.
17) L. Annaeus Seneca (er nennt diese Namen selbst de benef. IV 8, 3), zweiter Sohn von Nr. 16, neben Cicero der bedeutendste und einflussreichste römische Stilist, Lehrer und Minister des Nero. Über sein Leben wissen wir aus seinen Schriften und durch die Historiker seiner Zeit ziemlich viel. Geboren ist er etwa 4 v. Chr. (de tranqu. an. 17, 1; epist. XVIII 5, 17. 22; nat. quaest. I 1, 4) zu Corduba (Anth. Lat. 409 R = PLM IV 62. frg. 88 Haase. Martial I 62). So fiel sein Knabenalter noch unter Augustus (epist. V 9, 2), seine Jugend unter Tiberius (epist. XVIII 5, 22). Auf seine Erziehung scheint neben dem streng römisch gesinnten Vater, der ihn auf die Beredsamkeit und das öffentliche Leben hinwies (Seneca contr. II praef. 4), fast noch mehr seine vornehme, sittenstrenge und hochgebildete Mutter Helvia eingewirkt zu haben, welche den Vater überlebte (ad Helv. 16, 3f.). Da sie mit ihm die von ihrem Gemahl missbilligte Liebe zur Philosophie gemeinsam hatte (ebd. 15, 1. 17, 3f.), so wird sie zuerst den Knaben auf diese hingewiesen haben. Nach Rom brachte ihn eine Stiefschwester der Helvia und sorgte für seine zarte Gesundheit (ebd. 19, 2). Er trieb dort grammatische (epist. VI 6, 5) und rednerische Studien (Seneca contr. I 1, 1). Zugleich wandte er sich mit dem grössten Eifer dem Studium der Philosophie zu (epist. XVIII 5, 17). Schon als Knabe hörte er die Pythagoreer Sotion (epist. V 9, 2) und Sextius (epist. XVIII 5, 17f.; de ira III 36, 1f.), ferner als Jüngling den Attalus (epist. XVIII 5, 14f. 23), den beredten und schon von seinem Vater hochgeschätzten Papirius Fabianus (de brevit. vit. 10, 1; epist. IV 11, 12 u. ö.) und den Kyniker Demetrius, welcher später als Greis sein Hausgenosse wurde (de provid. 3, 3. 5, 5; epist. VI 10, 3). Ihre Lehren wirkten auch auf seine Lebensweise, indem er nach pythagoreischer Sitte jeden Abend seine Worte und Werke prüfte (de ira ΙII 36, 3f.), sich an ein ganz einfaches Leben gewöhnte (epist. XVIII 5, 14f. 23) und sich ein Jahr lang des Genusses aller Fleischspeisen enthielt. Erst auf Drängen seines Vaters gab er den letzteren Brauch auf, weil man dadurch unter Tiberius leicht in den Verdacht des Anschlusses an einen verbotenen Aberglauben geraten konnte (s. ebd.; vgl. Tac. ann. II 85. Suet. Tib. 36; 19 n. Chr.). Vielleicht hing jene strenge Diät aber auch mit den vielfachen körperlichen Leiden des S. zusammen, die ihn in seiner Jugend fast zum Selbstmord trieben (epist. X 2, 1) und im Alter trotz der dagegen angewandten Mittel, wie kaltes Baden und körperliche Übungen, sehr quälten (epist. VI 2, 1. VII 3, 1. XVIII 1, 1; vgl. II 8, 4f. VI [2241] 1, 3. 3, 1. VII 5, 1. XII 1, 3. 5. Κ. F. H. Marx Abh. d. Gött. Ges. d. Wiss. XVII 3f.).
Eine Zeit lang müssen jedoch die philosophischen Studien stark in den Hintergrund getreten sein, als S. wie sein älterer Bruder Novatus sich auf die politische Laufbahn vorbereitete und zunächst als Sachwalter auftrat (epist. V 49, 2). Bald erlangte er auch die Quaestur (s. F. Jonas De ordine librorum Sen. phil., Berlin 1870, 12), wobei ihm der Einfluss der Schwester seiner Mutter, der Gattin eines Mannes, der 16 Jahre Praefectus Aegypti gewesen war (wahrscheinlich des Vitrasius Pollio, s. Lipsius zu ad Helv. 17. Jonas 11, 1) zu Statten kam. Auf ihrer Rückfahrt von Ägypten war S. der Zeuge des Todes ihres Gemahles (ad Helv. 19, 4), er muss also vorher eine Zeit lang selbst in Ägypten gewesen sein. Auch in Pompeii hatte er sich als junger Mann aufgehalten (epist. VIII 1, 1). Bald nach der Quaestur wird er in den Senat eingetreten sein, da er dort den jüngeren Zeitgenossen seines Vaters, Papirius Fabianus, als Zeugen sah (epist. I 11, 4). In dieselbe Zeit muss auch die Schliessung seiner ersten Ehe fallen. Den Namen der Gemahlin erwähnt er nicht, und aus dem Ton, in dem er epist. V 10, 2 von ihr spricht, und den öfters bei ihm sich findenden Klagen über die Fehler der vornehmen Römerinnen (de benef, I 9, 3f.; de const. sap. 14, 1; de remed. fort. 16; frg. 47f. Haase) scheint hervorzugehen, dass diese Ehe keine glückliche war. Als S. de ira III 36, 3 schrieb, lebte sie noch, auch hatte er zwei Söhne von ihr, deren einer wenige Tage vor seiner Verbannung starb und von Helvia beerdigt wurde (ad Helv. 2,5), während der andere, Marcus, ad Helv. 18, 4f. als lebend erwähnt und blandissimus puer genannt wird (vgl. Anth. Lat. 441 R. = PLM IV 51). Schon damals besass S. grossen rednerischen und litterarischen Ruhm. Nach Dio Cassius LIX 19 führte er 39 n. Chr. im Senat in Gegenwart des Gaius einen Process so glänzend, dass der Kaiser vor Neid daran dachte, ihn zu töten. Gaius mäkelte auch an den besonderen Beifall findenden Reden des S. herum und nannte sie commissiones meras und arenam sine calce (Suet. Gai. 53). Wenige Jahre darauf konnte er sich daher selbst ohne Überhebung in einem Gedicht auf seine Vaterstadt Corduba ille tuus quondam magnus, tua gloria, civis nennen (Anth. Lat. 409 R. = PLM IV 19) und in derselben Zeit sagte er, das Glück habe ihn mit Gaben aller Art, mit Geld, Ehren und Gunst überhäuft (ad Helv. 5, 4).
Aber das alles fand ein plötzliches Ende, als S. 41 n. Chr. im Senat angeklagt, dem Tode nur durch die Fürbitte des inzwischen zur Regierung gelangten Claudius entrissen und nach Corsica verbannt wurde (ad Polyb. 2, 1. 13, 2. 18, 9. Anth. Lat. 236. 237. 405. 409 R. = PLM IV 2. 3. 15. 19). Ähnlich wie Ovid hat er den Grund seiner Bestrafung selbst nicht angegeben, aber nach Dio Cassius LX 8 (vgl. Tac. ann. ΧIII 42. Schol. Iuvenal. 5, 109) wurde er des Ehebruches mit der Schwester des Gaius, Iulia Livilla, beschuldigt. Ob der Vorwurf begründet war, lässt sich nicht entscheiden, sicher aber ist, dass S. ein eifriger Anhänger der schon unter Gaius einflussreichen und später [2242] mit Messalina und ihren Anhängern um den Einfluss auf Claudius und damit um die Herrschaft kämpfenden Partei der Schwestern des Gaius war, wie aus seiner Freundschaft mit Agrippina und ihrem Gemahl Crispus Passienus (Anth. Lat. 405. 445 R. = PLM IV 15. 55; vgl. nat. quaest. IV praef. 6; de benef. I 15, 5), ferner mit dem später von Messalina getöteten Polybius und seiner Feindschaft mit Pallas und Narcissus hervorgeht. Auch scheint er selbst anzudeuten, dass Valerius Messala Barbatus, der Vater der Messalina, als Ankläger gegen ihn auftrat und Narcissus ihn im Stich liess (nat. quaest. IV praef. 15. Anth. Lat. 408 R. = PLM IV 18; vgl. O. Rossbach Jahrb. f. Philol. CXLIII 101, 44). In der Verbannung auf der rauhen, barbarischen Insel lebte er still mit wissenschaftlichen und poetischen Studien beschäftigt (ad Helv. 4, 2. 8, 6. 20, 1f. Octavia 381f.), aber zugleich in steter Sehnsucht nach einer Rückberufung, die er durch Schmeicheleien an Claudius, Polybius u. a. zu erreichen suchte (ad Polyb. 13, 2f. 16, 6. 12, 5 u. ö. Anth. Lat. 419f. R. = PLM IV 29f. Dio Cass. LXI 10). Auch griff ihn damals ein gewisser Maximus mit Spottgedichten an (Anth. Lat. 396. 410. 412. 416 R. = PLM IV 6. 20. 22. 26). Erst nach acht Jahren, nach der Hinrichtung Messalinas und der Vermählung des Claudius mit Agrippina, durfte er zurückkehren, allerdings noch schwankend, ob er sich nicht ins Privatleben zurückziehen sollte (Anth. Lat. 407. 408. 433. 440 R. = PLM IV 5. 17. 18. 43. 54) und zunächst noch mit der Absicht, eine Reise nach Athen zu unternehmen (Schol. Iuvenal. 5, 109; dass er später das aegaeische Meer gesehen habe, lässt sich aus nat. quaest. VI 21, 1 nicht folgern). Aber Agrippina brauchte einen so gewandten und erprobten Helfer zur Durchführung ihrer ehrgeizigen Absichten und überwand seine Bedenken, indem sie ihm die Praetur verschaffte und ihn zum Erzieher ihres elfjährigen von Claudius adoptierten Sohnes Nero machte (49 n. Chr., Tac. ann. XII 8. Suet. Nero 7. Dio Cass. LX 32).
Seitdem sehen wir S. immer steigen in Macht und Ansehen, zuerst noch als unterwürfigen Diener der Agrippina, nach ihrer Ermordung aber als selbständigen Berater Neros. Nach dem Tode des Claudius (54 n. Chr.) schrieb er dessen laudatio funebris für seinen Nachfolger, zugleich aber die uns erhaltene Spottschrift, ausserdem eine grosse Anzahl Reden für Nero (frg. 101f. Haase; vgl. Suet. Nero 7). Deshalb wurde er mit Gunstbezeugungen, Ehren (Consul suff. mit Trebellius Maximus um 56 n. Chr.; vgl. Borghesi Oeuvres IV 391. Th. Mommsen Herm. ΧII 127) und Reichtümern überhäuft (Tac. ann. XIII 42. Dio Cass. LXI 10. luven. 10, 16. Sen. nat. quaest. III praef. 2; epist. X 1,3). Ausserdem hatte er nach der Rückkehr aus der Verbannung die sehr wohlhabende Pompeia Paulina geheiratet (Tac. ann. XV 60. Dio Cass. LXI 10. Sen. epist. XVIII 1, 2f.). In den ersten Jahren Neros leitete S. im Vereine mit Sex. Afranius Burrus (s. CIL XII add. 5842 und dazu Th. Mommsen Arch. Jahrb. IV Anz. 40) den Staat in einer alle zufrieden stellenden Weise (Tac. ann. XIII 2. 11. Dio Cass. LXI 4. Plut. Galba 20). Er trat Neros [2243] Grausamkeit und Prunkliebe mit Freimut entgegen (Tac. a. a. O. Plut. de cohib. ira 13. Dio Cass. LXI 18), wenngleich er seine Vergnügungssucht gelegentlich auch, schon um ihn dem übermächtigen Einfluss seiner Mutter zu entziehen, unterstützte (Tac. ann. XIII 13. Dio Cass. LXI 7). Aber als Burrus gestorben war (62 n. Chr.) und Menschen wie Tigellinus Einfluss auf Nero gewannen, S. auch heftig von seinen Feinden angegriffen wurde, zog er es vor, selbst zurückzutreten (Tac. ann. XIV 52f.). Er lebte noch einige Jahre in Zurückgezogenheit und auf Reisen, ganz dem Verkehr mit seinen Freunden (u. a. Lucilius Iunior, vgl. O. Rossbach Jahrb. f. Philol. CXLIII 100f., Caesonius Maximus, vgl. Friedländer zu Martial VII 44f., Annaeus Serenus, Claranus, Flaccus, Cornelius Senecio) gewidmet, bis er in die pisonische Verschwörung verwickelt und Ende April des J. 65 n. Chr., etwa 70 Jahre alt, von Nero gezwungen wurde, sich die Adern zu öffnen. Die Verschworenen sollen die Absicht gehabt haben, ihn zum Princeps zu erheben (Tac. ann. XV 65).
Das Leben des S. zeigt, dass er nicht in erster Linie das ist, wofür man ihn sich nach seinem Beinamen zu halten gewöhnt hat, ein Philosoph. In der besten und längsten Zeit seines Lebens war er Redner und am Hofe lebender Staatsmann, und weitaus der grösste Teil seiner philosophischen Schriften stammt aus seinem Alter. S. ist namentlich Redekünstler und Stilist und wendet seine Thätigkeit fast auf alle Gattungen der Litteratur an. Erworben hatte er seinen Ruhm als öffentlicher Redner und schon unter Gaius (s. o.) sich in ausgesprochenem Gegensatz zu den langen Perioden des Cicero (s. frg. 110f. Haase) einen Stil mit kurzen, aber inhaltsvollen Sätzen, reich an geistreichen Wendungen, Sentenzen und rhetorischen Figuren und mit der virtuosesten Beherrschung des Wortschatzes gebildet. Er war daher unbestritten die erste litterarische Grösse seiner Zeit (Plin. n. h. XIV 51. Dio Cass. LIX 19. Colum. III 3. Tac. ann. ΧII 8. XIII 2), wirkte auf die gleichzeitigen Schriftsteller ein und wurde trotz der Angriffe sowohl der Ciceronianer unter den Flaviern als auch der Archaisten unter Hadrian und den Antoninen bis in die Zeit der Kirchenväter und ins Mittelalter sehr viel gelesen und benützt (s. O. Rossbach Herm. XVII 373f.; De Senecae recens. et emend. 1f. 170, 16). Seine litterarische Fruchtbarkeit ist erstaunlich und erklärt sich zum Teil dadurch, dass er sich der Hülfe von untergeordneten Mitarbeitern bediente (Quint. inst. orat. X 1, 128). In der Philosophie nimmt S., obgleich er sich selbst als Stoiker bezeichnet, einen eklektischen Standpunkt ein (E. F. Werner De Senecae philosophia, Breslau 1825. C. Martha Les moralistes sous l’empire romain 20f. C. A. Brolen in den Universitätsschriften von Upsala 1880. O. Weissenfels De Seneca Epicureo, Berlin 1886. W. Ribbeck Seneca der Philosoph und sein Verhältn. zu Epikur, Hannover 1887). Er hat namentlich manche epikureische und pythagoreische Lehren aufgenommen. Die Darstellung ist oft im Predigerton gehalten (ähnlich wie Musonius), immer aber populär mit Vermeidung alles streng wissenschaftlichen.
[2244] Was seine äussere Erscheinung betrifft, so erzählt S. selbst, dass er klein, nicht schön und mager von Jugend auf war (epist. V 4, 3. 5, 1. X 2, 1. Tac. ann. XV 63. Dio Cass. LIX 19); auch scheint er, nachdem er sich im Alter ganz der Philosophie gewidmet hatte, einen Bart getragen zu haben (epist. V 8, 7; vgl. XII 2, 1. XVIII 5, 16). Nach diesen Angaben und nach einem verschollenen Contorniaten – der jedoch wie alle diese späten Münzen kaum individuelle Züge getragen haben wird – bestimmte F. Ursinus einen in vielen Exemplaren vorhandenen, sehr mageren, greisenhaften Kopf mit interessanten, durchgeistigten Zügen als S. (E. Q. Visconti Iconographie rom. Taf. XIV 2. Comparetti e de Petra Villa dei Pisoni Taf. IIIf. Baumeister Denkm. III 1647f.). Doch scheint derselbe eher einen hellenistischen Dichter darzustellen. Inschriftlich beglaubigt ist S. in einer ihn mit Sokrates vereinigenden, wenig sorgfältig gearbeiteten Doppelbüste des Berliner Museums (Beschreibung der antiken Sculpturen nr. 391. E. Hübner Arch. Zeit. XXXVIII 20f. Taf. V. Bernoulli Röm. Ikonographie I 278f.). Da sich jedoch die Wohlbeleibtheit dieses Bildnisses in keinem Falle mit den oben erwähnten Angaben vereinigen lässt, so liegt hier wohl ein schon im Altertum begangener Irrtum vor.
Eine Betrachtung der Schriften des S., von denen viele verloren sind, schliesst sich am besten an die von Quintilian (X 1, 129) gegebene Einteilung in orationes, poemata, epistulae, dialogi an. Von den einst hochberühmten Reden sind nur Bruchstücke erhalten (frg. 100ff. Haase), und zwar durchweg von den für Nero geschriebenen, während von den von ihm selbst gehaltenen nichts mehr übrig ist. Von poetischen Schriften besitzen wir zunächst aus seinen früheren Jahren eine Anzahl in der lateinischen Anthologie überlieferte kleinere Gedichte, die sogenannten Epigramme, welche mindestens vier Bücher umfassten. Obgleich nur einige derselben den Namen des S. tragen, so zeigen sie doch so sehr seine Schreibweise und erwähnen sonst unbekannte Thatsachen aus seinem Leben und seiner Zeit, dass man sie alle ihm zuschreiben muss (s. O. Rossbach Disquisitiones de Senecae filii scriptis criticae, Breslau 1882, 1f.; vgl. O. Ribbeck im Rh. Mus. XLIV 315; Gesch. der röm. Dichtg. IIΙ 35f. C. W. Krohn Quaestiones ad anthologiam Latinam I Halle 1887, 12). Ihre Form ist leicht und gefällig; in der Verstechnik schliesst sich S. an den von ihm hochgeschätzten Ovid an. Ferner haben wir von S. neun Tragoedien: Hercules furens, Troades oder Hecuba, Phoenissae oder Thebais, Medea, Phaedra oder Hippolytus, Oedipus, Agamemnon, Thyestes, Hercules Oetaeus. Die Form ist streng metrisch und die Darstellung lebhaft und phantasievoll, leider artet nur in den Tragoedien die rhetorische Richtung des S. oft in Schwulst und Übertreibung aus, so dass sie am wenigsten von seinen Schriften ansprechen. Man hat sie deshalb, aber sicher mit Unrecht, entweder einem andern S. zugeschrieben (so schon Sidonius Apollinaris carm. IX 229) oder zum Teil für unecht erklärt. Zeitlich lassen sich mit einiger Sicherheit nur die Medea (nach Lipsius wegen v. 373f. 595f. kurz nach dem Triumph [2245] des Claudius über Britannien) und die Troades (nach D. Heinsius wegen der Anspielungen in v. 778f. auf den von Nero geleiteten Troiae lusus nach 47 n. Chr.) bestimmen. Vermutungen über die Abfassungszeit anderer Stücke haben R. Peiper (Praefationis in Senecae trag. supplem., Breslau 1870, 17f.) und F. Leo (in seiner Ausgabe I 133) aufgestellt. Seine Vorbilder, Sophokles, Euripides und Ovid (Medea) hat S. ziemlich frei nachgeahmt (Leo I 147f.). Sicher nicht dem S., sondern wohl einem Dichter aus der Zeit der Flavier gehört die in der besten Hs. der Tragoedien, dem E(truscus, Laurentianus 37, 12, 11.–12. Jhdt., über die jüngeren von Leo nicht genügend berücksichtigten Hss. s. die Vorrede der Ausgabe von Peiper u. Richter XXXIIIf., M. Manitius Rh. Mus. XLVII Suppl. 46 und Peiper in der Festschrift des Magdalenaeum in Breslau 1893), fehlende Octavia, welche den Tod der Gattin des Nero schildert (Bücheler Rh. Mus. XXVII 474f. Fr. Ladek in den Dissert. Vindobonenses III 1ff. G. Nordmeyer Jahrb. f. Philol. Suppl. XVIII 225ff.). Den Übergang zu den erhaltenen prosaischen Schriften bildet die Apocolocyntosis divi Claudii, eine bittere, aber witzige menippeische Satire auf den eben gestorbenen Kaiser (s. Dio Cass. LX 35. Bücheler Symbola philol. Bonn. 31ff. Birt Ind. lect. Marburg 1888/89. O. Ribbeck Gesch. d. röm. Dichtg. III 38ff.).
Die grösseren philosophischen Schriften des S. werden von Quintilian (a. a. O.) unter dem Namen Dialoge zusammengefasst und tragen ihn mit Recht, weil häufig Einwände gegen die ausgeführten Anschauungen vorgebracht werden, die meist durch Beifügung von inquit, inquis, dicet aliquis gekennzeichnet sind. In unserer Überlieferung führen jedoch nur zwölf Bücher in der besten Hs., dem A(mbrosianus C 90 inf., 10.–11. Jhdt., über andere Hss. s. O. Rossbach De Senecae recensione et emendatione 6f.), diesen Namen, wenngleich er ebenso gut auf alle uns erhaltenen philosophischen Schriften ausser den Briefen ihrer Schreibweise nach angewandt werden kann und das verlorene Buch de superstitione von dem Grammatiker Charisius GL I 316 als Dialog bezeichnet wird (O. Rossbach Herm. XVII 365f.). Der codex A enthält folgende Schriften: 1) ad Lucilium quare aliqua incommoda bonis viris accidant, cum providentia sit (de providentia, verfasst 62 n. Chr., Ausgabe mit Einleitung von B. A. Nauta, Leiden 1825, s. O. Rossbach Herm. XVII 371, 3); 2) ad Serenum nec iniuriam nec contumeliam accipere sapientem (de constantia sapientis, im Anfang der Regierung Neros); 3–5) ad Novatum de ira libri III (s. W. Αllers De Senecae librorum de ira fontibus, Göttingen 1881. K. Buresch Leipziger Studien IX 128, um 49 n. Chr.); 6) ad Marciam (die Tochter des Historikers Cremutius Cordus) de consolatione (s. das Bielefelder Programm von F. Heidbreede 1839, vor 41 n. Chr.); 7) ad Gallionem de vita beata (s. Chr. F. Schulze Prolegomena in S. librum de v. b. Leipzig 1797, im Anfang der Regierung des Nero); 8) ad Serenum de otio (der Anfang ist verloren, um 62 n. Chr.); 9) ad Serenum de tranquillitate animi (s. A. Hirschig Dissert. de S. libro de tr. [2246] an., Leiden 1825, um 49 n. Chr.); 10) ad Paulinum de brevitate vitae (um 49 n. Chr.); 11) ad Polybium (den Freigelassenen des Claudius) de consolatione (fehlt grösstenteils in A, ist aber sicher echt, s. Spalding Abh. Berl. Ak. 1803, 43/44 n. Chr.); 12) ad Helviam matrem de consolatione (H. C. Michaelis Dissert. continens cons. ad Helv., Harlem 1841, 43/44 n. Chr.). Getrennt von dieser Sammlung der Dialoge wird überliefert 13) ad Neronem Caesarem de clementia libri III, erhalten ist nur Buch I und der Anfang von II, s. O. Rossbach Disquisitiones de S. filii libris criticae 33f.; De S. recens. et emendat. 13f. 112f., beste Hs. auch von de benef. der N(azarianus Palatinus 1547) aus dem 8. Jhdt., im Anfang der Regierung des Nero; 14) ad Aebutium Liberalem de beneficiis libri VII (im Anfang der Regierung des Nero); 15) ad Lucilium naturalium quaestionum libri VII (so nach den Ausgaben, nach Parisinus 8624 waren es 10 Bücher, nach anderen Hss. und Walter Burley De vita philosophorum f. 42 a ed. Argent. dagegen 8, die Frage nach der Zahl und Anordnung ist noch nicht sicher entschieden, s. F. Schultess Annaeana studia, Hamburg 1888, 5f. G. Gundermann Jahrb. f. Philol. CXLI 351f. W. Allers Jahrb. f. Philol. CXLV 621ff., über die Hss. s. G. G. Mueller De S. quaestionibus nat., Bonn 1886, um 62 n. Chr.). Philosophischen Inhalt, aber noch leichtere und ungezwungenere Form haben die epistulae morales ad Lucilium (etwa 57 n. Chr. begonnen). Es sind 124 Briefe in 20 Büchern, welche meist von einem Anlass des täglichen Lebens ausgehend die verschiedensten moralphilosophischen Fragen, bisweilen aber auch litterarische behandeln. Uns fehlen die letzten Bücher, da Gellius XII 2, 3 ein 22. Buch erwähnt, Über[RE 1] ihre Abfassungszeit, Einteilung in zwei Abschnitte (Buch I–XIII und XIV–XX), die handschriftliche Überlieferung u. s. w. s. Madvig Advers. crit. II 458ff. F. Schultess De S. quaest. nat. et. epist., Bonn 1872. O. Rossbach De Sen. recens. et emendat. 31f. H. Hilgenfeld Jahrb. f. Philol. Suppl. XVII 601ff. Nur im Auszug erhalten ist die Schrift ad Gallionem fratrem de remediis fortuitorum (s. O. Rossbach De Sen. recens. et emend. 95ff. J. Loth Rev. philol. XII 118ff., verfasst unter der Regierung des Nero; der Versuch von H. Ilgens Animadvers. ad S. philosophi scripta, Homburg 1889, 3ff. nachzuweisen, dass diese Schrift aus den erhaltenen Werken des S. excerpiert sei, ist verfehlt, da er nicht beachtet hat, wie häufig sich S. auch sonst wiederholt), ferner die formula honestae vitae oder de IIII virtutibus (s. Weidner im Magdeburger Programm von 1872. O. Rossbach De Sen. recens et emendat. 87f., von Martinus Dumiensis im 6. nachchristlichen Jhdt., vielleicht aus den exhortationes excerpiert) und die monita (zuerst herausgegeben von E. Wölfflin, Erlangen 1878; vgl. O. Rossbach De Sen. recens. et emendat 85, 1). Verloren sind bis auf wenige Fragmente (bei Haase III 419ff.) die Bücher: de motu terrarum (Jugendschrift), de lapidum natura (?), de piscium natura (?), de situ Indiae, de situ et sacris Aegyptiorum, de forma mundi; exhortationes, de officiis, moralis philosophiae libri, de [2247] immatura morte, de superstitione dialogus, quomodo amicitia continenda sit (scheint in Canterbury noch im 13. Jhdt. vorhanden gewesen zu sein, s. Rh. Mus. XLVII Suppl. 47), de matrimonio, de vita patris. Endlich gab es von S. Briefe an Novatus (in mindestens zehn Büchern), an Caesonius Maximus und an Marullus (die letzteren von Haase nicht erwähnt, s. aber epist. XVI 4, 1). Von einem Christen gefälscht sind Briefe des S. und Paulus, welche schon Hieronymus de viris inl. 12 und Augustinus ep. 103 kannten (F. X. Kraus Tübinger Quartalschrift XLIX 609ff.). An sie hat sich die noch heute von einigen Theologen festgehaltene Sage von dem geheimen Christentum des S. angeschlossen (s. F. C. Baur Ahn. z. Gesch. u. alten Philos. 377ff. F. Westerburg Der Ursprung der Sage, dass S. Christ gewesen sei, Berlin 1881).
Über das Leben und die schriftstellerische Thätigkeit des S. s. ausser der bereits erwähnten Litteratur: J. Lipsius in seinen Ausgaben. A. Delrio Prolegom. ad syntagma tragicorum Lat. II 30ff. D. Diderot Essai sur les règnes de Claude et de Néron et sur les moeurs et les écrits de Sénèque, Paris 1779 u. ö. H. Lehmann Claudius und seine Zeit, Gotha 1858, 8ff. u. ö. H. Schiller Gesch. des röm. Kaiserreichs unter Nero, Berlin 1872, 68ff. 93ff. u. ö. Zeller Philos. der Griechen III³ 1, 693ff. Teuffel-Schwabe R. L.-G.⁵ 692ff. O. Ribbeck Gesch. der röm. Dichtg. III 34ff. M. Schanz R. L.-G. II 255ff. 400ff. (voll von Irrtümern). E. F. Gelpke De S. vita et moribus, Bern 1848. A. Martens De S. vita et de tempore, quo eius scripta philos. composita sint, Altona 1871. A. J. M. Diepenbrock S. philosophi vita, Amsterdam 1888. P. Hochart Études sur la vie de S., Paris 1885. J. A. Heikel in den Act. soc. scient. Fenn. XVI, Helsingfors 1886. O. Weissenfels Zeitschr. f. Gymnw. XLVII 422ff. Die Tragoedien erschienen zuerst Ferrara um 1480, weitere Ausgaben von H. Avantius, Venedig 1517. Μ. Α. Delrio, Antwerpen 1576 und im Syntagma tragicorum Lat. Bd. II, Antwerpen 1594 und Paris 1620. J. Lipsius, Leiden 1588. J. Gruterus, Heidelberg 1604. J. F. Gronovius, welcher zuerst den Etruscus benützte, Leiden 1661. Amsterdam 1682. Cum notis variorum und mit Wortindex J. C. Schröder, Delft 1728. F. H. Bothe, Leipzig 1819. Halberstadt 1822. R. Peiper und G. Richter, Leipzig 1867 (2. Aufl. in Aussicht gestellt). F. Leo, Berlin 1878/79. Ausgaben der philosophischen Schriften: Princeps, Neapel 1475. D. Erasmus, Basel 1515. 1529. A. Muretus, Rom 1585. J. Gruterus, Heidelberg 1593. J. Lipsius, Antwerpen 1605. Cum notis J. F. Gronovii et aliorum, Amsterdam 1672. F. E. Ruhkopf, Leipzig 1797–1811. C. R. Fickert, Leipzig 1842–1845. F. Haase, Leipzig 1852 u. ö. Sonderausgaben der Apokolokyntosis hinter den Textausgaben von Büchelers Petronius (Berlin 1862. 1873. 1882), der dialogi Mediolanenses von H. A. Koch, Jena 1879. Ulm 1884. M. C. Gertz, Kopenhagen 1886; de beneficiis und de clementia von M. C. Gertz, Berlin 1876; der naturales quaestiones von G. D. Köler, Göttingen 1819, der epistulae von J. Schweighäuser, Strassburg 1809, Buch XIV. XV. XX 3 von Bücheler, [2248] Bonn 1872 und in Auswahl von G. Hess, Gotha 1890.
[O. Rossbach.]
Anmerkungen (Wikisource)
korrigiert: Uber
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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