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PLATONS GASTMAHL
22.–26. TAUSEND
VERDEUTSCHT VON RUDOLF KASSNER
VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS
JENA 1922
FRAU
E. BRUCKMANN-CANTACUZENE
GEWIDMET
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG
IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN. COPYRIGHT 1922
BY EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA
Apollodoros: „O ja, darüber bin ich ziemlich unterrichtet. Erst neulich, da ich von Phaleron nach der Stadt gehe, sieht mich von rückwärts einer meiner Bekannten und ruft mir nach: „Apollodoros, Apollodoros von Phaleron“ – er scherzt immer mit meinem Namen – „so warte doch!“ Ich bleibe nun stehen und warte auf ihn, und da sagt er mir denn: „Ich habe dich schon unlängst gesucht, ich möchte nämlich so gerne etwas über das Gastmahl des Agathon erfahren, ich meine jenes, an dem Sokrates, Alkibiades und noch viele andere teilgenommen und bei dem sie über Eros gesprochen haben. Was sprachen sie damals alles, weißt du näheres? Mir hat schon jemand davon erzählt, der es von Phoinix, dem Sohne des Philippos, gehört hatte, und dieser sagte mir, auch du wüßtest näheres darüber. In der Tat, er konnte mir nicht gerade viel sagen, erzähle du mir nun davon! Denn niemand ist so dafür geschaffen wie du, die Worte unseres großen Freundes zu künden. Zuerst aber sage noch schnell: warst du selbst bei dem Gastmahl zugegen? Ja?“ Darauf erwidere ich ihm gleich: „Dein Freund muß dich wirklich schlecht unterrichtet haben, wenn er meint, das Gastmahl, um das du mich fragst, hätte erst [2] vor kurzem stattgefunden und ich selbst hätte daran teilgenommen!“ „Nicht? Ich dachte!“ „Aber mein lieber Glaukon,“ fuhr ich fort, „weißt du denn nicht, daß Agathon seit vielen Jahren schon die Stadt verlassen hat? Und dann – seitdem ich um Sokrates bin, seitdem ich täglich, ich sage täglich ganz genau weiß, was Sokrates spricht und was Sokrates tut, sind noch nicht drei Jahre vergangen. Früher, ach früher! – da lief ich so herum, ohne zu wissen wohin, und tat geschäftig und war doch so jämmerlich wie nur irgend jemand, so jämmerlich wie du jetzt, Glaukon, der du noch immer glaubst, man dürfe um keinen Preis denken, nur nicht denken.“
„Bitte, mache dich nicht über mich lustig,“ sagt mein Freund, „sage lieber, wann hat das Gastmahl also stattgefunden?“
„Wir waren noch Kinder, Agathon hatte mit seiner ersten Tragödie gesiegt und mit seinen Choreuten den Sieg gefeiert, den Tag darauf nun da hat das Gastmahl stattgefunden!“
„Das ist allerdings schon lange her. Aber von wem weißt du das alles?“ fragte Glaukon weiter. „Von Sokrates selbst?“
„Ach Gott, nein, nein! Von ebendemselben, von dem Phoinix es gehört hat: von Aristodemos aus Kythäron, vom kleinen Aristodemos, der immer wie der Meister ohne Sandalen herumlief. Er war dabei; ich glaube, seine Beziehungen zu Sokrates waren ganz besonders innige. Später habe ich noch Sokrates selbst [3] um einiges gefragt, und Sokrates bestätigte, es sei alles so gewesen, wie Aristodemos es mir geschildert hat.“
„Gut, gut, so erzähle du mir jetzt nun alles!“ drang Glaukon weiter. „Wir gehen beide in die Stadt, und auf dem Wege kann man so gut reden und zuhören!“
Nun, so gingen wir beide zusammen nach der Stadt und sprachen darüber; ich bin also, wie gesagt, vorbereitet. Und wenn es sein muß, so will ich auch euch alles erzählen. Aufrichtig, ich freue mich jedesmal unbändig, wenn ich entweder selbst über Philosophie sprechen oder davon hören darf. Von der Förderung, die ich dadurch erfahre, rede ich erst gar nicht. Über das, was man so den Tag über schwatzt, was ihr Reichen und Krämer zusammenschwatzt, ärgere ich mich doch nur; ja ich bemitleide euch, denn ihr glaubt immer, weiß Gott was zu tun und kommt doch nicht weiter. Vielleicht werdet ihr euerseits wieder mich bemitleiden, vielleicht habt ihr recht, ja, ich bin bemitleidenswert, ja! Aber ihr, meine Lieben, seid es in einem ganz anderen Sinne, und ihr seid es nicht nur vielleicht, ihr seid es bestimmt, das weiß ich.“
Der Freund: „Apollodoros, du bleibst der Alte! Immer schmähst du dich selbst und die Welt und hältst, mit dir angefangen, alle einfach für bemitleidenswert; Sokrates allein ist deine Ausnahme. Ich weiß zwar nicht, woher du den Beinamen „der Tolle“ hast, aber, so oft du sprichst, bist du wirklich wie toll. Du haderst mit dir selbst und den andern, nur Sokrates, Sokrates bleibt von deiner Wut verschont!“
Apollodoros: „Mein lieber Freund, es ist wohl nur [4] zu natürlich, daß ich toll und rasend erscheine, da ich nun einmal so über mich und euch denke!“
Der Freund: „Streiten wir jetzt nicht darüber! Tue das, worum wir dich gebeten haben, und erzähle uns vom Gastmahl!“
Apollodoros: „Am Gastmahl nahmen teil … Doch nein, ich will lieber gleich von Anfang an es so erzählen, wie ich es von Aristodemos gehört habe. Aristodemos erzählte also: er wäre eines Abends Sokrates begegnet, und Sokrates hätte gerade gebadet gehabt und, was selten vorkommt, Sandalen getragen. Auf die Frage, wohin er denn so geputzt ginge, hätte Sokrates geantwortet: „Zu Agathon, zu einem Gastmahl! Gestern bin ich noch der Siegesfeier entgangen – ich mag den Lärm nicht – ich habe aber versprochen, heute zu kommen. Und so habe ich mich denn schön gemacht, damit auch ich „schön vor den Schönen“ trete. Aber du, wie denkst du darüber, ungeladen mitzugehen?“ „Ja, wenn du glaubst …“ hätte er geantwortet. „So komm nur mit! Wir können ja das Sprichwort drehen und sagen: Zum Mahle des Guten kommen ungeladen die Guten! Homer dreht es nicht nur um, sondern hält sich überhaupt nicht daran: Agamemnon ist sein bester Soldat, und Menelaos ist, wie sagt er doch, Menelaos ist ein verwöhnter Speerschütze. Doch da Agamemnon das Opfer feiert, kommt Menelaos ungeladen zum Opfermahle, du siehst, der Schlechtere kommt hier zum Mahle des Besseren.“ „Ich fürchte,“ hätte Aristodemos eingewendet, „ich fürchte, Sokrates, du schmeichelst mir, wenn du das Sprichwort [5] in deinem Sinne drehst; ich bin wohl eher im Sinne Homers der arme Schlucker und gehe ungeladen zum Mahle des Weisen und Edlen! Sieh nur zu, wie du mich dort entschuldigen wirst; ich will durchaus nicht ungeladen kommen, ich betrachte mich von dir geladen!“ „Während wir zusammen gehen, können wir ja überlegen, was wir anführen werden. Gehen wir nur!“ hätte Sokrates geschlossen, und so wären sie denn beide weitergegangen. Sokrates wäre aber, wie ihm ja das öfters geschieht, ganz plötzlich in Gedanken gekommen und auf dem Wege immer wieder zurückgeblieben. Da Aristodemos auf ihn warten wollte, hätte Sokrates ihn nur weitergehen geheißen. Bis zu Agathons Tür wären sie schließlich beide zusammen gegangen. Und jetzt wäre Aristodemos etwas ganz Komisches widerfahren. Agathons Tür hätte offen gestanden, ein Knabe ihn bei der Tür empfangen und zu den Sitzen der andern geführt, die eben im Begriffe waren, an das Essen zu gehen. Da aber Agathon ihn erblickte, hätte er gleich gerufen: „Aristodemos, du kommst gerade zurecht, um noch mit uns zu essen. Laß alles nur, bitte, auf morgen, wenn du etwa in einer andern Angelegenheit herkommst! Ich habe dich gestern schon überall gesucht, um dich für heute einzuladen, und konnte dich nicht finden. Aber warum bringst du Sokrates nicht mit?“ „Ich drehe mich um“, hätte Aristodemos gesagt, „und sehe keinen Sokrates. ‚Ja, ich bin aber doch mit Sokrates gekommen,‘ rief ich, ‚Sokrates hat mich aufgefordert, mit zu euch zu kommen!‘“ „Gut, gut, [6] natürlich, aber wo ist er?“ „Ja, Sokrates ging hinter mir und kam mit herein, ich bin jetzt selbst ganz verwundert, wo er nur geblieben sein mag.“ „Sieh du dich nach Sokrates um,“ hätte Agathon einem Knaben befohlen, „und bring ihn uns! Doch du, Aristodemos, lege dich dorthin neben Eryximachos!“ Ein Knabe hätte Aristodemos nun die Füße gewaschen und Aristodemos sich dann neben Eryximachos gelegt. Der Knabe aber, den Agathon nach Sokrates geschickt hatte, wäre mit dem Berichte zurückgekommen: Sokrates stehe ganz allein im Tore des Nachbarhauses und wolle nicht kommen. „Unsinn, gehe noch einmal und laß nicht locker!“ Agathon hätte noch einmal den Knaben schicken wollen, doch Aristodemos entgegnete: „Nein, nein, laßt Sokrates nur! Er macht das oft so und bleibt plötzlich wo stehn. Er wird ja gleich kommen. Stört ihn nur nicht!“ „Nun, wenn du glaubst;“ gab Agathon nach, „ihr Knaben aber bringt uns das Essen. Setzt es uns vor, ganz wie ihr wollt! Niemand soll heute die Aufsicht führen. Ich liebe das nicht. Bildet euch ein, wir wären von euch zu Tische geladen, und bedient uns so, daß wir euer Haus dann loben!“ Und so hätten sich denn alle ans Essen gemacht. Sokrates wäre aber noch immer nicht gekommen. Agathon hätte ihn zwar immer wieder holen lassen wollen, aber Aristodemos wäre weiter dagegen gewesen. Endlich wäre er doch gekommen, sogar ohne diesmal so lange wie gewöhnlich auf sich warten zu lassen, sie wären alle noch mitten im Essen gewesen. Und gleich hätte Agathon, der ganz an der Ecke allein [7] saß, Sokrates zugerufen: „Zu mir, Sokrates, setze dich zu mir, damit auch ich etwas von dem Gedanken, der dir dort vor der Tür in den Wurf kam, bekomme! Du hast dir ihn wohl gefangen und hältst ihn jetzt fest! Natürlich, sonst hättest du wohl kaum den Anstand verlassen!“ Sokrates hätte sich auch gleich neben Agathon gesetzt und ihm erwidert: „Ich mag mit meinem Platze wohl zufrieden sein, wenn also die Weisheit wirkt, daß sie aus dem Vollen ins Leere abfließt, so wir beide uns nebeneinander halten, wie ja das Wasser aus dem vollen Becher in den leeren fließt, wenn man ein Haar zwischen beide legt. Ja, wenn also die Weisheit wirkt, dann ehre ich den Platz neben dir! Ich glaube, neben dir recht voll von deiner reichen und schönen Weisheit zu werden. Denn meine Weisheit ist mager und zweifelhaft, zweifelhaft wie ein Traum. Deine Weisheit hingegen strahlt und hat eine helle Bahn, du bist noch so jung, und sie hat gestern vor mehr als dreißigtausend Griechen geleuchtet!“ „O Sokrates, du bist ein böser Spötter; den Streit über unsere Weisheit aber wollen wir später ausfechten, und Dionysos wird Richter sein. Jetzt iß nur zuerst!“ Nun hätte also auch Sokrates gegessen, und da er und die andern fertig waren, hätten alle zuerst dem Gotte vom Weine gespendet und die Lieder gesungen, und so unter allen den üblichen Gebräuchen wäre es zum eigentlichen Trinkgelage gekommen. Und Pausanias nahm gleich das Wort: „Wohlan denn, Freunde, da jetzt getrunken werden muß, so frage ich zuerst, wie [8] machen wir uns dies heute so leicht wie möglich? Damit ich es nur gleich gestehe, mein Kopf ist mir noch von gestern schwer, und ich muß mich heute noch davon erholen. Und da ihr alle gestern zugegen waret, so nehme ich dasselbe von euch an.“ „Da hast du recht, Pausanias,“ fiel Aristophanes ein, „da hast du recht, wir müssen uns heute durch irgend etwas vom fortwährenden Trinken ablenken. Auch ich stak gestern tief im Weine!“ „Das heiße ich vernünftig gesprochen,“ rief Eryximachos, der Sohn des Akumenos, „aber nur einen von euch möchte ich noch fragen, dich, Agathon: Hast du viel Lust zum Trinken?“ „Nein, nein, sehr wenig!“ gab Agathon zur Antwort, und Eryximachos: „Nun, wenn so unsre besten Zecher versagen, so ist das für mich und Aristodemos und Phaidros ein großer Trost, denn wir drei vertragen nie viel. Sokrates nehme ich aus, denn er kann immer beides, und darum wird ihm beides recht sein. Da also niemand von den Anwesenden Lust hat, viel zu trinken, so dürfte ich gerade heute niemandem zu nahe treten, wenn ich euch über die Trunksucht einmal die Wahrheit sage. Ich bin Arzt und habe in meiner Praxis erfahren, wie schädlich der Rausch den Menschen sei. Ich selbst möchte also heute weder gerne einfach darauflostrinken, noch andern dazu raten, am wenigsten dem, welchem noch von gestern der Kopf brummt!“ „Eryximachos, ich folge dir, du weißt es, immer und besonders dann, wenn du als Arzt sprichst,“ unterbrach ihn Phaidros, der Myrrhinusier, „heute werden auch die andern auf dich [9] hören, wenn ihnen an ihrem eigenen Wohl gelegen ist.“ Und so waren denn alle darin übereingekommen, heute nicht bis zum Rausch, sondern ganz ohne Zwang zu trinken. Und Eryximachos fuhr fort: „Da es also abgemacht ist, daß heute jeder nur so viel trinke, wie er will, und niemand gezwungen wird, so schlage ich vor, wir lassen die Flötenspielerin, die eben gekommen ist, wieder gehen; sie mag sich selbst oder, wenn sie es vorzieht, unsern Weibern zu Hause etwas vorspielen; wir werden uns allein unterhalten und zwar mit Gesprächen. Und wenn ihr es hören wollt, so werde ich euch sagen, worüber wir reden sollten!“ Alle wollten den Vorschlag des Eryximachos hören, und Eryximachos sagte ihn: „Ich beginne wie des Euripides Melanippe: Nicht ich rede, sondern Phaidros spricht durch mich. Phaidros sagt mir nämlich jedesmal ganz bitter: „Ist es nicht arg, Eryximachos, daß auf alle Götter Lieder und Gesänge von den Dichtern geschrieben werden und daß ihrer niemand noch Eros, diesen alten und starken Gott, im Liede gepriesen hat? Sieh dir die ehrlichsten Sophisten an: Herakles und die andern Götter verherrlichen sie in ganzen Abhandlungen, denke nur an den ausgezeichneten Prodikos! Und wenn man das noch verstehen kann, aber ich hatte unlängst ein Buch in der Hand, und darin konnte man ganz ernst ein Loblied auf den Nutzen des Salzes lesen, und in dieser Art könntest du noch vieles finden. Auf solche Dinge wird viel Fleiß verwendet, aber bis heute hat noch niemand gewagt, Eros zu feiern; ein so großer Gott bleibt also [10] ohne Ehren!“ Phaidros scheint mir recht zu haben. Ich will also seinen Antrag unterstützen und ihm gefällig sein; ich glaube auch, gerade jetzt wäre unter uns Stimmung, den Gott zu preisen. Wenn ihr nun alle meiner Ansicht seid, so könnten wir uns nicht angenehmer die Zeit vertreiben. Ich denke, wir fangen dann von rechts an und jeder spricht etwas zum Preise des Gottes, so gut er es eben kann; Phaidros beginnt, er sitzt ganz oben und hat uns auch zum Ganzen angeregt.“ „Niemand, Eryximachos, wird gegen dich stimmen,“ rief Sokrates, „am wenigsten ich, der ich immer behaupte, mich überhaupt nur auf die Liebe zu verstehen; Agathon und Pausanias sind selbstverständlich dafür; Aristophanes hat es ja immer nur mit Aphrodite und Eros zu tun, alle, alle hier sind auf deiner Seite. Allerdings sind wir, die ganz unten sitzen, ein wenig im Nachteil, doch wenn die andern oben gut sprechen, so werden wir es zufrieden sein. Viel Glück denn, Phaidros, fange an und preise uns den Gott der Liebe!“ Alle haben sich Sokrates angeschlossen und Phaidros zum Worte gerufen. Was nun jeder sprach, dessen konnte weder Aristodemos sich immer genau entsinnen, noch weiß ich selbst alles so deutlich, wie Aristodemos es mir erzählt hat. Doch was mir in ihren Reden wesentlich und denkwürdig erschien, das alles sollt ihr jetzt hören.
Phaidros hätte also begonnen: „Ein großer Gott ist Eros und wunderbar unter Menschen und Göttern, groß und wunderbar in vielem Sinne und vor allem dann, wenn wir an seine Geburt denken. Denn Eros [11] ist der älteste der Götter, und das allein ist ein Vorzug. Eros hat keinen Vater und keine Mutter, Dichter und Laien wissen nichts von seiner Geburt. Hesiod sagt, am Anfang sei das Chaos gewesen und ‚dann die breite Erde, der Wesen ewig sicherer Sitz und endlich Eros‘. Und Parmenides erzählt von der Schöpfung, sie habe von allen Göttern zuerst den Gott der Liebe ersonnen. Wie Hesiod denkt auch Akusilaos, und so gilt denn Eros wirklich vielen als der älteste Gott. Und darum ist er auch der Spender höchster Gaben. Ich wüßte denn auch keine höhere Gabe als einem Jüngling den treuen Freund und diesem den Geliebten. Was allen Menschen, die edel ihr Leben führen wollen, immer notwendig sein soll, das können diesen nicht Geburt, nicht Ehre, nicht Reichtum so reich geben, wie die Liebe es gibt. Denn die Liebe allein gibt die Scham vor dem Laster und den Ehrgeiz alles Edlen, und ohne beide vermag eine ganze Stadt, vermag der Einzelne nicht das Große zu wirken. Ich meine, wenn ein Jüngling irgend etwas ganz Schlechtes getan hat oder seine Feigheit den Gegner nicht wehren wollte, so wird die offene Scham ihn vor seinen Eltern oder Gefährten lange nicht so wie vor dem Geliebten schmerzen. Und wenn der Geliebte bei etwas Schlechtem ertappt wird, so empfindet er vor niemandem so bitter die Schande wie vor dem Freunde! Die Freunde und die Geliebten – ja sollte es möglich sein, aus beiden eine ganze Stadt oder ein ganzes Heer zu bilden, so könnten eine so gemeinsame Abscheu vor dem Laster und ein [12] so selbstloser Ehrgeiz das Staatswesen nicht besser verwalten, und wenn sie gemeinsam in die Schlacht zögen, müßten sie, wenn ihrer auch nur wenige wären, alle anderen, ich sage gleich, die ganze Welt besiegen. Ein Jüngling, der die Waffen wegwirft und die Schlachtreihe verläßt, würde wohl von allen anderen besser als von dem Geliebten empfangen werden und eher sterben, bevor er dies täte. Oder gar den Geliebten verlassen, ihm in der Gefahr nicht beispringen: so feige ist niemand – jeden hat die Liebe so mit göttlichem Mute begabt, daß er sich dann mit dem Kühnsten messe. Und wenn der Gott, wie Homer ungeschickt sagt, einigen Helden den Mut einhaucht, so schenkt Eros sich selbst den Liebenden als Mut.
Und nur Liebende wollen füreinander sterben, und das tun nicht nur Männer, sondern sogar die Frauen. Alkestis, des Pelias Tochter, hat es vor allen Griechen bewiesen. Sie, sie allein wollte für Admet in den Tod gehen, und doch lebten diesem noch Vater und Mutter. Ja, Alkestis stand um ihrer Liebe willen so hoch über diesen, daß sie für immer dartat, wie Eltern im Grunde und zuletzt dem Sohne doch fremd wären und ihm nur den Namen gäben. Und der Alkestis Tat war auch vor den Göttern so edel, daß liebend diese der Alkestis Seele aus dem Hades ließen, eine Gnade, welche nur wenigen und nur denen, die Höchstes vollbracht haben, Götter gewähren. So ehren die Götter den Eifer und Mut der Liebe. Orpheus dagegen, den Sohn des Oiagros, ließen sie erfolglos aus dem Hades gehen, die Götter zeigten ihm nur [13] den Schatten des Weibes, um das er kam, Eurydike selbst gaben sie nicht zurück, denn Orpheus war ein Musiker und feige, und statt um der Liebe willen gleich Alkestis zu sterben, wollte er es erzwingen, lebend unter die Schatten zu treten. Darum sandten die Götter ihm die Strafe und ließen ihn von den Mänaden, von Weibern, zerfleischen. Achilleus aber, den Sohn der Thetis, ehrten sie, und ihn sandten sie hin nach den Inseln der Seligen. Aus der Mutter Munde hatte der Held erfahren, daß er wählen müsse: ‚Wenn du Hektor tötest, so mußt du jung in Troja sterben, doch wenn du ihn schonst, so kehrst du nach der Heimat zurück und scheidest als Greis vom Leben.‘ Achilleus war stark und wählte den frühen Tod und rächte Patroklos, der ihn geliebt hatte, er starb nicht für ihn, nein, er starb dem toten Freunde nach. Und weil Achilleus den Freund so hochhielt, darum haben überschwenglich ihn die Götter geliebt und geehrt. Äschylos schwatzt, wenn er behauptet, Patroklos sei der Geliebte und Achilleus der Freund gewesen, denn Achilleus war nicht nur schöner als Patroklos, er war schöner als alle anderen Helden und hatte, wie außerdem Homer sagt, noch keinen Bart und war der jüngere. Es ehren die Götter ja überall den Mut in der Liebe, aber sie staunen mehr und spenden reicher die Gnade, wenn der Geliebte dem Freunde, als wenn der Freund dem Geliebten die Liebe beweist. Denn der Freund ist göttlicher als der Geliebte. Der Freund trägt den Gott in sich. Und darum haben die Götter Achilleus mehr geehrt als Alkestis, und Achilleus und [14] nicht Alkestis haben sie nach den Inseln der Seligen geschickt. Ich schließe und sage, Eros ist von allen Göttern der älteste und ehrwürdigste und der hohe Herr aller, die im Leben und nach dem Tode zur Tugend und zum Heile kommen wollen.“
So also hatte Phaidros gesprochen. Auf ihn sind noch einige andere gefolgt – Aristodemos erinnerte sich ihrer Worte nicht mehr – bis dann Pausanias an die Reihe kam: „Indem du, Phaidros, Eros so einfach den Preis sprachest, hast du dir die Aufgabe, wie mir scheint, nicht richtig gestellt. Ja, wenn es nur einen Eros gäbe, würde ich nichts einzuwenden haben. Nun gibt es aber nicht nur einen Eros, und darum ist es wohl unerläßlich, vorauszuschicken, welchen wir preisen sollen. Ich will also versuchen, dich zu berichtigen, das heißt: ich werde zuerst sagen, welchen Eros wir preisen sollen, und dann erst werde ich den Würdigen würdig preisen. Wir alle wissen, daß Aphrodite nie ohne Eros ist. Wenn es nun nur eine Aphrodite gäbe, so hätten wir nur einen Eros. Nun gibt es aber zwei Göttinnen der Liebe, und darum haben wir notwendig auch zwei Eroten. Zwei Göttinnen der Liebe also: die ältere mutterlose Tochter des Uranos, sie heißt die himmlische Aphrodite, und dann die jüngere, des Zeus und der Dione Tochter, die irdische Aphrodite. Und darum müssen wir den Eros, der diese begleitet und dieser hilft, den irdischen Eros, und den, der jene begleitet und jener hilft, den himmlischen Eros nennen. Weiter, im allgemeinen können wir ja gar nicht anders als alle Götter preisen,[15] aber hier müssen wir klar zu machen versuchen, welcher Preis jedem der beiden Götter gebühre. Es gilt ja überall: Eine Handlung ist niemals an und für sich gut oder an und für sich schlecht. Was immer wir jetzt hier tun, ob wir nun trinken, singen oder Reden halten, alles das könnte niemals an und für sich, aus sich heraus gut sein, denn die Art und Weise entscheidet. Wenn wir ehrlich und edel handeln, so ist die Handlung gut, wenn wir niedrig handeln, schlecht. Und so ist auch Eros und jede Betätigung der Liebe an und für sich, im allgemeinen weder ein Edles noch würdig gepriesen zu werden, sondern nur derjenige ist es, der edel zu lieben weiß.
Der Eros der irdischen Aphrodite ist nun wirklich irdisch und überall und gemein und zufällig. Und alles Gemeine bekennt sich zu ihm. Der Gemeine liebt wahllos Weiber und Knaben, und er liebt immer nur den Leib, er liebt vor allem die geistig noch unentwickelten Knaben, da er eben nur den Zweck will und die Art ihn nicht kümmert. So handelt er denn auch immer ganz zufällig, heute gut und morgen schlecht, und liebt, was ihm begegnet. Seine Göttin ist die jüngere, und an der Zeugung und Geburt der irdischen Aphrodite hatten der Mann und das Weib, beide Geschlechter, teil. Die hohe Liebe stammt von der himmlischen Aphrodite, und die himmlische Aphrodite war aus dem Manne frei geschaffen und ist die Ältere und voll Maß und gebändigt. Und darum also streben sehnend alle Jünglinge und Männer, welche diese Liebe begeistert, zum männlichen, zum [16] eigenen Geschlechte hin: sie lieben die stärkere Natur und den höheren Sinn. Aber auch hier in der Männerliebe müssen wir von anderen scharf diejenigen scheiden, die nur von der hohen Liebe und nur von ihr geführt werden. Sie lieben die Jünglinge erst, wenn diese selbständig zu denken beginnen, es ist das im allgemeinen um die Zeit, da diesen der Bart keimt. Und wer hier den Jüngling zu lieben beginnt, wird dann auch bereit sein, sein ganzes Leben mit dem Geliebten gemeinsam zu führen, und wird ihn nicht betrügen und auslachen und davon zu einem andern laufen, etwas, das immer vorkommt, wenn er den Geliebten, da dieser beinahe noch ein Kind war, genommen hat. Ich meine, es sollte ein Gesetz geben, das da verbietet, Knaben zu lieben, damit nicht so ins Ungewisse hinein viel Leidenschaft verschwendet werde. Man kann nie wissen, wie ein Knabe sich an Geist und Körper entwickeln werde. Der Edle wird sich dieses Gesetz selbst geben, die anderen sollten wir dazu zwingen, wie wir sie ja auch, soweit es da überhaupt möglich ist, zwingen, freie Frauen nicht zu schänden. Denn diese Niedrigen sind es, die unsere hohe Liebe so in Verruf gebracht haben, daß man jetzt überall hört, der Geliebte dürfe dem Freunde nicht zu Willen sein. Man denkt da natürlich nur an sie und sieht ihre Taktlosigkeit und ihr Unrecht, und alles Regellose und Ungesetzliche verdient ja mit Recht Tadel.
In den anderen Städten sind die Anschauungen von der Liebe leicht zu verstehen: alles ist da einfach und bestimmt; nur hier bei uns und in Lakedaimon scheinen [17] sie schwierig und verwickelt. In Elis und Böotien, überall also, wo die Leute nicht sonderlich redegewandt sind, heißt es kurz: dem Freunde zu Willen sein ist gut, und kein Mann und kein Jüngling wird anders denken. Denn durch diese Bestimmtheit meiden sie ein für allemal die Gefahr, die Geliebten erst überreden zu müssen, denn reden – das können sie nun einmal nicht. In Jonien dagegen und überall bei den Barbaren gilt unsere Liebe einfach für eine Schande. Unter Barbaren verdammt sie die Tyrannis, wie diese ja schließlich auch die Philosophie und Körperbildung verurteilt. Denn dem Tyrannen kann es nicht sehr förderlich sein, wenn seinen Kreaturen der Verstand wächst und unter diesen starke Freundschaftsbünde entstehen, denn gerade solche bildet gerne die Liebe. Unsere Tyrannen haben es am eigenen Leibe erfahren: die Liebe des Harmodios und Aristogeiton ist stark geworden und hat deren Herrschaft gebrochen. Noch einmal also, immer dort, wo es für eine Schande gilt, dem Freunde zu Willen zu sein, spricht nur die Niedrigkeit der Anschauungen, das heißt: die Herrschsucht des Tyrannen und die Feigheit des Sklaven; wo es aber ohne Umstände für selbstverständlich gilt wie in Elis und Böotien, dort ist die Sitte eben noch roh.
Bei uns nun ist die Sitte edler und, wie ich schon gesagt habe, nicht leicht verständlich. Man denke nur, es gilt für edler, offen zu lieben als verstohlen, für edler, die Vornehmsten und Tüchtigsten, auch wenn sie weniger schön wären als andere, zu lieben, [18] man denke weiter, in wunderbarer Weise gibt alles dem Liebenden recht und ermutigt ihn wie einen, der durchaus nicht schlecht handelt; ja, wer den Geliebten gewinnt, hat recht getan, und wer es nicht vermag, trägt den Schimpf davon. Und damit der Freund sein Ziel erreiche und den Geliebten gewinne, gibt unsere Sitte ihm Freiheiten, das Wunderlichste unter dem Beifall aller zu tun, Dinge zu tun, die ihm Schande brächten, wenn sie einem anderen Zweck dienten. Denn wollte jemand, um sich Geld zu machen oder einen guten Posten zu erhalten oder im Staate zu Einfluß zu kommen, alles das tun, was der Freund für den Geliebten tut, wollte er da ebensoviel bitten und flehen, Eide schwören und vor den Türen liegen, kurz sich niedriger als der letzte Sklave gebärden, Freund und Feind würden sich dagegen erheben: seine Feinde würden ihn der Kriecherei und Feigheit zeihen, seine Freunde sich seiner schämen und ihm helfen. Den Liebenden aber begleitet überallhin die Gunst aller, und alles ist ihm nach unserer Sitte erlaubt, ja er handelt nach ihr sogar besonders kühn. Und was ganz ungeheuer klingt, die Götter, heißt es, verzeihen Liebenden und nur ihnen den gebrochenen Eid. Die Liebe schwört keine Eide, hört man die Leute sagen. So geben Götter und Menschen den Liebenden alle Mittel frei, und das und nichts anderes sagt unsere Sitte.
Nach ihr also müßten wir alle überzeugt sein, es gelte in unser Stadt allgemein für ein ganz außerordentlich Edles, zu lieben und geliebt zu werden. [19] Und doch verbieten die Väter ihren Söhnen, mit dem, der ihrer Liebe begehren sollte, sich ins Gespräch einzulassen und halten ihnen darum Hauslehrer, ja wenn dies vorkommt, so rügen es auch die Altersgenossen und Gespielen, und Ältere erheben dagegen keinen Einspruch und geben den Gespielen recht, wenn diese sie rügen: nun, wer das wiederum sieht, der muß dann im Gegenteil glauben, unsere Liebe sei auch hier eine große Schande. Dieser Widerspruch löst sich meiner Ansicht nach also: wie ich schon gesagt habe: es gibt eben nicht einfach etwas, was an und für sich gut, und ein anderes, was an und für sich schlecht wäre, alles hängt von der Art und Weise unseres Handelns ab. Es ist niedrig, dem Niedrigen, und edel, dem Edlen zu Willen zu sein. Niedrig ist jener Adept der gemeinen Liebe, welcher den Leib mehr als die Seele liebt, denn er ist ohne Treue, da er ein so treuloses, wechselndes Ding wie den Leib liebt. Wenn der Leib, den er begehrt hat, verblüht, dann läuft er davon und schämt sich seiner vielen Worte und Versprechen. Nur wer die edle Gesinnung liebt, hat sich dem Dauernden verbunden und bleibt treu. Und diesen, den Treuen will unsere Sitte prüfen. Darum fordert sie die Geliebten auf, zu fliehen, und die Freunde, diesen nachzustellen; in diesem Kampf will sie den Geliebten, will sie den Freund erproben. Da gilt es ihr dann für niedrig, sich schnell und leicht fangen zu lassen. Es soll zuerst eine gewisse Zeit verstreichen; die Zeit stellt ja alles auf die Probe. Da gilt es ihr weiter für niedrig, durch [20] Geld oder politischen Einfluß sich gewinnen zu lassen, ob nun der Geliebte unter dieser Roheit leidet, ohne doch sich frei machen zu können, oder ob er sich bestechen läßt und keine Verachtung dafür hat. Denn abgesehen davon, daß unter diesen Voraussetzungen nie eine wahre Freundschaft sich bilden kann, so vermag alles das überhaupt nicht zu halten und zu dauern. Und so bleibt nach unserer Anschauung nur ein Weg dem Geliebten übrig, seinem Freunde in edlem Sinne zu Willen zu sein, nur ein Weg: denn genau so wie dem Freunde kein Dienst, den er für den Geliebten tut, als schmeichlerisch und schandbar ausgelegt wird, wird dann dem Geliebten nur ein Dienst frei und ohne Schimpf bleiben: der Geliebte wird um der Tugend willen dienen. Und bei uns ist denn auch die Sitte wirklich durchgedrungen: wenn dem Freunde der Geliebte in der Absicht, weiser und besser zu werden, dient, so ist diese Dienstbeflissenheit nichts Schlechtes, nicht Kriecherei, wie man oft hört. Und wenn es wahrhaft edel werden soll, daß der Geliebte dem Freunde sich hingibt, so müssen unsere Anschauung von der Liebe und jene von der Philosophie und jeder anderen inneren Tüchtigkeit sich decken. Wenn also unsere Freunde und unsere Geliebten sich dort begegnen werden, wo der Freund dem Geliebten durchaus uneigennützig zur Seite steht und der Geliebte dem Freunde, der ihn weise und edel gemacht hat, sich willig unterordnet, wo weiter der Freund als der Stärkere wirklich die Gesinnung und jede Tätigkeit des Geliebten fördert, und der Geliebte [21] als der Schwächere die Bildung und Einsicht vom Freunde annimmt, wenn also Freund und Geliebter, jeder dem eigenen Gesetze gehorchend, so das Gemeinsame finden, so wird es hier nicht anders heißen können, als es ist edel, daß der Geliebte dem Freunde zu Willen sei. Hier ist es auch keine Schmach, sich zu täuschen und betrogen zu werden. In allen anderen Fällen trägt der Geliebte die Schande davon, ob er nun betrogen wird oder nicht. Denn wenn der Geliebte dem Freunde um dessen Reichtum willen sich hingibt und dann betrogen wird, so ist das schamlos und bleibt es, wenn der Freund sich später als arm erweisen sollte; denn er hat bewiesen, daß er sich für Geld auch jedem andern unterordnen würde, und das ist immer gemein. Umgekehrt aber und nach derselben Anschauung: wenn der Geliebte, um besser zu werden, dem Freunde zu Willen ist und dann betrogen wird, da der Freund sich als niedrig erweist, so ist dennoch diese Täuschung ein durchaus Edles. Der Geliebte hat, soweit es von ihm abhing, bewiesen, daß er der Tugend zuliebe und um besser zu werden zu allem bereit sei, und ich kenne nicht, was edler wäre. So ist es also, noch einmal, durchaus edel, um der Tugend willen sich hinzugeben.
Das also ist der Eros der himmlischen Göttin, auch er kommt vom Himmel und ist von großem Werte für die Stadt und den einzelnen, denn er gibt dem Freund und dem Geliebten beiden jene große Sorge um die eigene innere Tüchtigkeit. Wer von dieser Sorge nichts weiß, der bekennt sich zum irdischen Eros. Und [22] das ist es, Phaidros, was ich, so gut es aus dem Stegreif ging, zum Preise des Gottes beitragen konnte.
Nach Pausanias, erzählte Aristodemos, hätte Aristophanes sprechen sollen. Ob es nun die Folge davon war, daß er gestern zu viel getrunken hatte oder eine andere Ursache hatte, Aristophanes hatte Schlucken und konnte nicht gut sprechen. So sagte er denn zu Eryximachos – er saß gerade vor dem Arzt Eryximachos –: „Eryximachos, du mußt mir entweder den Schlucken nehmen oder für mich sprechen, bis ich ihn verloren habe. Du kannst ja beides.“ Eryximachos antwortete: „Ich will dir beides tun. Ich werde jetzt für dich eintreten, und du kannst dann für mich reden. Und wenn du, während ich rede, den Atem anhältst, wird der Schlucken vergehen. Sonst nimm etwas Wasser und gurgle! Sollte er aber sehr heftig sein, so reize mit etwas die Nase und bringe dich zum Niesen! Wenn du das ein- oder zweimal tust, so muß er aufhören, und wenn er noch so heftig wäre.“ „Danke, ich werde alles tun; sprich du nur gleich!“ sagte Aristophanes.
Eryximachos begann also: „Pausanias hat zwar gut begonnen, aber nicht richtig geschlossen, und darum muß ich seine Rede wohl noch vollenden. Daß er zwischen zwei Arten des Eros unterschied, war richtig. Daß aber Eros nicht nur in der Sehnsucht der Seele nach schönen Jünglingen, sondern in jeder Begierde, in allem Sehnen herrscht und im Tier, in der Pflanze, in der ganzen Natur lebt, das glaube ich gerade in der Heilkunst, in meiner Kunst, erfahren zu haben. [23] Groß und wie ein Wunder reicht dort in alles Göttliche und Menschliche dieser Gott. Und um meine Kunst zu ehren, beginne ich auch gleich mit der Heilkunst. Die Natur birgt hier die beiden Arten des Eros in sich, und ich meine das so: das gesunde und das kranke Element im Körper sind, wie wir alle wissen, zwei verschiedene, zwei entgegengesetzte Dinge. Das eine begehrt nach dem, nach welchem das andere nicht begehrt. Anders wirkt die Liebe im gesunden und anders die Liebe im kranken Element. Pausanias hat oben ausgeführt, daß es edel sei, den Edlen, und niedrig, den Niedrigen zu Willen zu sein: nun und genau so ist es hier gut, die gesunden Elemente der Natur, und schlecht, die kranken zu fördern, und das heißt Heilkunst, und das muß der Arzt verstehen. Um es gleich zusammenzufassen, die Heilkunst lehrt uns die beiden Neigungen der Natur kennen: die Neigung, Elemente aufzunehmen und die Neigung, Elemente abzustoßen, und wer hier die gesunde Neigung von der kranken zu unterscheiden weiß, der ist der beste Arzt, und wer noch dazu die eine Neigung durch die andere zu ersetzen, hier die gesunde Neigung zu erregen, dort die kranke zu vernichten weiß, der ist der Meister. Denn die feindlichen Elemente in der Natur müssen wir miteinander versöhnen, wir müssen in ihnen Neigung zueinander erwecken. Die feindlichen Elemente – das sind die großen Gegensätze in der Natur: das Kalte ist dem Warmen, das Bittere dem Süßen, das Trockene dem Feuchten entgegengesetzt. Und unter diesen Gegensätzen Neigung, den [24] Eros erwecken – das verstand Asklepios, unser Ahnherr, und aus dieser Erkenntnis bildete er, wie die Dichter sagen und wie ich es durchaus glaube, unsere Kunst. Die ganze Heilkunst wird ja von diesem Gott beherrscht, die Heilkunst und, damit ich es hier nicht vergesse, die Lehre von der Körperbildung und der Ackerbau. Und wer nur ein wenig nachdenkt, für den gilt dasselbe von der Musik. Herakleitos hat es schon sagen wollen und sich nur schlecht ausgedrückt, wenn er behauptet, daß alles Zwiespältige sich wieder eine, wie in der Form Bogen und Leier sich einen. Es ist zunächst zwar unsinnig, von einer zwiespältigen Einheit zu sprechen und zu sagen, daß eine Einheit aus Zwiespältigem bestehe. Aber vielleicht wollte Herakleitos nur sagen, daß Hoch und Tief zuerst, in der Natur also, zwiespältig seien und in der Musik sich dann einen. Denn ganz unmittelbar gibt es keine Einheit von Hoch und Tief. Alle Einheit ist Zusammenklang und der Zusammenklang Übereinstimmung. Solange aber noch zwei Dinge zwiespältig sind, so können sie nicht übereinstimmen, und das Widersprechende wieder kann unmittelbar keine Einheit bilden. Auch der Rhythmus entsteht erst dadurch, daß die zwei Maße, Schnell und Langsam, zuerst einander widersprechen müssen und dann übereinstimmen. Und diese Übereinstimmung bringt hier die Musik in die Dinge, genau so wie dort die Heilkunde sie in die Dinge gebracht hat: die Musik erregt die Neigung, den Eros unter allem Zwiespältigen. Ich verstehe also unter Musik die Wissenschaft von der Neigung der Gegensätze, der [25] Gegensätze von Hoch und Tief, Schnell und Langsam. In diesem abstrakten Verhältnis von Einheit und Rhythmus ist der Gott nicht schwer zu erkennen, hier herrscht noch nicht der doppelte Eros.
Wenn wir aber auf den Menschen diese Begriffe von Einheit und Rhythmus anwenden und sie auf Dichtung und Gesang, auf das also, was unsere Erziehung bildet, beziehen sollen, so wird die Sache schwierig und bedarf eines tüchtigen Meisters. Und hier gilt dann der Satz des Pausanias: wir müssen der Liebe der maßvollen Menschen und aller, die zur Einheit noch kommen wollen, zu Willen sein, sie müssen wir hüten und züchten, denn es ist das der reine himmlische Gott, der Gott der Muse Urania. Die irdische Liebe, den Gott der Muse Polyhymnia, dürfen wir nur mit Vorsicht anwenden, damit die Lust, die der Mensch aus ihr schöpft, ihm nicht alles Maß nehme; es ist ja für uns Ärzte auch sehr wichtig, dafür zu sorgen, daß der Mensch alle Genüsse der Kochkunst ohne Schaden genieße. Und so müssen wir denn in der Musik, in der Heilkunst, in allem Göttlichen und Menschlichen überall die beiden Arten des Eros beobachten: denn sie stecken in den Dingen selbst, beide Eroten stecken in den Dingen.
Und weiter – auch im Verhältnis der Jahreszeiten leben sie, der echte Eros und der falsche. Wenn der echte Eros sich zwischen warm und kalt, zwischen trocken und feucht zeigt und hier alles Zwiespältige sich eint und weise mischt, so bringt das Jahr Segen und Gesundheit für Mensch und Tier und Gewächs. [26] Wenn aber der falsche, maßlose Eros über den Jahreszeiten waltet, so vernichtet er viel und bringt Schaden; dann entstehen große Seuchen unter den Tieren, und viele böse Krankheiten bilden sich an den Pflanzen, und der Reif und Hagel und Brand kommen, wenn alles sich zu gierig und maßlos liebt. Ich verstehe unter der Wissenschaft, welche die ganze Liebe in der Natur auf den Lauf der Sterne und den Wechsel der Jahreszeiten bezieht, die Astronomie.
Endlich aber haben wir noch die Opfer und die Kunst der Seher – alles also, wodurch die Götter mit den Menschen verkehren – damit diese über der Liebe wachen und sie heilen. Alle Gottlosigkeit kommt daher, daß der Mensch in seinem Verhältnis zu seinen Eltern, den verstorbenen oder lebenden, und zu seinen Göttern dem echten Eros sich nicht hingibt und den falschen ehrt, dem falschen dient. Es ist die Pflicht der Seher, auf Eros acht zu haben und den falschen zu heilen; denn die Kunst der Seher ist da, damit sie Freundschaft zwischen den Göttern und den Menschen schaffe und erkenne, ob alles Lieben der Menschen nach den Satzungen und zur Frömmigkeit strebe.
So hat denn viel und große, ja alle Macht der ganze Eros, und indem er alle guten Dinge klug und gerecht vollendet, hat er die größte Macht und bringt uns das ganze Heil und macht uns fähig, untereinander und denen, die mehr sind als wir, den Göttern Freunde zu sein. Vielleicht habe ich, da ich den Gott pries, vieles übersehen, aber dann ist es gegen meinen Willen geschehen. Deine Aufgabe, Aristophanes, mag es sein, [27] die Lücken zu füllen. Und wenn du überhaupt im Sinne hast, den Gott zu preisen, so tue es gleich, da ja dein Schlucken vergangen ist!“
Aristophanes griff das gleich auf und erwiderte: „Ja, ja, der Schlucken hat jetzt wirklich aufgehört. Ich konnte ihm allerdings erst mit dem Niesen beikommen und wundere mich eigentlich, daß die Zucht unseres Leibes, von der du sprachst, soviel Umstände wie das Niesen braucht. Jedenfalls hat er aber ganz aufgehört, da ich dieses Mittel anwandte!“ „Aber mein Bester, gib nur acht auf dich“, sprach Eryximachos, „statt zu reden machst du Witze und zwingst mich, deine Rede zu kontrollieren. Denn am Ende wirst du wieder nur etwas Komisches aufbringen, obwohl du doch ganz ernst bleiben kannst.“ „Du hast recht,“ lachte Aristophanes, „vergiß, was ich gesagt habe! Aber bitte, nimm es nicht zu genau, denn ich fürchte, was ich sagen werde, wird nicht komisch – das wäre ja schließlich noch ein Gewinn und käme auf die Rechnung meiner Kunst –, ich fürchte, es wird nur lächerlich!“ „O du willst mich treffen und mir so entgehen!“ erwiderte Eryximachos. „Doch nimm dich in acht und rede so, daß du Rechenschaft von deiner Rede geben kannst! Vielleicht spreche ich dich dann frei.“
„Und doch,“ begann Aristophanes, „und doch, Eryximachos, habe ich im Sinne, von Eros ganz anders als du und Pausanias zu reden. Mich dünkt, die Menschen haben die große Macht dieses Gottes noch gar nicht recht wahrgenommen; denn sie würden [28] ihm sonst Tempel und Altäre gebaut haben und die größten Opfer darbieten. Bis heute haben sie nichts von allem, was hätte geschehen sollen, getan. Wie kein anderer Gott liebt doch Eros die Menschen, Eros ist der Menschen Helfer, der Menschen Arzt und das hohe Heil jener, die an ihm gesundet sind. Und von seiner Macht will ich zu euch reden, und ihr mögt es die anderen dann lehren. Erfahret denn zuerst von der menschlichen Natur und deren Leiden!
Die menschliche Natur war ja einst ganz anders. Ursprünglich gab es drei Geschlechter, drei und nicht wie heute zwei: neben dem männlichen und weiblichen lebte ein drittes Geschlecht, welches an den beiden ersten gleichen Teil hatte; sein Name ist uns geblieben, das Geschlecht selbst ist ausgestorben. Ich sage, dieses mann-weibliche Geschlecht hatte einst die Gestalt und den Namen des männlichen und weiblichen Geschlechtes zu einem einzigen vereinigt, und heute ist uns von ihm nur der Name erhalten, und der Name ist ein Schimpfwort. Weiter, die ganze Gestalt jedes Menschen war damals rund, und der Rücken und die Seiten bildeten eine Kugel. Der Mensch hatte also vier Hände und vier Füße, zwei Gesichter drehten sich am Halse, und zwischen beiden Gesichtern stak ein Kopf, aber der Kopf hatte vier Ohren. Der Mensch besaß die Schamteile doppelt, und denkt den Vergleich für euch selbst aus: auch alles andere war demgemäß doppelt! Der Mensch ging zwar aufrecht wie heute, aber nach vorwärts und nach rückwärts, ganz wie es ihm gefiel. Und wenn er [29] laufen wollte, dann machte er's wie die Gaukler, die kopfüber Räder schlagen: er lief dann mit allen acht Gliedern, und so im Rade auf Händen und Füßen kam er allerdings schneller vorwärts als wir heute. Noch einmal, es gab einst drei Geschlechter, und das männliche hatte seinen Ursprung in der Sonne, das weibliche in der Erde, das dritte, welches den beiden ersten gemeinsam ist, hatte ihn im Mond, denn auch der Mond teilt sich zwischen Sonne und Erde. Und gleich den Gestirnen, denen sie eingeboren sind, waren sie rund, und auch ihre Bahn, wenn ihr wollt, lief im Kreise. Groß und übermenschlich war ihre Stärke, ihr Sinnen war verwegen, ja sie versuchten sich sogar an den Göttern. Was Homer von Ephialtos und Otos erzählt, sagt man auch von diesen Menschen: sie wagten den Weg zum Himmel hinauf und wollten sich an den Göttern vergreifen.
Und Zeus und alle Götter erwogen, was sie dagegen tun sollten, und waren recht in Verlegenheit, denn sie konnten weder alle Menschen töten und wie einst die Giganten mit dem Blitze das ganze Geschlecht niederschlagen – da wäre es auch mit allem Götterdienst und allen Altären vorbei – noch deren Übermut hingehen lassen. Da fiel es aber Zeus ein, und er rief: Ich habe das Mittel! Ich habe das Mittel gefunden, die Menschen leben zu lassen und doch ihrem Übermut für immer ein Ende zu machen: ich werde jeden Menschen in zwei Teile schneiden. Sie werden uns dadurch nicht nur zahmer, sondern auch von größerem Nutzen sein, denn ihre Zahl wird gerade [30] noch einmal so groß. Die Menschen werden von nun an auf zwei Beinen und nur aufrecht gehen. Sollte ihnen aber noch Übermut übrig geblieben sein, und sollten sie noch immer keine Ruhe geben, so schneide ich jeden noch einmal entzwei: sie mögen dann auf einem Beine gehen und hüpfen. Und wie Zeus sprach, so handelte er auch: er nahm die Menschen her und schnitt jeden in zwei Teile, wie man Birnen, um sie einzukochen, entzwei schneidet. Und so oft er einen entzwei hatte, ließ er ihm durch Apollon das Gesicht und den halben Hals nach der Schnittfläche zu umdrehen, damit der Mensch von nun an, indem sein Blick auf sie gerichtet ist, züchtiger sei. Auch alles andere, was durch den Schnitt wund ward, ließ Zeus durch Apollon heilen. Apollon zog also die Haut nach dem sogenannten Magen hin zusammen und band sie in der Mitte des Magens wie einen Schnürbeutel ab und ließ eine öffnung, und diese öffnung ist unser Nabel. Apollon glättete dann die vielen Falten, die dadurch entstanden waren, und bildete die Brust, indem er sich dazu eines Werkzeuges bediente, wie es die Schuster heute beim Glätten des Leders haben. Nur um den Nabel und über dem Magen ließ er einige Falten übrig; auch darüber sollte der Mensch seines alten Leidens nicht vergessen. Als nun auf diese Weise die ganze Natur entzwei war, kam in jeden Menschen die große Sehnsucht nach seiner eigenen anderen Hälfte, und die beiden Hälften schlugen die Arme umeinander und verflochten ihre Leiber und wollten wieder zusammenwachsen und starben vor Hunger [31] und wild und wirr, denn keine wollte ohne die andere etwas tun. Wenn aber nur eine Hälfte starb und die andere am Leben blieb, da suchte diese nach der toten und umarmte den Leichnam, ob sie nun auf die Hälfte eines ganzen Weibes – ich meine, was wir heute Weib nennen – oder auf die Hälfte eines ganzen Mannes stieß. Und so ging alles zugrunde. Doch da hatte Zeus Erbarmen mit dem Menschengeschlechte und schuf ein neues Mittel: Er setzte die Schamteile nach auswärts. Bisher hatten die Menschen sie rückwärts besessen und wie die Cikaden in die Erde gezeugt und aus der Erde geboren. Und indem Zeus die Schamteile also versetzte, ließ er die Menschen ineinander zeugen und aus sich selbst gebären, damit von jetzt an, wenn der Mann dem Weibe beischläft, das Geschlecht sich fortpflanze, und wenn der Mann den Mann umarmt, ihre Begierde gestillt werde und ihr Sinnen sich beruhige und sie an die Arbeit gehen und so auch für das Allgemeine sorgen. Von dieser Zeit her, Freunde, ist Eros den Menschen eingeboren und da, damit er die Menschen zu ihrer alten Natur zurückbringe und aus zwei Wesen eines bilde und so die verletzte Natur wieder heile. Wenn der Gastfreund von uns scheidet, so teilen wir mit ihm einen Würfel, und jeder behält die Hälfte, und später erkennen wir uns an den Hälften. Und jeder Mensch, möchte ich sagen, ist ein also geteilter Würfel und sucht im Leben die andere Hälfte des Würfels. Wie die Butten sind wir entzwei geschnitten, aus einer Butte sind zwei geworden. Alle Männer zunächst, [32] welche aus jenem Ganzen geschnitten sind, das früher das Mannweib hieß, lieben heute das Weib – die Ehebrecher also sind aus diesem Geschlechte, damit ihr es wißt – und aus demselben Ganzen sind natürlich auch die Weiber geschnitten, die da den Mann lieben und ihrerseits die Ehe brechen. Die Weiber dann, die aus dem alten Geschlechte des ganzen Weibes geschnitten sind, haben wenig Sinn für den Mann und fühlen sich mehr zum eigenen Geschlechte hingezogen: die lesbischen Frauen stammen aus diesem Geschlecht. Und endlich die Männer, die aus dem alten männlichen Geschlechte geschnitten sind, gehen dem Manne nach. Schon als Knaben lieben sie die Männer und sind froh, wenn sie Männer umarmen und mit Männern liegen. Gerade die mutigsten finden wir unter ihnen, da sie ja doch schon von Natur aus sozusagen die männlichsten sind. Wer sie schamlos nennt, der lügt. Denn nicht aus Schamlosigkeit handeln sie so; nein, ihr Mut, ihre Mannhaftigkeit, ihre Männlichkeit liebt eben ihresgleichen. Und das beweist es: nur sie dienen, reif und zu Männern geworden, dem Staate. Als Männer lieben sie wieder Knaben und Jünglinge und kümmern sich wenig darum, ein Weib zu nehmen und Kinder mit ihm zu zeugen; es genügt ihnen durchaus, unverheiratet nur miteinander zu leben. So also sind die Freunde und Geliebten entstanden, auch sie lieben eben nur ihr eigenes altes Geschlecht. Wenn nun einer von diesen oder jenen anderen seiner eigenen Hälfte zum erstenmal begegnet, da werden er und der andere wundersam [33] von Freundschaft, Heimlichkeit und Liebe bewegt, und beide wollen nicht mehr voneinander lassen. Aber sie, die von nun an ihr ganzes Leben beieinander weilen, sie wissen dennoch niemals und niemand zu sagen, was sie wollten, daß mit ihnen geschähe. Die sinnliche Begierde könnte doch kaum den einen an den andern mit so großer Leidenschaft binden. Ihre Seele will doch wohl etwas anderes: sie kann es nicht sagen und ahnt es nur und stammelt. Und wenn zu zweien, die beieinander liegen, Hephaistos träte mit seinen Werkzeugen und sie fragte: Was wollt ihr, Menschen, was soll aus euch hier werden? Sie würden nur verlegen und keine Antwort haben, und wenn der Gott fortführe: Wollt ihr ein Wesen sein und Tag und Nacht voneinander nicht lassen können? Wenn das euer Wunsch ist, so will ich euch zusammenschweißen, und ihr werdet ineinanderwachsen, aus zwei Dingen eines werden und euer ganzes Leben als ein einziges Wesen leben und nach dem Tode in den Hades treten wie zwei, die zusammen gestorben sind? Sagt, ob das eure Sehnsucht ist und dieses Glück sie stillt? O, niemand möchte da widersprechen und etwas anderes wollen; gleich Kindern würden alle zu hören glauben, was seit je ihr Sehnen war: mit dem Geliebten verwachsen und ein Wesen mit ihm bilden. Denn so war einst unsere alte Natur: wir waren einst ganz, und jene Begierde nach dem Ganzen ist Eros. Wir waren einst ein Wesen, und weil wir gefrevelt haben, sind wir vom Gotte gespalten worden, wie die Arkadier heute von den [34] Lakedaimoniern. Und die Gefahr besteht fort, daß wir noch einmal gespalten werden, wenn wir nicht fromm gegen die Götter sind, und daß wir dann herumgehen wie die Reliefs auf den Grabsteinen mit zersägten Nasen. Damit wir nun diesem Schicksal entgehen und jenes andere Ziel erreichen, muß jeder Mensch den anderen heißen, die Götter ehren, und Eros ist uns zu jenem Ziele Führer. Ihm soll niemand zuwiderhandeln, und wer der Götter spottet, der handelt ihm zuwider. Nur als des Gottes Freunde und ihm versöhnt, werden wir, was heute nur wenigen gelingt, unsere echten Geliebten finden. Eryximachos soll sich hier über mich nicht lustig machen und meinen, ich denke jetzt an Pausanias und Agathon. Ja, vielleicht stammen diese beiden wirklich aus dem alten männlichen Geschlecht. Ich meine aber alle Männer und Weiber und behaupte, das Menschengeschlecht könne nur heil sein, wenn wir uns in der Liebe vollenden und jeder seinen eingeborenen Geliebten findet und so zur alten Natur zurückkehrt. Und wenn das unser Ziel ist, so muß, wie wir nun einmal sind, gut sein, was diesem zunächst kommt: unter allen den Geliebten finden, der uns versteht. Und wenn wir den Gott, dem wir das verdanken, preisen sollen, so müssen wir Eros preisen, denn wie kein anderer hilft er uns hier zu uns selbst und gibt uns die sicherste Hoffnung, wenn wir den Göttern unseren frommen Sinn bewahren, uns zu unser alten Natur zurückzubringen und uns heil und selig zu machen.
[35]Da hast du nun, Eryximachos, meine Rede auf Eros; sie war anders als deine. Ich bitte dich noch einmal darum, mach dich nicht über sie lustig, denn wir müssen noch die anderen Reden hören, eigentlich nur die Reden der beiden anderen, denn Agathon und Sokrates nur sind noch übrig!“ „Diesen Wunsch will ich dir erfüllen,“ sagte Eryximachos, „du hast mir gar sehr zu Gefallen gesprochen. Ja, wenn ich nicht wüßte, wie gut Sokrates und Agathon sich auf alles, was mit der Liebe zusammenhängt, verständen, würde ich fürchten, sie wären jetzt beide in großer Verlegenheit, so viel und so verschieden ist hier über Eros gesprochen worden; doch so kann ich noch Vertrauen auf sie haben.“ Sokrates rief da: „Und du selbst hast noch dazu so tapfer gefochten, Eryximachos! Wenn du jetzt an meiner Stelle wärest, besser gesagt, wenn du dort wärest, wo ich nach Agathons Rede sein werde, würdest du wohl auch Angst haben und meine Sorge kennen.“ „O du willst mich jetzt besprechen, Sokrates,“ fiel Agathon ein, „du willst mich bezaubern, damit ich scheu werde und glaube, das Publikum setze große Hoffnungen auf meine Worte!“ „Da müßte ich aber doch vergessen haben, Agathon, daß ich gestern erst deinen Mut und hohen Sinn sah, als du mit den Schauspielern vor die Rampe tratst und einem so großen Publikum, das, um deine Worte zu hören, gekommen war, ins Auge sahst und gar nicht verlegen warst, ja das müßte ich wirklich vergessen haben, wenn ich jetzt glauben sollte, wir paar Menschen hier würden dich aufregen.“ „Ja, Sokrates, hältst du mich [36] denn für so benommen vom Theater,“ wehrte Agathon ab, „daß ich nicht wüßte, um wieviel gefährlicher als ein ganzes Publikum von Unwissenden die wenigen Klugen wären?“ „Wenn ich dich für so roh hielte, würde ich dir unrecht tun, Agathon; ich weiß sehr gut, daß dir mehr an den wenigen, die du für klug hältst, als an der großen Menge gelegen ist. Wer weiß aber, ob wir hier zu diesen wenigen gehören? Denn gestern im Theater gehörten auch wir zur großen Menge. Wenn du aber sonstwo mit anderen Klugen zusammenkämest, würdest du dich dann vor ihnen schämen, irgend etwas Törichtes zu machen, ja?“ „Natürlich!“ „Vor der Menge also schämst du dich nicht …“ Jetzt fiel aber Phaidros ein: „Ja, Agathon, wenn du Sokrates noch lange immer antwortest, wird er sich wenig um unser Thema kümmern, dann hat er jemand, dem er Fragen stellen kann, und noch dazu einen so schönen Jüngling. Ich höre ja gerne zu, wenn Sokrates sich unterhält, aber hier muß ich darauf sehen, daß die Preisreden auf Eros gesprochen werden und jeder von euch dem anderen das Wort abnehme. Denn jeder soll hier zum Preise des Gottes reden.“ „Du hast recht, Phaidros,“ sagte Agathon, „mich hält auch nichts mehr davon ab; Sokrates wird später noch viel zu sagen haben.“
„Ich will zuerst sagen, wie ich zu sprechen habe, und dann erst reden. Ihr alle vor mir habt eigentlich gar nicht den Gott, sondern nur das Heil der Menschen, die also der Gott begnadet, gepriesen. Vom Gotte selbst, der alle diese Gaben bringt, hat niemand [37] gesprochen. Und doch ist es überall die rechte Art, zuerst zu sagen, wie denn das Ding selbst aussehe, das wir überall als den Grund eines anderen finden. Und darum hättet ihr alle billig zuerst Eros selbst und dann seine Gaben preisen müssen. Ich sage euch nun, wenn je es mit Fug und ohne Schuld von einem Wesen gesagt werden darf: unter jenen heilen Göttern ist Eros der heilvollste, denn er ist der schönste und edelste! Eros ist der schönste Gott, weil er der jüngste, o Phaidros, ist, und dafür brauche ich keinen anderen Zeugen als ihn selbst, denn Eros flieht, flieht das Alter, und das Alter ist schnell und kommt schneller als nötig zu uns. Und Eros haßt es und lebt darum, Eros weicht dem Alter auf dem Wege aus und bleibt mit den Jünglingen und ist selbst ein Jüngling. Das alte Wort hat recht: Zum Gleichen gesellt sich das Gleiche. Ich stimme ja mit Phaidros in vielem überein, doch muß ich ihm widersprechen, wenn er sagt, Eros sei älter als Kronos und Japetos; nein, Phaidros! Eros ist der jüngste der Götter und von ewiger Jugend, denn jene alte Not der Götter, von der Hesiodos und Parmenides erzählen, hat das Schicksal geschaffen und nicht die Liebe – wenn Hesiodos und Parmenides überhaupt die Wahrheit wissen. Die alten Götter würden einander nicht verschnitten und gebunden haben und das Grausame damals würde nicht geschehen sein, wenn Eros unter den Göttern gewesen wäre; Eros hätte Freundschaft und Frieden unter sie gebracht, wie er sie heute bringt, da er der Götter König ist. Jung ist also der Gott, und seine Gestalt [38] von zarter Bildung; nur ein Dichter wie Homer könnte sie schildern. Homer sagt von Ate, sie sei eine Göttin und zart gewesen; ihre Füße, erzählt er, seien zart gewesen…
Und, wie ich glaube, an einem schönen Zeichen läßt uns der Dichter die Zartheit erkennen: die Göttin schreitet nie auf harten Gründen, sie schwebt oben sanft dahin. Und ebendort müssen wir auch Eros' Zartheit suchen: Auch Eros schreitet nicht auf der Erde und nicht über die Köpfe, – die wären ihm wohl zu hart; nur dort, wo alles ganz sanft ist, wandelt und weilt der Gott. In der Gesinnung und in den Seelen der Götter und Menschen baut er sein Zelt, aber auch hier nicht in allen Seelen: wo er auf harten Sinn stößt, dort flieht Eros, und nur in der sanften Seele will er wohnen. Und da er also immer und ganz nur am zartesten haftet, muß er selbst wohl das zarteste Wesen sein. Ich wiederhole, Eros ist der jüngste und zarteste Gott; und Eros ist auch geschmeidig: denn sonst vermöchte er kaum sich durch alles zu schlingen und winden und heimlich in die Seelen zu treten und heimlich von den Seelen scheiden.
Eros ist ebenmäßig, seine schöne Haltung zeigt es, und diese zeichnet, wie wir wissen, den Gott vor allem aus. Mißbildung und die Liebe vertragen einander nicht. Eros ist von schöner Farbe, denn nur vom Blühenden lebt er. Wo die Körper und die [39] Seelen nicht blühen oder die Blüten verlieren, dort kommt er nicht hin, und nur, wo es blüht und duftet, dort läßt sich Eros nieder, dort bleibt der Gott.
Das mag nun von der Schönheit des Gottes genügen, es bliebe ja noch viel zu sagen übrig; jetzt aber muß ich von seiner Tugend reden. Und da ist es gleich seine größte Tugend, daß er weder Gott noch den Menschen unrecht tut und daß ihm von niemand Unrecht widerfährt. Eros leidet keine Gewalt, die Gewalt haftet nicht an der Liebe, und Eros tut niemand Gewalt an. Freiwillig dient ihm alles, und wo immer der eine dem anderen willig dient, da nennen das „die Gesetze, die Könige des Staats“ gerecht. An der Gerechtigkeit nun hat die Enthaltsamkeit den größten Teil, und Enthaltsamkeit heißt überall die Begierden und sich in der Freude beherrschen: nun ist aber keine Freude stärker als die Freude der Liebe. Wenn also die anderen Freuden schwächer sind, so wären sie ja von Eros beherrscht, und Eros ist ihr Herr, und indem er die Freuden und Begierden wirklich beherrscht, zeigt er seine Enthaltsamkeit. Seiner Mannhaftigkeit weiter „kann selbst Ares nicht widerstehen“. Denn nicht Ares bindet Eros, sondern Eros, die Liebe der Aphrodite, hält Ares, wie die Sage geht. Und wer zu binden weiß, ist wohl stärker als der Gebundene, und wer den Mutigsten bändigt, muß wohl auch im Mute des Mutigsten Meister sein. Ich habe also von der Gerechtigkeit, der Enthaltsamkeit und Mannhaftigkeit des Gottes gesprochen, jetzt bleibt mir noch seine Weisheit, und [40] da will ich versuchen, nichts zu übersehen. Damit ich zunächst auch meine Kunst ehre, wie Eryximachos seine geehrt hat – Eros ist ein so weiser Dichter, daß er auch uns zu Dichtern macht. Denn jeder wird zum Dichter, wenn der Gott ihn berührt, „wie fremd er auch früher den Musen war“. Und das mag uns dafür zeugen, daß Eros vor allem der große Schöpfer der ganzen Musik ist. Denn was jemand selbst nicht besitzt und weiß, wie vermöchte er dies dem anderen zu geben, den anderen zu lehren! Und weiter, wer wird leugnen, daß die Schöpfung alles Lebendigen die eigenste Weisheit des Gottes sei, die große Weisheit, durch die alles Leben wird und wächst? Und endlich, wissen wir nicht, daß auch in der Beherrschung der Künste nur der glänzt und bewundert wird, den Eros unterwiesen hat, und daß jeder im Schatten und ohne Ruhm bleibt, den der Gott nicht berührt hat? Apollo hat die Kunst des Bogenschießens, die Kunst des Sehers und des Arztes erfunden, aber die Freude, die Liebe hat ihn dahin geführt, so daß auch er ein Schüler des Eros ist; und die Musen haben die Musik, und Athene hat das Weben, Hephaistos das Schmieden, und Zeus „die Macht über Götter und Menschen“ von Eros gelernt. Wo alles Wirken der Götter durch Eros geordnet wurde, da ward auch alles schön; denn ins Häßliche kommt Eros nicht. Früher, wie ich schon sagte, geschah viel Furchtbares unter den Göttern, denn das Schicksal war König. Als aber unser Gott geboren wurde, so kam, weil sie die Schönheit liebten, die Güte [41] unter Götter und Menschen. So scheint mir, Phaidros, Eros selbst das Beste und Schönste aller Wesen und allen Wesen die Ursache alles Guten und Schönen zu sein. Mir fallen da noch zwei Verse ein. Eros ist es, der da bringt:
So nimmt uns denn Eros alles Fremde und gibt uns alles Eigene wieder; wo wir uns alle finden, dorthin führt Eros die Wege, er ist der Herold und führt die Festzüge und Chöre und uns, so wir zu den Opfern schreiten. Eros reißt alles Wilde aus und macht uns sanft; er schenkt uns den guten Willen und raubt dem Herzen allen Streit; Eros ist gnädig, ihn schauen die Weisen und lieben die Götter; er ist der Neid der Unglücklichen und der Schatz aller, die sich ins Glück geteilt. Eros ist der Schöpfer aller Zärtlichkeit, Üppigkeit, Anmut und Sehnsucht im Menschen, er kennt alles Gute und sieht vom Bösen weg. In allen Mühen, in jeder Furcht und jedem Begehren, im Worte – da weiß er sicher zu lenken, da ist Eros die Hilfe und der Retter. Eros ist die Ordnung unter den Göttern und Menschen, der herrlichste und tapferste Held, und ihm müssen die Menschen folgen, und alle müssen in den Gesang stimmen, den er, Götter- und Menschensinn bezaubernd, singt.
Das nun, Phaidros, ist die Rede, die ich dem Gotte darbringe; ich war hier leicht und dort auch ernst, so weit ich es eben konnte.“
[42]Da Agathon seine Rede also schloß, war der Beifall laut, so ganz seiner selbst und des Gottes würdig, schien der Jüngling allen gesprochen zu haben. Und Sokrates sah Eryximachos an: „O Sohn des Akumenos, war meine Angst also töricht und hat meine Angst nicht vorausgesehen, daß Agathon herrlich reden und mich in große Verlegenheit bringen würde?“ „O ja, daß Agathon schön sprechen werde, das hast du wohl richtig vorausgesehen,“ erwiderte Eryximachos, „aber darum glaube ich noch immer nicht, daß er dich in Verlegenheit bringen könne.“ „Ja, aber du Glücklicher,“ sprach Sokrates, „wie soll ich, wie soll ein anderer gegen dessen schöne, reiche Worte aufkommen; es war ja natürlich nicht alles gleich wunderbar, aber wer von uns ist nicht förmlich erschrocken, da er am Schlusse alle die schönen Namen und Ausdrücke vernahm? Als mir da plötzlich der Gedanke kam, ich würde gar nicht imstande sein, auch nur annähernd so Schönes zu sagen, wäre ich vor Scham beinahe durchgebrannt, wenn ich nur irgendwie hätte hinauskönnen. Agathons Rede erinnerte mich ja an Gorgias, und mir ging es schon wie jenem Manne im Homer und ich fürchtete, Agathon würde zuletzt seine gewaltigen Worte wie das Gorgonenhaupt meinen Worten entgegenhalten und mich zum stummen Steine machen. Und ich sagte zu mir: Lächerlich warst du, Sokrates, lächerlich, als du nicht nur versprachst, mit ihnen Eros zu preisen, sondern sogar behauptetest, dich gerade auf die Liebe zu verstehen, während du doch von dem einen so wenig wie von dem anderen etwas [43] weißt. In meiner Einfalt habe ich nämlich geglaubt, wer ein Ding preisen wolle, der brauche nur die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit wenigstens müsse zugrunde liegen, und dann erst dürfe man unter den schönen Worten wählen und sie so richtig wie möglich setzen. Und darum nur, weil ich eben die Wahrheit wüßte, bildete ich mir sogar ein, besonders gut reden zu können. Doch wie ich jetzt erfuhr, verlangt man das gar nicht von einer guten Lobrede; im Gegenteil: es scheint, man müsse von irgend einem Dinge nur gleich alles Schönste und Beste behaupten, ob es nun wirklich in ihm sei oder nicht sei. Wenn es gelogen ist, so macht es ja nichts. Ich glaube sogar, ihr habt es untereinander abgemacht: jeder von uns solle nicht Eros preisen, nein, sondern sich das nur einbilden! Denn nur deshalb, zu diesem Zwecke scheint ihr alles Mögliche hergezogen und es Eros einfach beigelegt und immer nur gerufen zu haben: Eros ist so und so, und Eros ist die Ursache davon und jener Dinge, damit am Schlusse dann der Gott so schön und so gütig wie möglich aussehe. Und es ist auch selbstverständlich, daß jenen, die von allem nichts verstehen – nicht den Wissenden – das Lob dann gar schön und feierlich klinge. Von dieser Art nun ein Ding zu preisen, habe ich allerdings nichts gewußt, und nur darum konnte ich anfangs euch versprechen, meinen Teil beizutragen. Aber meine Zunge versprach es nur, und nicht der Kopf. Ich mag jetzt davon nichts wissen. Denn so preise ich die Dinge nicht, nein! Ich wäre es ja gar nicht imstande. Ich will [44] ja nur, wenn ihr wollt, die Wahrheit, meine Wahrheit, wie ich sie verstehe, sagen; ich will mich gar nicht mit euch vergleichen, da würde ich wohl nur ausgelacht werden. Phaidros, kannst du also auch eine Rede brauchen, die über Eros nur die Wahrheit sagt und alle Namen und Worte so setzt, wie sie mir gerade kommen?“ Phaidros und die anderen hießen Sokrates, nur so zu reden, wie er es tun zu müssen glaube. „Aber noch etwas, Phaidros,“ sagte Sokrates, „erlaubst du diesmal, daß ich an Agathon einige kleine Fragen richte, ich muß gerade mit ihm mich erst über manches einigen, bevor ich beginne?“ „Natürlich, frage Agathon nur aus!“ Und so begann denn Sokrates seine Fragen: „Agathon, du scheinst deine Rede richtig disponiert zu haben: man müsse zuerst sagen, wer und wie Eros denn eigentlich sei, und dann dürfe man erst von dessen Wirken reden. Dieser Anfang hat mir gefallen. Und da du dann so schön, so groß von dem Wesen des Gottes sprachst, so antworte mir nur darauf: Eros, die Liebe – ist dieser Gott, so wie er nun einmal da ist, zu irgend etwas anderem in Beziehung oder nicht? Ich will ja selbstverständlich nicht nach seinem Vater, nach seiner Mutter fragen; es wäre ja lächerlich, meine Frage so zu stellen, wenn ich wissen wollte, ob Eros von einem Vater, einer Mutter stamme – nein, ich meine es so, wie wenn jemand dich nach dem Vater fragte und fragte: ist dieser Vater der Vater zu etwas oder nicht? Du würdest mir natürlich antworten: der Vater ist der Vater eines Sohnes, einer Tochter. Habe ich nicht recht?“ „Ja, natürlich,“ antwortete Agathon. [45] „Und dasselbe gilt von der Mutter, von dem Begriff der Mutter, nicht wahr? Damit du mich aber noch besser verstehst, antworte mir auch darauf: Wenn ich nach dem Bruder fragte: der Bruder ist doch immer der Bruder eines anderen: eines Bruders, einer Schwester? Da stimmst du mir doch auch bei. Und jetzt versuche meine Fragen nach Eros zu beantworten: Ist Eros also die Liebe zu etwas anderem oder nicht?“ „Ja natürlich, Eros ist die Liebe zu etwas anderem!“ „Gut, das merke dir vorläufig und antworte mir weiter: Begehrt Eros nach dem, was er liebt, oder begehrt er nicht danach?“ „Eros begehrt danach!“ „Natürlich, und weiter: Besitzt Eros das, wonach er begehrt, oder besitzt er es nicht?“ „Er besitzt es wahrscheinlich nicht!“ „Vielleicht ist es nicht nur wahrscheinlich, sondern durchaus notwendig, daß, wer begehrt, nur das begehrt, was ihm fehlt, und umgekehrt! Mir scheint das durchaus selbstverständlich, dir nicht auch, Agathon?“ „Ja!“ „Also! Ein Großer will doch nicht noch groß, ein Starker nicht noch stark sein. Ihm könnte doch nicht das noch fehlen, was er schon ist. Denn wenn ein Starker noch stark, ein Schneller schnell, ein Gesunder gesund sein wollte, so müßten wir dann glauben, daß sie und ihresgleichen immer noch das begehren, was sie schon besitzen oder was sie schon sind. Damit wir aber hier sicher gehen, ich sage das darum – sie alle, Agathon, müssen das, was sie besitzen, in der Gegenwart besitzen, ob sie wollen oder nicht, und wer würde da noch das begehren, was er schon [46] besitzt? Wenn uns einer also sagen sollte: Ich bin gesund und will gesund sein, oder ich bin reich und will reich sein, ich begehre das kurz, was ich schon besitze, so müßten wir ihm doch erwidern: ‚Mensch, da du nun einmal Reichtum erworben hast und gesund und reich bist, so willst du doch wohl nur, daß dir das alles, was du in der Gegenwart besitzest, auch in der Zukunft bleibe. Denke darüber nach, ob du es so meintest?‘ Da wirst du mir doch recht geben, Agathon?“ „Ja!“ „Wir begehren also nach dem, was uns nicht zu eigen ist und was wir nicht besitzen, wenn wir es uns für die Zukunft bewahrt haben wollen?“ „Entschieden!“ „Jeder begehrt also nur nach dem, was ihm nicht zu eigen, nicht gegenwärtig ist; und was wir nicht besitzen, was wir nicht sind, kurz das also, was uns noch fehlt, bestimmt unsere Begierde und die Liebe! Einigen wir uns nun noch einmal: Eros ist also die Liebe, zunächst zu irgend etwas anderem überhaupt, und dann, näher bestimmt, die Liebe zu dem, was ihm noch fehlt, nicht wahr?“ „Ja!“ „Erinnerst du dich noch daran, wozu du Eros in deiner Rede in Beziehung setztest? Ich will es dir, wenn du willst, ins Gedächtnis zurückrufen. Wenn ich nicht irre, sagtest du: Das Dasein und Wirken der Götter ist durch die Liebe zu allem Schönen bestimmt; es gibt keine Liebe zum Häßlichen! Sagtest du nicht so?“ „Ja, das waren meine Worte.“ „Und da hattest du sehr richtig gesprochen. Und darum wäre also Eros die Liebe zur Schönheit!“ „Natürlich!“ „Sind wir aber nicht eben darin übereingekommen, [47] daß wir nur, was uns noch fehlt und was wir noch nicht besitzen, lieben?“ „Ja!“ „Es fehlt also Eros die Schönheit, Agathon; Eros besitzt nicht die Schönheit!“ „Ja!“ „Nun also, Agathon! Kannst du noch sagen, daß der, dem die Schönheit fehlt, schön sei?“ „Nein!“ „Du gibst mir also recht, wenn ich sage, Eros sei nicht schön?“ „Ich fürchte, Sokrates, ich habe nichts von allem, worüber ich vorhin sprach, verstanden!“ „Aber du hast dennoch sehr schön vorhin gesprochen, Agathon! Noch eine kleine Frage: Scheint dir nicht auch das Gute schön zu sein?“ „Ja!“ „Wenn also Eros alles Schöne fehlt und das Schöne auch gut ist, so muß Eros auch alles Gute fehlen. Nicht?“ „Ach, Sokrates, ich kann dir nicht widersprechen, es ist alles so, wie du es sagst.“ „Nein, geliebter Agathon, du kannst eben nur der Wahrheit nicht widersprechen; auf Sokrates kommt es da gar nicht an.“
„Nun aber will ich dich in Ruhe lassen, Agathon! Meine Rede über Eros habe ich von Diotima, einer Frau aus Mantineia, gehört; sie war darin und in vielen anderen Dingen weise, es war dieselbe Diotima, die damals den Athenern, als diese zur Abwehr der Pest Opfer feierten, von den Göttern einen Aufschub der Seuche auf zehn Jahre erwirkte; wenn auch ich heute um die Liebe weiß, so hat Diotima es mich gelehrt, und ihre Worte will ich euch im Anschlusse an das, worin Agathon und ich uns oben geeinigt haben, wiedergeben, so gut ich es noch kann. Zunächst also, Agathon, will auch ich sagen, wer und welcher [48] Art Eros sei, und dann werde ich erst von seinen Werken reden. Ich glaube, ich erzähle euch alles am besten so, wie die fremde Frau damals durch Fragen mich es lehrte. Denn wisset, ich sprach zu ihr zuerst genau so, wie du, Agathon, zu mir gesprochen hast: ich behauptete, Eros sei ein großer Gott und er sei schön, und da widerlegte sie mich mit denselben Worten, mit denen ich Agathon widerlegen mußte, und sagte, der Gott sei weder, wie ich es meine, schön noch gut. Ich rief da gleich: ‚Wie redest du nur, Diotima, Eros wäre also häßlich und böse?‘ Doch sie antwortete: ‚Du lästerst, Sokrates, lästere nicht! Glaubst du, was nicht schön sei, müsse darum gleich häßlich sein?‘ ‚Nein!‘ ‚Oder, was nicht weise sei, müsse darum gleich töricht sein? Hast du denn nie erfahren, daß etwas zwischen der Weisheit und der Unwissenheit da sei?‘ ‚Was ist dieses?‘ ‚Wenn einer zwar richtig wahrnimmt, aber keinen Grund dafür weiß, nennst du das schon Verständnis? Wie könnten wir das verstehen, wozu wir keinen Grund wissen! Und doch ist das noch nicht Unwissenheit: wer das Richtige trifft, kann doch nicht unwissend sein. Wir müssen es eine richtige Meinung, Wahrnehmung nennen, und diese liegt immer zwischen dem Verständnis und der Unwissenheit!‘ ‚Da hast du wohl recht, Diotima!‘ ‚Zwinge mir also ja nicht mehr das, was nicht schön ist, häßlich und, was noch nicht gut ist, böse zu sein, und glaube noch weniger, daß Eros häßlich und böse sei, weil er, wie du es ja jetzt zugibst, weder schön noch gut ist; auch Eros ist etwas [49] in der Mitte von beiden und zwischen schön und häßlich und zwischen gut und böse!‘
‚Aber alle‘, entgegnete ich da, ‚sind doch darin einig und nennen Eros einen mächtigen Gott!‘ ‚Wer nennt ihn so, Sokrates, sind es die Wissenden oder die Unwissenden?‘ ‚Alle, Diotima, ich sage, alle!‘ Und jetzt lachte sie: ‚Gilt also Eros auch jenen als ein mächtiger Gott, die da behaupten, Eros sei überhaupt kein Gott?‘ ‚Wer behauptet es denn?‘ ‚Der eine bist du, Sokrates, und der andere ich!‘ ‚Ich verstehe dich nicht!‘ ‚Und es ist doch so einfach! Sage, Sokrates: heißest du nicht alle, alle Götter heil, würdest du den Mut haben zu behaupten, dieser oder jener unter den Göttern wäre nicht heil?‘ ‚Nein, bei Zeus, niemals!‘ ‚Und nennst du weiter nicht jene Wesen heil, die alles Gute, alles Schöne besitzen?‘ ‚Ja, natürlich!‘ ‚Du hast ja aber doch eingesehen, daß Eros das Gute und Schöne begehre, weil er beides nicht besitzt.‘ ‚Ja!‘ ‚Wie könnte also der ein Gott sein, dem kein Teil am Schönen und am Guten ward? Wie wäre das möglich?‘ ‚Es ist nicht möglich, Diotima!‘ ‚Sieh, also auch du nennst Eros nicht Gott!‘
‚Was aber ist dann Eros, wenn er kein Gott ist? Gehört Eros zu den Sterblichen?‘ ‚O nein!‘ ‚Ja, was ist er, sprich?‘ ‚Wir sahen es doch eben, Eros sei in der Mitte; Eros ist in der Mitte zwischen dem Unsterblichen und dem Sterblichen!‘ ‚Und?‘ ‚Ein Dämon, Sokrates, ist Eros, ein großer Dämon, ein Heiland, und alles Dämonische, alles Heilende lebt zwischen Gott und Mensch!‘ ‚Und wo ist dann seine Macht?‘ ‚Der Dämon [50] ist immer der Bote: er bringt den Göttern das Flehen und die Opfer der Menschen, und er kündet den Menschen, was die Götter sie heißen, und er kündet die Gnade der Götter, der Heiland ist in der Mitte und er füllt die Kluft zwischen den Unsterblichen und den Sterblichen, und das All ist durch den Heiland gebunden. Durch ihn kommt alles Schauen den Sehern, und durch den Heiland gehen die Opfer und Weihen! Es mischt sich ja nie der Gott mit dem Menschen: durch den Dämon verkehren Götter mit Menschen und durch den Heiland reden Götter zu Menschen: zu den Wachen und dann, wenn die Menschen der Schlaf umfängt. Wer das schon begreift, in dem ist der Heiland; die anderen alle, die da Künste können und Fertigkeiten haben, sind ja nur Handwerker. Und es gibt der Heilenden viele, und sie sind vielfacher Art, und einer von ihnen ist Eros!‘ ‚Und hat Eros einen Vater, Diotima, eine Mutter?‘ ‚Das ist lang, aber ich will es dir erzählen: Da Aphrodite geboren wurde, feierten die Götter deren Geburt und hatten ein großes Mahl, und mit den Göttern saß auch der Reichtum, der Sohn der Erfindsamkeit. Da sie nun gegessen hatten, kam die Armut und wollte etwas von dem Überflusse haben und blieb vor der Tür stehen, gleich den Bettlern. Nun geschah es, daß der Reichtum zu viel vom Nektar getrunken hatte – es gab ja damals noch keinen Wein – und daß er schwer und berauscht in des Zeus Garten ging und dort einschlief. Und das gab jetzt der Armut ihre eigene List ein: sie dachte sich, weil ich arm bin, so will ich vom Reichtum ein Kind [51] haben, und die Armut legte sich zum Reichtum, und die Armut empfing vom Reichtum den Eros. Und weil nun Eros am Geburtstage der Aphrodite gezeugt wurde, so ist er jetzt deren Diener und Herold, und da Aphrodite schön ist, so ist Eros von Natur aus in alles Schöne verliebt. Dann aber, weil Eros der Sohn des Reichtums und der Armut ist, so hat er beider Natur und Zeichen. Eros ist seiner Mutter Sohn und darum ganz arm und gar nicht weich und schön, wie viele meinen; o nein, Eros ist hart und dürr und läuft barfuß herum und hat kein Dach, das ihn schützte; auf der nackten Erde ohne Lager muß er schlafen; vor allen Türen triffst du ihn, auf den Straßen unter freiem Himmel liegt er: Eros hat der Mutter Art, und die Armut läßt nicht von ihm. Dann aber ist Eros auch seines Vaters Sohn und ist, wie dieser, voll List nach allem, was schön ist und edel; er ist kühn und frech und stark, ein gewaltiger Jäger und er kann die Netze knüpfen und die Eisen stellen; Eros will immer Gründe und weiß zu raten; sein ganzes Leben lang philosophiert er und kann verhexen und zaubern und ist ein großer Sophist. Da er nun nicht Gott und nicht Mensch geboren ist, so blüht er bald und ist voll Leben, bald ist er müde und stirbt hin, und das alles oft an demselben Tage; aber immer wieder lebt er auf, denn der Vater steckt in ihm. Was er heute erwirbt, das verliert er morgen, und so ist Eros nicht reich und nicht arm. Und er ist immer zwischen der Weisheit und der Torheit in der Mitte, ich meine das so: Von den Göttern ist [52] niemand das, was wir Philosoph nennen, und kein Gott hat den Wunsch, weise zu werden. Denn die Götter sind ja weise, und jeder, der schon weise ist, ist kein Philosoph. Aber auch die Unwissenden dürfen nicht Philosophen heißen, auch sie haben nicht den Wunsch, weise zu werden. Denn das gerade ist das Bittere an der Torheit: der Tor ist weder schön, noch gut, noch verständig, und dennoch hält er sich dafür. Der Tor hat nie den Wunsch nach dem, was ihm fehlt, da er der Meinung ist, es fehle ihm nichts.‘ ‚Und wer sind nun, Diotima, die Philosophen, wenn es weder die Weisen noch die Toren sein können?‘ ‚Das weiß jetzt doch jedes Kind, Sokrates: die Philosophen sind eben auch zwischen beiden, und zwischen diesen ist dann auch Eros. Die Weisheit strebt nach der letzten Schönheit, und Eros ist die Liebe zu allem Schönen: es liebt Eros also auch die Weisheit, und darum ist Eros ein Philosoph, Sokrates, ja, ja, ein Philosoph, denn der Philosoph ist nicht weise und nicht unwissend und ist zwischen den Weisen und den Toren in der Mitte. Und auch das ist nur das Blut in Eros: denn sein Vater war weise und wußte sich zu helfen, und seine Mutter war arm und töricht. Das und nur so, Freund, ist die Natur des Heilands; was du für Eros gehalten hast, das war nichts. Nach allem, was du mir sagtest, mußt du gemeint haben, Eros sei alles Geliebte und nicht der, welcher liebt. Und darum erschien dir Eros von so vollkommener Schönheit zu sein. Denn, was wir lieben, das ist ja natürlich immer schön und zart und [53] vollendet und selig. Der aber, welcher liebt, ist anderer Art, und ich habe dir sein Bild gegeben.‘ ‚Und du hast wahr von ihm gesprochen, Gastfreund,‘ sprach ich.
‚Wenn das nun Eros ist, welchen Nutzen haben dann die Menschen von diesem Heiland?‘ ‚Auch darüber, Sokrates, will ich dich aufzuklären versuchen. Wie ich ihn dir beschrieb, so ist Eros, so wurde er geboren, und sein Begehren ist – so sagtest du doch – das Schöne. Wenn man uns nun jetzt fragte: Sokrates und Diotima, wie und warum aber begehrt Eros das Schöne? Nein, ich will noch bestimmter sein und fragen: Was will der Liebende von dem Schönen, das er begehrt?‘ ‚Er will es besitzen,‘ antwortete ich. ‚Ja, er will es besitzen; aber noch eine Frage mußt du mir beantworten: Was ist dem zu eigen geworden, der das Schöne besitzt?‘ ‚Auf diese Frage kann ich dir nicht gleich antworten!‘ ‚Nun, wenn ich statt des Schönen das Gute setzte und dich fragte: Sokrates, es liebt einer das Gute, was, glaubst du, will er mit dem Guten?‘ ‚Er will, daß ihm das Gute zu eigen werde!‘ ‚Und wie ist der Mensch, dem das Gute zu eigen wurde?‘ ‚Darauf kann ich dir schon leichter antworten: Er ist heil!‘ ‚Ja, er ist heil, heil, und wer durch den Besitz des Guten heil geworden ist, der ist es wahrhaft und vollendet, und wir brauchen nicht noch zu fragen, warum er das Heil gewollt hat. Denn hier ist die Frage zu Ende.‘ ‚Ja!‘ ‚Und glaubst du, daß dieser Wille, diese Liebe allen Menschen gemeinsam sei, und daß alle an dem Guten teilhaben wollen?‘ ‚Ja, diese Liebe ist allen Menschen gemeinsam!‘ [54] ‚Müßten wir also darum nicht sagen, daß alle Menschen lieben, wenn alle dasselbe und immer lieben, oder soll es weiter heißen, diese hier lieben, jene dort lieben nicht?‘ ‚Mir war das nie ganz klar!‘ ‚Es wird dir klar werden: denn von dem großen Begriffe Liebe nehmen wir immer nur einen Teil und geben dem Teil den Namen des Ganzen und nennen ihn Liebe; das übrige findet dann andere Namen!‘ ‚Wie ist das?‘ ‚So – du weißt doch, daß der Begriff Schöpfung sehr weit ist. Wer irgend ein Ding aus dem Nichts zum Dasein bringt, der hat das Ding geschaffen, und so ist die Arbeit in allen Künsten ein Schaffen, und alle Meister sind Schöpfer!‘ ‚Ja, da sprichst du wahr!‘ ‚Und doch heißen sie nicht so, sondern haben andere Namen, und nur einem Teil, dem Werke der Musiker und Dichter, wird der Name des Ganzen, Schöpfung, zugesprochen. Und nur ihr Werk heißt Schöpfung, und nur diese Künstler Schöpfer. Ein gleiches gilt nun von dem Begriff der Liebe. Im allgemeinen ist zwar alles Streben nach dem Guten, alles Streben nach dem Heile Liebe, aber die Menschen wollen das Gute und das Heil eben auf vielen eigenen Wegen finden: der eine will es, indem er viel Geld verdient, der andere indem er seinen Körper bildet, der dritte als Philosoph; und von diesen allen sagt eigentlich niemand, daß sie lieben, und niemand nennt sie verliebt. Und nur von jenen sagt man es, und nur jene heißen so und haben den Begriff des Ganzen, die eben mit allem Ehrgeiz nach jenem einzigen Ziele streben.‘ ‚Ich glaube, du [55] hast recht!‘ ‚Es heißt so oft unter uns: nur wer seine eigene Hälfte sucht, liebt. Ich aber sage dir, die Liebe will nicht die eigene Hälfte und die Liebe will nicht das eigene Ganze, wenn beides, Freund, nicht ein Gutes ist. Die Menschen schneiden sich ja die eigenen Hände und die eigenen Füße weg, wenn die eigenen Hände und die eigenen Füße sie ärgern. Nein, Sokrates, die Menschen mögen das Eigene nicht mehr als das Fremde, es sei denn, daß jemand das Gute ein Eigenes und das Böse ein Fremdes heiße. Denn nur das Gute und nichts anderes als das Gute lieben die Menschen. Ist das nicht auch dein Glauben, Sokrates?‘ ‚Bei Zeus, ja, das ist auch mein Glauben!‘ ‚Aber auch hier dürfen wir nicht einfach behaupten: die Menschen lieben das Gute. Auch hier müssen wir hinzusetzen: die Liebe der Menschen will das Gute, die Tugend besitzen, nicht wahr?‘ ‚Ja!‘ ‚Und sie will es nicht nur heute und morgen haben, die Liebe will es ewig besitzen!‘ ‚Ja!‘ ‚Ich fasse also zusammen und sage: die Liebe der Menschen ist das Streben nach dem Besitz des Guten, nach der Tugend.‘ ‚Und damit hast du eine große Wahrheit ausgesprochen!‘
‚Wenn, Sokrates, das also die Liebe ist, wie folgen aber die Menschen der Liebe, oder wie wirkt sie in den Menschen, wozu spannt die Liebe sie? Worin äußert kurz sich die Liebe, kannst du mir das jetzt sagen?‘ ‚Wenn ich das wüßte, würde ich ja nicht vor deiner Weisheit, Diotima, staunen und zu dir gekommen sein, um von ihr zu lernen.‘ [56] ‚So will ich dir auch das sagen. Die Liebe ist das Zeugen in dem Schönen, das Zeugen, Sokrates, in schönen Körpern und in edlen Seelen, verstehst du mich?‘ ‚Du sprichst wie ein Orakel, und ein Seher nur vermöchte dich zu deuten, Diotima; ich verstehe dich nicht!‘ ‚So will ich deutlicher sein. Allen Menschen reift im Leibe und in der Seele der Samen, und es kommt die Zeit, da die Natur in uns zeugen will. In das Häßliche aber kann die Natur nicht den Samen legen, und nur im Schönen will sie zeugen. Das Zeugen und die Geburt, Sokrates, beides ist ein Göttliches in uns, und unsterblich sind alle sterblichen Geschöpfe, so sie zeugen und gebären. In dem nun, was ihm widerspricht, vermag das Göttliche nicht zu zeugen, und das Häßliche lebt wider alles Göttliche, und nur das Schöne darf und will sich ihm einen. Und darum ist die Schönheit auch Geburtsgöttin, und die Schönheit entbindet. Wenn also einer, dessen Samen voll ist, einem Schönen begegnet, so ist die Sehnsucht hell und die Begierde frei in ihm, und er zeugt die neue Geburt. Vor dem Häßlichen aber wird sein Blick trübe und der Mensch ist matt und zieht sich in sich zurück und rollt sich ein wie ein Tier und will nicht zeugen und will nicht gebären und verhält den Samen und verhält die Frucht und leidet. Denn in dem, dessen Samen voll und dessen Frucht reif ist, lebt das Begehren nach dem Schönen, weil nur das Schöne seine Brunst löscht und seine Wehen stillt. Die Liebe will also nicht eigentlich das Schöne, so wie du es meinst, [57] Sokrates?‘ ‚Sondern?‘ ‚Die Liebe will im Schönen zeugen und das Schöne gebären!‘ ‚Jetzt verstehe ich dich!‘ ‚Ja, so ist es auch. Und warum, frage ich weiter, will die Liebe im Schönen zeugen und das Schöne gebären? Weil ewig und unsterblich alles Sterbliche ist, so es gebiert und zeugt. Und weiter: wenn die Liebe das Gute ewig besitzen will, so muß sie mit dem Guten auch die Unsterblichkeit begehren. Und es verlangt auch, Sokrates, die Liebe nach Unsterblichkeit, die Liebe verlangt danach: das folgt aus allem, was wir gesagt haben.‘
So lehrte mich die hohe Frau, so oft sie von der Liebe sprach, und einmal stellte sie mir folgende Frage: ‚Sokrates, was hältst du nun für die Ursache dieser Liebe, dieses großen Begehrens in der Natur? Hast du nicht auch schon beobachtet, wie aufgeregt und wild die Tiere sind, wenn sie zeugen und gebären wollen, wie alles, was da kriecht und fliegt, dann wie von einer Krankheit befallen ist? Hast du nie die Wollust beobachtet, mit der Tiere sich begatten, und wie die Weibchen, wenn sie geboren haben, alle Liebe für ihre Brut haben, wie die Schwächsten gegen die Stärksten ihre Brut verteidigen, ja für sie sterben können, wie diese Hunger leidet, damit nur die Jungen Nahrung haben, das alles und anderes wirst du doch schon beobachtet haben? Die Menschen könnten ja dasselbe nur aus Vernunft tun: warum ist aber den Tieren diese Liebe gegeben, kannst du mir das sagen?‘ Da ich erwiderte, ich wüßte es nicht zu sagen, rief sie: ‚Und du willst gerade von der Liebe viel verstehen, [58] und weißt das nicht!‘ ‚Aber darum bin ich ja zu dir gekommen, Diotima; ich weiß ja, daß ich noch Lehrer brauche. Nenne du mir also die Ursache!‘ ‚Wenn du dich an das, was wir über das Wesen der Liebe vereinbart haben, zu halten weißt, so wirst du auch das folgende verstehen. Wir sagten dort, die sterbliche Natur suche, so weit es ihr möglich ist, zu dauern, unsterblich zu sein. Nun aber vermag die Natur nur dadurch zu dauern, daß sie stets das Alte einem Neuen zuliebe verläßt. Wo es immer heißt: hier lebt das Lebendige und hier bleibt es sich gleich, dort verändert es sich trotzdem fort und fort. Es trägt ja auch der Mensch von der Jugend bis ins Alter denselben Namen. Er trägt denselben Namen, trotzdem er sich stets verändert, erneut, die Haare, am Fleisch, am Blut, an der Kraft der Knochen verliert. Und was hier am Leibe, geschieht dort an der Seele: die Sitten, Gesinnungen, Meinungen, Begierden, Freuden, Schmerzen bleiben nie dieselben; hier gibt der Mensch Altes auf und dort gewinnt er Neues. Und was noch viel sonderbarer, ja ungelegener erscheint: nicht nur von den Kenntnissen sind die einen heute für uns lebendig und die anderen morgen tot, und wir selbst verändern uns in und an unseren Kenntnissen, sondern auch jede einzelne Kenntnis erfährt da dasselbe. Wir studieren doch nur darum, weil wir voraussetzen, daß unsere Kenntnisse sich immer wieder verlieren. Wir vergessen, und erst Besinnung und Arbeit bringen das Verlorene wieder und – wie soll ich sagen – retten das Wissen, so [59] daß es dann dasselbe geblieben zu sein scheint. Und so, Sokrates, wird es immer wieder gerettet – alles Sterbliche und bleibt heil; es ist nicht gleich dem Göttlichen ein ewig Währendes und Gleiches, aber was da scheidet und alt geworden ist, läßt stets ein Neues, das ihm gleicht, zurück. Und nur in dieser Weise, Sokrates, nimmt das Sterbliche an der Unsterblichkeit teil. In anderer Weise wäre es ihm ja nicht möglich. Wundere dich nicht mehr, daß die ganze Natur ihr eigenes Blut liebt und ehrt: sie tut es um der Unsterblichkeit willen, nach der sie langt!‘
Und da ich diese Worte hörte, war ich wieder sehr erstaunt und rief: ‚Weisestes Weib, ist das alles wirklich so, wie du es sagst?‘ und da fuhr sie denn wie ein vollendeter Sophist fort: ‚Wie sollte es denn sein, o Sokrates! Wenn du an den Ehrgeiz der Menschen denkst, du müßtest ja da über dessen Sinnlosigkeit staunen, wenn du nicht an meine Worte denkst und dir gegenwärtig hältst, wie stark die Menschen das Verlangen ergreift, berühmt zu werden und den Ruhm bis in die Ewigkeit zu besitzen, und wie darum die Menschen für den Ruhm mehr als für ihre Kinder, Gefahren zu suchen, Geld zu verschwenden, Mühen zu dulden, ja zu sterben bereit sind. Oder meinst du, Alkestis würde für Admetos gestorben, Achilleus dem Patroklos nachgestorben sein und euer Kodros für das Königtum seiner Kinder sein Leben gelassen haben, wenn sie nicht an das ewige Gedächtnis ihrer großen Liebe, das wir ihnen heute noch halten, geglaubt hätten? O nein; für »die Tugend der Unsterblichkeit«, [60] für den »strahlenden Ruhm« haben sie und alle alles getan; und je edler sie waren, um so mehr haben die Menschen für den Ruhm getan; denn es lieben die Menschen über alles die Unsterblichkeit. Wer im Leibe zeugen will, den zieht es zum Weibe hin, und die Kinder schon sollen ihm »Unsterblichkeit und Erinnerung und Glück«, wie er dann sagt, »in die Zukunft tragen«. Neben diesem aber leben jene anderen, welche lieber in den Seelen das, was die Seele empfangen und gebären soll, die Einsicht und die Tugend zeugen wollen. Und in diesem Sinne sind alle Dichter Zeuger, und jene, die im Handwerk als Erfinder gelten, sind Zeuger, und die höchste und schönste Einsicht, ich meine das Maß und die Gerechtigkeit zeugen in den Seelen jene, so da den Staat zu ordnen und die Familie zu erhalten wissen. Wenn nun einem dieser Gottgleichen in der Seele der Samen der Tugend von Jugend an gereift ist und er, da die Zeit gekommen ist, zeugen will, da geht er aus und blickt umher und sucht das Schöne, in welchem sein Samen zur Frucht werde. Im Häßlichen, im Gemeinen wird er nicht zeugen, nein. Es liebt schon die schönen Leiber mehr als die häßlichen, wer da zeugen will – und wo dieser der schönen, edlen und echtgeborenen Seele begegnet, da ist seine Liebe zum Leib und zur Seele, zu beiden, gar groß, und für einen solchen Menschen hat er dann viele Worte von der Tugend und von allem, was der Edle tun und womit er sich beschäftigen soll, und er sucht den Geliebten zu erziehen. Er hängt dann an ihm, [61] dem Schönen, und weckt ihn und folgt ihm und gießt in ihn den reifen Samen und läßt ihn seine Art gebären. Ob er bei ihm oder fern ist, er kann ihn nicht mehr vergessen, und mit ihm wacht er über der neuen Geburt; und stärker, als ein leibliches Geschlecht Mann und Weib einigt, verbindet diese die Freunde, denn sie teilen sich in ein schöneres, göttliches Geschlecht ihrer Seelen. Und wer möchte auch nicht leiblichen Kindern dieses Geschlecht vorziehen, wenn er Homer sieht und Hesiod und den anderen edlen Dichtern nachstrebt, die da ein Geschlecht zurückgelassen haben, das ihnen ewigen Ruhm und dauernde Erinnerung brachte, oder, wenn du willst, so er auf die Kinder des Lykurgos blickt, die Gesetze, die dieser hinterließ, und die Lakedaimon, ja ganz Griechenland gerettet haben. Und ehrwürdig ist auch Solon, weil er in euch die Gesetze gezeugt hat, und ehrwürdig in Hellas und bei den Barbaren sind all die vielen Männer, die durch edle Taten überall die Tugend gezeugt haben. Und ihnen sind um dieser Kinder willen und nie dem Geschlecht ihres Blutes und Namens zu Danke die vielen Altäre gebaut worden.
‚In alles, was ich dir bisher von der Liebe sagte, konntest du leicht eingeweiht werden: ich weiß aber nicht, o Sokrates, ob du darum schon der letzten und höchsten Weihen würdig seist, jener Weihen, auf die alles andere nur vorbereiten durfte, so einer wahrhaft ihrer teilhaft werden kann. Doch ich will dir von ihnen reden und werde den Mut nicht verlieren, du aber trachte mir zu folgen, wenn du kannst. Wenn [62] also einer recht nach jener Vollendung strebt, so muß er früh schon nach schönen Körpern ausspähen und schönen Körpern nachgehen und, so er gut geführt sein will, nur einen Körper lieben, nur einen, und in diesem einen die edlen Worte zeugen. Dann erst darf er erfahren, daß diese Schönheit des einen Körpers jener eines anderen gleicht, wie Schwestern einander gleichen, und wenn er nun wirklich die schöne Art und das schöne Bild, wenn er die Liebe will, so wäre es nur seine Torheit, dieselbe Schönheit nicht in beiden, in allen schönen Körpern zu sehen. Und darum und jetzt wird er es verachten und für niedrig halten, alle Leidenschaft für einen Körper zu haben, und er wird die Schönheit aller Körper lieben. Aber auch hier kann er nicht stehen bleiben, denn er wird die Schönheit der Seele sehen, und die Schönheit der Seele wird ihm würdiger erscheinen als die Schönheit des Körpers, und so wird es ihm genügen, daß eines Menschen Seele hell sei, und er wird diesen Menschen, wenn sein Leib auch unschön wäre, lieben und um ihn besorgt sein und edle Worte in ihm zeugen und nach Worten für ihn suchen, welche die Jünglinge besser zu machen vermögen, auf daß auch er gezwungen werde, die Schönheit in den Sitten und Gesetzen zu erkennen und auch in diesen die gleiche Schönheit zu sehen. Und von den Sitten wird er ihn zu den Wissenschaften führen, damit er auch die Schönheit der Wissenschaften erblicke und so im Anblicke dieser vielfachen Schönheit nicht mehr wie ein Sklave nach der Schönheit dieses einen [63] Knaben verlange und dieses einen Menschen, dieser einen Sitte Schönheit wolle und gemein sei und kleinlich und an Worten hänge, sondern, an die Ufer des großen Meeres der Schönheit gebracht, hier viele edle Worte und Gedanken mit dem unerschöpflichen Triebe nach Weisheit zeuge, bis er dann stark und reif jenes einzige Wissen, das da das Wissen des Schönen ist, erschaue. Merke auf, Sokrates, so viel du kannst! Wer also bis dahin zur Liebe erzogen wurde und das Schöne in seiner Ordnung erkennt, der wird ganz am Ende als letzte Weihe seiner Liebe ein Wunderbares erblicken und die große Schönheit der Schöpfung erschauen; er wird das erschauen, Sokrates, um dessentwillen alle Wege und Mühen waren; er wird das Schöne schauen, das da ewig da ist und niemals wird und niemals vergeht und nicht reicher wird und nicht verliert, das Schöne, das nicht hierin schön und heute schön und da schön und für diesen schön und hierin häßlich und morgen häßlich und dort häßlich und für jenen häßlich ist, das Schöne, das wir uns nicht das eine Mal im Gesichte, ein anderes Mal an den Händen oder sonstwo am Körper einbilden oder in den Worten, in den Wissenschaften, im Tiere, auf der Erde oder am Himmel finden; er wird das Schöne schauen, das da sich selbst und in sich schön, in sich selbst ewig sich spiegelt; und, was sonst schön ist, wird nur sein Schein und ein Teil sein und werden und vergehen, und nur das ewig Schöne wird nicht wachsen und nicht verblühen und nicht leiden. Ja, Sokrates, wer immer von dort [64] unten, weil er den Geliebten richtig zu lieben wußte, empor zu steigen und jenes ewig Schöne zu schauen beginnt, der ist am Ende und vollendet und geweiht. Noch einmal, so nur darf er die Bahn der Liebe gehen und geführt werden: er wird zuerst von allen Dingen die Schönheit lernen und zu jener ewigen Schönheit wie auf Stufen kommen, Sokrates, wie auf Stufen, Stufen: auf der ersten sieht er die Schönheit eines Körpers, auf der zweiten die Schönheit zweier, und dann sieht er die Schönheit aller Körper, und von den schönen Körpern steigt er weiter zu den schönen Sitten, von den schönen Sitten zu den schönen Lehren, und von den schönen Lehren trägt ihn noch die letzte Stufe zu jener einzigen Wissenschaft, die da die ewige Schönheit begreift. Und hier, Geliebter,‘ rief das prophetische Weib, ‚hier, wenn irgendwo, ist das Leben lebenswert, hier, wo du die ewige Schönheit schaust. Wenn du diese schaust, wird sie dir nicht scheinen gleich dem Golde oder schönen Kleidern oder gleich jenen schönen Knaben und Jünglingen zu sein, bei deren Anblick schon du und die anderen erschrecken, und bei denen ihr dann immer weilen wollt, weilen ohne zu essen und zu trinken, nur sie schauend, nur ihnen gegenwärtig. Nein, wie würdest du dich gebärden, wenn es dir gegeben wäre, jene ewige Schönheit selbst klar und rein und ungemischt, nicht am menschlichen Fleisch, in den Farben, am Flitter, sondern wie sie frei und göttlich, sich selbst eigen da ist, zu schauen? Glaubst du, dein Leben oder das Leben eines anderen wäre [65] dann noch niedrig, wenn ihr bis dorthin blicken und bei jenem Wunder weilen könntet? Und glaubst du nicht, daß die Vollendung dem Menschen nur dort zu teil werde, wo er im Geiste das Schöne sieht und nicht mehr die Bilder der Tugend – denn an Bildern kann sein Blick dort nicht mehr haften – sondern die Wahrheit selbst, da er sie dort erblickt, zeugt, und glaubst du nicht, daß dieser Mensch dann, so er die wahre Tugend zeuget und nähret, wahrhaftig gottgeliebt und, wenn je ein Mensch, unsterblich sein wird?‘
Das nun, Phaidros und ihr andern, das alles hat Diotima mich gelehrt, und sie hat mich überzeugt. Und seitdem suche ich auch die andern zu überzeugen – zu überzeugen, daß, um jenes höchste Gut zu erreichen, niemand einen besseren Führer als Eros wählen könne. Und darum rufe ich jedem zu, er solle Eros ehren, und darum ehre ich selber Eros und lerne und prüfe alles, was diesen Heiland angeht, und heiße dasselbe auch die andern, und heute und immer werde ich, soweit es in meinen Kräften ist, Eros preisen. Nimm nun, Phaidros, was ich hier zu euch gesprochen habe, als meine Lobrede; wenn du nicht willst, so nenne meine Rede anders und wie du es willst.“
Da Sokrates also seine Rede schloß, lobten ihn alle, nur Aristophanes wollte etwas erwidern, weil Sokrates auf seine Worte irgendwie angespielt hatte. Doch da wurde plötzlich so laut an die Tür gepocht, wie nur Betrunkene pochen, und man hörte die Töne einer Flötenspielerin. Agathon rief den [66] Knaben zu: „Seht doch nach! Wenn es ein Freund ist, so ruft ihn herein. Sonst aber sagt: wir trinken nicht mehr und wollen schlafen!“ Gleich darauf aber konnte man die Stimme des Alkibiades unterscheiden: er mußte stark getrunken haben, denn er schrie laut und fragte nach Agathon und wollte zu Agathon geführt sein. Doch schon kam er, auf die Flötenspielerin gestützt, mit einigen Begleitern herein und blieb in der Tür stehen; er trug einen Kranz von Epheu und Veilchen und hatte sehr viele Bänder ins Haar gewunden. „Seid mir gegrüßt, Männer!“ rief er. „Wollt ihr einen Betrunkenen in eure Mitte nehmen, oder muß ich wieder weg, nachdem ich Agathon bekränzt habe, denn darum bin ich gekommen? Ich konnte nämlich gestern nicht erscheinen, jetzt aber bin ich da und habe im Haare die Bänder, damit ich sie von meinem Haupt auf das Haupt des weisesten und schönsten Jünglings lege. Ich sehe, ihr lacht mich aus, weil ich betrunken sei, aber lacht nur, lacht, ich weiß trotzdem, daß ich die Wahrheit spreche! Sagt also, darf ich unter diesen Bedingungen herein oder nicht? Wollt ihr mit mir noch trinken?“ Da jauchzten ihm alle zu und hießen ihn eintreten und sich zu ihnen legen, und auch Agathon rief ihm zu. So kam denn Alkibiades, von seinen Leuten geführt, herein, und während er die Bänder abnahm, um Agathon zu schmücken, hielt er diese so vor den Augen, daß er Sokrates nicht sehen konnte, und legte sich neben Agathon zwischen diesen und Sokrates. Sokrates rückte etwas nach der Seite. Und nun tat Alkibiades [67] sehr schön mit Agathon und wand ihm die Bänder ins Haar. Agathon rief den Knaben zu: „So nehmt auch Alkibiades die Sandalen ab, damit er als dritter hier mit uns sitze.“ „Ja, ja, tut das,“ forderte Alkibiades die Knaben auf, „wer ist aber der dritte hier?“ Und da er sich umdrehte und Sokrates erblickte, sprang er auf und schrie: „Bei Herakles, wer ist das? Sokrates, du? Du? Bist du mir auch hier auf der Lauer? Immer zeigst du dich ganz plötzlich, wo ich dich am wenigsten erwarte. Warum bist du nur hergekommen? Und warum hast du dich gerade hierher gesetzt? Ist bei Aristophanes oder bei sonst einem, der Spaß zu machen versteht, kein Platz gewesen? Mußtest du dich gerade zu dem Schönsten setzen?“ Sokrates wandte sich da zu Agathon: „Jetzt mußt du mich in Schutz nehmen! Die Liebe dieses Menschen ist mir, wie du siehst, ziemlich unbequem geworden. Seit ich sein erklärter Freund bin, darf ich weder einen schönen Jüngling ansehen, noch mit ihm reden, sonst macht er mir in seiner Eifersucht und Mißgunst die größten Torheiten und schmäht mich und kann oft kaum seine Hände zurückhalten. Sieh du nun, daß er vernünftig werde, und söhne uns aus; sollte er aber handgreiflich werden, so halte ihn zurück; ich habe beinahe Angst vor seiner Liebeswut.“ „O, zwischen uns beiden“, erwiderte Alkibiades, „gibt es keine Versöhnung! Hier und jetzt gleich will ich mich an dir rächen. Agathon, gib mir einige von deinen Bändern zurück, damit ich sie auf dieses wunderherrliche Haupt hier lege! Sokrates soll mir nicht vorwerfen, ich [68] hätte dich geschmückt, ihn aber nicht, der mit seinen Worten über alle Menschen und nicht nur einmal, wie du gestern, sondern immer siegt.“ Und so nahm Alkibiades von den Bändern des Agathon und wand sie um des Sokrates Haupt, und jetzt erst legte er sich wieder. „Wohlan denn, Männer,“ rief er, „ihr scheint mir alle noch recht nüchtern zu sein. Das darf ich nicht zugeben, ihr müßt mit mir trinken. Wir haben das ausgemacht. Und solange ihr nicht recht im Trinken drin seid, wähle ich mich selber zum Vorsitzenden der Zeche. Agathon, laß einen großen Krug bringen, wenn einer da ist! Doch nein, er ist nicht nötig; bringe Knabe, du da, mir diesen Kühler; ich sehe, er enthält mehr als acht kleine Becher!“ Der Kühler wurde also gefüllt, und Alkibiades trank ihn aus, dann ließ er ihn gleich für Sokrates füllen und rief: „Gegen Sokrates komme ich nicht auf. Er trinkt, was man ihn heißt, und wird nie betrunken.“ Der Knabe hatte eingeschenkt, und auch Sokrates trank schon. Da fiel aber Eryximachos ein: „Wie machen wir es aber weiter, Alkibiades? Sollen wir dazu gar nichts reden oder singen und einfach nur trinken wie Leute, die eben Durst haben?“ „O Eryximachos“, rief Alkibiades, „du bester Sohn des besten und weisesten Vaters, sei mir gegrüßt!“ „Und du mir!“ entgegnete Eryximachos, „aber wie machen wir es nun?“ „Wie du befiehlst; ich gehorche deinem Worte! ‚Denn es hat der Arzt die Würde von vielen.‘ Sage, wie du es haben willst!“ „So höre! Bevor du kamst, hatten wir beschlossen, daß jeder von uns, der Reihe nach von rechts, eine [69] Rede auf Eros halte, so gut er es eben vermöchte, und den Gott preise. Nun, wir haben jeder seine Rede gehalten. Da nur du bisher weder getrunken noch gesprochen hast, so ist es billig, daß du jetzt uns fortsetzest und dann Sokrates ein Thema gibst, und Sokrates muß es wieder an seinen Nachbar zu rechts weitergeben usw. Das Thema kannst du selber wählen.“ „Eryximachos, das ist alles sehr schön gesagt; es ist aber doch nicht billig, daß der Betrunkene den Nüchternen das Thema gebe. Und dann, Glücklicher, glaubst du etwas von allem, was Sokrates vorhin gesagt? Wisse denn, gerade das Gegenteil davon ist wahr! Denn er, er kann mit den Händen kaum an sich halten, wenn ich in seiner Gegenwart irgend jemanden, einen Gott oder einen Menschen, preise.“ „Lästerst du hier nicht?“ fragte Sokrates. „Bei Poseidon! Du kannst mir nicht widersprechen, wenn ich behaupte, ich dürfe in deiner Gegenwart niemand anderen loben!“ „Ja, dann mache es doch so:“ sagte Eryximachos, „preise Sokrates!“ „Wie meinst du das? Sollte ich es tun, Eryximachos? Sollte ich ihm auf diese Weise beikommen und mich vor euch an ihm rächen?“ „Was hast du da im Sinn? Willst du mich mit deinem Lobe lächerlich machen? Oder was willst du?“ sagte Sokrates. „Ich will die Wahrheit sagen: hast du jetzt etwas dagegen?“ „O nein, gegen die Wahrheit habe ich nichts; ich will sogar, daß du sie sagst!“ „Und ich werde auch gleich beginnen, du halte es aber so: Wenn ich nicht die Wahrheit sage, so unterbrich mich, wenn du willst, nur gleich mitten im Reden [70] und sage, daß ich lüge! Absichtlich werde ich nicht lügen. Wenn ich aber in meiner Erinnerung da und dort Sprünge mache, nimm es nicht übel! Es ist in meinem Zustande nicht leicht, dein sonderbares Wesen in einer gewissen Ordnung zu schildern.
So will ich denn, Männer, Sokrates preisen, und ich will versuchen, ihn in Bildern zu preisen. Er wird vielleicht glauben, daß ich ihn durch die Bilder lächerlich machen will; o nein, die Bilder werden die Wahrheit sprechen. Und so sage ich denn gleich: Sokrates gleicht jenen Silenen, die ihr in den Werkstätten der Bildhauer findet. Die Künstler bilden sie gewöhnlich mit einer Pfeife oder einer Flöte in der Hand und geben ihnen zwei kleine Türen: wer diese öffnet, erblickt im Inneren kleine Bildsäulen der Götter. Ich sage aber weiter, Sokrates gleicht Marsyas, dem Satyr. Daß du ihm im Äußeren ähnlich bist, wirst du selber nicht bestreiten wollen, Sokrates! Worin du dem Satyr aber sonst noch gleichst, das höre nun! Du bist wie Marsyas ein Frevler, Sokrates! Wenn du nein sagst, will ich dir Zeugen bringen. Ja, du bist wie er ein Empörer, und dann weißt auch du die Flöte zu spielen und schöner als Marsyas. Denn Marsyas lockte die Menschen mit seinem Instrument durch die Kunst seiner Lippen, und heute noch leben Menschen, die seine Weisen spielen. Was Olympos spielte, das hatte er von Marsyas gelernt. Ob sie ein guter Flötenspieler oder eine von den gewöhnlichen Flötenspielerinnen spielt, seine Weisen allein ergreifen und offenbaren den, der der Götter und der Weihen bedürftig [71] ist; denn des Marsyas Weisen sind göttlich. Du aber, Sokrates, unterscheidest dich nur darin von Marsyas, daß du ohne Instrument, nur mit deinen nackten Worten spielst. Wenn wir einen anderen, und wäre er auch der beste Redner, hören, so geht uns das gewöhnlich sozusagen gar nichts an. Wer dich, dich selbst hört oder deine Worte von einem andern, und wäre dieser der gemeinste unter den Menschen, wenn dir ein Weib, ein Mann, ein Knabe zuhört, wir alle sind wie erschüttert und vermögen uns kaum zu halten. O Männer, wenn ich euch dann nicht ganz betrunken erscheinen sollte, so würde ich euch es sagen und jeden Satz beschwören, was ich durch seine Worte gelitten habe und immer wieder leide. Wenn ich Sokrates höre, da schlägt mein Herz stärker als das Herz des Korybanten, und ich vergieße Tränen, und viele, viele erfahren dasselbe. Ich habe Perikles und die anderen großen Redner gehört; mir schien da immer nur, sie sprächen gut, ja, aber ich erfuhr durch sie nichts Ähnliches, und meine Seele ward nie erschüttert und hat sich nie aufgebäumt, wie ein Sklave sich gegen den Herrn aufbäumt. Aber dieser Marsyas hier hat mich oft so weit gebracht, daß mir das Leben, das ich führe, nichtswürdig vorkam. Sokrates, du kannst nicht sagen, daß das nicht wahr sei. Und ich weiß ganz genau, daß, wenn ich jetzt, so wie ich hier bin, ihm zuhören wollte, ich nicht an mich halten könnte und dasselbe erführe. Er zwingt mich, ihm recht zu geben, wenn er behauptet, selber noch voll von Fehlern, vernachlässigte ich mich und beschäftigte mich [72] mit den Angelegenheiten Athens. Wie vor den Sirenen fliehe ich vor ihm und halte mir die Ohren zu, damit ich nicht bei ihm früh zum Greise werde. Und so habe ich durch ihn erfahren, was niemand in mir wohl gesucht hätte: ich habe durch ihn die Scham erfahren. Ja, vor ihm allein unter allen Menschen schäme ich mich. Ich bin ja nicht imstande, ihm zu widersprechen und zu sagen: Ich muß nicht das tun, was du von mir willst; ich weiß das, denn ich weiß, daß, wenn ich ihm entwichen bin, mich vor dem Volke der alte Ehrgeiz wieder packt. Und so laufe ich vor ihm weg und fliehe ihn und schäme mich, so oft ich ihn sehe, alles dessen, was ich ihm zugestanden und über mich eingeräumt habe. Ja, oft habe ich da den Wunsch, ihn nicht mehr unter den Lebenden zu sehen. Und doch, wenn das je einträfe, ich weiß, ich würde noch viel unglücklicher sein; so wehrlos, so ganz wehrlos bin ich gegen ihn.
Und so haben wir denn alle durch die Flötenweisen dieses Satyrs viel gelitten, und ihr habt von mir gehört, worin er den Wesen ähnlich ist, mit denen ich ihn vergleiche, und welche Macht ihm über uns ward. Aber wißt, ihr alle kennt ihn schließlich gar nicht, und da ich einmal begonnen, so will ich ihn euch ganz offenbaren. Seht, Sokrates tut in alle schönen Jünglinge verliebt und schleicht um sie herum und ist immer erregt in seinen Gebärden! Ist das nicht Silenenart? Und wie einer jener gemeißelten Silenen ist auch seine ganze Haltung. Wer aber den Silen öffnet, Freunde und Zechgenossen, wie [73] sieht er diesen da nicht ganz voll von Weisheit und Maß! Ja, ich sage euch, diesen Silen kümmert es dann gar nicht, ob ein Jüngling schön sei oder nicht, ja er verachtet dessen Schönheit so gründlich, wie niemand es erwarten würde, und es ist ihm ganz gleichgültig, ob einer von denen, welche da immer von der Menge glücklich gepriesen werden, reich sei oder eine hohe Stellung habe. Sokrates hält diese Güter für wertlos und uns selbst für eitel – merkt euch das –, wenn er, mit euch Spott und Spaß treibend, sein Leben führt. Aber ich weiß nicht, ob je einer von euch in ihn hineingeblickt und in ihm die Götterbildnisse gesehen hat, wenn Sokrates ernst und wie offen ist. Ich habe hineingeblickt und glaube Göttliches gesehen zu haben und lauter Gold und überaus Schönes und Wunder, und darum muß ich von nun an immer tun, was Sokrates mich heißt. Als ich glaubte, Sokrates habe ein Auge auf meine Schönheit geworfen, hielt ich es für meinen Stern und mein großes Glück, denn ich brauchte mich dann ihm nur ganz hinzugeben, um sein ganzes Wissen zu erfahren. Und ich hielt viel von meiner Schönheit. Bisher war ich nie allein mit Sokrates gewesen, aber jetzt und in meiner großen Hoffnung entließ ich meinen Begleiter und war das erste Mal allein mit ihm. Ich muß euch die ganze Wahrheit sagen, seid aufmerksam, und wenn ich lüge, dann, Sokrates, überführe mich. Ich war also allein mit ihm, o Männer, und erwartete, er werde mir gleich alles das sagen, was der Freund, wenn niemand zuhört, zum Geliebten spricht, und war selig. Aber nichts [74] dergleichen geschah; Sokrates sprach zu mir wie immer, blieb den Tag über da und ging dann fort. Das nächste Mal forderte ich ihn auf, mit mir zu turnen; vielleicht könnte ich auf diese Weise etwas von ihm erreichen, dachte ich. Und Sokrates turnte auch und rang oft mit mir, während niemand zusah. Ach, wie soll ich es nur sagen! Auch das half nichts. Und da ich zu keinem Ziele kommen konnte, beschloß ich, Gewalt anzuwenden und, wenn ich ihn nur einmal fest habe, von dem Manne nicht mehr zu lassen; ich mußte endlich wissen, wie ich mit ihm stünde. Ich bat ihn also, mit mir zu essen; wie ihr seht, lief ich ihm also ganz einfach nach, wie der Freund dem Geliebten. Er folgte zwar nicht gleich meiner Bitte, aber nach einiger Zeit kam er wirklich. Beim ersten Mal wollte er gleich nach dem Essen fort, und ich schämte mich damals so sehr, daß ich ihn auch gehen ließ. Beim zweiten Mal aber gebrauchte ich eine List: nachdem wir gegessen hatten, sprach ich ohne Unterbrechung bis in die Nacht in ihn hinein, und als er endlich doch gehen wollte, meinte ich, es sei schon zu spät, und zwang ihn zu bleiben. Und wirklich, diesmal legte er sich denn auf meinem Lager nieder, auf demselben, auf welchem wir gegessen hatten, und niemand anders außer uns beiden schlief in dieser Nacht im Hause. Was ich bis hierher erzählt habe, hätte ich jedermann erzählen können. Was ich nun sagen werde, würdet ihr niemals aus meinem Munde vernommen haben, wenn erstens nicht, wie es heißt, der Wein und die Kinder oder der Wein [75] allein – ohne die Kinder – die Wahrheit sprächen, und wenn zweitens es mir nicht unrecht schiene, eine so außerordentliche Tat des Sokrates zu verschweigen. Und dann, es ist mir heute noch wie einem, den die Natter gebissen hat; und die Leute sagen, wen jemals eine Natter gebissen hat, der könne, wie das wäre, nur jenen wieder schildern, welchen ein gleiches widerfahren sei, da diese allein verstünden und mitempfänden, wenn einer im Schmerze dann alles zu tun und zu sagen wagt. Ich hatte aber einen böseren Biß bekommen und dorthin, wo es am meisten schmerzt: mich hat es ins Herz gebissen, oder wie man das nennen soll, wohin uns die Worte eines Weisen treffen und die Bisse einer wilderen Natter beißen, wenn sie in die Seele eines nicht unedlen Jünglings greifen und ihn zu allem fähig machen. Ich sehe euch hier um mich, wie immer ihr heißen mögt, dich, Phaidros, dich, Agathon, Eryximachos, Pausanias, Aristodemos und Aristophanes, wozu soll ich noch Sokrates selbst nennen oder die vielen anderen? Ihr alle seid gebissen worden und voll gewesen der Wut und des Taumels der Philosophie! Und darum sollt ihr mich jetzt hören, ihr allein werdet verzeihen, was ich damals alles tat und jetzt ausspreche. Ihr Diener aber, und wer sonst noch hier ungeweiht und roh geblieben ist, legt euch große Tore vor die Ohren!
Da also die Knaben fortgegangen waren und ich das Licht ausgelöscht hatte, war ich entschlossen, nichts mehr zu beschönigen, sondern frei zu sagen, was ich [76] sagen mußte. Ich stieß also Sokrates ein wenig und sprach: ‚Sokrates, schläfst du?‘ ‚Nein, noch nicht!‘ gab er zur Antwort. ‚Weißt du, was ich glaube?‘ ‚Was denn?‘ ‚Ich glaube, du liebst mich und bist allein mir der Freund, den ich brauche, nur zögerst du noch, mir es zu gestehen. Ich denke aber so: Ich würde mir töricht vorkommen, wenn ich mich dir nicht so ganz hingäbe, wie ich dir oder einem meiner Kameraden von meinem Vermögen geben wollte, wenn ihr davon verlangtet. Ich weiß nichts Heiligeres, als so gut wie möglich zu werden, und wenn du mir dazu helfen willst, werde ich niemand demütiger gehorchen. Wenn ich mich einem solchen Menschen wie dir nicht hingäbe, so würde ich mich vor den Wissenden viel mehr schämen, als ich mich vor der Menge und den Toren schämen müßte, wenn ich mich dir hingäbe.‘ Da Sokrates mich also gehört hatte, erwiderte er ganz in seiner bekannten Art spöttisch: ‚Mein geliebter Alkibiades, du bist wirklich nicht dumm, wenn das, was du von mir behauptest, wahr ist und in mir eine Kraft wohnt, die dich besser zu machen vermag. Du mußt doch wohl eine große Schönheit in mir sehen, eine Schönheit, die sich bedeutend von deiner schönen Gestalt unterscheidet. Wenn du sie mit mir teilen und so Schönheit gegen Schönheit tauschen willst, so mußt du im Sinne haben, mich ein wenig zu übervorteilen: du willst da für deine schöne Meinung meine Wahrheit erwerben und recht eigentlich für Erz Gold haben. Aber, Glücklicher, sieh genau hin: ich bin vielleicht ganz ohne Wert! Der [77] Blick der Vernunft wird schärfer sehen, wenn deine beiden Augen an Schärfe verlieren, noch bist du weit davon entfernt.‘ Ich hörte ihm zu und sagte nur: ‚Was ich zu sagen hatte und wie ich denke, habe ich gesagt; denke du jetzt darüber nach, was dich für uns beide am besten dünkt!‘ ‚Ja, da hast du recht,‘ erwiderte Sokrates, ‚von nun an werden wir beide darüber nachdenken und nur das tun, was uns hier und in anderen Dingen am besten dünkt!‘ Das hatte ich nun von Sokrates gehört, und so hatte ich zu ihm gesprochen; ich meinte, der Pfeil sei abgeschossen und Sokrates verwundet. Ich stand also auf, und ohne ein Wort mehr zu verlieren, legte ich meinen Mantel um Sokrates – es war Winter – und kroch selbst unter den Mantel, schloß meine Arme um den Leib dieses wahrhaft herrlichen Dämons und lag so neben ihm die ganze Nacht. Sokrates, du wirst nicht sagen, daß auch nur ein Wort davon nicht wahr sei. Nach allem aber, was ich da für ihn getan hatte, wurde er ganz anders zu mir und verachtete und verlachte meine Schönheit und nahm sich alles gegen mich heraus! Ihr Richter – und ihr, die ihr hier sitzt, seid die Richter seiner Überhebung – bei den Göttern, bei den Göttinnen schwöre ich euch: ich erwachte nicht anders neben ihm, als wenn ich mit meinem Vater oder einem Bruder geschlafen hätte.
Was alles, glaubt ihr, muß ich damals nicht empfunden haben? Er verachtete mich – ich nahm es doch so – und ich, ich liebte seine Art, seine Weisheit, seine Männlichkeit; ich hatte in ihm einen Menschen von [78] so hoher Vernunft und Mäßigung gefunden, wie ich ihm nie im Leben zu begegnen glaubte! Ich konnte also weder ihm zürnen und ihn meiden, noch hatte ich Mittel, ihn an mich zu fesseln. Ich wußte jetzt, daß Gold ihn noch weniger zu verwunden vermöchte, als Eisen den Aias; dort also, wo allein ich ihn fassen zu können hoffte, ging er mir durch. Ich war hilflos und irrte umher in den Fesseln, in die dieser Mensch mich geschlossen hatte.
Das alles habe ich mit ihm erlebt, bevor wir gemeinsam den Feldzug gegen Potidaia mitmachten und dort im Lager am selben Tisch aßen. Vor allem war Sokrates hier im Ertragen der Strapazen nicht nur mir, sondern überhaupt allen Soldaten überlegen. So oft wir, wie das im Kriege vorkommt, irgendwo abgeschnitten waren und nichts zu essen hatten, konnte er wie kein anderer Hunger leiden. Wenn es dagegen Überfluß gab, konnte er wieder mehr essen als andere, und freiwillig zwar nicht, aber gezwungen, trank er uns alle unter den Tisch; und was das erstaunlichste ist, noch niemand hat je Sokrates betrunken gesehen. Er wird euch gleich hier den Beweis geben. Wie er die Kälte ertrug – die Winter sind dort streng – auch das klingt wie ein Wunder. Es hatte einmal stark gefroren, die Soldaten verließen entweder überhaupt nicht die Zelte oder, wenn einer ausging, wickelte er sich wunder wie ein und hatte die Füße in Filz oder Pelz gefatscht; Sokrates aber kam im Rock, den er immer trug, heraus und spazierte barfuß leichter durch den Frost als alle, die ihre [79] Schuhe hatten. Die Soldaten blickten ihn mißtrauisch an und mußten denken, er wolle sich über sie nur lustig machen. Doch davon genug.
Aber „wie er jenes Große vollbracht, der gewaltige Mann, und bestanden“, damals im Kriege, das müßt ihr noch hören. Eines Morgens kam er in Gedanken und blieb stehen und sann, und da er es scheinbar nicht heraus bekam, gab er nicht nach und blieb weiter stehen und suchte. Es war schon Mittag geworden; die Leute wunderten sich über ihn und einer sagte es dem anderen: Sokrates steht seit frühem Morgen auf einem Fleck, rührt sich nicht und denkt nach! Da es Abend geworden war und alle gegessen hatten, trugen einige jüngere Soldaten ihre Betten aus den Zelten – wir waren im Sommer – und wollten im Kühlen schlafen und zugleich sehen, ob denn Sokrates auch in der Nacht auf demselben Fleck stehen bleiben werde. Und wirklich, Sokrates blieb die ganze Nacht stehen, bis der Morgen kam und die Sonne aufging, dann sprach er der Sonne sein Gebet und ging fort. Und hört jetzt, wie er in der Schlacht selbst war – auch hier darf ich ihm nichts schuldig bleiben! In jener Schlacht, nach welcher mir die Feldherrn den Preis zuerkannten, hat er mir das Leben gerettet; als ich verwundet am Boden lag, ist er bei mir geblieben und hat mich und meine Waffen in Sicherheit gebracht. Und schon damals forderte ich die Feldherrn auf, dir, Sokrates, den Preis zuzuerkennen – auch hierin wirst du mir nicht unrecht geben und sagen, ich lüge. Die Feldherrn aber sahen [80] auf meinen Adel und beschlossen darum, ihn mir zu geben, und du wünschtest es noch eifriger als sie, daß ich ihn habe. Und dann, Männer, hättet ihr Sokrates sehen sollen, als das ganze Heer von Delion auf der Flucht war. Ich war damals zu Pferde und er in voller Rüstung zu Fuß. Das ganze Heer war in wilder Unordnung, er ging mit Laches. Da treffe ich sie und rufe ihnen Mut zu und meinte, ich wolle sie nicht verlassen. Und hier sah ich Sokrates noch herrlicher als in Potidaia. Da ich zu Pferde war, hatte ich weniger Furcht. Aber, wie damals Sokrates den Laches an Haltung übertraf! Ich sah ihn dort leibhaftig wie du, Aristophanes, ihn schilderst: trotzigen Blicks, mit rollenden Augen; ruhig sah er rechts und links die Freunde und Feinde, und man wußte schon von weitem, daß, wenn ihn jetzt hier einer angreifen wollte, er sich dessen erwehren würde. Und er und sein Begleiter kamen darum auch ganz sicher durch. Denn Soldaten von seiner Haltung werden im Kriege selten angegriffen, und der Feind hat es viel mehr auf die abgesehen, die kopfüber fliehen. Vieles Andere noch und Herrliches könnte ich an Sokrates rühmen; aber was er sonst noch alles tat, das könnte oft auch ein anderer getan haben: das Wunder an ihm ist, daß er keinem Menschen weder unter den Alten noch unter den Lebenden gleicht. Mit Achilleus könnte man schließlich Brasidas, mit Perikles Nestor und Antenor vergleichen, es finden sich da immer noch andere. Immer kann man da den einen mit dem anderen vergleichen. Dieser Mensch aber, er selbst und [81] seine Worte, ist so sonderbar gewachsen, daß niemand weder unter den Alten, noch unter den Lebenden seinesgleichen finden würde, es sei denn, daß er ihn, wie ich es tat, mit Menschen überhaupt nicht, sondern mit den Silenen und Satyrn ihn und seine Worte vergliche.
Denn ich vergaß es vorhin zu sagen, daß auch seine Worte jenen geöffneten Silenen gleichen. Wenn jemand zuerst seine Redensarten hört, erscheinen sie ihm lächerlich. Sokrates hüllt sich da in Namen und Ausdrücke, wie ein wilder Satyr in sein Fell. Er spricht von Lasteseln oder Schmieden oder Schustern oder Gerbern; es sieht aus, als ob er immer mit denselben Worten dasselbe sagte, so daß der Unerfahrene und Ungebildete über diese Reden lacht. Wer sie aber erschließt und in sie hinein kann, der wird gleich finden, wie gerade seine Worte ein Sinn verbinde und daß sie göttlich seien und Bilder höchster Tugend, und daß sie überallhin reichen und vor allem dorthin, wohin der Mensch, der nach Veredlung und Besserung strebt, seinen Blick richtet.
Das alles, Männer, ist es, was ich an Sokrates preise. Ich habe auch den Tadel in das Lob gemischt und euch gesagt, wie er mich verletzt hat. Aber nicht nur mir hat er das angetan, sondern Charmides, der Sohn des Glaukon, und Euthydemos, des Diokles Sohn, und viele andere haben ein gleiches erfahren: er hat sie alle getäuscht und ist ihnen statt eines Freundes der Geliebte geworden. Auch dir, Agathon, sage ich: laß dich nicht von ihm betrügen; lerne von [82] unseren Leiden und sei auf der Hut und mache es nicht wie die Toren, die, wie das Sprichwort sagt, erst durch Schaden klug werden!“
Da Alkibiades also gesprochen hatte, mußten alle über seine Offenherzigkeit lachen, denn er schien ihnen noch immer, nach wie vor, Sokrates zu lieben. Sokrates rief: „Alkibiades, ich glaube wirklich, du bist nüchtern. Denn sonst würdest du kaum so sinnreich zu verstecken versucht haben, warum du überhaupt alles das gesagt hast. Wie etwas Nebensächliches hast du es an das Ende gesetzt, als ob nicht alle deine Worte den einzigen Zweck gehabt hätten, mich und Agathon zu entzweien, denn du glaubst, ich dürfe nur dich und sonst niemand lieben und Agathon wieder dürfe nur von dir allein geliebt werden. Du hast das nicht verbergen können, dein Satyr- und Silenendrama hat uns alles verraten. Aber, mein geliebter Agathon, das soll ihm nicht helfen; sorge nur, daß er uns beide nicht entzweie.“ Agathon entgegnete: „Sokrates, du hast recht. Sieh nur, wie er sich zwischen mich und dich gelegt hat, um uns beide auseinander zu bringen! Es ist aber umsonst, denn ich werde gleich an deine Seite kommen und mich zu dir legen.“ „Ja, ja,“ meinte Sokrates, „komme nur her und lege dich zu mir hin!“ „Beim Zeus,“ rief da Alkibiades, „was muß ich von diesem Menschen nicht alles ertragen! Er glaubt mich überall ausstechen zu müssen. Aber, Herrlicher, wenn es schon nicht anders geht, so laß wenigstens Agathon zwischen uns.“ „Das ist unmöglich;“ rief Sokrates, „du hast mich gelobt, und [83] jetzt ist an mir die Reihe, nach rechts jemanden zu loben. Wenn Agathon zwischen uns kommt, so müßte er auf mich wieder eine Lobrede halten, er soll aber umgekehrt jetzt von mir gelobt werden. Laß uns also, mein Bester, und beneide nicht einen Jüngling um das Lob, das ich ihm reden will; ich selbst habe auch das Bedürfnis, Agathon zu preisen!“ Und Agathon rief: „Armer Alkibiades, ich darf hier nicht bleiben und muß den Platz wechseln, damit Sokrates mich lobe!“ Und Alkibiades: „Da sehen wir es also: wenn Sokrates da ist, kann man nichts mehr von den schönen Jünglingen haben. Und wie klug er sich es ausgedacht hat, warum Agathon neben ihm sitzen müsse! O Sokrates, Sokrates!“
Nun ist Agathon aufgestanden und hat sich neben Sokrates gelegt. Da kam plötzlich eine Menge von Zechern an die Tür, und da diese offen stand – es war eben jemand herausgegangen – so konnten diese weiter und sich zu den anderen legen. Es herrschte dann viel Lärm, und ohne Ordnung ward jeder gezwungen, so viel wie möglich zu trinken. Eryximachos, Phaidros und andere, erzählte Aristodemos, wären weggegangen, ihn selbst hätte der Schlaf gepackt und er hätte fest geschlafen – es wäre ja sehr spät gewesen – und wäre erst gegen Morgen aufgewacht, da die Lerchen schon sangen. Da hätte er denn die einen schlafen gesehen, andere wären fortgegangen, und nur Agathon und Aristophanes und Sokrates wären noch wach gewesen und hätten aus einem großen Krug getrunken und ihn immer wieder [84] nach rechts sich gereicht. Sokrates hätte zu ihnen gesprochen. Aristodemos konnte sich aber nicht an alles erinnern, er hätte den Anfang nicht hören können und jetzt noch etwas geduselt. In der Hauptsache aber, meinte er, hätte Sokrates beide dazu gebracht, ihm zuzugeben, daß ein und derselbe Dichter die Komödie und die Tragödie beherrschen müßte, und daß der Tragödiendichter auch ein Komödiendichter wäre. Agathon und Aristophanes hätten ihm aber nicht mehr ganz zu folgen vermocht und wären ab und zu in den Schlaf genickt. Zuerst wäre Aristophanes eingeschlafen, dann gegen Morgen Agathon. Sokrates aber sei, nachdem er sie also zur Ruhe gebracht, aufgestanden und weggegangen, Aristodemos ihm nach seiner Gewohnheit gefolgt. Sokrates wäre ins Lykeion gekommen, hätte dort gebadet und den ganzen Tag zugebracht und dann erst gegen Abend zu Hause sich zur Ruhe gelegt.
ENDE
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