.
91) Sp. Cassius Vecellinus oder Vicellinus, der einzige Patricier dieses Namens, war Consul I 252 = 502, II 261 = 493, III 268 = 486. Sein Cognomen wird verschieden überliefert: Bigellino Chronogr. zu I, Vigellino Chronogr. zu II und III, Vitellino Idat., Βιτελλίνου Chron. Pasch., Becillinus Cic. Lael. 36, Οὐσκελλῖνος Dionys. V 49, 1; auf Grund dieses Thatbestandes hält Mommsen (Röm. Forsch. I 107, 82. II 153, 2) eine der obigen Formen für die wahrscheinlichste. In seinem ersten Consulat soll C. durch einen glücklichen Feldzug die Sabiner zum Frieden genötigt und sich einen Triumph verdient haben (Acta tr. Dion. V 49, 2f. VIII 70, 2. Zon. VII 13. Val. Max. VI 3, 1 b); dagegen spricht Liv. II 17, 1ff. von einem Aurunkerkriege, der zum zweitenmal 259 = 495 erzählt wird. Die gewöhnliche Tradition nennt den ersten Dictator, 253 = 501 oder drei Jahr später, T. Larcius und gesellt ihm C. als ersten Magister equitum bei (veterrimi auctores bei Liv. II 18, 5. Eutrop. I 12, 3. Dionys. V 75, 2. Lyd. de mag. I 37. Suid. s. Ἵππαρχος p. 1047 Bernh. Hieron. zu Euseb. chron. II 101 h Schoene. Cassiod. chron.). Bei Dionys tritt ferner C. 256 = 498 als Redner im Senat auf (VI 20, 2), trägt während seines zweiten Consulats viel zur Beendigung der Secession der Plebs bei (VIII 70, 2) und weiht den Cerestempel (VI 94, 3). Nur die letzte dieser Notizen hat einen gewissen Wert (Mommsen R. Forsch. II 174, 39; R. G. I 447); vielleicht nimmt darauf die Darstellung der Münzen eines späten plebeischen Cassiers Bezug (Mommsen Münzw. 612 nr. 245). Als historisch darf unbedenklich die Nachricht angenommen werden, dass C. damals den berühmten Bundesvertrag abschloss, der die Grundlage für das ganze Verhältnis zwischen Rom und den Latinern bildete (Cic. Balb. 53. Liv. II 33, 9. Dion. VI 95, 1; vgl. Mommsen R. Forsch. II 159; Staatsr. III 611, 1). Das dritte Consulat bekleidete er 268 = 486 mit Proculus Verginius (Diod. XI 1, 2) und zog in diesem Jahre gegen die Volsker und Herniker zu Felde; aber noch ehe es zum Kampfe kam, unterwarfen sich die Feinde. Die Angabe, dass C. über sie triumphiert habe (Dionys. VIII 69, 1. Val. Max. VI 3, 1 b; das Tagesdatum, welches in den Acta tr. vor dem J. 279 erhalten ist, kann wohl nur auf diesen Triumph bezogen werden), steht in Widerspruch mit der anderen, dass damals ein foedus aequum zwischen dem römisch-latinischen und dem Hernikerbunde geschlossen wurde (Liv. II 41, 1. Dion. a. a. O.; vgl. Schwegler R. G. II 333). Über die Natur dieses Vertrages ist nichts Sicheres [1750] festzustellen (vgl. z. B. Mommsen R. Forsch. II 163; CIL X p. 572; Staatsr. III 612), obgleich, es für die Beurteilung der weiteren Darstellung von Wichtigkeit wäre. Den Ausgangspunkt gewährt die Untersuchung der Berichte des Liv. II 41 und Dionys. VIII 69–80; letzterer ist nicht nur unendlich weitschweifiger als der livianische, sondern bietet auch eine Reihe bedeutenderer Abweichungen, Erweiterungen, Mischungen, aber dennoch stimmen beide in ihren Grundzügen und manchen charakteristischen Einzelheiten überein (vgl. Nitzsch Annalistik 84) und haben das Gemeinsame, dass sie der Haupterzählung kurz eine zweite Version hinzufügen und mit eigenen kritischen Bemerkungen begleiten. Jene lautet bei Livius: Nachdem C. die Herniker besiegt hatte, nahm er ihnen zwei Drittel ihrer Feldmark und wollte diese zu gleichen Teilen an die Plebeier und die Latiner geben, ebenso den im Privatbesitz befindlichen Ager publicus. Hiergegen erhob sich ein allgemeiner und heftiger Widerstand; die Patricier fürchteten die Schmälerung ihres Grundbesitzes und das Wachsen der Macht des C.; die Plebs, der seine Pläne hauptsächlich zu Hülfe kommen sollten, war unzufrieden mit der Gleichstellung der Bundesgenossen. Beide Consuln bemühten sich nun, sie zu gewinnen; Verginius erklärte sich mit den Landanweisungen einverstanden, wofern sie der Bürgerschaft allein zu gute kämen, C. wollte ihr das Geld, das sie während einer Teuerung für Getreideankäufe eingezahlt hatte, zurückerstatten. Aber seine Bestrebungen waren dem Volke bereits so verdächtig geworden, dass es dieses Anerbieten gleichsam als Kaufpreis für die Königskrone zurückwies. Nach seinem Abgange vom Consulat wurde C. im nächsten Jahre von den beiden Quaestores parricidii vor Gericht gezogen, verurteilt und hingerichtet; sein Haus wurde zerstört und auf der Area später ein Tempel der Tellus errichtet (Liv. II 41, 1–9. 11). Die wichtigsten Abweichungen und Zusätze bei Dionys sind folgende: Die Herniker erhalten das foedus aequum, ohne zu Landabtretungen gezwungen zu werden (69, 2); das von C. beantragte Gesetz fordert gleichmässige Verteilung des römischen Ager publicus an die Plebeier, Latiner und Herniker (69, 4. 71, 5. 74, 2. 77, 2. 78, 2); der Antrag auf Rückgabe der Gelder wird gleichzeitig damit eingebracht (70, 5); die Volkstribunen treten auf die Seite der Patricier und suchen zu vermitteln (71, 4. 72, 1ff.); C. will seine Gesetze gewaltsam mit Unterstützung der Bundesgenossen durchsetzen (72, 4f. 78, 1ff.); nach längeren Debatten kommt ein aufschiebender Senatsbeschluss ungefähr im Sinne des Verginius zu stande (76, 1f.); die Quaestoren stürzen C. vom tarpeischen Felsen (78, 5). Den richtigen Wert dieser ganzen Erzählung giebt die Vergleichung mit den anderen Versionen und die Erkenntnis, zu der zuerst Niebuhr (R. G. II 190; vgl. Schwegler II 463. Mommsen R. Forsch. II 164) gelangt ist. dass sich in ihr Ereignisse und Zustände einer viel späteren Zeit wiederspiegeln, nämlich aus dem Leben des C. Gracchus und des M. Livius Drusus. Die zweite Version wird von Livius (II 41, 10) und Dionys (VIII 79, 1) anhangsweise gegeben und erwähnt das Ackergesetz überhaupt nicht. Nach ihr entdeckte [1751] der Vater des C. die hochverräterischen Pläne seines Sohnes, hielt Gericht über ihn, bestrafte ihn mit dem Tode und weihte sein Peculium der Ceres; es wurde aus dessen Erlös eine Statue gestiftet, deren Inschrift beide Autoren citieren (inscriptum ,ex Cassia familia datum‘ Liv.; ἐπιγραφαῖς δηλοῦντας ἀφ’ ὧν εἰσι χρημάτων ἀπαρχαί Dion., der VIII 79, 3 die widersprechenden Notizen unvermittelt neben einander stellt). Derselbe Bericht ist erhalten bei Plin. n. h. XXXIV 15 und Val. Max. V 8, 2, der ihn mit eigenen unnützen Zuthaten versetzt hat. Erstens schreibt er nämlich in unklarer Erinnerung an die tribunicische Agrargesetzgebung der Gracchen: C. qui tribunus plebis legem agrariam primus tulerat, und zweitens verlegt er die Anklage und Verurteilung des C. in die Gentilversammlung, ebenso willkürlich wie Dionys in den Senat. Eine dritte Version kennen wir durch Cicero (rep. II 60): Sp. Cassium de occupando regno molientem, summa apud populum gratia florentem quaestor accusavit eumque..... cum pater in ea culpa esse comperisse se dixisset, cedente populo morte mactavit. Neben diesen drei verschiedenen Darstellungen kommen die übrigen zerstreuten und unvollständigen Notizen wenig in Betracht: Flor. I 26, 7 (Ampel. 27, 3) hat keine selbständige Bedeutung; Cic. de domo 101. Val. Max. VI 3, 1 b und Dio frg. 18 fügen sich am besten der bekanntesten Tradition ein; Diod. XI 37, 7: δόξας ἐπιθέσθαι τυραννίδι καὶ καταγνωσθεὶς ἀνηρέθῃ kann alle betrachteten an Alter überragen, aber auch aus einer von ihnen durch ungeschickte Verkürzung (z. B. Weglassung des Vaters) entstanden sein. Von Wichtigkeit ist ein Fragment des Piso bei Plin. n. h. XXXIV 30; die ziemlich verwirrte Angabe, die von Mommsen (R. Forsch. II 167, 28) gut besprochen worden ist, scheint zu besagen, dass eine Statue, die sich C. beim Tellustempel errichtet hatte, als Beweis für sein Streben nach der Herrschaft angesehen und deshalb eingeschmolzen wurde. Jenes Heiligtum ist 484 = 270 an der Stelle des Cassischen Hauses erbaut worden; daher hängt wahrscheinlich diese Bemerkung Pisos mit der Erzählung zusammen, C. sei vom Volke verurteilt und sein Haus niedergerissen worden. Die zuerst betrachtete Version ist aber jünger als Piso, da sie Züge aus der Geschichte des Livius Drusus verwendet hat; sie ist im wesentlichen das Werk der Annalistik der Sullanischen Zeit, und die Unterschiede, welche sich zwischen den Schilderungen des Livius und des Dionys zeigen, geben uns vielleicht eine Vorstellung davon, wie Valerius Antias und Licinius Macer denselben Stoff bearbeiteten. Für diese Hauptvertreter der jüngeren Annalistik war Piso eine wichtige Grundlage; wenn er, wie eben vermutet wurde, schon die Verurteilung durch das Volk erzählte, so kann er sehr wohl der Urheber der aus Cicero bekannten Darstellung sein. Auch ist es nicht unmöglich, dass er, ein hervorragender Gegner der Gracchischen Bewegung, unter deren Eindruck zuerst das Ackergesetz als Motiv für die Verurteilung des C. in die Geschichte einführte. Mommsen (R. Forsch. II 174) hat diese Fassung für die älteste gehalten und angenommen, dass die beiden anderen aus ihr abgeleitet seien. Richtiger scheint es, die an zweiter Stelle besprochene, die den Vater des [1752] C. dem Brutus und Manlius zur Seite stellte, als die ursprünglichste anzusehen, wofür auch die Inschrift im Cerestempel spricht. Dass ihr gegenüber die Pisonische Erzählung den Eindruck einer Abschwächung und künstlichen Construction macht, hat schon Niebuhr (II 188f.) gefühlt. So würden sich drei Stufen für die Entwicklung der Tradition ergeben, die ungefähr den drei Hauptphasen der römischen Annalistik entsprechen. Die ältesten Geschichtschreiber zeichneten die Volkstradition auf, die an der Inschrift ihre Stütze hatte: C. habe nach der Krone getrachtet, sei deshalb von seinem Vater verurteilt und hingerichtet worden, sein Peculium sei von diesem der Gottheit geweiht worden. Piso nahm Anstoss daran, dass C. noch in der väterlichen Gewalt gewesen sein solle, liess den Vater nur Zeugnis gegen ihn ablegen, die Anklage durch den Quaestor, die Verurteilung und die Einziehung des Vermögens durch das Volk erfolgen und sprach vielleicht zuerst von dem Ackergesetz. Die Annalisten der sullanischen Zeit beseitigten den Vater vollständig und legten das Hauptgewicht auf die ausgeführte Begründung der Katastrophe. Auf Grund dieser Anschauung von der Entwicklung der ganzen Überlieferung kommt man natürlich zu einem historischen Ergebnis, das wesentlich negativ ist. Nur darin stimmen alle Berichte überein, dass C. in den Verdacht geriet, nach der Alleinherrschaft zu streben und dass er deshalb trotz seiner früheren Verdienste um den Staat hingerichtet wurde (vgl. noch Cic. rep. II 49; Lael. 28. 36; Phil. II 114. Liv. IV 15, 4). Die Frage nach der Schuld des Mannes muss eine völlig offene bleiben, weil wir die Gründe der Verurteilung nicht kennen; was von solchen angeführt wird, ist ohne Bedeutung mit Ausnahme der Gesetzvorschläge über Landverteilung und Gleichstellung der Bundesgenossen, von denen dieser vielleicht ersonnen ist auf Grund des unter C. Namen überlieferten Bundesvertrages mit Latium (und mit den Hernikerstädten ?), jener ,als völlig und spät erfunden aus der Geschichte auszuweisen‘ ist (Mommsen R. Forsch. II 164), wenn man nicht darin eine dunkle Erinnerung daran sehen will, dass C. zuerst die agrarische Bewegung in Fluss brachte (Herzog Staatsverf. I 168). Mit diesem Ergebnis haben sich Mommsen und neuerdings Ed. Meyer (Gesch. des Altertums II 812) begnügt. Zurückzuweisen scheinen die verschiedenen Versuche, das Ackergesetz halten zu wollen (Lange Röm. Altert. I³ 608, ausführlich Bertolini Saggi critici di storia italiana [Milano 1883] 67ff.), die ganz bedenklichen Hypothesen Zöllers über das Cassische Bündnis (Latium und Rom 40–44. 191–203) und die verschiedenen Ansichten über die Parteistellung des C., besonders wenn man sieht, wie hier mit demselben Material bewiesen wird, er sei ein plebeischer Demagog gewesen und von den Patriciern beseitigt worden (Ihne R. G. I² 168), und dort, er sei als Vertreter des Patriciats der Plebs zum Opfer gefallen (Nitzsch R. G. I 63; ältere Ansichten bei Schwegler II 466).
Es bleibt noch zu erwähnen, dass der Name des Sp. Cassius auch mit der rätselhaften Erzählung von den neun verbrannten Tribunen verbunden wird. Val. Max. VI 3, 2 berichtet, dass [1753] neun Volkstribunen duce Sp. Cassio id egerant, ut magistratibus non subrogatis communis libertas in dubium vocaretur; dasselbe erwähnt Dio frg. 21, 1 (Zonar. VII 17), zwar zwischen die Jahre 283 und 296 der Stadt gestellt (Mommsen R. Forsch. II 169f.), aber als ποτέ geschehen. Da C. selbst dabei keineswegs als Volkstribun erscheint, so dürfte die Angabe so aufzufassen sein, dass er jene Männer auf seine Seite gebracht habe, damit sie ihm durch Verhinderung der Magistratswahlen zur Herrschaft verhelfen sollten, und dass sein Sturz ihre Bestrafung nach sich zog. So lässt sie sich ungezwungen mit jeder der beiden vorsullanischen Darstellungen verknüpfen und zeigt, wie man unter anderen die Verurteilung des C. zu motivieren suchte, ehe die Tradition ihre letzte Ausbildung erlangt hatte (vgl. Mommsen a. O. II 172).
Dionys VIII 80, 1 sagt ausdrücklich, dass die Kinder des Hingerichteten verschont wurden; daraus geht ebenso wie aus der erwähnten Münze nur hervor, dass die späteren plebeischen Cassier ihn als ihren Ahnherrn betrachtet wissen wollten.
[Münzer.]
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