29) L. Apuleius Saturninus, der Volkstribun der J. 651 = 103 und 654 = 100. Über sein politisches Auftreten haben wir verhältnismässig ausführliche Nachrichten namentlich bei Appian. b. c I 28–33. Plut Mar. 28–30 (mehr auf das Anekdotenhafte gerichtet) und in der Schrift de viris ill. 73, deren Nachrichten auch hier aus guten, alten Quellen herstammen. Dazu treten die Reste des livianischen Berichts und zahlreiche Erwähnungen bei Cicero. Doch scheiden alle unsere Berichte nicht scharf zwischen dem ersten und dem zweiten Tribunat, und es lässt sich daher bei einigen der Gesetze nicht sicher bestimmen, ob sie diesem oder jenem angehören. Indes wird durch diese chronologische Unsicherheit das allgemeine geschichtliche Urteil über Saturninus nicht berührt, ebensowenig dadurch, dass die gesamte Überlieferung durchaus optimatisch gefärbt ist, was besonders bei Livius und Plutarch hervortritt. Und zwar nicht nur in einzelnen kleinen Zügen, die ganz offenbar optimatische Erfindungen sind (wie die Anekdote Plut. Mar. 30. die Ausrufung des S. zum rex, s. u.), sondern mehr noch in der Gesamtauffassung der Ereignisse des J. 100. Im Widerspruch zu der klar vorliegenden politischen Gesamtlage erscheint bei Plutarch wie in den Resten des livianischen Berichtes (namentlich bei Oros. V 17) die Verbindung von Marius und S. als eine Art Verschwörung (conspiraverunt Oros.), deren Hauptzweck war, Metellus Numidicus in die Verbannung zu treiben, und Plutarch beschäftigt sich in diesem Abschnitt seiner Biographie viel eingehender mit Metellus als mit Marius. Wir haben es in den uns erhaltenen Nachrichten mit einer durchaus einheitlichen, optimatischen Überlieferung zu thun, eine Thatsache, die unabhängig ist von der Frage, aus welchen geschichtlichen Werken die einzelnen Schriftsteller geschöpft haben; eine Thatsache, die zu grosser Vorsicht in der Verwertung und Beurteilung der einzelnen Nachrichten mahnt, zu grösserer, als sie gemeinhin von den Neueren beobachtet worden ist. Doch reden S. eigene Thaten eine so unzweideutige Sprache, dass auch bei den modernen Geschichtschreibern sich keine wesentlichen Abweichungen im Gesamturteil finden.
Auf Denaren, die ums J. 650 = 104 geprägt [262] sind, findet sich die Aufschrift L. Saturn(inus) oder L. Sat(urninus), Mommsen R. M.-W. 557 nr. 171. Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden sie auf den Tribunen bezogen, der demnach kurz vor seiner Quaestur Münzmeister gewesen ist. Im J. 650 = 104 war S. Quaestor, und zwar erhielt er die provincia Ostiensis, mit welcher die Aufsicht über den überseeischen Getreidehandel und die Getreideversorgung der Stadt verknüpft war. Bei Gelegenheit einer Teuerung entzog ihm der Senat diese Competenz und ernannte M. Aemilius Scaurus, den Vormann der Nobilität, zum ausserordentlichen Curator für das Getreidewesen. Der Grund dieser Massregel war sicher nicht, wie Diodor XXXVI 12 angiebt, die Untüchtigkeit und Nachlässigkeit des S., sondern das Bestreben, die Volksgunst, welche sich dem Beseitiger der Teuerung zuwenden konnte, auf eines der Häupter der Nobilität zu lenken. Nach Ciceros (p. Sest. 34; har. resp. 43) Zeugnis wandte sich S. aus Erbitterung über die ihm angethane Schmach der Volkspartei zu und bewarb sich für das folgende Jahr um das Volkstribunat. Er erhielt es und begann sofort Vergeltung an der Nobilität zu üben. Er trat in Verbindung mit Marius; ut gratiam Marianorum militum pararet, legem tulit, ut veteranis centena agri iugera in Africa dividerentur, intercedentem Baebium collegam facta per populum lapidatione submovit de vir. ill. 73, 1 (wo dies Gesetz ausdrücklich dem ersten Tribunat zugewiesen wird). Er agitierte ferner lebhaft für Marius Wiederwahl zum Consulat für das J. 102. Nach Plutarch (Mar. 14) führten beide – Marius war zur Bewerbung nach Rom gekommen – vor dem Volke eine Komödie auf; Marius lehnte Öffentlich eine Wiederwahl ab, S. schalt ihn darob einen Verräter, der sich dem Vaterlande in der Stunde der Gefahr entzöge. Diese Geschichte gehört wohl auch zu dem optimatischen Klatsch, der bei Plutarch so reichlich abgelagert ist. Marius ward auf S. Betreiben zum viertenmal als Consul gewählt. Zu unmittelbaren Angriffen gegen die Nobilität gab ihm das Auftreten der Gesandten des Königs Mithridates Gelegenheit (Diodor XXXVI 15). Diese waren mit wohlgefüllten Beuteln erschienen, um die Senatoren günstig für ihren Herrn zu stimmen, und fanden willige Aufnahme. S. geisselte vor dem Volke den schmählichen Handel und ward dafür selbst von der Nobilität wegen angeblicher Verletzung des Gesandtenrechtes in einen Process verwickelt, bei dem er nur mit Mühe einer capitalen Verurteilung entging. Zweifelhaft ist, ob auch die lex Appuleia de maiestate bereits dem ersten Tribunat angehört. Über ihren Inhalt erfahren wir aus Cicero (de orat. II 107. 201; part. orat. 104. 105) nur, dass sie sich bezog auf die minuta maiestas populi Romani, und dass auf Grund ihrer C. Norbanus die Verurteilung des Q. Caepio erzielte. Dazu tritt Granius Licinianus Angabe Cn. Manlius ob eandem causam quam et Caepio L. Saturnini rogatione e civitate plebiscito (?) eiectus p. 20 Bonn. Man hat einen Widerspruch finden wollen zwischen dieser Nachricht und der mehrfach von Cicero (de orat. II 89. 107. 124. 167. 188. 197. 199–203; partit. orat. 104. 105; de off. II 49) berichteten Thatsache, dass C. Norbanus auf Grund der Lex [263] Appuleia die Verurteilung des Q. Servilius Caepio erwirkte, welcher sich mit Cn. Manlius in die Schuld der Niederlage von Arausio teilte. Doch lassen sich beide Nachrichten wohl vereinigen. Denn ein Widerspruch besteht überhaupt nur unter der willkürlichen Annahme, dass gegen Caepio und Manlius in einem einzigen Process verhandelt wurde und dass nur ein einziger Ankläger auftrat. Vielmehr muss das Gegenteil, das Auftreten mehrerer Ankläger, nach der stehenden römischen Gewohnheit jener Zeit als sicher betrachtet werden, auch wenn man nur einziges Verfahren annimmt. Im einzelnen bleibt hier vieles unsicher. Mommsen R. G. II⁸ 180 Anm. versteht unter der L. Saturnini rogatio bei Gran. Lic. die lex de maiestate minuta; dies ist eine mögliche Annahme, aber nicht die einzig mögliche; einfacher noch erscheint die Erklärung, dass Manlius vor der Verurteilung ins Exil ging und dann in der üblichen Weise S. die Bestätigung des Exils durch Volksbeschluss beantragte. Wenn aber Mommsen den Inhalt dieser lex de maiestate dahin bestimmt, sie sei nichts anderes als ,Saturninus Antrag auf Niedersetzung einer ausserordentlichen Commission zur Untersuchung der während der kimbrischen Unruhen vorgekommenen Landesverrätereien‘, wenn er darum dieses Gesetz auf gleiche Linie stellt mit dem Antrag des C. Mamilius während des iugurthinischen Krieges, so ist diese Auffassung und diese Parallele meines Erachtens nicht zutreffend. Denn Mamilius Antrag richtete sich nach den genauen Angaben Sallusts (Iug. 40, 1) ausschliesslich auf einzelne, bestimmte Vorgänge und forderte für diese eine Untersuchungscommission. Dagegen muss S. Gesetz jedenfalls allgemeine Bestimmungen über die maiestas minuta enthalten haben; denn dies folgt nicht nur aus dem Process des Norbanus, welcher von den regelmässigen Geschworenen abgeurteilt wurde, sondern auch aus der Anklage des jüngeren Caepio (ad Her. I 21, die Stelle ist unten im Wortlaut mitgeteilt) wegen verletzter Maiestas, wobei die Berufung auf die Lex Appuleia zwar nicht ausdrücklich erwähnt wird, aber mit grosser Wahrscheinlichkeit zu ergänzen ist. Ob neben den allgemeinen Bestimmungen in demselben Gesetz zugleich solche über die Untersuchung der Vorgänge in Gallien enthalten waren (was nach römischer Weise sehr wohl möglich war), oder ob diese in einem zweiten, besonderen Antrag gefordert ward, lässt sich nicht mehr entscheiden. Für die Zuweisung dieses Gesetzes und der damit verknüpften Processe (vgl. den Artikel Q. Servilius Caepio) in das erste Tribunat des S. spricht der Umstand, dass in den weit ausführlicheren Berichten über das zweite von diesen Dingen nichts erwähnt wird.
Aus dem ersten Tribunat berichtet die Schrift de vir. ill. 73, 2 noch Glauciae praetori, quod is eo die, quo ipse contionem habebat, ius dicendo partem populi avocasset, sellam concidit (das concidere von Sachen des zu Bestrafenden war die regelmässige Form der magistratischen pignoris capio), ut magis popularis videretur. Doch liegt hier entweder ein Irrtum in der zeitlichen Ansetzung oder wahrscheinlicher im Namen des Praetors vor, da Glaucia erst im J. 100 die Praetur bekleidete; er erklärt sich leicht daraus, [264] dass S. und Glaucia wegen ihrer späteren Genossenschaft beständig zusammen genannt wurden. Gegen die Wahl des Q. Caecilius Metellus Numidicus zum Censor setzte S. alle Hebel in Bewegung und scheute auch Gewaltthaten nicht. Er trieb Metellus aus seinem Hause, verfolgte den Flüchtigen nach dem Capitol und hielt ihn dort mit einer bewaffneten Menge belagert, bis die Ritter in blutigem Kampfe Metellus befreiten (Oros. V 17). Der politische Kampf zwischen beiden ging im folgenden J. 652 = 102 weiter, in dem Metellus mit seinem Vetter C. Caecilius, Caprarius die Censur bekleidete. Metellus belegte S. mit der censorischen Rüge (nota) und wollte ihn nebst Glaucia aus dem Senat stossen, doch scheiterte diese Massregel an dem Widerspruch des anderen Censors (Cic. p. Sest. 101. Appian. b. c. I 28). Da die Wiederherstellung der Gesetze der Gracchen die Parole der Volkspartei war, auch das Andenken an die beiden Brüder tief in den Gemütern der Menge wurzelte, so hielt es S. für nützlich, sich in einem angeblichen Abkömmling des Ti. Gracchus ein Werkzeug und einen Genossen zu schaffen. Er stiftete einen Freigelassenen (Appian. b. c. I 83 ohne Namensangabe sagt sogar δραπέτης εἶναι νομιζόμενος) L. Equitius an, als C. Gracchus, Sohn des Tiberius aufzutreten. (L. Equitius Val. Max. IX 7, 1; Equitius ebd. III 2, 18. 8, 6. IX 15, 1; mit dem angemassten Namen als C. Gracchus bei Flor. II 4; ille ex compedibus atque ergastulo Gracchus bei Cic. p. Rab. perd. 20; insitivus Gracchus p. Sest. 101; de vir. ill. 62, 1 wird er Quinctius genannt, ohne Namen erwähnt ebd. 73, 3). Der Censor Metellus verweigerte dem angeblichen Gracchus, der aus Firmum Picenum stammte (Val. Max. IX 15, 1), die Eintragung in die Bürgerrolle; Cornelia, die Mutter der Gracchen, zum Zeugnis vorgeladen, wandte sich mit Abscheu von ihm[WS 1]; trotzdem konnte er unter S. Schutz seine Rolle öffentlich weiter spielen, und er ward im J. 100 sogar zum Volkstribunen gewählt (die Zeugnisse s. o.).
Die Verbindungen, die schon im J. 103 zwischen Marius und den Führern der Volkspartei, S. und Glaucia, angeknüpft waren, gestalteten sich nach Marius Cimbernsiege zu einem förmlichen politischen Bündnis. Marius bedurfte bei seiner Isolierung im Senat und seiner eigenen Unfähigkeit, die Massen zu lenken, wenn er nicht politisch abdanken wollte, fähiger Volksführer; diese hinwiederum glaubten in dem gefeierten Feldherrn, hinter dem, des Lohnes harrend, seine Veteranen standen, eine brauchbare Stütze für die Durchführung ihrer demokratischen Pläne zu finden. Um gemeinsam und nachdrücklich vorgehen zu können, sollte für das J. 100 Marius zum sechsten Mal das Consulat, Glaucia die Praetur, S. zum zweiten Mal das Tribunat erhalten (im folgenden werden die Berichte Appians b. c. I 28ff. Plutarchs Mar. 28ff. mit App., Plut. und der Kapitelzahl, die bei Liv. per. 69. Flor. II 4. Oros. V 17. de vir. ill. 73 ohne Zahl angeführt). Die Wahlen verliefen unter den heftigsten Kämpfen. Marius soll persönlich den Stimmenkauf betrieben haben, wie Rutilius Rufus behauptete (Plut. 28, vgl. Liv. per.); S. und Glaucia liessen A. Nonius (die Überlieferung schwankt zwischen dieser Form und [265] Nunnius, Ninnius), einen achtbaren Mann, der als Mitbewerber um das Tribunat auftrat und die beiden Führer öffentlich angegriffen hatte, vor der Wahl totschlagen (App. 28. Plut. 29. Liv. Flor. Oros. vir. ill. Val. Max. VII 7, 3). Mit solchen Mitteln gelangten die Verbündeten zum Ziel: für das J. 100 wurde Marius zum Consul gewählt und erhielt als Collegen nicht, wie die Optimaten gewünscht hatten (Plut. 28), den energischen Metellus Numidicus, sondern den unbedeutenden L. Valerius Flaccus; Glaucia ward Praetor, S. Volkstribun.
Die gesetzgeberische Arbeit für die Verbündeten besorgte S., den Glaucia mit seiner possenhaften aber volkstümlichen Beredsamkeit (Cic. Brut. 224) unterstützte. Er brachte erstens ein Gesetz über Landanweisungen und Coloniegründungen ein, das eine Erweiterung seines ersten Ackergesetzes (s. o.) war, welches durch die fortdauernden Kämpfe mit den Cimbern nicht zur Ausführung gelangt war. Über die Einzelheiten berichtet Appian 29, es sollte das gallische Gebiet, welches die Cimbern besessen hätten, zu Landanweisungen verwandt werden; es wurde also fingiert, dass das Gebiet der unabhängigen gallischen Stämme, welches vorübergehend von den Cimbern überflutet war, Eigentum der besiegten Cimbern gewesen und als solches nach Kriegsrecht den Römern zugefallen sei. Tatsächlich hätte es erst durch langwierige Kriege unterworfen werden müssen. Ferner giebt die Schrift de vir. ill. an Siciliam Achaiam Macedoniam novis colonis destinavit et aurum, dolo an scelere Caepionis partum (d. h. das Gold von Tolosa), ad emtionem agrorum convertit. Eine wichtige Bestimmung hat endlich Cicero (p. Balb. 49) erhalten sed cum lege Apuleia coloniae non essent deductae, qua lege Saturninus C. Mario tulerat, ut in singulas colonias ternos civis Romanos facere posset – –. Diese Bestimmung beweist einmal, was freilich des Beweises kaum bedarf, dass die Oberleitung der geplanten, nach Zeit und Ausdehnung unübersehbaren Unternehmungen Marius zugedacht war; sie zeigt ferner, dass das immer stärker auftretende Verlangen der Italiker nach Gleichstellung, wenngleich in sehr bescheidenem Masse, berücksichtigt werden sollte (vgl. App. 59 πλεονεκτούντων δ’ ἐν τῷ νόμῳ τῶν Ἰταλιωτῶν ὁ δῆμος ἐδυσχέραινε). Zu erklären ist dies nicht aus gracchischen Tendenzen des S., sondern aus der notwendigen Rücksicht auf Marius Veteranen, zu deren Versorgung diese Lex Appuleia in erster Linie bestimmt war. Das Gesetz enthielt endlich die Clausel, dass jeder Senator innerhalb fünf Tagen nach der Annahme durch das Volk das Gesetz beschwören solle, im Fall der Weigerung sollte er den Sitz im Senat verlieren und eine Busse von 20 Talenten zahlen (so am genauesten App. 29, der als Grieche eine nach unten abgerundete griechische Bezeichnung für 500 000 Sesterzen gewählt hat; der Clausel im allgemeinen gedenken auch die übrigen Berichte s. u. die Stellen bei Metellus Verbannung). ‚Originell‘, wie Neumann Geschichte Roms während des Verfalles der Republik 421 behauptet, war diese Clausel keineswegs; es findet sich bekanntlich bereits in der lex Bantina Z. 23ff., welche der gracchischen Zeit angehört, eine vollkommen [266] entsprechende Bestimmung, und sicherlich sind in den wilden und erbitterten Parteikämpfen des 7. Jhdts. der Stadt ähnliche öfter getroffen worden.
Wahrscheinlich in das zweite Tribunat des S. gehört auch seine lex frumentaria, über die nur ad Herenn. I 21 berichtet wird: cum L. Saturninus legem frumentariam de semissibus et trientibus (1/2 + 1/3 As = 5/6 As, nämlich für den Modius, also nicht mehr ein herabgesetzter Preis, sondern nur noch eine Art statistischer Gebühr) laturus esset, Q. Caepio, qui per id temporis quaestor urbanus erat (vielleicht der Sohn des bei Arausio besiegten und dann verurteilten Q. Caepio), docuit senatum, aerarium pati non posse largitionem tantam. senatus decrevit, si eam legem ad populum ferat, adversus rem publicam videri ea (so die Hss., zu schreiben ist wohl eum) facere: Saturninus ferre coepit, conlegae intercedere; ille nihilominus sitellam detulit. Caepio ut illum contra SC intercedentibus conlegis adversus rem publicam vidit facere, cum viris bonis impetum facit, pontis disturbat, cistas deicit, impedimento est, quo setius feratur; arcessitur Caepio maiestatis. Dieser lebendige und genaue Bericht eines Zeitgenossen macht recht anschaulich, wie die späten, die uns heute vorliegen, nur die groben Umrisse der Ereignisse geben. Von der gewaltthätigen Beseitigung der tribunicischen Einsprache durch S. berichtet allgemein auch App. 30. Selbst einen Donnerschlag, der während der Abstimmung angeblich gehört ward (App. ebd. vir. ill.), beachtete S. nicht, sondern erwiderte den Senatoren, die auf die gesetzliche Unzulässigkeit der weiteren Abstimmung hinwiesen, iam nisi quiescitis, grandinabit (vir. ill.). S. hatte gegen sich nicht nur die Nobilität und die Besitzenden überhaupt, auch die Menge war unzufrieden mit der Berücksichtigung der Italiker (App. 29). Seine Hauptstütze fand S. in den Veteranen des marianischen Heeres, welche nach der Beendigung des Cimbernkrieges massenhaft nach der Stadt geströmt waren (Plut. Mar. 28 p. 360, 12. Sint. ed. min. II). Mit Hülfe ihrer kampferprobten Fäuste und Knüttel (μετὰ ξύλων App. 30) vertrieben sie die Gegner aus der Volksversammlung, und S. Gesetze wurden angenommen.
Über die formale Nichtigkeit der also verfassungswidrig angenommenen Gesetze konnte ein Zweifel nicht bestehen. Trotzdem schwankte der Senat angesichts der drohenden Schwurclausel. Auch Marius schwankte und, nachdem er sich so tief mit den bedenklichen Gesellen eingelassen hatte, besann er sich zur Unzeit darauf, dass er eigentlich ein ehrlicher Mann sei. Diese Halbheit fand ihren drastischen Ausdruck in dem Schwur, den er am letzten Tage der durch das Gesetz bestimmten Frist als Consul leistete; er erklärte ὀμόσειν, ᾗ νόμος ἐστί, τῷδε πεισθήσεσθαι τῷ νόμῳ (App. 30, ähnlich Plut. 29 τῷ νόμῳ πειθαρχήρειν, εἴπερ ἔστι νόμος). Der Senat folgte freudig und schwur mit dem gleichen Vorbehalt, der ihm tatsächlich für die Zukunft völlig freie Hand liess und ihn doch der augenblicklichen Bedrängnis enthob. Nur Metellus verschmähte als stolzer Aristokrat diese Winkelzüge, er weigerte offen den Schwur. S. antwortete mit der Achtserklärung, [267] die das Volk annahm; Metellus ging in die Verbannung (App. 31. Plut. 29. Liv. per. Flor. Oros. Vell. II 15, 4. Val. Max. III 8, 4. Cic. de dom. 82; har. resp. 41; p. Sest. 101, vgl. 37; de leg. III 26).
Die zweideutige und schwankende Haltung, welche Marius auch weiter annahm (vgl. die Anekdote Plut. 30), brachte notwendig die eigentliche politische Action ins Stocken. S. und Glaucia hatten jetzt als dringendste Aufgabe selber für Leib und Leben zu sorgen. Sie glaubten nur dann sicher zu sein, wenn im folgenden Jahr abermals eine Magistratur sie schützte; so bewarb sich S. um das dritte Tribunat, Glaucia um das Consulat, obwohl die Gesetze zwischen diesem und der Praetur einen dreijährigen Zwischenraum vorschrieben. S. setzte in der That sowohl seine eigene Wahl als die des angeblichen Gracchus zum Tribunen durch (siehe oben die Stellen S. 264). Aber bei den consularischen Wahlen wurde für die eine Stelle M. Antonius, der Candidat der Optimaten, gewählt; und für die andere erschienen die Aussichten des gegnerischen Mitbewerbers Glaucias, des L. Memmius, so günstig, dass die beiden Demagogen kein anderes Mittel mehr wussten, als das im vorhergehenden Jahre bei Nonius erprobte; sie liessen Memmius während der Abstimmung auf dem Marsfelde durch ihre Banden totschlagen (App. 32. Liv. per. Flor. Oros. vir. ill. Cic. Cat. IV 4). Diese Gewaltthat gab dem Senat den ersehnten und vollkommen gesetzmässigen Anlass zum Einschreiten gegen S. und Glaucia. Es war wirklich vom Überfluss, wenn späterhin die optimatische Geschichtschreibung das alte Lied auch von S. anstimmte und ihm vorwarf, er habe sich bei dem Tumulte, der Memmius Ermordung folgte, als König begrüssen lassen (Flor. Oros.), oder er habe die Sclaven zur Freiheit aufgerufen (a quo [= Saturnino] in modum vexilli pilleum servituti ad arma capienda ostentatum erat Val. Max. VIII 6, 2). Der Senat trat am folgenden Tage, dem 10. December, zusammen (das Datum ergiebt sich aus App. 33 δήμαρχος ἕτερος – – πρώτην δημαρχῶν ἐκείνην ἡμέραν, es war also der Antrittstag der neuen Tribunen) und zwang den Consul Marius zum Einschreiten: fit senatus consultum, ut C. Marius L. Valerius consules adhiberent tribunos plebis et praetores quos eis videretur operamque darent, ut imperium populi Romani maiestasque conservaretur Cic. p. Rab. perd. r. 7 (vgl. vir. ill. Marius senatus consulto armatus, quo censeretur, darent operam consules, ne quid res publica detrimenti caperet). Die ganze Nobilität bewaffnete sich, selbst lendenlahme Greise wie der steinalte Augur Scaevola und der gichtbrüchige M. Scaurus griffen zu Schild und Schwert und zogen auf das Forum (ausführliche Schilderung bei Cic. a. a. O. 20ff.; vgl. Val. Max. III 2, 18), ihnen schlossen sich die Ritter, die tribuni aerarii (Cic. 27) und ein grosser Teil des Volkes an, unter das Marius Waffen verteilt hatte (Cic. 20). Vor den Thoren hielt der designierte Consul M. Antonius Wacht (Cic. 26). S. und seine Anhänger wurden auf dem Marktplatz geschlagen und flüchteten (ausser S. werden Glaucia, C. Saufeius, Q. Labienus, der falsche Gracchus genannt, Cic. 20. App. 32. 33. Oros.) auf das Capitol. Dort wurden [268] sie eingeschlossen und durch Abschneidung des Wassers (App. 32. Plut. 30. Flor. Oros. vir. ill.) zur Übergabe gezwungen. Sie übergaben sich dem Consul und Saturninus palam clamitans Marium auctorem esse omnium molitionum suarum contestatus est, Oros. Marius befand sich in einer schmachvollen Lage, es scheint (nach Cic. 28 verglichen mit Plut. 30. vir. ill. 10), dass er den Gefangenen das Treuwort der Gemeinde (fides publica) für ihre Straflosigkeit zusicherte, wozu allerdings zum wenigsten ein Senatsbeschluss, nach strengem Recht ein Beschluss des Volkes erforderlich war. Offenbar wünschte er wenigstens nicht selber den alten Verbündeten gegenüber die Rolle des Henkers zu übernehmen, er liess sie zunächst in die Curie einsperren. Die Ungeduld der jungen Adeligen wartete die Entscheidung des Senats über das Schicksal der Gefangenen nicht ab; sie erklommen das Dach des Rathauses, deckten die Ziegel ab und steinigten mit ihnen S. und seine Anhänger; einige, wie Glaucia und Dolabella (Oros.), waren durch die Flucht entkommen und wurden in den Strassen niedergemacht (App. 32. 33. Plut 30. Liv. per. Flor. Oros. vir. ill. Vell. II 12, 6. Cic. p. Rab, passim; Cat. I 4. 29; p. Mil. 14; Phil. VIII 15; Brut. 224; de leg. III 20; frg. n. VI p. 4. n. IV p. 18 Baiter-Kayser: ad Herenn. IV 31). Caput eius (= Saturnini) Rabirius quidam senator per convivia in ludibrium circumtulit de vir. ill. am Ende; wahrscheinlich gab dies den Anlass zu der späteren Anklage gegen Rabirius wegen Tötung des S. Nach Ciceros Darstellung in seiner Rede hatte Rabirius auf diesen Ruhm keinen Anspruch. Das Haus des S. wurde zerstört (Val. Max. VI 3, 1), seine Anhänger wurden grausam verfolgt (ebd. VIII 1 damn. 2. 3. Cic. p. Rab. 24–25).
Von S. Persönlichkeit geben die erhaltenen Nachrichten kein deutliches Bild. Als einen hervorragenden Redner, welcher die Gemüter der Massen zu entflammen wusste, erkennt ihn Cicero an: seditiosorum omnium post Gracchos L. Appuleius Saturninus eloquentissimus visus est, magis specie tamen et motu atque ipso amictu capiebat homines quam aut dicendi copia aut mediocritate ingenii Brut. 224; ipse L. Saturninus ita (= nur insoweit, nur mit der Beschränkung) fuit effrenatus et paene demens, ut auctor esset egregius et ad animos imperitorum excitandos inflammandosque perfectus de har. resp. 41. Die Leidenschaftlichkeit seines Wesens, die vor keiner Gewaltthat zurückschrack, erweisen seine Thaten. Unedle Beweggründe werden ihm auch von den Feinden, die seine Geschichte geschrieben haben, nicht untergelegt. Ob gekränktes Ehrgefühl und Rachedurst die einzigen Triebfedern seines Handelns waren, wie Cicero behauptet, vermögen wir nicht mehr zu entscheiden. Das geschichtliche Ergebnis seines politischen Auftretens lief seinen Absichten schnurstracks entgegen: durch die Verbindung mit ihm ward Marius binnen weniger denn Jahresfrist aus dem gefeierten und gefürchteten Feldherrn, welcher den Freistaat zu gefährden schien, ein politisch völlig toter Mann. Von der weitaussehenden Gesetzgebung aber über Landanweisungen und Coloniegründungen, mit der S. thatsächlich C. Gracchus [269] Ideen wieder aufnahm, von ihr blieb als fortwirkend nur eines bestehen: die Wünsche der Italiker nach Gleichstellung mit den römischen Bürgern hatten von neuem eine gewisse Anerkennung, von neuem eine vollständige Enttäuschung erfahren.
[Klebs.]
Anmerkungen (Wikisource)
Gemäß einer Notiz in Cornelius 407 S. 1595, 50 kann es sich nicht um Cornelia, sondern muss es sich statt dessen um ihre Tochter Sempronia handeln.
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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