Absentia. 1) Bedeutung der Abwesenheit im römischen Staatsrecht. Dem Census soll der römische Bürger sich persönlich stellen (vgl. Vell. Pat. II 7, 7), aber es steht dem Censor zu, Ausnahmen davon zu gestatten (Gell. V 19, 16). Wer sich nicht stellt, setzt sich der Möglichkeit aus, dass die Censoren sein Vermögen und die Consuln ihn selbst verkaufen (Zon. VII 19 p. 144, 21 Dind.). Auf jeden Fall hat, wer ohne genügende Entschuldigung bei der Schätzung fehlt, die Folgen davon in einer vielleicht zu hohen Einschätzung zu tragen; vgl. Cic. ad Att. I 18, 8. Persönliche Anwesenheit des Bürgers soll aber nicht nur beim Census (Mommsen St.-R. II³ 366ff.) stattfinden, sondern ist auch die Vorbedingung für die Ausübung des Stimmrechts in den Volksversammlungen bez. im Senate. Und wenigstens in der späteren Zeit der Republik ist A. auch ein gesetzliches Hindernis der Wählbarkeit. Die Wahl erfolgt nach vorausgegangener professio, d. h. nach vorausgegangener Meldung bei dem wahlleitenden Beamten, und diese Meldung [117] hat in Rom selber zu erfolgen. Persönliche Anwesenheit des Bewerbers wurde seit 691 = 63 oder 692 = 62 gefordert. Früher war die Wahl Abwesender ohne weiteres gestattet und ist mehrfach erfolgt; Beispiele bei. Fügner Lexicon Livianum s. v. absens. Noch Scipio Aemilianus ist abwesend zu seinem 2. Consulate vom J. 620 = 134 gelangt (Cic. de rep. VI 11. Liv. per. 56). Nach Plut. Mar. 12 wäre indessen die Wahl eines Abwesenden bereits vor dem Jahre 650 = 104, dem 2. Consulate des Marius, gesetzlich untersagt gewesen; seine Wahl sei erfolgt τοῦ μὲν νόμου κωλύοντος, ἀπόντα … αἱρεῖσθαι, τοῦ δὲ δήμου τοὺς ἀντιλέγοντας ἐκβαλόντος. In Wirklichkeit hat ein solches Verbot aber noch zu Anfang 691 = 63 nicht bestanden; vgl. Cic. de leg. agr. II 24 praesentem enim profiteri iubet (sc. Rullus), quod nulla alia in lege umquam fuit, ne in eis quidem magistratibus, quorum certus ordo est. Es muss aber bald darauf erfolgt sein, denn um dem Legaten des Pompeius, dem M. Piso, die Bewerbung um das Consulat für 693 = 61 zu ermöglichen, schob man die Wahlen bis zu seiner Rückkehr auf (Dio XXXVII 43, 3). Als Caesar sich um das Consulat für 695 = 59 bewarb, war persönliche professio ihm unmöglich, wenn er nicht durch Betreten der Stadt sein Anrecht auf den Triumph verwirken wollte. Er suchte daher beim Senate um die Genehmigung nach, abwesend durch Vermittlung seiner Freunde die professio leisten zu dürfen; als er aber dabei auf Schwierigkeiten stiess, verzichtete er lieber auf den Triumph und leistete persönlich die professio (Plut. Caes. 13. App. b. c. II 8. Suet. Iul. 18; vgl. Dio XXXVII 54, 1. 2). Wenn auf Appian II 8 (εῖδὼς μὲν παράνομον, γεγονὸς δὲ ἤδη καὶ ἑτέροις) Verlass ist, wären einzelne Dispense bereits vor dem Gesuche Caesars vorgekommen. 702 = 52 Cn. Pompeius … consul tertio factus est absens et solus (Liv. per. 107). In diesem Jahre wurde dem Caesar auf Veranlassung des Pompeius durch ein von den zehn Volkstribunen beantragtes Plebiscit das Privilegium verliehen, sich abwesend um das 2. Consulat bewerben zu dürfen (Caes. b. c. I 32, 3; vgl. I 9, 2. Cic. ad Att. VII 3, 4. VIII 3, 3. VII 6, 2; ep. VI 6, 5; Phil. II 24. Liv. per 107. Dio XL 51, 2. 56, 2. Flor. II 13, 16. Suet. Iul. 26. 28. App. b. c. II 25). Es handelt sich also um eine Befreiung von dem 691 = 63 oder 692 = 62 gegebenen Gesetze, in dem Lange Röm. Alt. III² 263 die vom Consul Cicero beantragte lex Tullia de ambitu vermutet. Diese Vermutung ist indessen weder beweisbar noch wahrscheinlich, da wir sonst wohl in Ciceros Briefen eine Andeutung davon finden würden, dass es ein von Cicero selbst regiertes Gesetz war, von dem Caesar im J. 702 = 52 Befreiung erlangte. Bald nach dieser durch Plebiscit dem Caesar gewährten Begünstigung brachte Pompeius 702 = 52 seine lex de iure magistratuum ein, die in einem Capitel petitione honorum absentis submovebat, ohne den Caesar auszunehmen; nachträglich fügte er aber die Clausel bei, μόνοις αὐτὸ ἐξεῖναι ποιεῖν, οἷς ἂν ὀνομαστί τε καὶ ἄντικρυς ἐπιτραπῇ (Suet. Iul. 28. Dio XL 56, 1–3; vgl. Cic. ad Att. VIII 3, 3). Vor der Schlacht bei Pharsalus wurde im Kreise des Pompeius die Frage erörtert, [118] oporteretne Lucilii Hirri, quod is a Pompeio ad Parthos missus esset, proximis comitiis praetoriis absentis rationem haberi. Für Caesar den Sohn beschloss der Senat 711 = 43 Καίσαρα … ἐς τὴν ὕπατον ἀρχὴν παραγγέλλειν ἀπόντα (App. b. c. III 90; vgl. Dio XLVI 45, 3. 5). Die ihm 732 = 22 et apsenti et praesenti von Volk und Senat angebotene Dictatur hat Augustus abgelehnt (Mon. Anc. Lat. I 31 f. Gr. III. 2ff.). Wegen der Wahlumtriebe des Q. Lepidus und L. Silanus bei den Consulwahlen für 733 = 21 bestimmte er, ἀμφοτέρων αὐτῶν ἀπόντων τὴν ψῆφον δοθῆναι. Lange Röm. Alt. I³ 718. Mommsen St.-R. I³ 503f.
Die Forderung persönlicher Anwesenheit in der Stadt, die in den letzten Jahrzehnten der Republik gestellt wurde, gilt aber weder für den Amtsantritt (Mommsen a. a. O. 13 615, 4. Lange a. a. O. 113 166), noch für den Rücktritt vom Amte (s. oben unter Abdicatio), wenn die Anwesenheit natürlich auch die Regel bildet. Die Volkstribunen, die als Magistrate der nur innerhalb der Stadt in ihrer Sonderorganisation anerkannten Plebs nur einen städtischen Amtskreis haben, dürfen, weil ihr auxilium jederzeit soll angerufen werden können, keinen vollen Tag von Rom fern sein. Dionys. Hal. VIII 87. Dio XXXVLI 43, 4. XLV 27, 2. XLVI 49, 1. Gell. III 2, 11. XIII 12, 9.
[Neumann.]
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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