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Canticum (von cano), das Gesangsstück, im allgemeinen jedes von einem Chore (Vitruv. V praef. Phaedrus V 7, 25. Suet. Galba 13) oder von einem einzelnen vorgetragene Lied. In prägnantem Sinn bezeichnet C. im Unterschied von chorus die von einem einzelnen Schauspieler unter Musikbegleitung vorgetragenen Partien des römischen Dramas (Diomedes GL I 491, 20), vorzugsweise die lyrischen Partien, die den Monodien der griechischen Tragoedie gleichgesetzt werden können, vgl. Diomedes GL I 491, 29: in canticis autem una tantum debet esse persona, aut si duae fuerint, ita esse debent, ut ex occulto una audiat nec colloquatur, sed secum, si opus fuerit, verba faciat. Solche Cantica kamen in der Tragoedie ebenso wie in den verschiedenen Arten der Komoedie, aber auch in der Atellana (Suet. Nero 39) und im Mimus (Patron. 35) vor. Sie sind zum grösseren Teil in anapästischen Rhythmen oder in gemischten Versen gedichtet und wurden von dem Flötenspieler mit entsprechenden Melodien begleitet (mutatis modis cantica, Donat. praef. Ter. Adelph. p. 7, 12 Reiff.). Der Vortrag [1496] mag unserer Recitation in seinen verschiedenen Abstufungen entsprochen haben, indem er sich in der Tragoedie vielleicht mehr dem Gesang, in der Komoedie mehr der gesprochenen Declamation näherte. Die Frage nach den griechischen Vorbildern der römischen C. hat eine neue Unterlage gewonnen, seit ein alexandrinischer Papyrus uns ein Stück dramatischer Lyrik aus hellenistischer Zeit kennen gelehrt hat, vgl. v. Wilamowitz Gött. Nachr. 1896, 231. Crusius Philol. 1896, 384 und vor allem F. Leo Die plautinischen Cantica und die hellenistische Lyrik [Abh. Gesellsch. d. Wiss. Göttingen N. F. I] Berlin 1897.
Im weiteren Sinn bezeichnet c. im Drama nicht nur die lyrischen, sondern auch die in Septenaren geschriebenen Partien (Monologe und Dialoge) im Gegensatze zu dem diverbium (oder deverbium, e. Art. Diverbium), das in iambischen Senaren gehalten ist. Im Codex vetus des Plautus und zum Teil auch im Decurtatus sind, besonders zum Trinummus, Poenulus, Pseudolus, Truculentus, diese beiden Bestandteile durch die Buchstaben C und DV von einander unterschieden. Das Alter dieser Beischriften wird verbürgt durch die Nachricht des Donatus praef. Ter. Adelph. a. a. O.: saepe tamen mutatis per scaenam modis cantica mutavit (temperavit Bergk 231), quod significat titulus scaenae habens subiectas personis litteras MMC, item diverbia ab histrionibus crebro pronuntiata sunt, quae significantur D et U litteris secundum personarum nomina praescriptis in eo loco, ubi incipit scaena. Die Bezeichnung der Septenarpartien als c. lässt sich nur daraus erklären, dass sie unter Flötenbegleitung nach Art der griechischen παρακαταλογή (Christ Abhandl. Akad. München XIII [1875] 3, 170f.) und unseres Melodrams vorgetragen wurden, während die in Senaren geschriebenen Auftritte der Musik entbehrten. Die Cantica (in diesem weiteren Sinn) haben in den plautinischen Komoedien (mit Ausnahme des Poenulus) das Übergewicht über die nicht von Musik begleitete Declamation, wobei aber wieder die Septenarscenen (Melodrame) fast durchweg das Übergewicht über die lyrischen Partien haben (Ritschl 29). Ähnlich mag, nach dem reichen Gebrauch der trochaeischen Septenare im Dialog zu schliessen, das Verhältnis in der Tragoedie gewesen sein (Ribbeck 637).
C. und Diverbium als die zwei alleinigen Bestandteile der Komoedie bezeugt Diomedes GL I 491, 29: Latinae igitur comoediae chorum non habent, sed duobus membris tantum constant: diverbio et cantico. Vgl. Donat praef. Ter. Andr. p. 4, 1 Reiff.: diverbiis autem et canticis lepide distincta est; Phorm. p. 14, 17: tota diverbiis facetissimis ... et suavissimis ornata canticis fuit, vgl. ebd. p. 7, 12 (s. o.). 10, 15. 12, 22. Ausführlicher wird über die verschiedene Vortragsweise berichtet in dem dem Donat zugeschriebenen Tractat de comoedia p. 12, 7 Reiff.: diverbia histriones pronuntiabant; cantica vero temperabantur modis non a poeta sed a perito artis musicae factis. Neque enim omnia isdem modis in uno cantico agebantur, sed saepe mutatis. Allerdings kann es fraglich erscheinen, ob hier überall Diverbium und C. in derselben Weise gegeneinander abgegrenzt sind, wie in den Plautus-Hss., oder ob [1497] die unter Flötenbegleitung gesprochenen Verse gelegentlich auch den Diverbien zugerechnet worden sind, so dass der Name c. auf die in lyrischen Massen gehaltenen, recitativisch vorgetragenen Partien beschränkt blieb.
Auf Cantica im engeren Sinn bezieht sich gewiss, was Livius VII 2, 10 über die Art der Aufführung berichtet: dicitur (Livius Andronicus) cum saepius revocatus vocem obtudisset, venia petita puerum ad canendum ante tibicinem cum statuisset, canticum egisse aliquanto magis vigente motu, quia nihil vocis usus impediebat: inde ad manum cantari histrionibus coeptum diverbiaque tantum ipsorum voci relicta, vgl. Val. Max. II 4, 4: adhibito pueri et tibicinis concentu, gesticulationem tacitus peregit. Lukian. de saltat. 30. Isidor. orig. XVIII 44. Eine solche Teilung der Darstellung ist natürlich nur bei lyrischen Monodien, nicht bei den zwischen mehreren Personen verteilten Septenar- oder Octonar-Partien möglich. Auch war sie vielleicht auf Cantica der Tragoedien beschränkt, die in ihrer recitativischen Durchführung grössere Anforderungen an die Gesangskunst stellten und gleichzeitig ein lebhaftes Geberdenspiel erheischten. Es ist begreiflich, dass der Schauspieler den Ansprüchen gesangsmässigen Vortrags nicht immer gewachsen war. Wollte man auf kunstvollere musikalische Durchführung nicht verzichten, so musste man dafür einen besonderen Sänger (cantor) bestellen, während der Schauspieler (actor) sich auf blosses Geberdenspiel beschränkte. Für uns, die wir gewohnt sind, bei Opernsängern ungenügendes Geberdenspiel hinzunehmen und bei Schauspielern auf Mitwirkung eines musikalischen Elementes zu verzichten, ist die römische Darstellungsweise, die uns jede Illusion zu zerstören scheint, befremdlich und anstössig. Sie kommt dem Pantomimus (s. d.) sehr nahe (Friedländer Sittengeschichte II⁶ 447), wenn auch die geläufige Ansicht, dass der Pantomimus erst aus dieser Teilung der Rollen bei den Cantica erwachsen ist, schwerlich richtig ist.
Man wird aber nicht annehmen dürfen, dass diese Darstellungsweise bei allen Monodien statthatte. Je nach den gesanglichen Fähigkeiten des Schauspielers und je nach der musikalischen Beschaffenheit des Recitativs mag dem Sänger neben dem Schauspieler eine grössere oder geringere Rolle zugefallen sein. Viele Cantica waren vermutlich mehr zu melodramatischem als zu recitativischem Vortrag bestimmt, und diese wurden ohne Zweifel immer von dem Actor selbst gesprochen. So hat der Schauspieler Aesopus das C. des Teucer (aus Accius ,Eurysakes‘, Ribbeck 357) selbst vorgetragen, Cic. pro Sestio 120f. Ein von Roscius gesprochenes C. erwähnt Cicero ad fam. IX 22. Nicht blos auf das Geberdenspiel, sondern auch auf den Vortrag wird sich beziehen, was Cicero de orat. I 254 von Roscius berichtet: solet . . . dicere se quo plus sibi aetatis accederet, eo tardiores tibicinis modos et cantus remissiores esse facturum, de leg. I 11: quemadmodum Roscius . . . . in senectute numeros in cantu ⟨remissius Vahlen⟩ cecinerat ipsasque tardiores fecerat tibias.
Dem Musiker, der die Flötenbegleitung zu den Cantica verfasste, kam eine hervorragende Stelle neben dem Dichter zu, vgl. Donat. de comoedia [1498] p. 12, 8 (s. o.). Die Flöten, die bei den Cantica verwendet wurden, waren tibiae pythaulicae, die von den zur Begleitung der Chöre dienenden Instrumenten (tibiae choraulicae) verschieden waren, vgl. Diomedes GL I 492.
Litteratur: G. Hermann De canticis in Romanorum fabulis (opusc. I 290). Grysar Das Canticum und der Chor in der römischen Tragoedie, S.-Ber. Akad. Wien XV (1855) 365. Ritschl Rhein. Mus. XXVI 599ff. XXVII 186ff. (Opusc. III 1ff.). Bergk Philol. XXXI. 229ff. (Opuscula I 192ff.). Ribbeck Röm. Tragoedie 24. 634. Christ Metrik² 676f. Friedländer bei Marquardt Röm. Staatsverwaltung III 523. Teuffel R. L.-G.⁵ § 16, 5.
[Reisch.]
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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