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Bonorum possessio. Die römischen Rechtsquellen reden von possessio sowohl bei einzelnen Sachen als auch bei ganzen Vermögensmassen, namentlich bei Erbschaften. An den einzelnen Sachen bildet die rei possessio den Gegensatz zum Eigentume (rei dominium), Dig. XLI 1. XLI 2. Der blosse Sachbesitz (rei possessio) beruht auf dem tatsächlichen Genusse einer Herrschaftsstellung gegenüber einem Gegenstande. Eine solche rein thatsächliche Herrschaft ist gegenüber einer Vermögensmasse nicht möglich, da zu einer solchen auch Rechte und Verpflichtungen gehören, also Vermögensstücke, die nicht erlangt werden konnten, wenn ihnen nicht ein gewisser Gerichtsschutz zugesichert wurde. Vgl. Dig. XXXVII 1, 1: Bonorum possessio admissa commoda et incommoda hereditaria tribuit. Dig. ebd. frg. 3 § 1: Hereditates autem bonorumve possessio, ut Labeo scribit, non uti rerum possessio accipienda est: est enim iuris magis, quam corporis possesio. Vgl. auch Isidor. orig. V 21: bonorum possessio est ius possessionis certo ordine certoque titulo acquisita. B. p., [709] der tatsächliche Besitz einer ganzen Vermögensmasse, in der Regel einer Erbschaftsmasse (Dig. XXXVII 3 pr.), gründet sich daher auf eine obrigkeitliche Verfügung, eine Einweisung, deren Kraft, wenigstens vorläufig, davon unabhängig sein kann, ob der Eingewiesene auch wirklich ein Recht auf die Masse hat, die durch die Einweisung seiner thatsächlichen Herrschaft unterworfen ist. Es ist sogar ausnahmsweise von einer B. p. da die Rede, wo es sich um einen Erwerb von Todes wegen gar nicht handelt, nämlich bei den in eine Nachlassmasse eingewiesenen Gläubigern, Dig. XXXVIII 9 de succ. ed. 1 pr.

Wie aber an einzelnen Sachen der Praetor in besonderen Fällen dem Eigentümer den Rechtsschutz entzog und ihn gewissen Besitzern gewährte, die man hiernach praetorische Eigentümer nannte (s. o. S. 683), so versagte er unter Umständen auch gewissen Erben (heredes) den endgültigen Rechtsschutz und gab ihn blossen bonorum possessores. Wie also das praetorische Eigentum neben sich ein geringwertiges nudum dominium ex iure Quiritium übrig zu lassen vermochte, so finden wir auch zuweilen neben den sogenannten bonorum possessores cum re (i. e. cum effectu) heredes sine re, das Schattenbild wahrer Erben, Ulp. XXVIII 13. Sohm Inst.⁵ 419. Leonhard Institutionen 381, 1.

Wie aber der Praetor nicht allen Besitzern ein magistratisches Eigentum gab, sondern vielfach den civilen Eigentümern ihr rechtliches Übergewicht über den blossen Besitzer beliess, so gab es auch bonorum possessores sine re, die den heredes cum re weichen mussten, unter Umständen auch bonorum possessores pro parte cum re, pro parte sine re. Gai. III 35–38.

Dass eine B. p. cum re war, erreichte der Praetor teils durch ein besonderes den Eingewiesenen gewährtes Rechtsmittel, das interdictum quorum bonorum (Dig. XLIII 2. Cod. VIII 2), teils dadurch, dass er die Klagen der Erben auch den bonorum possessores zugänglich machte, Gai. IV 34. Ulp. XXVIII 12. Dig. V 5.

Es würde nahe gelegen haben, ebenso, wie Iustinian das praetorische Eigentum mit dem civilen verschmolz, auch die bonorum possessio cum re als praetorisches Erbrecht mit der hereditas zu verschmelzen. In der That nimmt Bruns (Syr. röm. Rechtsbuch 1880, 313) schon für das spätrömische Recht eine völlige Verschmelzung der hereditas mit der B. p. an. Eine solche ist jedoch nur in einzelnen Rechtszweigen eingetreten, z. B. hinsichtlich der Testamentsform; vgl. Inst. X 10, 3. Eine volle Gleichstellung der beiden parallelen Institute finden wir aber noch nicht in dem Texte der justinianischen Sammlungen. Neben der bonorum possessio cum re stehen überhaupt auch noch bonorum possessiones, die nicht die Kraft haben, den heres zu verdrängen. Dahin gehören namentlich alle solche Einweisungen in Nachlassmassen, die eine bloß vorläufige Kraft haben sollten, Dig. XXXVII 3, 1 (Leonhard Institutionen § 124 III 6), z. Β. die Einweisung eines wahnsinnigen Erben, an die sich ein wirklicher Erwerb des Nachlasses so lange, als die Geisteskrankheit dauert, nicht anschliesst. Ungenau redet hiernach auch Ulp. Dig. XXXVII 1, 1: Bonorum possessio admissa commoda et [710] incommoda hereditaria itemque dominium rerum, quae in his bonis sunt, tribuit. Hier ist dominium entweder für possessio interpoliert (so Fabricius Historische Forschungen im Gebiete des römischen Privatrechts I 1837, 45, 54) oder in einem ungewöhnlichen Sinne gebraucht. Ungenau auch Dig. L 16. 138: Hereditatis appellatione bonorum quoque possessio continetur.

Die Folgen der B. p. sind daher niemals (auch in Deutschland nicht) dem Inhalte des wahren Erbrechts (hereditas) völlig gleichgestellt worden.

Wo die B. p. nicht anders gewährt wurde, als auf Grund einer vorherigen Untersuchung der Sachlage durch eine besondere Verfügung (decretum), da hiess sie bonorum possessio decretalis. Zu ihr gehörten namentlich die erwähnten Fälle einer Einweisung, die eine blos vorläufige Bedeutung haben sollte. Wo dagegen die B. p. auf allgemeiner Edictsregel beruhte, da hiess sie edictalis. Auch sie musste vor der Obrigkeit binnen der gesetzlichen Frist erbeten werden (petere, accipere, admittere, agnoscere bonorum possessionem). Die Frist betrug für Eltern und Kinder ein Jahr (in honorem sanguinis, Ulp. Dig. XXXVIII 9 1 § 12), für andere bonorum possessores hundert Tage. Ulp. XXVIII 10. Dig. XXXVIII 9 1 § 9. Da jedoch bei der bonorum possessio edictalis die erbetene Einweisung auf Antrag ohne weiteres gewährt wurde, so war diese Gewährung weniger eine Rechtsbegründung, als eine blosse Bescheinigung des vor der Obrigkeit erklärten Erwerbswillens (Leonhard Institutionen § 124 Anm. 3), der hiernach bei der B. p. nicht, wie die aditio hereditatis (s. d.), auf formlose Weise oder aussergerichtlich erklärt werden konnte und dessen Erklärung auch in keinem Falle entbehrlich war.

Sehr zweifelhaft ist, wann und in welchen Entwicklungsstufen die B. p. entstanden ist (Litteratur s. unten). Wir wissen, dass bei ihr, wie in anderen Gebieten des Rechtes, das praetorische Edict dem ius civile gegenüber zu einem dreifachen Zwecke thätig wurde, iuris civilis adiuvandi, supplendi, corrigendi causa. Nach den Institutionen III 9 pr. ist das Recht der B. p. zunächst zur Verbesserung und Bekämpfung des civilen Rechtes eingeführt worden. Diese Mitteilung gilt jedoch aus guten Gründen nicht als glaubwürdig. Nach seiner eigentlichen, ursprünglichen Berufsaufgabe hatte der Praetor keine Gesetzgebungsbefugnisse; weder die Änderung noch auch eigentlich die Ergänzung des ius civile war seines Amtes, Gai. III 32 praetor heredes facere non potest. Erst allmählich steigerten sich seine Machtbefugnisse, und man wird daher annehmen dürfen, dass er zu der blossen Ergänzung des civilen Rechts schon früher gelangt ist, als er sich an eine Abänderung des Rechtes heranwagte (ein Symptom hiervon s. Gai. II 120). Den Anlass zu Ergänzungen und zu Änderungen gab das ius civile überall da, wo es veraltet erschien und den veränderten Lebensverhältnissen nicht mehr entsprach, namentlich dadurch, dass es die emancipierten Kinder von der Erbschaft ausschloss, keine Mehrheit der Erbgrade kannte (in hereditatibus legitimis successio non est, Gai. II 11 vgl. mit Dig. XXXVIII 9, 1 pr.) und der eigenmächtigen Erbeutung eines herrenlosen Nachlasses [711] durch eine einjährige usucapio pro herede Rechtsgültigkeit verlieh (Leonhard Institutionen 310, 2 a). Gegen diese Grundsätze einer älteren Entwicklungsstufe kämpften also die praetorischen Edicte über B. p. vornehmlich an. Man darf überhaupt nicht die Fragen verwechseln, wann zuerst obrigkeitliche Einweisungen in Nachlassmassen erfolgt und wann ihre Vorbedingungen und ihre rechtlichen Folgen durch Edicte festgelegt worden sind. Die Einweisungen sind vielleicht so alt, wie der römische Staat, namentlich da, wo sie bei einem schwebenden Erbschaftsprocesse die Besitzverhältnisse der Parteien einstweilig regelten (vgl. über diesen Fall namentlich Dernburg Beiträge zur Geschichte der römischen Testamente, Bonn 1821, 184ff. 191). Aber auch das Eingreifen des Praetors neben dem ius civile und gegen seinen Inhalt mag zunächst gelegentlich bei besonders wichtigen Fällen geschehen sein. Die Aufstellung fester Edicte gehört dagegen wohl erst der späteren Zeit an, in der die praetorische Amtsthätigkeit sich grundsätzlich in den Schranken der im voraus für sie veröffentlichten allgemeinen Edictsregeln halten sollte (vgl. Leonhard Institutionen 77). Der Anlass, der zu der Aufzeichnung der einzelnen Edicte führte, lässt sich jedoch ebensowenig genau feststellen, wie ihre Reihenfolge. Die vielen hierüber aufgestellten Vermutungen entbehren der Grundlage beweiskräftiger Texte. Jedenfalls deckt sich die Reihenfolge ihrer Entstehung nicht mit ihrer Anordnung im ständigen praetorischen Edicte (über diese s. Lenel Ed. perpetuum 272ff.). Aus den einzelnen Edicten hatte sich nämlich ein vollständiges System entwickelt, das die verschiedenen Arten der B. p. in einer genau bestimmten Reihenfolge erwähnte, Isid. orig. V 25: bonorum possessio est ius possessionis certo ordine certoque titulo acquisita. Hiernach unterschied man namentlich drei Arten von B. p. (Dig. XXXVII 1. 6, 1. XXXVII 11, 2 pr. XXXVIII 6, 1 pr. Inst. III 9, 2): eine noterbrechtliche (bonorum possessio contra tabulas Dig. XXXVII 4, 5), eine testamentsrechtliche (secundum tabulas Dig. XXXVII 2. 11, 18. Cic. Verr. II act. I 45. Valer. Max. VII 7, 7) und eine bonorum possessio ab intestato für gesetzliche, d. h. in Ermangelung eines Testamentes berufene Nachlassanwärter, Cic. Verr. I 114; pro Cluentio 165. Unter den letzteren unterschied man wiederum a) die bonorum possessio unde liberi (gewisse, nicht alle Kinder), Dig. XXXVIII 6. Cod. VI 4. Coll. leg. Mosaic. XVI 7, 2. Gai. III 20; b) die bonorum possessio unde legitimi (die civilrechtlichen Erben), Dig. XXXVIII 7. Cod. VI 15; c) die bonorum possessio unde cognati (bis zum sechsten, in einem Falle bis zum siebenten Grade), Dig. XXXVIII 8. Cod. VI 15, und d) die bonorum possessio unde vir et uxor, Dig. XXXVIII 11. Die Bezeichnung dieser Clauseln (unde liberi u. s. w.) gehört nicht dem Edicte an, sondern war ein Werk der Iurisprudenz (Lenel Edictum perpetuum 284). Andere bonorum possessiones s. in Dig. XXXVIII 14 ut ex legibus senatusve consultis bonorum possessio detur. Die Gruppe der möglichen Fälle einer B. p. war besonders inhaltreich und verwickelt bei der Beerbung Freigelassener. Ulp. XXVIII 7. Gai. III 41–43. Inst. III 7. 9, 3f. Valer. [712] Max. VII 7, 3. 5. 6. 7. Plin. n. h. VII 5. Göschen Hugos civil. Mag. IV 257–355. Unterholzner Zeitschrift für gesch. R.-W. V 26ff. Huschke Studien des römischen Rechts, Breslau 1830, 58–124. Lenel Edict. perpetuum 150–154. 157 159. Leonhard Inst. § 122. 124 V.

Litteratur: Danz Lehrbuch der römischen Rechts.-G. II 141ff. § 176ff. Vgl. ferner: Fabricius Historische Forschungen im Gebiete des römischen Privatrechts I 1837. v. Savigny Vermischte Schriften II 230ff. Huschke Krit. Jahrb. f. d. R.-W. V 11ff. J. Lohman-Janssonius De bonorum possessionis origine, Groningae 1859. Köppen System des heutigen römischen Erbrechts, Jena 1862, 22ff. 66ff. Schirmer Handbuch des römischen Erbrechts, Leipzig 1863, 90, 31. 94 (daselbst auch 88ff. eine Übersicht und Kritik der verschiedenen Meinungen über die Entstehung der B. p.). Bachoven Die lex Voconia, Basel 1843, 66ff. B. W. Leist Die bonorum possessio. Ihre geschichtliche Entwickelung und heutige Geltung. Göttingen 1844–48. 2 Bde. B. W. Leist in Glücks Pandectencommentar, Serie der Bücher 37. 38. I S. 10ff. II. IV. V. B. W. Leist Graecoitalische Rechtsgeschichte 1884, 80ff. Schulin Das griechische Testament, verglichen mit dem römischen, Basel 1882, 13. 21. Ubbelohde in Glücks Pandectencommentar, Serie der Bücher 43 und 44 Teil 3 S. 1–139. Puchta-Krüger Institutionen¹º II 458ff. § 316ff. Voigt Röm. Rechtsgeschichte I 525ff. besonders 544, 49. Salkοwski Lehrbuch der Institutionen⁶ 434. v. Czyhlarz Lehrbuch der Institutionen³ 289ff. § 126. Leonhard Inst. 379ff. § 124.
[Leonhard.]

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