. Aristarchos schied, wie gesagt, diese Angabe einfach aus; andre die ganze Scene zwischen Thetis und Achilleus (348–430), welche zu jener wiederholenden Wiedererzählung an Thetis Anlass bot. Sie veranlasste durch Widersprüche hinsichtlich der Zeitrechnung und der Örtlichkeit (z. B. des Aufenthalts der Götter, auf dem Olympos? in Aithiopien?) zahlreiche Athetesen (vgl. Schol. BL zu 424f. 420f. 426; den Obelos im Venetus bei 424). Und so haben Lachmann, Bernhardy, Haupt, Köchly, G. Curtius diese 82 Verse einem Nachdichter (Lachmanns ,zweitem‘) zugeschrieben (vgl. Lachmann Betrachtungen 99f. mit Haupts Anmerkung; Philol. III 1848, 8ff.). Einige alte Erklärer ignorieren denn auch kurzweg diese ,Gefangennahme bei Gelegenheit der Eroberung von Thebe‘. Das wichtige Schol. BD zu 366 erklärt unbeirrt ἐπιστρατεύσας Ἀχιλλεὺς τῇ Θήβῃ καὶ τὴν πόλιν πορθήσας τόν [2492] τε Ἠετίωνα ἀνεῖλε ... μεθ’ οὓς Λυρνησσὸν πορθήσας ... αἰχμάλωτον ἧγεν ... Βρισηΐδα τὴν Χρύσου. Das Argumentum der Ilias bei Plutarch de v. et p. Homeri I 7 lässt ebenfalls Ch. in Chrysa gefangen werden. Auch die, welche im Schol. BL die Athetese der Thebeverse tadelten, weil sie οὐκ ἐῶσι μαθεῖν ἡμᾶς, ὅθεν ἥλω Χρυσηΐς, erkennen wenigstens die Notwendigkeit an, zu begründen, warum der Ort der Gefangennahme nicht Chryse sein soll; ἔπλει μὲν πορθήσων Χρῦσαν Ἀχιλλεὺς, Ἀθηνᾶ δ’ οὐκ εἴα, φάσκουσα μὴ αἰρήσειν δι’ Ἀπόλλωνα, und bringen dann aus den Kyprien (frg. 16 Ki. aus Eustath. Il. I 366 p. 119, 4ff.) die Erzählung von einer Besuchsreise bei, die Ch. zur Iphinoë, Eetions Schwester, Aktors (des ,Festländischen‘) Tochter, gemacht habe, um dort der Artemis zu opfern (= Schol. A zu 18); Schol. L 366 findet hier gar, um die Thebeverse zu retten, ohne doch auf Chryse als Ort der Gefangennahme verzichten zu müssen, die Figur der Synekdoche: Achilleus habe wirklich Chrysa und Brisa genommen, sie seien freilich hier nicht genannt, aber doch einbegriffen in der Nennung Thebes, die nun einmal die bedeutendste dieser Städte sei und für die anderen mit stehe! ,Einige‘ (beim Schol. BD 366 = Eustath. p. 118, 42ff.) wussten auch, dass Chryse als ,unbedeutendes und offenes Landstädtchen‘ ein zu unsicherer Aufenthaltsort für Ch. gewesen war, weswegen sie die befestigte Thebe vorzog (χρησφύγετόν τι ἐρύμνιον Eustath.). v. Wilamowitz fasst den Eindruck dieser Combinationen und Erfindungen in dem Urteil zusammen: ,Man hat keine Veranlassung, dem Dichter des ersten Gesangs die Erbeutung (der Ch.) bei einer anderen Gelegenheit als dem Fall von Chryse zuzuschreiben‘ (Homer. Untersuchungen 411). Wirklich machen die Versuche, die Thebeverse mit der echten Episode von Ch. und Chryses in Chryse in Einklang zu bringen, einen kläglichen Eindruck. Hatte man doch sogar erwogen, ob man nicht die Heimsendung ἐς Χρύσην als eine Rücksendung εἰς πατέρα (!) auffassen könne (Eustath. p. 121. 2f.)! Dann würde man sogar den Chryses in Thebe wohnend denken dürfen, statt in Chryse. Sogar die Namenerklärung nahm man zu Hülfe. Während die Schol. AD zu 392 Χρυσηΐς patronymisch verstanden (οὐ κυρίως) und eine Antonomasie annehmen, eine angebliche Verhüllung des ,Eigennamens‘ Astynome, den doch Homeros gar nicht kennt, nur die ἀρχαῖοι (γραμματικοί) der Scholiasten, so behaupteten andere (Eustath. p. 121, 8ff.), Χρυσηΐς sei allerdings κύριον ὄνομα und eine Antonomasie würde erst Χρυσῆος κούρη lauten müssen, das allerdings Homeros nirgends hat. Es ist vergebliches Bemühen, durch Annahme einer Antonomasie dem Homeros schon die Kenntnis und Verschweigung der Namen Astynome für Ch. und Hippodameia für Briseïs unterschieben zu wollen, wie das gleiche Scholion thut. Aber auch das ist verfehlt, Ch. als gewöhnlichen Eigennamen hinzustellen. Der Streit in dieser Form ist müssig; noch müssiger die Berufung auf alte Mythographien, durch welche die Gegner der patronymischen Deutung des Namens ihre These stützen wollen, bei Eustath. p. 77, 39ff.: Astynome und Hippodameia seien Cousinen, da ihre Väter, Chryses in Chryse und Brises in Pedasos am Satnioeis, [2493] Brüder gewesen seien, Söhne des Ardys (offenbar doch wohl des Eponymos der mysischen Stadt Ardynion). Das einzig Richtige daran ist der Zusatz, die Töchter hätten (,nachher‘!) ihre homerischen Namen Briseïs und Ch. infolge der Kriegsgefangenschaft erhalten. Wirklich ist der Gebrauch, kriegsgefangene Sclavinnen (wie Sclaven) nach ihrem Herkunftsort zu nennen, wie Γέτις, Κίλισσα, Θρᾷττα u. a. im griechischen Altertum nie ausgestorben; also ist Χρυσηΐς von Χρῦσα oder Χρύση ebensowenig zu trennen, wie Βρισηΐς von dem jetzt auf Lesbos bezeugten Ort Βρῆσα = Βρῖσα. Das hat v. Wilamowitz mit Entschiedenheit und Recht geltend gemacht (a. O. 411). Als typisches Beispiel einer ,Kriegsgefangenen‘ schwebt die homerische Ch. noch dem Aischylos vor, wenn er (Agam. 1439) den Plural Χρυσηΐδες verächtlich in diesem allgemeineren Sinne bildet. Noch der gelehrte Homeriker Euphorion sah in dem Namen keinen Eigennamen, den er vielmehr in dem ἀπριάτην des Verses I 99 zu finden glaubte (98 ἀπὸ πατρὶ φίλῳ δόμεναι ἑλικωπίδα κούρην Ἀπριάτην ἀνάποινον ἄγειν δ’ ἱερὴν ἑκατόμβην ἐς Χρύσην ...). Er fasste das Wort als Substantiv auf! Wenigstens erzählte er im Thrax (frg. 21, Meineke Anal. Alex. 57) eine mit der erhaltenen des Parthenios (26, Westerm. Μυθογρ. p. 176) übereinstimmende Geschichte von einer sonst nirgends bezeugten Lesbierin Apriate (s. d.), die dem troischen Sagenkreis angehört (vgl. Tümpel Philol. N. F. III 1890, 107ff.). Wir dürfen diesen offenbar lesbischen Localmythos als einen örtlichen Nachklang von der homerischen Ch.-Sage fassen, auch wenn wir das ἀπριάτην mit Euphorions Kritikern Aristarchos und Krates von Mallos adverbial oder adjectivisch fassen (Ludwich Aristarchs homer. Textkritik I 179. Apollon. lex. s. ἀπριάτην. Eustath. p. 1760, 36ff. zu Od. XIV 317; Schol. AB(L) Townl. Il. I 99). H. Stephanus freilich (Thes. l. gr. s. ἀπριάτη) billigte Euphorions substantivische Deutung! Die homerische Darstellung der Sage von Ch. wird oft citiert; so von Hygin. fab. 106. 121 (1. Hälfte). Apollod. bibl. epit. IV 1 Wagner. Duris von Samos frg. II aus Athen. XIII 560 B, FHG II 469 (Ch. als Ursache der Pest). Ovid. trist. II 373; rem. am. 469. Aristeid. ars rhet. I 14, 1. Dion Chrysost. or. 61 (Χρυσηΐς) p. 581 (in einer psychologischen Würdigung ihres Verhaltens, im Vergleich zu dem der Briseïs) hat, wie selbstverständlich, Ch. mit Chryses in Chrysa, ebenso Lukian. de sacrif. 3. Bei Diktys, der sonst (II 14. 28–30. 33) mit Homeros stimmt, wird (47) Ch. von dem dankerfüllten Vater dem Agamemnon zurückgeschickt und heisst überhaupt wie bei Tzetzes (Lyk. 298) sowie im obigen Scholion und bei Eustath. a. O. Astynome; bei Tzetz. Antehom. 349 Astynomeia. Unter Chryses Nr. 1 siehe die weitere Ausdichtung der Lebensschicksale der Ch. (Schwangerschaft, Verheimlichung, Geburt des jüngeren Chryses, Begegnung mit Orestes und Iphigeneia), die auf eine von Sophokles (Χρύσης) benutzte Localsage von Chrysopolis (gegenüber Byzanz) zurückzugehen scheint, nach Euripides weiter ausgedichtet wurde und so durch Pacuvius (im Chryses) Bearbeitung erfuhr. Daselbst auch die noch spätere Genealogie, welche der Ch. ausser dem Sohne Chryses II. gar Iphigeneia zur Tochter [2494] giebt. Für die Ermittlung des ursprünglichen Wesens der Ch. ist entscheidend die enge Verknüpfung mit Chryse einerseits, anderseits mit dem Eroberungszug des Achilleus, der ihm selbst die berühmten sieben Lesbierinnen und anderen Helden andere gefangene Mädchen, sämtlich Ortsheroinen, einbrachte (vgl. Tümpel Philol. N.F. II 1889, 99ff. und in Roschers Myth. Lex. II 1949ff). Wie die Lesbierin Diomede dem Achilleus die Lesbierin Briseïs ersetzen sollte, so sollte diese dem Agamemnon die Ch. ersetzen, die ihrerseits von dem Λεσβίας τόπος Χρύση des Steph. Byz. s. Χρύση nicht zu trennen ist, trotz des die Forschung von Strabon bis auf unsere Zeit irreführenden Localpatriotismus des Demetrios von Skepsis (Tümpel Philol. III 1890, 90ff.). Hat Chryses auch Züge des lesbischen Apollon angenommen, dessen Cultheros er ist, so kann anderseits die Ch. schwerlich von dem lesbischen Cult der Χρυσῆ (s. d. Nr. 13), einer epichorischen Aphrodite, getrennt werden, die sich zu Χρύση dem Orte verhält, wie Ἀθηνα(ί)α zu Ἀθῆναι. Einen Aphroditecult gabs zu Pyrrha am Pyrrhaiergolf; an demselben lag auch das früh untergegangene Arisba, dessen Einwohner und wohl auch Culte, Methymna aufsog (Herod. I 151); in Methymna aber ist ein Apollon-Smintheuskult bezeugt (CIG 2190 h), der also vom Pyrrhaiergolf stammen wird. Vgl. auch die dort localisierte Smintheussage bei Plutarch. symp. VII sap. 20 p. 163 (Philol. II 1889, 114f.). So wird man das homerische Chryse = dem lesbischen am Pyrrhaiergolf ansetzen dürfen, wo in einem Apollon-Smintheus- und einem Aphrodite-Chryse-Cult die Bedingungen zur homerischen Sage von Chryse, Chryses, dem Priester des sminthischen Apollon, und seiner Tochter Ch. gegeben sind. Auch die Angaben der Ὀδυσσέως πρεσβεία im ersten Iliasgesang stimmen; s. die oben citierten Untersuchungen im Philologus. Entlassung der Ch. in Gegenwart des (über den Verlust der Briseïs zürnenden) Achilleus auf Wandgemälden s. Helbig Camp. Wandg. nr. 1308. CIG 6125. 6129 b.
[Tümpel.]
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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