ART

Antenor (Ἀντήνωρ). 1) Troianer, Sohn des Hiketaon oder des Aisyetes und der Kleomestra (Schol. Hom. Il. III 201. Eustath. zu Hom. p. 349; ausführliche Genealogie Dict. IV 22), oder des Laomedon (Mythogr. Vatic. I 204), Gemahl der Athenapriesterin Theano, einer Tochter des Kisses (Il. VI 298. XI 223). Elf tapfere Söhne, die zum grösseren Teile vor Troia fallen, nennt Homer: Koon, den Erstgeborenen (XI 248), Archelochos und Akamas, die Führer der Dardaner neben Aineias (II 822 mit Schol. min. z. d. St. XII 100. XIV 464ff.; vgl. Mythogr. Vat. a. a. O., wo Archelochum et Acamanta für Artilochum ex Acamanta zu lesen ist), Polybos und Agenor (XI 59. XXI 579), Helikaon (III 123), Iphidamas (XI 221), Demoleon (XX 395), Laodokos (IV 87), Laodamas (XV 516), endlich als νόθος Pedaios (V 69). Spätere Quellen fügen andere Namen hinzu: Hippolochos (Lysimach. Nost. bei Schol. Pind. Pyth. 5, 108. Tzetz. zu Lykophr. 874), Antheus (Schol. und Tzetz. zu Lykophr. 134), Polydamas (neben Helikaon genannt Serv. Aen. I 242), Medon, Thersilochos und Glaukos (Verg. Aen. VI 483). Glaukos erscheint auch bei Apollod. ep. 5, 21 ed. Wagn. Lysimach. a. a. O. Dict. III 26. IV 7. V 2, sowie neben Eurymachos (Quint. Smyrn. XIV 323) und einer Tochter Krino auf dem Gemälde Polygnots (Paus. X 27, 4). Ihn hatte A. als Teilnehmer an der Fahrt des Paris nach Griechenland verstossen (Dict. a. a. O.). Bei Homer ist A. der weise Berater der Troianer, an Alter und Erfahrung, Gerechtigkeit und Milde dem Nestor vergleichbar (vgl. Eurip. frg. 899. Plat. Symp. 221 c). Er hat Menelaos und Odysseus, als sie, um Helena zurückzufordern, nach Troia kamen, gastlich aufgenommen (Il. III 207) und vor Nachstellungen geschützt (Schol. z. d. St. Sophokles Ἑλένης ἀπαίτησις? vgl. Welcker Griech. Trag. I 117ff. Serv. Aen. I 242; vgl. auch Dict. I 11). Neben Priamos erscheint er mit andern Demogeronten auf dem Turm am skaeischen Thor bei der Teichoskopie [2352] gegenwärtig Il. III 148 (ebenso bei der Gefangennahme des Troilos auf der Françoisvase Mon. d. Inst. IV 54f.). Er begleitet darauf den König aufs Schlachtfeld zum Abschluss des Vertrags vor dem Zweikampf zwischen Menelaos und Paris (III 262). Weil der Bruch dieses Vertrags den Zorn der Götter auf Troia herabziehen muss, rät er später in der Volksversammlung offen zur Rückgabe der Helena und ihrer Schätze (VII 347ff.). Diese wiederholte Bethätigung unparteiischer Gerechtigkeit auch gegenüber dem Feinde veranlasste die Griechen, ihn und seine Familie bei der Eroberung Troias zu verschonen. Nach der kleinen Ilias stellte Polygnot dar, wie Odysseus im Nachtkampfe den verwundeten Antenoriden Helikaon erkennt und rettet (Paus. X 26, 7f.), während Apollodor (ep. 5, 21) das gleiche von der Begegnung des Odysseus und Menelaos mit Glaukos berichtet (vgl. Wagner Apollod. ep. Vat. 237). Auf dieselbe epische Quelle dürfte sonach auch die andere polygnotische Scene vor dem durch ein Pardelfell (auch in Sophokles Antenoriden nach Strab. XIII 608) kenntlich gemachten Hause des A. zurückgehen, wo sich A. mit seiner Gattin und vier Kindern zum Abzuge rüstet (Paus. X 27, 3. Welcker Ep. Cykl. II 246). Nach der Zerstörung Troias bestattete er die ihm überlassene Leiche der Polyxena und die gefallenen Troianer (Quint. Smyrn. XIV 320ff. 399ff.).

Erst die spätere Sage hat den A. auf Grund seiner ursprünglich durchaus unbedenklichen Beziehungen zu den Griechen zum Verräter seiner Vaterstadt gestempelt. Diese Wendung, für welche sich in den Kyklikern und bei Sophokles noch kein Anhalt ergiebt, tritt uns zuerst ausgebildet bei Lykophron (340) entgegen, wo der χέλυδρος ὠμόθριξ, welcher den Griechen die Signalfackel anzündet und das hölzerne Pferd öffnet, als A. gedeutet wird (Schol. und Tzetz. z. d. St.; vgl. Dion. Hal. Ant. I 46. Sisenna bei Serv. Aen. I 242. Aurel. Vict. Orig. 9). Auf diesem Standpunkt steht vor allem Dictys, bei dem A. der Vertreter der von Anfang an gegen Priamos und seine Söhne gerichteten Volksmeinung ist. Mit Aineias gegen Ende des Krieges zweimal als Gesandter zu den Griechen geschickt, lässt er sich durch grosse Versprechungen zum Verrat bewegen (IV 22. V 1), den er nach Serv. Aen. I 647 mit Helena ausführt. Mit Hülfe seiner Gattin Theano verschafft er dem Odysseus und Diomedes das Palladium (Dict. V 5. 8, daraus Schol. Ven. B Hom. Il. VI 311. Tzetz. zu Lykophr. 658; Posthom. 515. Suid. s. παλλάδιον). Bei Dares, nach welchem er bereits vor dem Kriege als Gesandter in Griechenland gewesen war, um Hesione zurückzufordern (5), führt er den Verrat mit Aineias aus, indem er dem Neoptolemos das skaeische Thor öffnet (37–41. Serv. Aen. II 15; übrigens war nach Dares 4 eines der Thore Troias nach ihm benannt).

Über sein und seiner Söhne spätere Schicksale gehen die Berichte auseinander. Nach Pindar (Pyth. 5, 83ff.) kommen die Antenoriden mit Helena nach Kyrene und lassen sich dort nieder, wo nach Lysimachos a. a. O. der Ἀντηνοριδῶν λόφος von ihnen seinen Namen erhielt. Nach der besonders von den Römern aufgenommenen Version rettete sich A. mit seinen Söhnen und den seit Pylaimenes Tode (Il. II 851. V 576) führerlosen [2353] Enetern nach Thrakien oder Illyrien und kam von da auf seinen Irrfahrten endlich nach Venetien. In Italien wird ihm vor allem die Gründung von Patavium zugeschrieben. Diese Sagenwendung lässt sich nach Strabon XIII 608 und Eustath. p. 405 auf des Sophokles Antenoriden zurückführen, aus denen das gleichnamige Stück des Accius geschöpft war (Welcker Griech. Trag. I 166ff. Ribbeck Röm. Trag. 406ff. Strab. V 212. XII 543f. I 48. III 150. Tryphiod. 656. Verg. Aen. I 242ff. Serv. z. d. St. u. I 1. Cato bei Plin. n. h. III 130. Liv. I 1. Solin. 13). Einige seiner Gefährten sollen sogar auf der iberischen Halbinsel eine Stadt Okela gegründet haben (Strab. III 157). Dagegen soll nach Dictys (V 17; vgl. IV 22 und Dar. 43f.) A. auf dem Boden von Troia ein neues Reich errichtet haben. Von dort aber vertrieb ihn Aineias, nachdem er selbst vorübergehend den Astyanax aus seiner Herrschaft in Arisba verjagt hatte (Abas Troica bei Serv. Aen. IX 264), und er gründete Korkyra Melaina. Vgl. über A. Stiehle Philol. XV 593–600.
[Wagner.]

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