8) Flavius Sosipater Charisius, lateinischer Grammatiker. Der volle Name findet sich ausser in der Inscriptio vor der Vorrede (nicht mehr erhalten im cod. Neapol.) bei Rufinus GL VI 572, 18 (der Vorname wird in der Inscriptio Fl. abgekürzt, bei Rufin haben die Hss. Flu, doch wohl = Fla). Sosipater Charisius steht bei demselben Rufin GL VI 565, 4; sonst findet sich nur Charisius (so Priscian durchweg; Rufin GL VI 555, 16. 573, 26). Über die Beziehung zu dem auf alle Fälle sehr späten Flavianus (vgl. L. Müller Jahrb. f. Phil. XCIII 561. H. Hagen Anecd. Helv. CLXIII. Keil Herm. I 333. A. Riese Heidelb. Jahrb. 1871, 585) gehen die Ansichten auseinander. Während Keil und namentlich Hagen den Namen aus dem Vornamen des Ch. erklären, bei dem sich alle Stellen des sogenannten Flavianus finden, hält L. Müller an einem späten magistellus fest und Riese möchte Flavianus zum Vornamen des Ch. erheben und darin des Rätsels Lösung finden. Nicht selten wird Ch. auch Cominianus genannt; vgl. den betreffenden Artikel. Der Zusatz in der Inscriptio V.P. MAGISTER steht nur in der Editio princeps; VRBIS ROMAE beruht ganz auf Conjectur. Die Heimat des Ch. lässt sich nicht genau bestimmen. Wenn es 215, 22 heisst: hodieque nostri per Campaniam sic loquuntur‚ so kann daraus kein Schluss auf die Heimat des Ch. gezogen werden (vgl. Froehde De Iul. Rom. 672). Dass die Notiz in der Chronik des Hieronymus zu 358 (Euanthius ... Constantinopoli diem obit, in cuius locum ex Africa Charistus adducitur; für Charistus haben Freh. u. a. Chrestus) mit Usener Rh. Mus. XXIII 492 auf Ch. zu beziehen sei, ist doch nur eine Conjectur, obschon die Worte, die Ch. an seinen Sohn richtet (1, 11: ut quod originalis patriae natura denegavit virtute animi adfectasse videaris), die Usenersche Ansicht empfehlen. Auch die Zeit des Ch. lässt sich nicht sicher bestimmen. Vor dem 4. Jhdt. ist er auf keinen Fall anzusetzen; wenn Usener recht hat, ist seine Blüte um die Mitte dieses Jahrhunderts bezeugt. Die Erwähnung des vir perfectissimus Marcius Salutaris (229, 19) lässt mehr als eine Deutung zu.
Die ars grammatica des Ch. (diesen Titel gab Keil mit Benutzung der Dedication: artem grammaticam sollertia doctissimorum virorum politam et a me digestam in libris quinque) besteht aus fünf Büchern, von denen der Anfang des ersten (die Abschnitte de grammatica, de voce und der Eingang des Abschnittes de litteris; vgl. den Index), ein Teil des vierten (de lectione et partibus eius IV nach dem Index; ferner de continuatione, de separatione, de mora, de distinctione, de subdistinctione, de rhythmo, de metri versificatione, de basi, de pedibus, de versibus; aus den metrischen Abschnitten sind die beiden Stücke de Saturnio und de rhythmo et [2148] metro erhalten), ein grosser Teil des 5. Buches (der Rest der idiomata und die Abschnitte über Synonyma und Glossen) verloren gegangen sind. Das erste Buch begann mit den traditionellen Abschnitten de grammatica und de voce; von dem darauf folgenden de litteris ist der zweite Teil erhalten. Daran schliessen sich die Abschnitte de syllabis und de dictione; alles Weitere bezieht sich auf Geschlecht und Wandel des Nomen. Die Anordnung der einzelnen Abschnitte ist zum Teil verworren; auch sind Wiederholungen nicht vermieden (vgl. Jeep Redeteile 2ff.). Du zweite Buch lenkt nach einigen kurzen Definitionen wieder in die traditionelle Disposition ein und bringt die Lehre vom Nomen (das früher Dargelegte zum Teil ignorierend), ferner die Lehre vom Pronomen, Verbum, Participium, Adverbium, der Coniunction, Praeposition und Interiection. Das dritte Buch enthält einen (schon 178, 34 angekündigten) Excurs zur Lehre vom Verbum. Das vierte Buch behandelt in seiner ersten Hälfte die vitia und virtutes orationis, in seiner zweiten zum grösseren Teil verlorenen Hälfte die Metrik. Das fünfte Buch enthält die idiomata, an die sich noch allerlei Bestandteile anschlossen, von denen der Index berichtet (synonyma Ciceronis, glossemata per litteras, glossemata idem significantia, de differentiis): ob diese Abschnitte ganz oder teilweise zum Bestand des Ch. gehören, lässt sich nicht mehr entscheiden (vgl. ausser Keil p. Xff. Boelte Jahrb. f. Philol. 1888, 429. Jeep a. a. O. 13).
Der sehr reiche Inhalt des charisianischen Werkes weist ihm eine hervorragende Stelle in der grammatischen Tradition zu, obschon das Verdienst des Ch. über das eines Compilators oder Abschreibers nicht hinausgeht. Um so wichtiger ist die Frage nach seinen Quellen. Über die Abhängigkeit von anderen Handbüchern hat sich Ch. selber in der Praefatio an seinen Sohn geäussert: artem grammaticam sollertia doctissimorum virorum politam et a me digestam heisst es im Eingang, studia mea ex variis artibus inrigata ebenda weiter unten. Er benutzt seine Quellen in der Weise, dass er die betreffenden Abschnitte aus mehreren Autoren einfach nebeneinander stellt, zum Teil mit Nennung der Namen seiner Gewährsmänner. Aus Palaemon hat er nach ausdrücklicher Angabe 225, 5–229, 2 (de coniunctione); 231, 1–236, 15 (de praepositione); 238, 23–25 (de interiectione); aus Cominian 147, 18–148, 13 (de ablativo); 175, 29–178, 35 (de coniugationibus); 180, 11–181, 15 (de participio et de adverbio); 224, 24–225, 4 (de coniunctione); 230, 4–32 (de praepositione); 238, 19–22 (de interiectione); 265, 2–22 (de barbarismo); 266, 15–267, 22 (de soloecismo); aus Iulius Romanus 116, 29–147, 16 (de analogia); 190, 8–224, 22 (de adverbio); 229, 3–230, 2 (de coniunctione); 236, 16–238, 16 (de praepositione); 239, 1–242, 12 (de interiectione). Neben diesen directen Zeugnissen kommen noch die Beziehungen in Betracht, durch die Ch. mit Diomedes und Donatus einerseits, mit Dositheus und dem Anonymus Bobiensis andrerseits verknüpft ist (vgl. Boelte De artium scriptoribus lat. 8. Jeep a. a. O. 2ff.). Erschwert wird die Quellenforschung durch die Thatsache, [2149] dass nicht nur die genannten Schriftsteller, sondern auch ihre Gewährsmänner oft eng mit einander verbunden sind, so dass verwandter Inhalt nicht immer den Schluss auf Verwandtschaft der Quellen rechtfertigt.
Über den Anteil des Palaemon handelt am ausführlichsten C. Marschall (De Q. Remmii Palaemonis libris grammaticis, 1887); in dem Bestreben, möglichst viel Eigentum des Palaemon zusammenzubringen, lässt er sich zu unsicheren Vermutungen hinreissen. Es scheint unmöglich, im einzelnen nachzuweisen, wie weit die Kapitel I–XIV des ersten Buches auf Palaemon zurückzuführen sind; sicherlich ist Palaemon nicht die directe Quelle (vgl. Jeep a. a. O. 2ff.). Eine Crux bilden die Kapitel XV und XVII. Letzteres gehört nach der Überschrift dem Iulius Romanus; aber auch im XV. Kapitel wird Romanus citiert (51, 5. 53, 12. 61, 5); ausserdem stimmen viele Angaben auffallend zusammen. Wie die so entstandene Schwierigkeit zu lösen sei, ist vielfach untersucht worden (Christ Philol. XVIII 122. v. Morawski Herm. XI 342. Neumann De Plin. dub. serm. libris Charisii et Prisc. fontibus 14ff. Marschall 43ff. Beck Philol. 1889, 255. Boelte Jahrb. f. Philol. 1888, 401ff. Froehde De C. Iulio Romano Charisii auctore 569ff.), indes ohne durchschlagenden Erfolg, hauptsächlich deshalb, weil eben mehrere Möglichkeiten vorliegen. Die Quellen des zweiten Buches sind teils überliefert (Palaemon, Iulius Romanus, Cominian), teils vermntungsweise bestimmt (Cominian, Palaemon; Marschall weiss auch hier zu viel). Buch 3 leitet Schottmüller De Plin. libr. gramm. 10 aus Palaemon ab, indirect wohl mit Recht; direct möchte ich es aus der gemeinsamen Quelle ableiten, auf die oben hingedeutet wurde (vgl. Jeep 20). Das vierte Buch stammt zum Teil nach ausdrücklicher Angabe aus Cominian; die folgenden rhetorischen Abschnitte, die sich mit Scaurus berühren, hat Ch. nach der Ansicht Kummrows (Symb. ad gramm. latin. 37) und anderer ebenfalls aus Cominian; hingegen dürften die metrischen Stücke aus Iulius Romanus geflossen sein (vgl. Schottmüller 15. Froehde a. a. O. 587). Den Anfang des 5. Buches führt man auf Palaemon zurück (Marschall 75). Über die wichtige Frage nach der Beziehung zwischen Ch. und Diomedes vgl. Jeeps Darlegungen Rh. Mus. LI 401ff. und Art. Diomedes.
Überliefert ist Ch. durch den Codex Neapolitanus IV A 8 saec. VII/VIII; vgl. Keil GL VII p. VII ff.; daraus stammt die Editio princeps des Jahres 1532, deren Lesungen für einige weniger gut gehaltene Partien heute noch in Frage kommen. Das Fragmentum Parisinum (cod. 7560) hat keinen erheblichen Wert. Über die Excerpte aus Ch. (Paris. 7530. Bern. 123. Vatic. reg. Christ. 1442. Leid. Voss. 8, 37 u. a.) vgl. Keil XIX ff. Hagen Anecd. Helv. CLV ff. Über das am Schlusse des ersten Bandes der GL von Keil als Excerpta ex Charisio edierte Lehrbuch vgl. unter Anonymus Bobiensis; über die im ersten Bande nicht edierten Stücke des cod. Neapol. vgl. Keil GL IV 573ff. Corp. gloss. lat. II 537ff. Goetz Ind. Jen. a. 1888/89, 4ff.; Corp. gloss. lat. V 660ff. Hauptausgabe von Keil (GL I) 1857 (und dazu Christ Philol. XVIII 112ff.).
[Goetz.]
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