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Das Abendmahl
im
Zusammenhang mit dem Leben Jesu
und der
Geschichte des Urchristentums
von
Lic. Dr. Albert Schweitzer
in Strassburg i. E.
Zweites Heft.
Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis.
Eine Skizze des Lebens Jesu.
Tübingen und Leipzig.
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
1901.
Das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen behält sich
die Verlagsbuchhandlung vor.
C. A. Wagner's Universitätsbuchdruckerei in Freiburg i. B.
Seinem Lehrer
Herrn Prof. D. Dr. H. J. Holtzmann
gewidmet
in aufrichtiger Verehrung und treuer Anhänglichkeit
von seinem dankbaren Schüler
Albert Schweitzer.
Vorrede.
Der Versuch, ein Leben Jesu zu schreiben und dabei nicht am Anfang, sondern in der Mitte, mit dem Leidensgedanken zu beginnen, musste sich notwendig einmal einstellen. Es ist verwunderlich, dass er nicht schon früher gemacht worden ist, denn er liegt in der Luft.
Alle Darstellungen des Lebens Jesu befriedigen nämlich bis zum Eintritt des Leidensgedankens. Dort aber verfehlen sie den Anschluss. Es gelingt keiner von ihnen begreiflich zu machen, warum Jesus nun plötzlich seinen Tod für notwendig hält und in welchem Sinne er ihn für heilbringend ansieht. Um diesen Anschluss zu erreichen, muss man sich entschliessen, einmal vom Leidensgedanken selbst auszugehen, um von da aus das Leben Jesu nach rückwärts und nach vorwärts zu begreifen. Wenn wir den Leidensgedanken nicht verstehen, liegt es nicht vielleicht daran, dass wir die erste Periode des Lebens Jesu falsch auffassen und uns so die Einsicht in das Aufkommen des Leidensgedankens von vornherein unmöglich machen?
Die letzten Jahre der Forschung haben gezeigt, auf wie schwachem Grunde eigentlich unsere historische Auffassung des Lebens Jesu beruht. Es lässt sich nicht verkennen, dass wir bei einer schweren Antinomie angelangt sind. Entweder Jesus hielt sich wirklich selbst für den Messias oder, worauf eine neue Richtung in der Forschung zu führen scheint, erst die urchristliche Auffassung hat ihm diese Würde beigelegt. In beiden Fällen bleibt das »Leben Jesu« gleich rätselhaft.
Hielt sich Jesus wirklich für den Messias, wie kommt es, dass er wirkt, als wäre er nicht der Messias? Wie ist es erklärlich, dass seine Würde und Machtstellung so gar nichts mit seiner [S. vi] öffentlichen Thätigkeit zu thun zu haben scheint? Was ist davon zu halten, dass er seinen Jüngern erst, nachdem seine öffentliche Wirksamkeit — die wenigen Tage zu Jerusalem abgerechnet — schon zu Ende ist, eröffnet, wer er ist, und ihnen dazu noch befiehlt, das Geheimnis streng zu wahren? Dass Motive der Klugheit oder pädagogische Absichten ihm diese Haltung diktiert haben sollen, erklärt nichts. Wo steht in den synoptischen Berichten auch nur die leiseste Andeutung, dass Jesus die Jünger und das Volk zur Erkenntnis seiner Messianität hat erziehen wollen?
Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr erkennt man, wie wenig die Annahme, dass Jesus sich für den Messias gehalten habe, das »Leben Jesu« zu erklären vermag, weil sich so gar keine Verbindung zwischen seinem Selbstbewusstsein und seiner öffentlichen Wirksamkeit ergiebt. Es mag banal klingen: man wird dabei die Frage nicht los, warum er es nie versucht hat, das Volk durch Unterweisung zu der neuen ethischen Auffassung der Messianität emporzuheben. Der Versuch wäre nicht so aussichtslos gewesen, als man anzunehmen geneigt ist, denn es ging damals ein tiefreligiöser Zug durch Israel. Warum hat sich Jesus beharrlich über seine Auffassung der Messianität ausgeschwiegen?
Nimmt man andererseits an, er hat sich selbst nicht für den Messias gehalten, so müsste erklärt werden, wie er dann nach seinem Tode zum Messias gemacht wurde. Auf Grund seiner öffentlichen Wirksamkeit ist es sicher nicht geschehen — denn diese gerade hat ja mit seiner Messianität nichts zu thun! Was bedeutet aber dann die Offenbarung des Messiasgeheimnisses an die Zwölf und das Bekenntnis vor dem Hohenpriester? Es ist ein purer Gewaltakt, diese Scenen für unhistorisch zu erklären. Entschliesst man sich zu solchen Eingriffen, was bleibt dann überhaupt noch von der evangelischen Geschichtsüberlieferung bestehen?
Dabei darf man nicht vergessen, dass wenn Jesus sich selbst nicht für den Messias gehalten hat, dies den Todesstoss für den christlichen Glauben bedeutet. Das Urteil der urchristlichen Gemeinde ist für uns nicht bindend. Die christliche Religion erbaut sich auf dem messianischen Selbstbewusstsein Jesu, wodurch er selbst seine Persönlichkeit aus der Reihe anderer Verkündiger der religiösen Sittlichkeit in einzigartiger Weise [S. vii] scharf heraushebt. Hielt er sich selbst nun nicht für den Messias, so beruht das ganze Christentum — um ein verdrehtes und misshandeltes Wort ehrlich zu gebrauchen — auf einem »Werturteil« der Anhängerschaft Jesu von Nazareth nach seinem Tode!
Vergessen wir nicht, dass es sich um eine Antinomie handelt, aus der man nur einen Schluss ziehen darf: dass nämlich die bisherige »historische« Auffassung des Messianitätsbewusstseins Jesu falsch ist, weil sie die Geschichte nicht erklärt. Geschichtlich ist nur diejenige Auffassung, welche begreiflich macht, wie Jesus sich für den Messias halten konnte, ohne sich genötigt zu sehen, dieses sein Selbstbewusstsein in seiner öffentlichen Wirksamkeit auf das messianische Reich hin zur Geltung zu bringen, ja, wie er geradezu gezwungen war, die messianische Würde seiner Person zu verschweigen! Warum war seine Messianität Jesu Geheimnis? — dieses erklären heisst das Leben Jesu begreifen.
Aus der Einsicht in das Wesen dieser Antinomie ist diese neue Auffassung des Lebens Jesu erwachsen. Inwieweit sie das Problem löst, das mögen die Verhandlungen darüber klarstellen. Ich veröffentliche die neue Auffassung als Skizze, weil sie notwendig in den Rahmen des Werkes über das Abendmahl gehört. Sodann aber hoffe ich, aus der Kritik ihrer Grundzüge über manche Punkte des exegetischen Details noch zu grösserer Klarheit zu kommen, ehe ich daran denke, diesen Gedanken in einem ausgearbeiteten »Leben Jesu« eine definitive Fassung zu geben.
Den litterarischen Unterbau habe ich, dem skizzenhaften Charakter der Darstellung entsprechend, gewöhnlich nur andeuten können. Wer sich jedoch in dieser Sache auskennt, der wird leicht bemerken, dass hinter mancher hingeworfenen Behauptung viel mehr synoptisches Detailstudium steckt, als der erste Blick vermuten liesse.
Gerade für die synoptische Frage ist die neue Auffassung des Lebens Jesu von grosser Bedeutung. Danach wird nämlich die Komposition der Synoptiker viel einfacher und klarer. Die künstliche Redaktion, mit der man bisher zu operieren gezwungen war, wird sehr reduziert. Die Bergpredigt, die Aussendungsrede und die Würdigungsrede über den Täufer sind keine »Redekompositionen«, [S. viii] sondern sie sind in der Hauptsache so gehalten, wie sie uns überliefert sind. Auch die Form der Leidens- und Auferstehungsweissagungen kommt nicht auf das urchristliche Konto, sondern Jesus hat in diesen Worten zu seinen Jüngern von seiner Zukunft geredet. Gerade diese Vereinfachung der litterarischen Frage und die damit verbundene Steigerung der historischen Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichtserzählung ist von grossem Gewicht für die neue Auffassung des Lebens Jesu.
Diese Vereinfachung beruht aber nicht auf einer naiven Stellungnahme den Berichten gegenüber, sondern sie ist herbeigeführt durch die Einsicht in die Gesetze, nach welchen die urchristliche Auffassung und Würdigung der Persönlichkeit Jesu die Darstellung seines Lebens und Wirkens bedingte. Gerade diese Frage ist bisher vielleicht zu wenig systematisch behandelt worden.
Einerseits ist zwar gewiss, dass das Urchristentum auf die Darstellung der öffentlichen Wirksamkeit Jesu von bedeutendem Einfluss gewesen. Andererseits sind aber gerade wieder in dem Wesen des urchristlichen Glaubens alle Voraussetzungen gegeben, dass er die Grundzüge der öffentlichen Wirksamkeit Jesu nicht angetastet und vor allem keine »Thatsachen« im Leben Jesu »produziert« hat. Denn das Urchristentum stand ja dem Leben Jesu als solchem indifferent gegenüber! Der urchristliche Glaube hatte an diesem irdischen Leben nicht das geringste Interesse, weil Jesu Messianität sich ja auf seine Auferstehung, nicht auf seine irdische Thätigkeit gründete und man dem kommenden Messias in Glorie entgegenblickte und dabei an dem Leben Jesu von Nazareth nur soweit Interesse nahm, als es mit den Herrenworten zusammenhing. Eine urchristliche Auffassung des Lebens Jesu gab es überhaupt nicht, und die Synoptiker enthalten auch nichts derartiges. Sie reihen die Erzählungen aus seiner öffentlichen Wirksamkeit aneinander, ohne den Versuch zu machen, sie in ihrer Aufeinanderfolge und in ihrem Zusammenhang begreiflich zu machen und uns die »Entwicklung« Jesu erkennen zu lassen. Als dann, mit dem Zurücktreten der Eschatologie, das Schwergewicht auf die irdische Erscheinung Jesu als des Messias fiel und so zu einer Auffassung des Lebens Jesu führte, da hatten die Berichte von [S. ix] der öffentlichen Thätigkeit Jesu schon eine zu feste Fassung angenommen, als dass dieser Prozess sie hätte berühren können. Das vierte Evangelium bietet ein Geschichtsbild des Lebens Jesu, aber es steht neben der synoptischen Schilderung der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, wie die Chronik neben den Samuelis- und den Königsbüchern. Der Unterschied zwischen dem vierten Evangelium und den Synoptikern besteht gerade darin, dass das erstere ein »Leben Jesu« bietet, während die Synoptiker von seiner öffentlichen Wirksamkeit berichten.
Der urchristliche Glaube hat die Darstellung der öffentlichen Wirksamkeit Jesu nach immanenten Gesetzen beeinflusst, gerade wie die deuteronomische Reform auf die Vorstellung von den Ereignissen während der Richter- und Königszeit eingewirkt hat. Es handelt sich um eine unbewusste, notwendige perspektivische Verschiebung. Die neue Auffassung beruht auf der Berechnung dieser perspektivischen Verschiebung, wobei sich ergibt, dass der Einfluss des urchristlichen Gemeindeglaubens auf die synoptischen Berichte viel weniger tief geht als man bisher anzunehmen geneigt war.
Strassburg, im August 1901.
Inhaltsangabe des zweiten Heftes.
Seite Vorrede zu einer neuen Auffassung des Lebens Jesu
V-IX
Erstes Kapitel 1-13 Der modern-historische Lösungsversuch. 1. Darstellung 1-3 2. Die vier Voraussetzungen des modern-historischen Lösungsversuchs 3 3. Die zwei kontrastierenden Epochen. (Erste Voraussetzung) 3-6 4. Der Einfluss der paulinischen Sühnetheorie auf die Fassung der synoptischen Leidensworte. (Zweite Voraussetzung) 6-8 5. Das Reich Gottes als ethische Grösse im Leidensgedanken. (Dritte Voraussetzung) 8-12 6. Die Form der Leidensoffenbarung. (Vierte Voraussetzung) 12 7.
Zusammenfassung
12-13
Zweites Kapitel 13-18 Die »Entwicklung« Jesu. 1. Das Reich Gottes als ethische und als eschatologische Grösse 13-15 2. Der eschatologische Charakter der Aussendungsrede 15-17 3.
Die neue Auffassung
17-18
Drittes Kapitel 18-23 Die Predigt vom Reich Gottes. 1. Die neue Sittlichkeit als Busse 18-20 2.
Die Ethik Jesu und die moderne Ethik
21-23
Viertes Kapitel 24-32 Das Geheimnis des Reiches Gottes. 1. Die Gleichnisse von dem Geheimnis des Reiches Gottes 24-26 2. Das Geheimnis des Reiches Gottes in der Rede zum Volk nach der Aussendung 26-27 [S. xi] 3. Das Geheimnis des Reiches Gottes im Lichte der prophetischen
und jüdischen Zukunftserwartungen27-28 4. Das Geheimnis des Reiches Gottes und die Annahme der glücklichen galiläischen Periode 29 5. Das Geheimnis des Reiches Gottes und der Universalismus Jesu 29-30 6. Das Geheimnis des Reiches Gottes und Jesu Stellung zum Gesetz und Staat 30-31 7.
Das Moderne in der Eschatologie Jesu
31-32
Fünftes Kapitel 32-34
Das Geheimnis des Reiches Gottes im Leidensgedanken.
Sechstes Kapitel 34-52 Die Würde Jesu auf Grund seiner öffentlichen
Wirksamkeit.1. Das Problem und die Thatsachen 34-38 2. Jesus der Elias durch die Solidarität mit dem Menschensohn 38-40 3. Jesus der Elias durch die Zeichen, die von ihm ausgehen 40-42 4. Die Dämonenbekämpfung und das Geheimnis des Reiches Gottes 42-43 5. Jesus und der Täufer 43-44 6. Der Täufer und Jesus 44-48 7.
Der Blinde zu Jericho und die Ovation beim Einzug in
Jerusalem
49-52
Siebentes Kapitel 52-60 Nach der Aussendung. Litterarische und historische
Probleme.1. Die Seereise nach der Aussendung 52-55 2. Das Abendmahl am See Genezareth 55-57 3.
Die Woche zu Bethsaida
57-60
Achtes Kapitel 60-80 Das Messianitätsgeheimnis. 1. Vom Verklärungsberg nach Cäsarea Philippi 60-63 2. Der futurische Charakter der Messianität Jesu 63-65 3. Der Menschensohn und der futurische Charakter der Messianität Jesu 66-71 4. Die Totenauferstehung und der futurische Charakter der Messianität Jesu 72-79 5.
Der Verrat des Judas — die letzte Bekanntgebung des Messiasgeheimnisses
79-80
[S. xii] Neuntes Kapitel 81-98 Das Geheimnis des Leidensgedankens. 1. Die vormessianische Drangsal 81-83 2. Der Leidensgedanke in der ersten Periode 83-84 3. Die »Versuchung« und die göttliche Allmacht 84-86 4. Der Leidensgedanke in der zweiten Periode 86-89 5. Jes 40-66: Das Leidensgeheimnis in der Schrift geweissagt 89-91 6. Das »Menschliche« im Leidensgeheimnis 91-92 7.
Der Leidensgedanke im Urchristentum. Die Verschiebung der Perspektive
92-98
Zehntes Kapitel 98-109
Abriss des Lebens Jesu.
Nachwort 109
Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis,
eine Skizze des Lebens Jesu.
Erstes Kapitel.
Der modern-historische Lösungsversuch.
1. Darstellung.
Die synoptischen Stellen bieten keine Erklärung, wie der Leidensgedanke sich Jesu aufdrängte und was er für ihn bedeutete. Die apostolische Predigt in den Petrus- und Paulusreden betrachtet das Leiden unter dem Gesichtspunkt der göttlichen Notwendigkeit, welche in der Schrift geweissagt ist. Auch die paulinische Theorie hat nichts mit der Geschichte zu thun.
Was also im Zusammenhang mit einer geschichtlichen Auffassung des Lebens Jesu über den Leidensgedanken ausgeführt wird, ist nicht von der Geschichte direkt dargeboten, sondern aus ihr erschlossen. Es handelt sich immer nur um eine notwendige und unvermeidliche historische Konstruktion, deren Richtigkeit in dem Masse feststeht, als sie Ordnung und Klarheit in die synoptischen Notizen bringt.
Sämtliche Konstruktionen mit ausgesprochen historischem Interesse begegnen sich in einem Lösungsversuch, den wir als den historisch-modernen bezeichnen. Historisch daran ist das Interesse, Geschichte zu erklären, modern die psychologische Nachempfindung, mit deren Hülfe nachgewiesen wird, wie unter dem Einfluss bestimmter Erlebnisse der Leidensgedanke sich Jesu aufdrängte und von ihm religiös gewertet wurde. Die Grundgedanken dieses Lösungsversuchs sind folgende.
Es konnte sich für Jesus nicht um Beschaffung der Sündenvergebung handeln. Er setzte sie schon voraus; wie die Bitte des Vaterunsers zeigt, floss sie ja aus der verzeihenden Vaterliebe Gottes. Nun erinnert der Gedanke der Sühne (Mk 10 45) an die [S. 2] paulinische Sühnetheorie mit ihrem juridischen Charakter. Diese bezieht sich allerdings auf die Sündenvergebung. Es ist daher anzunehmen, dass, wie der Gedanke der Sündenvergebung, so auch die juridische Sühnevorstellung Jesu fremd war, da sie in seiner ganzen Lehrweise nicht vorgesehen ist. Die Aussprüche über die Wertung seines Leidens sind also in der überlieferten Form irgendwie von paulinischen Gedanken beeinflusst.
Bringt man diese Beeinflussung in Anschlag, so enthält der historische Ausspruch (Mk 10 45) den Gedanken der dienenden Dahingabe in der höchsten Potenz. Wir stehen auf der Grenze, wo der gesteigerte Begriff des Dienens zum Begriff der Sühne führt. Der Wert dieser Dahingabe für die andern besteht darin, dass das von Jesus übernommene Todesleiden gleichsam der Inauguralakt ist, durch welchen die neue Sittlichkeit des Gottesreiches und damit der neue Zustand selbst verwirklicht wird. Diese That ist das wirksame Anfangsglied in einer Kette von Umgestaltungen, deren übernatürlichen Abschluss seine »Wiederkunft« in Herrlichkeit bildet, wo der Neue Bund, den er mit seinem Blute besiegelt hat, durch ihn sich vollendet.
Damit ist auch gegeben, wie der Leidensentschluss sich einstellen konnte und musste. Jesu Amt galt der Verwirklichung des Gottesreiches. Dies hatte er zunächst in kleinen Grenzen während seiner galiläischen Wirksamkeit unternommen. Durch seine Predigt von der neuen Sittlichkeit auf Grund des Glaubens an den göttlichen Vater und unter dem Eindruck der Kraft, die von ihm ausging, entwickelten sich die Anfänge dieses Reiches. Es war eine glückliche, erfolgreiche Zeit: »der galiläische Frühling,« wie sie Keim genannt hat. Den Höhepunkt dieser Periode bildete die Aussendung der Jünger. Durch ihre Predigt sollte die herrliche Saat allenthalben ausgestreut werden. Als sie ihm bei der Rückkehr ihre Erfolge kund thaten, brach er in den Jubelruf aus, der den Sieg für schon gegenwärtig hielt (Mt 11 25-27).
Dann kam die Zeit des Niedergangs. Von Jerusalem aus wurde der Widerstand insceniert (Mk 7 1). Früher hob ihn die Zuneigung des Volks über die Reibereien mit den Behörden hinweg. Jetzt aber, da die Sache planmässig betrieben wurde, fielen auch seine Anhänger von ihm ab. Es war verhängnisvoll, dass in der Diskussion über die Reinigkeitsgebote der Widerspruch mit der gesetzlichen Ueberlieferung zu Tage trat (Mk 7 1-23). Ehe der Frühling wieder ins Land kam, hatte er Galiläa verlassen [S. 3] müssen. Hoch im Norden, in der Stille und in der Einsamkeit sammelte er sich, um mit sich selbst ins Klare zu kommen.
Für die Verwirklichung des Reichs stand ihm nur noch ein Weg offen: der Kampf mit der Macht, welche sich seinem Werk entgegensetzte. Er war entschlossen, ihn in die Hauptstadt selbst hineinzutragen. Dort sollte sich das Schicksal entscheiden. Vielleicht fiel ihm der Sieg zu. Aber, wenn auch in der Reihe des irdischen Geschehens das Todesschicksal unentrinnbar seiner wartete: sobald er den Weg betrat, den sein Amt ihm wies, so bedeutete dieses Todesleiden in der Veranstaltung Gottes die Leistung, durch welche sein Werk gekrönt wurde. Es war dann Gottes Wille, dass der Zustand des Gottesreiches durch die höchste sittliche That des Messias inauguriert wurde. Mit diesem Gedanken zog er nach Jerusalem — um Messias zu bleiben.
2. Die vier Voraussetzungen des modern-historischen Lösungsversuchs.
1. Das Leben Jesu zerfällt in zwei kontrastierende Epochen. Die erste war glücklich, die zweite brachte Enttäuschungen und Misserfolge.
2. Die Form des synoptischen Leidensgedankens in Mk 10 45 (seine Dahingabe eine Sühne für viele) und in dem Abendmahlswort Mk 14 24 (sein Blut für viele dahin gegeben) ist irgendwie durch den paulinischen Sühnegedanken beeinflusst.
3. Die Vorstellung des Reiches Gottes als der sich vollendenden sittlichen Gemeinschaft, in welcher das Dienen oberstes Gesetz ist, beherrschte den Leidensgedanken.
4. War Jesu Leiden der Inauguralakt der neuen Sittlichkeit des Gottesreiches, so hing der Erfolg mit davon ab, dass die Jünger durch ihn angeleitet wurden, es so zu verstehen und danach zu handeln. Der Leidensgedanke war eine Reflexion.
Sind diese Voraussetzungen, jede für sich genommen, richtig?
3. Die zwei kontrastierenden Epochen.
(Erste Voraussetzung.)
Man datiert die Periode der Misserfolge von der Zeit nach der Aussendung. Welches sind die Ereignisse der angeblich glücklichen Epoche? Wir sehen ab von den unerquicklichen Diskussionen mit den Pharisäern über die Heilung des Paralytischen (Mk 2 1-12), über die Fastenfrage (Mk 2 18-22) und über die [S. 4] Sabbathaltung (Mk 2 23-3 6). Schon Mk 3 6 ist es zu einem Todesanschlag gekommen. Von seiner Familie muss er sich lossagen, weil sie ihn als geistig unzurechnungsfähig mit Gewalt nach Hause zurückbringen wollen (Mk 3 20-22, 31-35). In Nazareth wird er verworfen (Mk 6 1-6).
In dieselbe Zeit fällt ein Angriff, der ihn aufs tiefste erschüttert hat. Die Pharisäer diskreditieren ihn beim Volk, indem sie ihm vorwerfen, er stehe mit dem Teufel im Bund (Mk 3 22-30). Wie sehr ihn dieses Wort verwundet hat, ersieht man aus der Aussendungsrede. Er bereitet die Jünger auf ähnliche Verkennung vor. »Haben sie den Hausherrn Beelzebub geheissen, wie viel mehr seine Leute« (Mt 10 25).
Das sind die bekannten Ereignisse »der erfolgreichen Periode«! Aber sie sind nichts im Vergleich zu denen, auf welche er in der Zeit der Aussendung anspielt. Preist er schon im allgemeinen diejenigen selig, die um seinetwillen geschmäht und verfolgt werden (Mt 5 11 u. 12), so stellt er jetzt den Jüngern Drangsal und Not in Aussicht (Mt 10 17-25). Zu ihm halten heisst Schmach erdulden (Mt 10 22), die zartesten Bande zerreissen (Mt 10 37) und sein Kreuz auf sich nehmen (Mt 10 38). Die galiläische Periode soll glücklich gewesen sein; der Charakter der Aussendung ist pessimistisch. Wie passt das zusammen?
Auch die Anspielungen, die er dem Volk gegenüber in jener Zeit thut, weisen auf schwere Katastrophen. Was muss in Chorazin, in Kapernaum und in Bethsaïda vorgefallen sein, dass er den Tag des Gerichts auf sie herabbeschwört, wo es Tyrus und Sidon noch erträglicher gehen wird als ihnen (Mt 11 20-24)!
Weil dieser düstere Zug nicht in die glückliche galiläische Periode passen will, liegt der Versuch nahe, in den matthäischen Reden um die Zeit der Aussendung eine Komposition zu sehen, welche Stücke aus einer späteren Epoche enthält. Wo soll Jesus sie aber gesprochen haben? Nach der Flucht, als er im Norden weilte, hat er keine Reden gehalten, und die Aussprüche in den jerusalemitischen Tagen haben ihr eigentümliches Gepräge, so dass man nicht wüsste, wo Anspielungen auf galiläische Ereignisse oder Ermahnungen an die ausziehenden Jünger unterzubringen wären.
Dazu kommt, dass von bedeutenden Erfolgen in jener ersten Zeit nichts berichtet ist. Diese beginnen erst mit der Aussendung der Jünger. Den grossen Augenblick ihrer Rückkehr feiert Jesus [S. 5] mit begeisterten Worten (Mt 11 25-27). Nun soll er in der Folge alles an die Pharisäer verloren haben und vom Volk verlassen worden sein! Von diesem Rückgang seiner Sache berichten aber die Texte nichts. Die Diskussion über die Reinigkeitsvorschriften (Mk 7 1-23) leistet nicht, was man von ihr verlangt. Jesus war früher mit den Hauptstadttheologen schon viel heftiger zusammengestossen (Mk 3 22-30). In der Frage der Reinigkeitsgebote ist er gar nicht der Ueberwundene.
Man hat die Niederlage daraus erschliessen wollen, dass die »Flucht« nach dem Norden auf diese Scene folgt (Mk 7 24 ff.) Aber die Berichte stellen diesen Aufbruch gar nicht als Flucht dar; ebensowenig begründen sie diese Nordreise aus dem Resultat des vorhergehenden Streitgesprächs, sondern wir tragen in die berichtete chronologische Folge einen fiktiven kausalen Charakter ein. Wenn Jesus also kurz vorher von der Volksgunst getragen ist und nun das Gebiet verlässt, so bleibt dieses Faktum nach den Texten vorläufig unerklärt. Dass es eine Flucht war, ist eine unerweisbare Mutmassung.
Es sei kein Gewicht darauf gelegt, dass er in der Folge noch zweimal von einer grossen Volksmenge umgeben erscheint (Mk 8 1-9, Speisung der 4000 und Mk 8 34 ff., in den Scenen vor und nach der Verklärungsgeschichte). Dieses Faktum könnte vielleicht in einer litterarischen Einarbeitung der betreffenden Berichte begründet sein, was z. B. für die Doublette zur Speisungsgeschichte als erwiesen gelten darf.
Massgebend ist aber der Empfang, den die Festkarawane Jesu bereitet, als er sie vor Jericho einholt. Diese Ovation gilt nicht dem Mann, der Land und Leute an die Pharisäer verlor und zuletzt fliehen musste, sondern dem aus der Verborgenheit wieder aufgetauchten gefeierten Propheten. Wenn diese jubelnden galiläischen Volksmassen es ihm jetzt ermöglichen, in der Hauptstadt die Behörde mehrere Tage zu terrorisieren — denn etwas anderes ist die Tempelreinigung nicht gewesen — und die Schriftgelehrten mit herber Ironie blosszustellen, haben sie es für den Mann gethan, der einige Wochen vorher diesen Theologen im eigenen Land weichen musste?
Will man also von einer Periode der Erfolge reden, so muss man die zweite als eine solche bezeichnen. Denn überall, wo Jesus nach der Rückkehr der Jünger in der Oeffentlichkeit erscheint, ist er von einer ihm ergebenen Menge begleitet: in Galiläa, [S. 6] vom Jordan nach Jerusalem und in der Hauptstadt selbst. Das murrende Judenvolk ist eine Erfindung des vierten Evangelisten. Zudem zeigt der Gewaltstreich der heimlichen Gefangennahme und die hastige Verurteilung, was der hohe Rat von dieser Volksbewegung zu Gunsten Jesu befürchtete. Das war der einzige »Misserfolg« in der zweiten Periode. Freilich war er verhängnisvoll.
Die erfolgreiche erste galiläische Periode ist also in Wirklichkeit die Zeit der Demütigungen und der Misserfolge. Ein Doppeltes führte dazu, sie trotzdem als die »glückliche« aufzufassen. Zunächst ist darin ein ästhetischer Faktor enthalten, der gerade bei Keim stark hervortritt. Eine Reihe der Natur entnommener Gleichnisse, sowie die wundervolle Rede gegen weltliche Sorge Mt 6 25-34 scheinen nicht anders begreiflich, als dass hoffnungsvoller Frohsinn in der Natur sich selbst wiederfindet.
Dazu kommt als zweites ein historisches Postulat. In der ersten Periode findet sich keine Spur vom Leidensgedanken; die zweite wird durch ihn beherrscht. Also war die erste erfolgreich, die zweite unglücklich, da anders der Umschwung psychologisch und historisch nicht begreiflich ist.
Die historischen Thatsachen reden anders. In der wirklichen Periode der Misserfolge tritt der Leidensentschluss nicht zu Tage. Dagegen eröffnet er seinen Jüngern in der erfolgreichen zweiten Periode, dass er durch die Schriftgelehrten sterben müsse. Das Verhältnis ist also gerade umgekehrt. Damit steht die modern-historische Psychologie vor einem Rätsel.
4. Der Einfluss der paulinischen Sühnetheorie auf die Fassung der synoptischen Leidensworte.
(Zweite Voraussetzung.)
Es lässt sich kein Beweis führen, dass die synoptischen Leidensstellen durch paulinische Gedanken beeinflusst sind. Auch hier handelt es sich um eine Art Postulat, denn wenn es nicht gelingt, den juridischen Charakter von Mk 10 45 und Mk 14 24 auf Rechnung des paulinischen Mediums zu setzen, so muss man annehmen, dass Jesu Leidensgedanke selbst diese schroffe Sühnevorstellung enthalten habe. Darauf ist aber der modern-historische Lösungsversuch nicht eingerichtet.
Nun lässt sich aber beweisen, dass kein paulinischer Einfluss vorliegen kann! Nach Paulus sagt Jesus beim Abendmahl: [S. 7] Mein Leib für euch (I Kor 11 24). Dementsprechend heisst es auch Lk 22 19 u. 20: Mein Leib, der für euch gegeben wird, das Blut, das für euch vergossen wird. Die beiden älteren Synoptiker schreiben dafür immer: für viele. Mk 10 45 = Mt 20 28: zu geben sein Leben zur Sühne für viele. Mk 14 24 = Mt 26 28: mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele. Das eine Mal ist also das Publikum, welchem das Leiden zu gute kommt, genau bestimmt: es sind die Jünger. Das andere Mal handelt es sich um eine unbestimmte Mehrheit.
Mit dem Argument, dass es sachlich auf dasselbe hinauskomme, ist nichts gethan. Warum redete Jesus bei den älteren Synoptikern von den Vielen, bei Paulus von den Seinen? Die einzige Erklärung liegt darin, dass Paulus von dem Standpunkt der Gemeinde nach dem Tode Jesu schreibt. Danach kommt die Heilswirkung des Todes Jesu einer bestimmten Gemeinschaft zu gute, nämlich denen, die an ihn glauben. Die Jünger repräsentieren diese gläubige Gemeinschaft in den geschichtlichen Aussprüchen Jesu, weil man es sich vom Standpunkt der messiasgläubigen Gemeinde aus nicht anders vorstellen konnte, als dass Jesus mit den Worten über sein Leiden die Gläubigen gemeint habe.
Das altsynoptische »für viele« ist aber vom historischen Standpunkt aus gesprochen, wo Jesus noch nicht den Glauben an seine Messianität verlangt und wo deshalb die Mehrheit, denen sein Tod zu gute kommen soll, unbestimmt gelassen ist. Nur eines ist ihm gewiss, dass sie grösser ist als der Jüngerkreis; darum sagt er »für viele«. Hätte er gesagt »für euch« wie Paulus ihm zumutet, so hätten die Jünger daraus schliessen müssen, er sterbe für sie allein, da sie sich damals nicht, wie es Paulus und der Gemeinde geläufig war, als Repräsentanten einer zukünftigen messiasgläubigen Gemeinschaft fühlen konnten.
Ist aber dieses »für viele« stehen geblieben, trotzdem Paulus aus der Gemeindevorstellung heraus es instinktiv durch »für euch« ersetzen muss, obwohl er dadurch ein historisch unmögliches Wort schafft: so ist man nicht berechtigt, in der überlieferten Form des altsynoptischen Leidensgedankens irgendwie paulinische Beeinflussung anzunehmen. Die schroffe Sühnetheorie bei den Synoptikern ist also historisch. Eine Abschwächung, wie sie der modern-historische Lösungsversuch voraussetzen muss, ist unberechtigt.
Nun stellt sich die Aufgabe, in der Deutung der Aussprüche Jesu gerade dem »für viele« gerecht zu werden. Weil sie dies nicht gethan haben, sind alle Darlegungen über die Bedeutung des Todes Jesu, von Paulus bis Ritschl, unhistorisch. Man setze statt der gläubigen Gemeinschaft, mit der sie operieren, die unbestimmte und unqualifizierte Mehrheit des historischen Wortes ein, dann werden ihre Ausführungen einfach sinnlos. Historisch ist allein diejenige Deutung, welche begreiflich macht, warum nach Jesus die durch seinen Tod gewirkte Sühne einer mit Absicht unbestimmt gelassenen Mehrheit zu gute kommen soll.
5. Das Reich Gottes als ethische Grösse im Leidensgedanken.
(Dritte Voraussetzung.)
a) Mk 10 41-45. Das Dienen als das sittliche Verhalten in Erwartung des kommenden Reiches.
Die Zebedaiden hatten beansprucht, zu Seiten des Herrn zu sitzen in seiner Herrlichkeit, d. h. wenn er als Messias von seinem Thron aus regieren würde. Darüber sind die andern unwillig. Jesus ruft sie zusammen und redet ihnen vom Dienen und Herrschen in Bezug auf das Gottesreich.
In diesem Ausspruch findet man nun gewöhnlich den ethischen Begriff des Reiches Gottes. Eine Umwertung aller Werte soll erfolgen. Der Grösste im Himmelreich ist der, welcher klein wird als ein Kind (Mt 18 4), und Herrscher ist, wer dient. Selbsterniedrigung und dahingebendes Dienen, das ist die neue Sittlichkeit des Gottesreiches, welche durch Jesu dienendes Todesleiden in Kraft tritt.
Dabei vergessen wir aber, dass das Reich, in dem man herrscht, als etwas Zukünftiges gedacht ist, während das Dienen auf die Gegenwart geht! In unserer ethischen Betrachtungsweise fallen Dienen und Herrschen zeitlich und logisch zusammen. Bei Jesus aber handelt es sich gar nicht um eine rein ethische Vertauschung der Begriffe Dienen-Herrschen, sondern dieser Gegensatz verläuft in einer zeitlichen Folge. Scharf hebt sich der gegenwärtige von dem zukünftigen Aeon ab. Wer im Reich Gottes einmal zu den Grössten gehören will, der muss jetzt sein als ein Kind! Wer auf eine Herrscherstellung darin Anwartschaft erhebt, der muss jetzt dienen! Je tiefer sich jetzt einer unter die andern beugt in der Zeit, wo die irdischen Herrscher sich mit Gewalt im Regiment erhalten, desto höher wird seine Herrschaft sein, wenn die irdische Gewalt aufhört und das Reich Gottes anbricht. [S. 9] Darum muss derjenige sich im Todesleiden erniedrigen, welcher als Menschensohn auf den Wolken des Himmels kommen wird zum Richten und Herrschen. Ehe er seinen Thron besteigt, trinkt er den Leidensbecher, von dem auch die kosten müssen, die mit ihm herrschen wollen!
Sowie man dieses »jetzt und dann« in Jesu Rede beachtet, tritt an die Stelle des abgeblassten Satzparallelismus eine wirkungsvolle Steigerung. Den absteigenden Rangstufen des Dienens entsprechen die aufsteigenden des Herrschens.
1. Wer gross sein will unter euch, der sei euer Diener (V. 43).
2. Wer von euch der erste sein will, der sei aller (andern) Diener (V. 44).
3. Darum wartet des Menschensohns die höchste Herrscherstellung, weil er nicht gekommen ist, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen, indem er sein Leben als Sühne für die Vielheit dahingibt (V. 45).
Die Steigerung ist eine doppelte. Das Dienen der Jünger erstreckt sich nur auf ihren Kreis, das Dienen Jesu auf eine unbeschränkte Mehrheit, nämlich auf alle die, welchen sein Todesleiden zu gute kommen soll. Bei den Jüngern handelt es sich nur um eine selbstlose Unterwerfung, bei Jesus um das bittere Todesleiden. Beides ist ein Dienen, insofern damit die Anwartschaft auf eine Herrscherstellung im Reich verbunden ist.
Die gewöhnliche Erklärung wird nicht dem altsynoptischen, sondern nur dem lukanischen Texte gerecht (Lk 22 24-27). Dieser hat die Erzählung aus dem Zusammenhang herausgerissen, so dass es sich um einen Streit der Jünger beim letzten Mahl handelt, wer von ihnen »für den Grössten zu halten sei.«
Damit ist das »jetzt und dann« aus der Situation ausgeschieden und es handelt sich nur um eine rein ethische Verkehrung der Begriffe Herrschen und Dienen. Jesu Rede verläuft dementsprechend auch in einem unlebendigen Parallelismus. Der Grösste unter euch sei wie der Jüngste, und der Vorsteher wie der, der aufwartet (Lk 22 26). Statt aus seiner Dahingabe in den Tod für die grosse Allgemeinheit auf das Verhalten derer, die mit herrschen wollen, zu exemplifizieren, redet er nur von seinem dienstbaren Wesen den Jüngern gegenüber: Ich aber bin in eurer Mitte, wie der, der aufwartet (Lk 22 27). Damit meint er ein Dienen, das zugleich Herrschen ist. Bei den beiden älteren Synoptikern handelt es sich aber gar nicht um die Proklamierung [S. 10] der neuen Sittlichkeit des Gottesreiches, wo Dienen Herrschen ist, sondern um die Bedeutung der Selbsterniedrigung und des Dienens in Erwartung des Gottesreiches. Dienen ist das Grundgesetz der Interimsethik.
Dieser Gedanke ist viel tiefer und lebendiger als das moderne Spiel mit Worten, welches wir dem Herrn zumuten. Nur durch Erniedrigung und Kindessinn in diesem Aeon wird man würdig bereitet, im Reich Gottes zu herrschen. Nur wer durch Leiden hier sittlich geläutert und geadelt ist, kann dort gross sein. Darum ist das Leiden für Jesus der sittliche Erwerb und die sittliche Bewährung für die messianische Herrschaft, die ihm bestimmt ist.
Irdisches Herrschen, weil es auf Gewaltthat beruht, ist Ausfluss der widergöttlichen Macht. Das Herrschen im Reich Gottes, wo die Weltmacht vernichtet ist, bedeutet Ausfluss der göttlichen Macht sein. Träger derselben kann nur der werden, welcher sich von irdischem Herrschen rein erhalten hat. Sie zu vergeben an die, welche durch Leiden sich bereitet haben, ist allein Gottes Sache (Mk 10 39 u. 40).
Ist aber Dienen nicht die Sittlichkeit des Gottesreiches, so operiert Jesu Leidensvorstellung auch nicht mit dem darauf beruhenden Begriff des Gottesreichs als der sich vollendenden ethischen Gemeinschaft, sondern mit einer übersittlichen Grösse, nämlich mit der eschatologischen Reichsvorstellung.
b) Der Leidensgedanke und die eschatologische Erwartung.
Die Untersuchung der Abendmahlsberichte ergab einen engen Zusammenhang zwischen dem eschatologischen Schlusswort und dem Ausspruch vom vergossenen Blut. Die übrigen Stellen über das Leiden führen auf eine ähnliche Verbindung.
Nachdem Jesus mit seinem »ja« sich selbst das Todesurteil gesprochen, redet er von seiner »Wiederkunft« auf den Wolken des Himmels. Dabei denkt er, dem Markustext zufolge, beide Geschehnisse in einem Gedanken. Mk 14 62: Ich bin es und ihr werdet den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels. Dieser logische Zusammenhang ist, wie für das Kelchwort, bei Matthäus schon erweicht, indem er an die Stelle des »und« die rein zeitliche Folge setzt. Mt 26 64: Du sagst es. Doch ich sage euch, von nun an werdet etc. Bei Lukas fehlt der eschatologische Hinweis; er hat ihn auch beim Kelchwort ausfallen lassen.
Eine enge Verbindung zwischen dem Leidensgedanken und der Eschatologie setzt auch das Gespräch über den Leidensweg der Nachfolger voraus (Mk 8 34-9 1). Wer sich Jesu schämt, wenn er Schmähung und Verfolgung in der ehebrecherischen und sündigen Welt erduldet, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln kommt. Denn dieses Geschlecht wird nicht in den Tod sinken, bis sie sehen das Reich Gottes kommend in Macht!
Dieser Zusammenhang muss für die Hörer stark hervorgetreten sein. Nach dem Aufbruch von Cäsarea Philippi, unter dem Eindruck des Leidensgeheimnisses, das ihren Sinn mit Trauer und Angst erfüllt (Mk 9 30-32) — streiten sich die Jünger darum, wer den höchsten Platz im Reich einnehmen wird. Im Hause zu Kapernaum muss Jesus sie darüber zurechtweisen (Mk 9 33-37). Das war, nachdem er zum zweitenmal von seinem Leiden gesprochen hatte.
Auf dem Weg nach Jerusalem wiederholt sich derselbe Auftritt im engsten Anschluss an die dritte Leidensweissagung (Mk 10 32-41). Die Zebedaiden erheben ihre Ansprüche auf die Thronplätze. Es handelt sich hier gar nicht um kindischen Missverstand der Anhänger, denn Jesus geht ja ganz ernsthaft auf ihren Gedanken ein. Die eschatologische Erwartung muss also für die Jünger in dem Leidenswort Jesu so stark zur Geltung gekommen sein, dass sie sich notwendig Gedanken machen über die Stellung, welche sie im zukünftigen Reich einnehmen werden.
Der modern-historische Erklärungsversuch eliminiert den eschatologischen Begriff des Reiches Gottes aus dem Leidensgedanken, indem er ihn auf die apotheosenhafte Vorstellung von der »Wiederkunft« reduziert. Dieser Ausdruck ist vollständig falsch. Jesus hat nie von seiner »Wiederkunft«, sondern nur von seiner Ankunft oder der Zukunft des Menschensohnes geredet. Wir gebrauchen den Ausdruck »Wiederkunft«, weil wir Tod und Herrlichkeit durch Kontrast verbinden, als bezöge sich der neue Zustand nur auf eine sieghafte Verklärung Jesu. Unsere Auffassung lässt ihn sagen: »Ich werde sterben, aber ich werde durch meine Wiederkunft verherrlicht werden«. Thatsächlich hat er aber gesagt: »Ich muss leiden und der Menschensohn wird auf den Wolken des Himmels erscheinen.« Das bedeutet aber für seine Zuhörer viel mehr als eine Apotheose — denn mit der Erscheinung des Menschensohnes brach das eschatologische Reich [S. 12] an. Jesus setzt also seinen Tod mit dem eschatologischen Anbruch des Reichs in einen zeitlich-ursächlichen Zusammenhang. Der eschatologische Reichsbegriff, nicht der modern-ethische, beherrscht seinen Leidensgedanken.
6. Die Form der Leidensoffenbarung.
(Vierte Voraussetzung.)
Bestände die Auffassung des modern-historischen Lösungsversuchs zu Recht, so hätte Jesus den Jüngern den Leidensgedanken in der Form einer ethischen Reflexion mitteilen müssen. Sollten sie die eintretende Katastrophe als Inauguralakt der neuen Sittlichkeit begreifen und daraus eine Erneuerung ihres sittlichen Handelns ableiten, dann musste er sie mit diesem Charakter des Ereignisses von vornherein, zugleich mit der Ankündigung desselben, bekannt machen.
Nun hat er ihnen aber den Leidensgedanken nicht in der Form einer ethischen Reflexion, sondern als ein Geheimnis ohne weitere Erklärung mitgeteilt. Es wird beherrscht von dem »müssen«, dem Ausdruck der unbegreiflichen göttlichen Notwendigkeit. Dass der Leidensgedanke ein Leidensgeheimnis war, das steht dem modern-historischen Lösungsversuch entgegen.
7. Zusammenfassung.
1. Die Annahme einer glücklichen galiläischen Periode, auf welche dann die Zeit des Niedergangs folgt, ist historisch nicht haltbar.
2. Paulinischer Einfluss kann die Fassung der altsynoptischen Leidensaussprüche nicht bedingt haben.
3. Nicht der ethische, sondern der überethische, eschatologische Reichsgedanke beherrscht die Leidensvorstellung Jesu.
4. Die Aussprache des Leidensgedankens geschah nicht in der Form einer ethischen Betrachtung, sondern es handelt sich um ein unbegreifliches Geheimnis, das die Jünger gar nicht zu verstehen brauchten und auch nicht verstanden haben.
So steht es um die vier Grundpfeiler des modern-historischen Lösungsversuchs. Mit ihnen stürzt der ganze Bau zusammen. Es ist doch nur ein unlebendiger Gedanke! Das Modern-Kraftlose zeigt sich darin, dass man es dabei über eine Art repräsentativer Bedeutung des Todes Jesu nicht hinausbringt. Jesus beschafft durch seine Dahingabe nichts schlechthin Neues, weil er ja das Reich Gottes als Sündenvergebung oder als die sich sittlich [S. 13] vollendende Gemeinschaft während seiner ganzen öffentlichen Wirksamkeit als schon vorhanden voraussetzt. Es ist mit seinem Auftreten selbst gegeben. Eine geleistete Sühne verlangt aber eine effektive Bedeutung des Todes.
Darin besteht auch die Schwäche der modernen Dogmatik gegenüber der alten. Paulus, Anselm und Luther wissen um einen absolut neuen Zustand, der zeitlich und kausal aus Jesu Tod resultiert. Die moderne Dogmatik redet darum herum; aber sie weiss nichts anzugeben, sondern hüllt sich in die Wolke ihrer eigenen Voraussetzungen. Unhistorisch sind sie zwar beide. Religiös berechtigt ist allein die moderne. Die alte Dogmatik ist aber hier historischer, denn sie postuliert doch eine effektive Wirkung des Todes Jesu, wie es die synoptischen Stellen verlangen.
Worin besteht aber dort die schlechthin neue Grösse, welche an den Tod gebunden ist? Die synoptischen Sprüche geben darauf nur eine Antwort: die eschatologische Realisierung des Reiches! Von der Sühne, die Jesus leistet, hängt das Kommen des Reiches Gottes in Macht ab. Das ist der Grundzug des Leidensgeheimnisses.
Wie ist dies zu verstehen? Nur die Geschichte Jesu kann darüber Aufschluss geben. An die Stelle des modern-historischen tritt nun der eschatologisch-historische Lösungsversuch.
Zweites Kapitel.
Die Entwicklung Jesu.
1. Das Reich Gottes als ethische und als eschatologische Grösse.
Das Zusammensein einer ethischen und einer eschatologischen Gedankenreihe bei Jesus bildete von jeher eines der schwersten Probleme der neutestamentlichen Wissenschaft. Wie können sich in einem Denken zwei so verschiedene, in manchem diametral entgegengesetzte Weltanschauungen vereinigen?
Man hat das Problem zu umgehen gesucht, in dem richtigen Gefühl, dass beide unvereinbar sind. Kritische Geister wie T. Colani (Jésus-Christ et les croyances messianiques de son temps 1864, S. 94 ff., 169 ff.) und G. Volkmar (Die Evangelien 1870, S. 530 ff.) kamen dazu, die Eschatologie überhaupt aus Jesu Vorstellungskreis [S. 14] zu eliminieren. Danach wären alle derartigen Aussprüche auf Kosten der eschatologischen Erwartung der späteren Zeit zu setzen. Dieses Verfahren scheitert an der Hartnäckigkeit der Texte; gerade die eschatologischen Worte gehören zu den bestbezeugten Partien. Ihre Ausscheidung bedeutet einen Gewaltakt.
Nicht besser steht es mit dem Versuch der Umgehung des Problems durch Sublimierung der Eschatologie, als hätte Jesus die realistischen Vorstellungen seiner Zeit ins Geistige übersetzt, indem er sie im Bilde anwandte. Auf diesem Gedanken beruht die Studie von Erich Haupt (Die eschatologischen Aussagen Jesu in den synoptischen Evangelien. 1895). Nichts berechtigt uns aber anzunehmen, Jesus habe seine Worte in einem uneigentlichen Sinn gemeint, während seine Zuhörer sie aus der zeitgenössischen Vorstellung heraus realistisch auffassen mussten. Für ein solches Unternehmen fehlt nicht nur jede prinzipielle Erklärung, sondern auch die leiseste Andeutung seinerseits.
So bleibt also das Problem, wie das Nebeneinander zweier Weltanschauungen zu erklären sei, in voller Schärfe bestehen. Die einzige Lösung scheint in der Annahme einer zeitlichen Entwicklung zu liegen. Jesu Weltanschauung sei anfangs rein ethisch gewesen. Er habe die Realisierung des Reiches Gottes von der Ausdehnung und Vollendung der sittlich-religiösen Gemeinschaft erwartet, die er zu gründen unternahm. Als aber der Widerstand der Weltmacht die organische Vollendung des Reiches in Frage stellte, habe sich die eschatologische Vorstellung ihm aufgedrängt. Durch die Ereignisse sei er dazu gekommen, die Vollendung des religiös-ethischen Ideals, welche er bisher an den Endpunkt einer durch sittliches Wirken fortschreitenden Entwicklung verlegte, nunmehr von einer kosmischen Katastrophe zu erwarten, in welcher die Allmacht Gottes das zum Abschluss bringen sollte, was er unternommen hatte.
Es soll also ein Umschwung in Jesu Gedanken stattgefunden haben. Aber die zeitliche Auseinanderziehung des Gegensatzes verschleiert das Problem nur, ohne es zu lösen. Die Aufnahme des eschatologischen Gedankens, wenn sie in dieser Weise vorstellig gemacht werden soll, bedeutet nichts anderes, als den totalen Bruch mit der Vergangenheit, wobei jede Entwicklung aufhört. Denn, wenn man mit dem eschatologischen Gedanken Ernst macht, hebt er die ethischen Gedankenreihen auf. Er verträgt [S. 15] keine nebensächliche Stellung. Zu dieser Kraftlosigkeit kam er erst in der christlichen Dogmatik, durch die geschichtliche Erfahrung. Jesus aber hat entweder eschatologisch oder uneschatologisch gedacht, aber nicht beides zugleich oder so, dass das Eschatologische ergänzend zum Uneschatologischen hinzutrat.
Nun ist nachgewiesen, dass in dem Leidensgedanken nur der eschatologische Begriff vom Reich Gottes zur Geltung kommt. Ebenso ist die Annahme einer Periode der Misserfolge nach der Aussendung historisch nicht berechtigt. Diese bildet aber die unumgängliche Voraussetzung jeder in Jesu anzunehmenden Entwicklung. Also kann der eschatologische Gedanke sich Jesu nicht durch äussere Erlebnisse aufgezwungen haben, sondern er muss von Anfang an, auch in der ersten galiläischen Periode seiner Predigt zu Grunde gelegen haben!
2. Der eschatologische Charakter der Aussendungsrede.
»Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen« (Mt 10 7) — dieses Wort, das Jesus den Jüngern zu verkündigen aufträgt, fasst seine ganze bisherige Predigt zusammen. Sie sollen sie nun hinaustragen in die Städte Israels. In welchem Sinn diese Ankündigung gemeint ist, darüber gibt die Aussendungsrede keinen Aufschluss.
Ist die gewöhnliche Auffassung von der Bedeutung jener Entsendung der Jünger richtig, so bieten die Worte, mit denen er sie entlässt, ein merkwürdiges Rätsel dar. In hoffnungsvoller Schaffensfreude geht er daran, den Kreis seiner auf die Gründung des Gottesreiches gerichteten Thätigkeit weiter zu ziehen. Die Aussendungsrede sollte also Belehrungen für die missionierende Thätigkeit der Jünger in diesem Sinn enthalten. Man müsste nun erwarten, dass er sie anleitet, wie sie über das neue Verhältnis zu Gott und über die neue Sittlichkeit des Gottesreiches predigen sollen.
Die Aussendungsrede ist aber alles andere eher als eine Zusammenfassung der »Lehre Jesu«. An eine tiefer eindringende Unterweisung ist gar nicht gedacht, sondern es handelt sich um eine fliegende Verkündigung durch Israel mit dem einzigen Lehrauftrag, den Ruf von der Nähe des Gottesreiches überall ertönen zu lassen — damit alle gewarnt sind und Busse thun können. Zeit ist aber dabei nicht zu verlieren; darum sollen sie sich in [S. 16] einer Stadt, wo sie keine Empfänglichkeit finden, nicht aufhalten, sondern weiter eilen, damit sie mit den Städten Israels fertig werden, ehe die Erscheinung des Menschensohns stattfindet. »Kommen des Menschensohnes« bedeutet aber: Einbrechen des Reiches Gottes mit Macht.
Wenn sie euch verfolgen in dieser Stadt, fliehet zur andern; wahrlich ich sage euch, ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende sein, bis dass der Menschensohn kommen wird (Mt 10 23). Versteht man die Aussendungsrede so, als habe Jesus durch die Jünger sagen lassen, dass nun die Zeit da sei, in einem neuen sittlichen Verhalten das Reich zu verwirklichen, so bleibt jenes eschatologische Wort ein erratischer Block inmitten blühender Wiesen. Fasst man aber die Botschaft der Reichsnähe eschatologisch auf, dann fügt sich das Wort einem grossen Zusammenhang ein. Es ist ein Fels in einer wilden Gebirgslandschaft. Von diesem Wort kann man nicht sagen, es sei aus einer späteren Zeit eingearbeitet, sondern mit zwingender Gewalt bannt es eschatologische Aussagen in die Tage der Aussendung.
Die einzige erforderliche Lehrunterweisung ist der Bussruf. Busse thut, wer an die Nähe des Reiches glaubt. Darum gibt Jesus ihnen Gewalt über die unreinen Geister, dass sie dieselben austreiben und die Kranken heilen (Mt 10 1); aus diesem Zeichen sollen alle ersehen, dass es mit der widergöttlichen Macht zu Ende geht und das Morgenrot des Gottesreiches anbricht. Das gehört mit zu ihrem Lehrauftrag, denn wer ihren Zeichen nicht glaubt und daraufhin keine Busse auf das Reich Gottes hin thut, der ist verdammt. So sind Chorazin, Bethsaïda und Kapernaum dem Gerichte verfallen. Der Glaube und die Busse wurden ihnen leicht gemacht durch die Zeichen und Wunder, mit welchen sie vor andern begnadet waren — und sie waren doch nicht in sich gegangen, was doch Heidenstädte wie Tyrus und Sidon gethan hätten (Mt 11 20-24). Dieses an das Volk gerichtete Wort zeigt, welche Bedeutung Jesus den Zeichen mit Hinsicht auf die eschatologische Botschaft beimass.
Die Jünger sollten also predigen vom Reich, von der Busse und dem Gericht. Weil aber das Ereignis, das sie verkündeten, so nahe war, dass es jeden Augenblick hereinbrechen konnte, mussten sie auf das, was ihm vorausging, vorbereitet sein: nämlich auf das letzte Aufbäumen der Weltmacht. Wie sie sich dabei zu verhalten haben, um nicht irre zu werden, darauf [S. 17] geht die Unterweisung, mit der er sie entlässt! In dem allgemeinen Aufruhr der Geister werden sich alle Bande lösen. Bis in die Familie wird der Zwiespalt hineingetragen werden (Mt 10 34-36). Wer sich zur Sache des Gottesreiches halten will, der muss bereit sein, die, welche ihm am liebsten waren, aus seinem Herzen herauszureissen und Kreuz und Schmach auf sich zu nehmen (Mt 10 37 u. 38). Die weltliche Gewalt wird schwere Verfolgung über sie bringen (Mt 10 17-31). Man wird sie zur Verantwortung ziehen und sie quälen, um sie zur Verleugnung zu bewegen. Der Bruder wird den Bruder, der Vater das Kind dem Tod überantworten, und die Kinder werden wider die Eltern aufstehen und den Tod über sie bringen. Nur wer in diesem allgemeinen Aufruhr standhaft beharrt und sich zu Jesu bekennt, der wird am Gerichtstage gerettet werden, wenn der Herr bei Gott für ihn eintritt (Mt 10 32 u. 33).
In der Aussendungsrede hat Jesus die Jünger über die Wehen des anbrechenden Reiches belehrt. Manches in den ausmalenden Partien mag vielleicht die Färbung einer späteren Zeit aufweisen. Dadurch wird aber der Gesamtcharakter der Rede nicht beeinträchtigt. Es handelt sich nicht um ein Verhalten in ihrer Thätigkeit nach seinem Tode; über eine solche Anweisung fehlt uns jegliches historische Wort. Dem Anbruch des Reiches gehen die Wehen voraus. Also muss die sieghafte Verkündigung der Reichsnähe sich auf die Wehen einrichten. Darum dieses, in der bisherigen Erklärung unfassbare Nebeneinander von Optimismus und Pessimismus. Es gehört zur Signatur jeder eschatologischen Weltanschauung.
3. Die neue Auffassung.
Der Leidensgedanke ist nur von dem eschatologischen Reichsbegriff beherrscht. In der Aussendungsrede handelt es sich nur um die eschatologische, nicht um die ethische Reichsnähe. Daraus folgt einmal, dass Jesu Thätigkeit nur mit der eschatologischen Realisierung des Reiches rechnet. Dann kann aber das Verhältnis seiner ethischen Gedanken zur eschatologischen Weltanschauung keine Umbildung durch äussere Ereignisse erfahren haben, sondern es muss von Anfang an dasselbe gewesen sein.
In welchem Zusammenhang standen aber seine Ethik und seine Eschatologie? Solange man von der Ethik ausgeht und die [S. 18] Eschatologie als etwas Hinzutretendes zu begreifen sucht, gibt es keinen organischen Zusammenhang zwischen beiden, weil die Ethik Jesu, wie wir sie aufzufassen pflegen, gar nicht auf die Eschatologie eingerichtet ist, sondern viel höher steht. Man muss daher den umgekehrten Weg einschlagen und versuchen, ob nicht seine ethische Verkündigung ihrem Wesen nach durch die eschatologische Weltanschauung bedingt ist.
Drittes Kapitel.
Die Predigt vom Reich Gottes.
1. Die neue Sittlichkeit als Busse.
Wenn der Gedanke der eschatologischen Realisierung des Reichs die Grundvorstellung der Predigt Jesu ist, so fällt seine ganze Ethik unter den Begriff der auf das Kommen des Reichs vorbereitenden Busse. Uns scheint dieser Begriff zu eng, um auf den ganzen Umfang seiner sittlich-religiösen Verkündigung angewandt werden zu können. In unserer Sprache hat nämlich dieses Wort eine mehr negative Bedeutung, sofern es hauptsächlich die Beziehung auf eine vorhergehende Schuld hervorhebt. Die Vorstellung aber, welche bei den Synoptikern durch Busse (μετάνοια) wiedergegeben wird, ist viel reicher. Sie ist nicht nur eine sittliche Wiederherstellung im Rückblick auf einen zurückliegenden sündigen Zustand, sondern — und dieser Charakter prävaliert — auch eine sittliche Erneuerung im Hinblick auf eine bevorstehende allgemeine sittliche Vollendung.
So schliesst »die Busse in Erwartung des Reichs« alle positiven ethischen Forderungen in sich. In dieser Bedeutung ist sie der lebendige Nachhall der altprophetischen Busse. Denn bei Amos, Hosea, Jesaia und Jeremia bedeutet Busse die sittliche Erneuerung im Hinblick auf den Tag des Herrn. So sagt Jesaia: »Waschet euch, reinigt euch; entfernt die Bosheit eurer Thaten aus meinen Augen. Fraget nach Recht, steuert dem Gewaltthätigen; richtet die Waise, schaffet Recht der Witwe« (Jes 1 16 u. 17). Gerade diesen alttestamentlichen Begriff der Busse, welcher den Nachdruck auf das neue sittliche Leben legt, muss man gegenwärtig haben, um die synoptische Busse richtig zu erfassen. Beide sind nach vorwärts orientiert, beide sind durch den Gedanken eines Zustandes der Vollendung beherrscht, den [S. 19] Gott durch sein Gericht heraufführen wird. Für die altprophetische ist es der Tag des Herrn, für die synoptische der Anbruch des Reiches.
Die Ethik der Bergpredigt ist also Busse. Die neue Sittlichkeit, welche hinter dem Buchstaben den Geist des Gesetzes entdeckt, macht geschickt zum Reiche Gottes. Nur die Gerechten kommen ins Gottesreich: das stand für alle fest. Wer also die Nähe des Reiches predigte, musste auch die Gerechtigkeit auf das Reich hin lehren. Darum verkündet Jesus die neue Gerechtigkeit, die höher ist als das Gesetz und die Propheten, denn diese gehen nur bis auf den Täufer. Seit den Tagen des Täufers steht man aber in der unmittelbar vormessianischen Zeit.
Am Tage des Gerichts gilt es, diese sittliche Umwandlung vorzuweisen; nur wer den Willen des himmlischen Vaters gethan hat, der wird in das Gottesreich eingehen (Mt 7 21). Keine Berufung auf Anhängerschaft Jesu, nicht einmal auf Zeichen, die in seinem Namen verrichtet wurden, kann diese neue Gerechtigkeit ersetzen (Mt 7 22 u. 23). Darum schliesst die Bergpredigt mit der Ermahnung, in Erwartung der gewaltigen Ereignisse einen festen Bau aufzuführen, der in Sturm und Wetter standhält (Mt 7 24-27).
Unter denselben Gesichtspunkt fallen die Seligpreisungen (Mt 5 3-12). Sie bestimmen die zum Eintritt in das Himmelreich berechtigende sittliche Verfassung. So erklärt sich das Präsens und das Futurum in demselben Satz. Selig sind sie, die Sanftmütigen, die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, die Barmherzigen, die reinen Herzens sind, die Friedfertigen, die geistig Armen, die in der Verfolgung um der Gerechtigkeit willen beharren, weil sie in diesem Verhalten die Gewähr haben, beim Erscheinen des Reiches Gottes als dazu gehörig erfunden zu werden.
Eine Reihe von Gleichnissen enthält denselben Gedanken. So wird in den Gleichnissen vom Schatz im Acker und von der köstlichen Perle (Mt 13 44-46) geschildert, wie der Mensch alles daran setzen muss, wenn ihm das Reich Gottes in Aussicht gestellt wird, wie er alle andern Güter dahingeben muss, um dieses in Aussicht stehende höchste Gut zu erwerben.
Wir finden also in der Ethik der galiläischen Periode schon das »jetzt und dann«, welches der Wertung des Dienens (Mk 10 45) zu Grunde liegt. Als Busse auf das Reich Gottes hin ist auch die Ethik der Bergpredigt Interimsethik. Die sittliche [S. 20] Unterweisung Jesu ist sich also darin vom ersten Tag seines Auftretens bis zu seinen letzten Aussprüchen gleichgeblieben, denn die Erniedrigung und das Dienen, welche er den Seinen auf dem Weg nach Jerusalem anempfiehlt, entsprechen genau dem neuen sittlichen Verhalten, das er in der Bergpredigt entwickelt: sie machen geschickt zum Reich Gottes. Nur bilden sie noch eine Steigerung zur neuen Gerechtigkeit, indem sie geschickt machen zum Herrschen daselbst.
Dem Leitmotiv der Bergpredigt begegnen wir noch einmal in dem Epilog zur grossen Gleichnisrede der jerusalemitischen Tage. Nur die Bewährung der neuen Sittlichkeit in allen Verhältnissen des Lebens gewährleistet den Eintritt in das Reich. Darum kann Jesus zu dem Pharisäer, der dem Grundgesetz dieser neuen Sittlichkeit zustimmt, wie es in dem grossen Liebesgebot ausgedrückt ist, sagen: Du bist nicht fern vom Reich Gottes (Mk 12 34). Das will nicht heissen, dass der Pharisäer durch seine Gesinnung beinahe schon die Höhe der »Sittlichkeit des Gottesreiches« erklommen hat. Wenn nämlich das Doppelgebot der Liebe die Sittlichkeit des Gottesreiches ausmachte, müsste er ihm, da er diesem Gebote vollständig zustimmt, sagen: Du gehörst dem Gottesreiche an. So aber ist das »nicht fern« rein zeitlich zu verstehen, nicht von einer kleinen Vervollkommnung, die ihm noch fehlt. Er ist nicht fern von dem Reich Gottes, weil er die sittliche Qualität besitzt, durch welche er als ein Genosse desselben erfunden werden wird, wenn es in Kürze erscheint. Das »nicht fern« enthält also dasselbe Gemisch von Präsens und Futurum wie die Seligpreisungen.
Von unseren ethischen Vorstellungen ausgehend, sind wir geneigt, den Begriff des Lohnes auf dieses Verhältnis zwischen der Zugehörigkeit zum Reich und der neuen Sittlichkeit anzuwenden. Damit wird jedoch der Gedanke Jesu nicht vollständig wiedergegeben, da es sich für ihn vor allem um die Unmittelbarkeit des Uebergangs aus dem Zustande der sittlichen Erneuerung in den der übersittlichen Vollendung des Gottesreiches handelt. Wer beim Anbrechen des Gottesreichs im Besitz der sittlichen Erneuerung ist, der wird als ein Glied desselben erfunden werden. Dies ist der adäquate Ausdruck für das Verhältnis der Sittlichkeit zum kommenden Gottesreich.
2. Die Ethik Jesu und die moderne Ethik.
Durch die Tiefe der religiösen Ethik Jesu kommen wir dazu, in ihr unser modern-ethisches Bewusstsein wiederfinden zu wollen. Ihrer ewigen inneren Wahrheit nach ist sie allerdings losgelöst von jeder geschichtlichen Bedingtheit, weil sie die höchsten ethischen Gedanken aller Zeiten schon in sich enthält. Dennoch besteht ein grosser Unterschied zwischen Jesu Empfinden und dem unseren. Die moderne Ethik ist »unbedingt«, weil sie den neuen sittlichen Zustand aus sich selbst heraus schafft, wobei vorausgesetzt wird, dass sich dieser Zustand zur Endvollendung entwickeln wird. Die Ethik ist hier Selbstzweck, sofern die sittliche Vollendung der Menschheit sich mit der Vollendung des Reiches Gottes deckt. Das ist Kant's Gedanke. In dieser Verselbständigung der Ethik, welcher doch eine gewisse Resignation hinsichtlich der Erreichung des vollendeten Endzustandes anhaftet, zeigt sich, dass die christlich-moderne Ethik von hellenistisch-rationalistischen Gedanken durchsetzt ist und unter dem Einfluss einer zweitausendjährigen Entwicklung steht.
Die Ethik Jesu hingegen ist »bedingt« in dem Sinn, dass sie in unlösbarem Zusammenhang mit der Erwartung eines übernatürlich eintretenden Zustandes der Vollendung steht. Darin zeigt sich ihre jüdische Provenienz und der unmittelbare Zusammenhang mit der prophetischen Ethik, wo das sittliche Verhalten des Volks durch seine Zukunftserwartungen bedingt war. Wenn daher irgend eine Parallele zur Erklärung der Ethik Jesu herbeigezogen werden darf, so ist es nur die prophetische, niemals die moderne. Denn sowie die letztere mithereinspielt, wird die Betrachtungsweise unhistorisch, sofern man die Ethik Jesu verselbständigt, während sie durchaus nach der erwarteten übernatürlichen Vollendung orientiert ist.
Dadurch schafft man das unlösbare Problem, dass eine ihrer Ethik nach durchaus moderne Persönlichkeit nebenher eschatologische Aussprüche thut. Hat man aber einmal die Bedingtheit seiner Ethik eingesehen und macht man Ernst mit ihrem Zusammenhang mit der prophetischen Ethik, so ist mit einem Schlage klar, dass alle Vorstellungen von einem aus kleinen Anfängen emporwachsenden Reich, von einer Ethik des Gottesreiches und von einer Entwicklung desselben durch unser modernes Bewusstsein an Jesu Gedanken herangetragen werden, weil wir uns nicht [S. 22] ohne weiteres mit der Bedingtheit seiner Ethik vertraut machen können.
Wir muten ihm zu, sich das Reich Gottes vorzustellen, wie es in seiner historischen Verwirklichung sich gleichsam durch eine Verengerung hindurchzwängt, um nachher die Vollgestalt, auf die es angelegt ist, zu erreichen. Das ist moderne Vorstellung. Für Jesus und die Propheten war sie aber unvollziehbar. In der Unmittelbarkeit ihrer ethischen Anschauung gibt es keine Sittlichkeit des Gottesreichs und keine Entwicklung desselben — es liegt jenseits der ethischen Grenze von Gut und Böse; es wird herbeigeführt durch eine kosmische Katastrophe, durch welche das Böse total überwunden wird. Damit werden die sittlichen Massstäbe aufgehoben. Das Reich Gottes ist eine übersittliche Grösse.
Zu dieser Höhe des überethischen Idealismus kann sich das moderne Bewusstsein nicht mehr aufschwingen. Wir sind eben durch die Geschichte alt geworden. Für das historische Verständnis der Ethik Jesu ist sie aber die unerlässliche Voraussetzung.
Dazu kommt noch, dass wir beim Reich Gottes nach vorwärts denken, an die kommenden Generationen, welche es in steigendem Masse verwirklichen werden. Jesu Blick geht rückwärts. Für ihn setzt sich das Reich zusammen aus den Generationen, welche schon ins Grab gesunken sind und die nun zu einem Vollendungszustand erweckt werden. Wie soll es für ihn eine Ethik der geschlechtlichen Beziehungen im Gottesreiche geben, wenn er den Sadducäern erklärt, dass es im Gottesreiche nach der grossen Auferstehung geschlechtliche Beziehungen überhaupt nicht mehr geben wird, sondern »dass sie sein werden, wie die Engel des Himmels« (Mk 12 25)?
Jede ethische Norm Jesu, möge sie auch noch so vollendet sein, führt also nur bis an die Grenze des Reiches Gottes, während jeglicher Pfad verschwindet, sobald man sich auf dem neuen Boden bewegt. Dort braucht man keinen.
Man hat ein Vorurteil gegen diese Bedingtheit. Sofern man meint, der Wert der Ethik Jesu würde dadurch herabgesetzt, ist es unberechtigt. Gerade das Gegenteil ist der Fall; denn diese Bedingtheit fliesst aus einem absolut ethischen Idealismus, welcher für den erwarteten Vollkommenheitszustand Daseinsbedingungen postuliert, die selbst ethisch sind. In unserer verselbständigten [S. 23] Ethik aber setzen wir den Kampf zwischen Gut und Bös, als dauernd zum Wesen des Ethischen gehörend, für immer voraus. Ethik und Theologie stehen für uns nicht in diesem lebendigen Verhältnis, wie bei Jesus. Die Lebhaftigkeit der Farben des absolut ethischen Idealismus ist in der Geschichte verblasst. So ist die Verselbständigung der Ethik Jesu also nicht nur ungeschichtlich, sondern sie bedeutet auch eine Verkümmerung seines ethischen Idealismus.
In einem Punkte hat aber unser ethisches Empfinden mit seinem Vorurteil recht. Bezieht sich die Ethik bloss auf die Erwartung der übernatürlichen Vollendung, dann ist ihr thatsächlicher Wert herabgesetzt, da sie nur Individualethik ist und nur das Verhältnis des Einzelnen zum Gottesreich berücksichtigt. Dass aber die sittliche Gemeinschaft, welche durch Jesu Predigt hervorgerufen wird, als solche irgendwie das wirksame Anfangsglied in der Realisierung des Gottesreiches sei, dieser Gedanke liegt nicht nur in unserem ethischen Empfinden, sondern er belebt auch die Predigt Jesu, denn er arbeitet den sozialen Charakter seiner Ethik scharf heraus. Gerade deswegen sträubt man sich, den eschatologischen Begriff des Reiches Gottes seiner Verkündigung von Anfang an zu Grunde zu legen, weil man sich dann nicht erklären kann, wie er den Zustand der neuen sittlichen Gemeinschaft, die er um sich schafft, mit dem übernatürlich eintretenden Reich organisch verbunden denkt.
Daher gerät man hier unwillkürlich auf das moderne Geleise. Der Begriff der Entwicklung leistet das Geforderte, indem er erlaubt, die neue sittliche Gemeinschaft als Anfangszustand zu jenem Endzustand aufzufassen, welchem sie sich durch eine stetige Ausdehnung und Vertiefung nähert. Der sich erweiternde Kreis ist aber eine moderne geschichtliche Betrachtungsweise. Sie ist Jesu vollständig fremd. Wenn er aber auch unsere Erklärung nicht vorausgesetzt haben kann, das Faktum, dass diese neue Gemeinschaft mit dem Endzustand in einem organischen Zusammenhang stehe, war ihm ebenso sicher wie uns. Weil er aber diesen Endzustand als rein übernatürlich eintretend erwartete, war der Zusammenhang nicht durch menschliche Ueberlegung zu begreifen, sondern es war ein göttliches Geheimnis, das er nur in Analogien zu den Vorgängen in der Natur aussprach.
Viertes Kapitel.
Das Geheimnis des Reiches Gottes.
1. Die Gleichnisse von dem Geheimnis des Reiches Gottes.
Es handelt sich um das »Geheimnis des Gottesreiches« (Mk 4 11), welches in den Gleichnissen vom Säemann, von der selbstwachsenden Saat, vom Senfkorn und vom Sauerteig dargestellt wird. Wir finden darin gewöhnlich die Veranschaulichung einer stetigen Entfaltung, durch welche ein kleiner Anfangszustand mit einem herrlichen Endzustand zusammenhängt. Die gesäten Körner enthalten die Ernte schon, indem jedes auf die Pflanze samt der Frucht angelegt ist. Sie entwickeln sich daraus stetig und notwendig. So ist es auch mit der Entwicklung des Reiches Gottes aus kleinen, unscheinbaren Anfängen.
Diese ansprechende Deutung der Gleichnisse benimmt ihnen aber den Charakter des Geheimnisses, denn die Veranschaulichung einer stetigen Entfaltung durch die Vorgänge in der Natur ist kein Geheimnis mehr. Darum misskennen wir das Geheimnis in diesen Gleichnissen. Wir deuten sie aus unserer naturwissenschaftlichen Reflexion, welche zwei noch so verschiedene Zustände in allen Fällen durch den Begriff der Entwicklung verbindet.
Der Unmittelbarkeit, mit welcher der antike ungeschulte Geist die Natur beobachtete, bot sie aber noch Geheimnisse, indem sie ihm zwei ganz verschiedene Zustände in einer Aufeinanderfolge vorführte, deren Zusammenhang ebenso gewiss als unerklärlich war. Diese Unmittelbarkeit spricht aus Jesu Gleichnissen. Der Begriff der Entwicklung in der Natur, auf welchen es die moderne Erklärung abgesehen hat, wird gar nicht hervorgehoben, sondern die Exposition geht darauf aus, die beiden Zustände so unmittelbar nebeneinander zu stellen, dass man zur Frage gedrängt wird: Wie kann der Endzustand aus dem Anfangszustand hervorgehen?
1. Ein Mensch säte aus. Von der Aussaat ging ein grosser Teil durch die verschiedensten Umstände verloren — und doch war der Ertrag der Körner, welche auf gutes Land fielen, so gross, dass es das Ausgesäte dreissig-, sechzig-, ja hundertfältig wiederbrachte.
Die Ausdeutung der einzelnen Punkte bei der Schilderung dieses Verlustes auf bestimmte Menschenklassen, wie sie Mk 4 [S. 25] 13-20 vorliegt, ist aus einer späteren Anschauung hervorgegangen, für die das Gleichnis eben kein Geheimnis mehr enthielt. Ursprünglich waren aber die einzelnen Schilderungen nicht selbständig, sondern die Saat, die auf dem Weg, auf dem steinigten Boden und unter den Dornen verloren geht, samt der, welche die Vögel des Himmels aufpicken, bildet einen einheitlichen Gegensatz zu der, welche auf gutes Land fiel. Für das Gleichnis kommt die Art, wie sie zu Grunde ging, nicht in Betracht. Jesu Rede hängt, trotz der wundervoll ausgeführten Schilderung, in einem Gedanken: So klein war unter Anrechnung alles dessen, was verloren ging, die Aussaat und dennoch die grosse Ernte! — Darin liegt das Geheimnis.
2. Ein Mensch streute Samen auf das Land. Er schlief, ging seinen Geschäften nach und kümmerte sich nicht weiter um die Saat. Ehe er sich's indes versah, stand die Ernte auf dem Feld und er konnte seine Knechte ausschicken, sie einzuholen. Wie ging es zu, dass, nachdem die Samenkörner in die Erde gesenkt waren, der Boden von selbst Gras, Halm und volle Aehre hervorbrachte? — Darin liegt das Geheimnis.
3. Es wurde ein Senfkorn gesät; daraus sprosste eine grosse Staude hervor, mit Zweigen, dass die Vögel des Himmels darunter wohnen konnten. Wie ging das zu, da doch das Senfkorn so klein ist? — Das ist das Geheimnis.
4. Ein Weib that ein bischen Sauerteig zu einem grossen Teig. Nachher war der ganze Teig »Sauerteig«. Wie kann durch ein wenig Sauerteig ein grosser Teig durchsäuert werden? — Das ist das Geheimnis.
Diese Gleichnisse sind gar nicht darauf angelegt, gedeutet und verstanden zu werden, sondern sie sollen die Hörer darauf aufmerksam machen, dass in den Sachen des Reiches Gottes ein Geheimnis sich vorbereitet, wie sie es in der Natur erleben. Es sind Signale. Wie auf die Saat die Ernte folgt, ohne dass jemand sagen kann, wie es zuging, so wird auf Jesu Predigt hin das Reich Gottes in Macht sich einstellen. So klein, verglichen mit dem Zustand des Reiches Gottes, der Kreis auch ist, welchen er um sich sammelt, so ist nichtsdestoweniger gewiss, dass es sich in der Folge dieser so beschränkten sittlichen Erneuerung einstellen wird, so gewiss zu erwarten ist, dass die Saat, welche zur Zeit, da er spricht, im Boden schlummert, eine herrliche Ernte bringen wird. Wartet nicht nur auf die Ernte, sondern [S. 26] wartet auch auf das Reich Gottes! — so redete der geistige Säemann zu den Galiläern zur Zeit der Aussaat. Sie sollten, wenn sie es ahnen konnten, darauf aufmerksam werden, dass die sittliche Erneuerung im Gefolge seiner Predigt in einem notwendigen, aber unerklärlichen Zusammenhang mit dem Anbrechen des Reiches Gottes stände. Denn derselbe Gott, der durch die geheimnisvolle Kraft in der Natur die Ernte erstehen lassen wird, der wird auch das Reich Gottes erstehen lassen.
Darum, als es die Zeit der Ernte war, schickte er seine Jünger aus, zu verkünden: das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.
2. Das Geheimnis des Reiches Gottes in der Rede zum Volk nach der Aussendung.
Jesus war allein. Die Jünger trugen die Kunde von der Nähe des Reiches in die Städte Israels. Während das Volk sich um ihn drängte, kamen die Gesandten des Täufers mit ihrer Frage. Er entliess sie mit dem Bescheid: das Reich stehe vor der Thür; man brauche nur die Sprache der Zeichen und Wunder zu verstehen. Zum Volk sich wendend, redete er von der Bedeutung des Täufers und seiner Würde. Dabei entfiel ihm ein Geheimniswort (Mt 11 14: »wenn ihr es zu fassen vermögt«, Mt 11 15: »wer Ohren hat zu hören, der höre«). Johannes ist der Elias, d. h. die Persönlichkeit, welche das unmittelbare Einbrechen des Reichs anzeigt. »Von den Tagen Johannes des Täufers bis auf diesen Augenblick wird dem Reich Gottes Gewalt angethan und die Gewaltthätigen reissen es an sich. Denn die Propheten und das Gesetz haben bis Johannes geprophezeit, und wenn ihr es fassen mögt, so ist er der Elias, der kommen soll. Wer Ohren hat zu hören, der höre« (Mt 11 12-14).
Dieses Wort widerstrebt aller Exegese, denn es enthält gar nicht den Gedanken, dass die Einzelnen sich mit Gewalt den Eingang ins Reich erzwingen. Was sollte das auch heissen? Inwiefern geschieht das von den Tagen des Täufers an? Das von Jesus gebrauchte Bild ist unbegreiflich, wenn es sich um das Eintreten Einzelner in das Gottesreich handelt. Ebenso unverständlich bleibt es aber, wenn es sich auf die Realisierung des Gottesreiches durch Entwicklung beziehen soll. Erstens widerspricht das Bild vom Gewaltakt dem Gedanken der Entwicklung; [S. 27] zweitens datiert der Anfang dieser Nötigung dann nicht vom Täufer, sondern von Jesus.
Es handelt sich um das Geheimnis des Reiches Gottes, darum der Hinweis: wer Ohren hat zu hören, der höre. Er kommt nur noch bei den Gleichnissen vom Geheimnis des Reiches Gottes und als Beschluss apokalyptischer Sprüche vor (vgl. den Gebrauch des Ausdrucks in der Apokalypse: 2 7 11 17 29, 3 6 13 22). Die Busse und sittliche Erneuerung auf das Reich Gottes hin sind gleichsam ein Druck, der ausgeübt wird, um es zu zwingen, in die Erscheinung zu treten. Diese Bewegung hat eingesetzt mit den Tagen des Täufers. Darum wird von da an dem Reich Gottes Gewalt angethan. Die Gewaltthätigen, die es an sich reissen, sind diejenigen, welche die sittliche Erneuerung leisten. Sie ziehen es mit Macht auf die Erde herunter.
Das Wort in der Rede über den Täufer und die Gleichnisse des Reiches Gottes erklären und ergänzen sich gegenseitig. Die Gleichnisse heben vor allem das Unangemessene in dem Verhältnis der geleisteten sittlichen Erneuerung zur eintretenden Vollkommenheit des Reiches Gottes hervor, während das Bild in dem Ausspruch nach der Aussendung mehr den zwingenden Zusammenhang zwischen beiden herausarbeitet.
3. Das Geheimnis des Reiches Gottes im Lichte der prophetischen und jüdischen Zukunftserwartungen.
Jesu Ethik hängt mit der altprophetischen zusammen, da sie, wie jene, durch die Erwartung eines Zustandes der Vollendung bedingt ist, welchen Gott heraufführen wird. Aber auch das Geheimnis des Reiches Gottes, wonach die sittliche Erneuerung das übernatürliche Kommen des Reiches herbeiführt, entspricht dem prophetischen Grundgedanken. Bei den Propheten ist das Verhältnis zwischen der sittlichen Umkehr, welche sie herbeiführen wollen, und dem Herrlichkeitszustand, welchen Gott am Tage des Gerichts heraufführen wird, kein rein zeitliches, sondern es beruht auf einem übernatürlichen kausalen Zusammenhang. Das gottwidrige Verhalten zieht den Tag des Gerichts und der Verdammnis herbei. Darum züchtigt Gott das Volk und gibt es in die Hand seiner Bedränger. Wenn es sich aber zur sittlichen Umkehr entschliesst, wenn es in gläubigem Vertrauen bei ihm allein Zuflucht sucht, wenn Gerechtigkeit und Wahrheit unter ihnen herrschen, dann wird ihm der Herr Recht schaffen vor [S. 28] seinen Bedrängern und seine Herrlichkeit wird aufgehen über Israel, dem die Völker dienstbar werden. An jenem Tage wird dann der Friede über die ganze Welt und auch über die Natur ausgegossen werden.
Nach dem Exil wirkt dieser Gedanke in der Auffassung vom Gesetz weiter. Durch das Halten des Gesetzes wird der Herrlichkeitszustand von Gott erzwungen. Nicht der einzelne, sondern die Gesamtheit wirkt durch das Gesetz auf Gott. Diese generelle Betrachtungsweise ist die primäre, die individualistische erst die sekundäre. »Israel würde erlöst werden, wenn es nur zwei Sabbate hielte, wie es sich gebührte« (Schabbath 118b. Wünsche, System der altsynagogalen palästinensischen Theologie 1880 S. 299). Hier begegnet uns der altprophetische Gedanke in gesetzlicher Veräusserlichung.
Im allgemeinen herrschte aber später die individualistische Betrachtung vor. Das Gesetz und das sittliche Verhalten überhaupt waren nur die Vorbereitung auf den erwarteten Herrlichkeitszustand. An Stelle der lebendigen generellen prophetischen Auffassung trat eine individuelle, unlebendige. Die Eschatologie wurde Rechenexempel und die Ethik Kasuistik.
Da Jesus aber auf den ethischen Grundgedanken der prophetischen Zeit zurückgriff, handelte es sich für ihn nicht um reine Zukunftserwartung. Spätjüdisch an ihm ist nur die Form, in der er sich das Eintreten dieses Endzustandes denkt. Er erfasst es nicht mehr unter dem Gesichtspunkt des Eingreifens Gottes in die Völkergeschichte, wie die Propheten, sondern unter dem der kosmischen Endkatastrophe. Seine Eschatologie ist Daniel'sche Apokalyptik, weil das Reich durch den Menschensohn herbeigeführt wird, wenn er auf den Wolken des Himmels erscheint (Mk 8 38-9 1).
Das Geheimnis des Reiches Gottes ist also die Synthese eines souveränen Geistes zwischen der altprophetischen Ethik und der Daniel'schen Apokalyptik. Daher wurzelt Jesu Eschatologie in seiner Zeit und steht doch so hoch über ihr. Für die Zeitgenossen handelte es sich um Erwartung des Reichs, um das Ausdenken und Ausmalen aller Momente der grossen Katastrophe und um die Vorbereitung darauf, für Jesus um die Herbeiführung des erwarteten Ereignisses durch die sittliche Erneuerung. Aus der eschatologischen Ethik wird ethische Eschatologie.
4. Das Geheimnis des Reiches Gottes und die Annahme der glücklichen galiläischen Periode.
Dem Geheimnis des Reiches Gottes zufolge ist das Eintreten des Reiches unabhängig von der Allgemeinheit des Erfolgs der Predigt Jesu. Er betont ja gerade, dass die Beschränktheit des Kreises, welcher die sittliche Erneuerung leistet, in gar keinem Verhältnis steht zu der allumfassenden Grösse des Reichs, das auf Grund ihres Verhaltens eintritt. Es genügt, dass ein geringer Teil der Aussaat auf das gute Land fällt — und die überreiche Ernte ist da, durch Gottes Macht. Nicht durch die Menge, sondern durch die Gewalttätigen wird das Reich herbeigenötigt.
Darum macht das Geheimnis des Reiches Gottes die Annahme einer erfolgreichen galiläischen Periode ganz überflüssig. Jesus kann sich der Erwartung der baldigen Realisierung des Reichs hingeben, auch wenn er die grössten Misserfolge erlebt und ganze Ortschaften sich seiner Predigt verschliessen. Sie halten damit das Reich Gottes nicht auf, sondern sie überliefern sich nur selbst dem Gericht, denn das Reich tritt notwendig ein auf Grund der sittlichen Erneuerung der Kreise, die sich um Jesu sammeln.
Die Richtigkeit der Deutung des Geheimnisses des Reiches Gottes zeigt sich also darin, dass sie eine zur Erklärung des Lebens Jesu sonst absolut unumgängliche, historisch aber in keiner Weise zu begründende Annahme unnötig macht.
5. Das Geheimnis des Reiches Gottes und der Universalismus Jesu.
So lange die sittliche Erneuerung auf Grund der Predigt Jesu mit der Realisierung des Reiches durch den modernen Gedanken der Entwicklung in Beziehung gesetzt wird, ist auch die Korrelatgrösse zur Vollendung des Reichs modern, nämlich »die sittliche Menschheit als Gesamtheit«. Man mutet dann Jesu zu, dass er in Gedanken voraussieht, wie die neue sittliche Gemeinschaft, die er gründet, sich immer weiter ausbreitet, ganz Israel ergreift — hier bricht aber der Gedanke Jesu ab; universalistische Ideen darf man ihm nicht unterschieben, denn die Aussendungsrede zeigt, dass er für die sittliche Erneuerung nicht über die Grenzen Israels hinaus reflektiert. Mt 10 5 u. 6: Ziehet auf keiner Heidenstrasse und betretet keine Samariterstadt; [S. 30] gehet aber vielmehr zu den verlornen Schafen des Hauses Israel.
Die Predigt des Reiches Gottes ist also partikularistisch; das Reich selbst aber ist universalistisch, »denn sie werden kommen von Mitternacht und von Mittag, vom Morgen und vom Abend«. Das Geschlecht, das ein Wunder verlangt, wird ein solches erleben: Die Niniviten werden am Tage des Gerichts aufstehen und es verdammen, weil sie Busse gethan haben auf die Predigt des Jonas hin, »und hier ist mehr denn Jonas«. Auch die Königin von Mittag wird den Zeitgenossen Jesu dann als Richterin erstehen, denn sie machte sich auf, um die Weisheit Salomos zu hören, »und hier ist mehr denn Salomo« (Mt 12 41-42).
Für das moderne Bewusstsein ist dieser Widerspruch zwischen dem Partikularismus in der Verkündigung des Reiches und dem Universalismus in der Vollendung desselben unüberwindbar, weil es sich alles durch den Begriff der Entwicklung denkt. In dem Geheimnis des Reiches Gottes aber gehen Partikularismus und Universalismus mit einander auf. Das Reich ist universalistisch, denn es ersteht aus dem kosmischen Akt, bei welchem Gott die Gerechten aller Zeiten und aller Völker zur Herrlichkeit erweckt. Die Herbeiführung des Reiches hingegen fusst auf dem Partikularismus, denn es wird durch die sittliche Erneuerung der Volksgenossen Jesu herbeigenötigt. Das Heil kommt aus Israel.
6. Das Geheimnis des Reiches Gottes und Jesu Stellung zum Gesetz und zum Staat.
Jesus hat sich weder für noch gegen das Gesetz ausgesprochen. Er erkannte es einfach als etwas Bestehendes an, ohne sich daran zu binden. Zu einer prinzipiellen Stellungnahme, ob es verbindlich oder nicht verbindlich sei, fühlte er keine Nötigung. Diese Frage war für ihn gegenstandslos. Auf die neue Sittlichkeit, nicht auf das Gesetz kam es an. Heilig und unverletzlich war ihm dieses Gesetz, sofern es den Weg zur neuen Sittlichkeit wies. Aber damit hob es sich selbst auf; denn in dem Reich, das auf Grund der neuen Sittlichkeit in Erscheinung trat, war es abgethan, da der Vollendungszustand übergesetzlich und überethisch war. Bis dahin bestand es zu Recht. Ob das Gesetz auch für seine Anhänger in Zukunft gelten sollte, diese Frage existierte für ihn nicht, sondern erst die Geschichte hat sie der ersten Gemeinde gestellt.
Mit dem Staat verhielt es sich ebenso. Die Frage, die man ihm in den jerusalemitischen Tagen stellte, war für ihn gegenstandslos. Als er den Pharisäern auf ihre Frage antwortete, ob man dem Kaiser den Zins geben sollte, dachte er nicht daran, seine und seiner Anhänger Stellung zum Staat festzulegen. Wie konnte man sich nur mit solchen Dingen aufhalten! Der Staat war ja irdisches, also ungöttliches Herrschen. Sein Bestand reichte also nur bis zur anbrechenden Gottesherrschaft. Da diese nahe bevorstand, was brauchte man sich entscheiden, ob man der Weltmacht tributpflichtig sein wollte oder nicht? Man liess sie eben über sich ergehen; ihr Ende war ja da. Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist (Mk 12 17) — dieses Wort ist mit einer souveränen Ironie gesprochen gegen die Pharisäer, die so wenig die Zeichen der Zeit verstehen, dass das noch eine Frage für sie bildet. Sie sind gerade so thöricht in den Sachen des Reiches Gottes, wie die Sadducäer mit ihrer Vexierfrage, welchem Gatten das siebenmal verheiratete Weib bei der Auferstehung gehören wird, denn auch sie lassen eines ausser Berechnung: die Macht Gottes (Mk 12 24).
7. Das Moderne in der Eschatologie Jesu.
»Es sei die Maxime in jeder wissenschaftlichen Untersuchung, mit aller möglichen Genauigkeit und Offenheit seinen Gang ungestört fortzusetzen, ohne sich an das zu kehren, wowider sie ausser ihrem Felde etwa verstossen möchte, sondern sie für sich allein, so viel man kann, wahr und vollständig zu vollführen. Oeftere Beobachtung hat mich überzeugt, dass, wenn man diese Geschäfte zu Ende gebracht hat, das, was in der Hälfte derselben, in Betracht anderer Lehren ausserhalb, mir bisweilen sehr bedenklich schien, wenn ich diese Bedenklichkeit nur so lange aus den Augen liess und bloss auf mein Geschäft achthatte, bis es vollendet sei, endlich auf unerwartete Weise mit demjenigen vollkommen zusammenstimmte, was sich ohne die mindeste Rücksicht auf jene Lehren, ohne Parteilichkeit und Vorliebe für dieselbe, von selbst gefunden hatte[1].«
Kant spricht dieses tiefe Wort in dem Augenblick, wo ihm die Zusammenstimmung des transcendentalen Freiheitsbegriffs mit dem praktischen aufgeht. Mit dem Verhältnis der Ethik Jesu zu seiner Eschatologie steht es ebenso. Es ist ein Postulat unserer christlichen Ueberzeugung, dass die Ethik Jesu in ihrem Grundgedanken modern sei. Darum kommen wir immer wieder dazu, in seiner Ethik das Moderne zu suchen und dafür seine Eschatologie, da sie uns unmodern scheint, in den Hintergrund zu drängen. Entschliesst man sich aber, dieses in unserem Wesen so tiefbegründete und so berechtigte Interesse für einen Augenblick ausser acht zu lassen und das Verhältnis seiner Eschatologie zur Ethik rein für sich, geschichtlich zu betrachten, so fördert die Untersuchung das überraschende Resultat zu Tage, dass die letztere in einem viel höheren Masse modern ist, als man bisher zu hoffen wagte. Jesu Ethik ist modern, nicht etwa, weil die Eschatologie dabei Begleitgedanke ist, sondern gerade, weil sie von dieser Eschatologie vollständig abhängig ist! Diese Eschatologie selbst, wie sie sich in dem Geheimnis des Reiches Gottes darstellt, ist nämlich durchaus modern, indem sie von dem Grundgedanken beherrscht wird, dass auf die religiös-sittliche Erneuerung hin, welche die Gläubigen leisten, das Reich Gottes eintreten wird. Jede sittlich-religiöse Bethätigung ist also Arbeit am Kommen des Reiches Gottes.
Als durch die Geschichte die Eschatologie in dieser ethisch-eschatologischen Weltanschauung langsam verblich, da blieb eine ethische Weltanschauung, in der die Eschatologie durch sieghafte Begeisterung und den unvergänglichen Glauben an den Endsieg des Guten weiterlebte. Das Geheimnis des Reiches Gottes enthält das Geheimnis der christlichen Weltanschauung überhaupt. Die ethische Eschatologie Jesu ist die heroische Form, in der die modern-christliche Weltanschauung in die Geschichte eintrat!
[1] Kritik der praktischen Vernunft. Ed. Reclam S. 129.
Fünftes Kapitel.
Das Geheimnis des Reiches Gottes im Leidensgedanken.
In der letzten Periode seines Lebens hat Jesus noch einmal Gleichnisse vom Reich Gottes geredet. Der Weinberg Gottes (Mt 21 33-46). Die königliche Hochzeit (Mt 22 1-14). Der wachende Knecht (Mt 24 42-47). Die zehn Jungfrauen (Mt 25 1-13). Die anvertrauten Pfunde (Mt 25 14-30).
Diese Gleichnisse enthalten, im Unterschied zu denen vom Geheimnis des Gottesreiches, kein Geheimnis, sondern es sind [S. 33] reine Lehrgleichnisse, aus denen eine Moral zu ziehen ist. Das Reich Gottes ist nahe. Nur diejenigen werden als dazu gehörig erfunden werden, die sich durch ihr sittliches Verhalten darauf einrichten.
Dafür enthält aber die zweite Periode das Geheimnis des Leidensgedankens. Wie wir gesehen haben, führen die Aussprüche Jesu auf eine geheimnisvolle kausale Verbindung zwischen dem Leiden und dem Eintreten des Reichs, weil die Eschatologie und der Leidensgedanke immer nebeneinander auftreten und die Zukunftserwartungen der Jünger jedesmal durch seine Leidensankündigung aufs höchste gesteigert werden.
Das Geheimnis des Leidensgedankens nimmt also das Geheimnis des Reiches Gottes wieder auf und setzt es fort. Zu der sittlichen Erneuerung, welche dem Geheimnis des Reiches Gottes zufolge auf das Eintreten des Reiches eine nötigende Gewalt ausübt, tritt die sühnende Todesleistung Jesu hinzu. Sie vollendet die Busse derer, die an das Kommen des Reiches glauben. Dadurch tritt Jesus den Gewaltthätigen, die das Reich herbeinötigen, zur Seite. Die Gewalt, die er dabei anwendet, ist die denkbar höchste — er gibt sein Leben hin.
Der Leidensgedanke ist also die Umformung des Geheimnisses vom Reich Gottes. Darum ist er ebensowenig darauf berechnet, von den andern begriffen zu werden, als die Gleichnisse vom Geheimnis des Reiches Gottes. Es handelt sich beidemal um eine nicht weiter zu ergründende Thatsache.
Der Zusammenhang zwischen dem Leidensgedanken und dem Geheimnis des Reiches Gottes garantiert die Kontinuität in Jesu Gedankenwelt. Alle Konstruktionen, die man unternommen hat in der Absicht, diese Kontinuität herzustellen, waren unvermögend, das Geforderte zu leisten. Die Aufnahme des Leidensgedankens bedeutete in allen Fällen eine totale Veränderung seiner Reichs- und Weltanschauung. Stellt man aber den Leidensgedanken in den grossen Zusammenhang des Geheimnisses des Reiches Gottes, so ist die Kontinuität natürlich gegeben. Der Gedanke der übernatürlichen Herbeiführung des Reiches Gottes durchzieht Jesu ganzes Leben, wobei der Leidensgedanke nur die Formulierung desselben in der zweiten Periode darstellt.
Wodurch nimmt das Geheimnis des Reiches Gottes die Form des Leidensgeheimnisses an?
Warum muss die Sühne Jesu vollendend zur sittlichen Erneuerung und zur Busse der reichsgläubigen Gemeinschaft hinzutreten?
Inwiefern kommt dem Sühnetod Jesu eine Einwirkung auf das Eintreten des Reiches zu?
Sechstes Kapitel.
Die Würde Jesu auf Grund seiner öffentlichen Wirksamkeit.
1. Das Problem und die Thatsachen.
Das Erlebnis bei der Taufe bedeutet den Anfangspunkt des Messianitätsbewusstseins Jesu. In der Gegend von Cäsarea Philippi offenbart er den Jüngern sein Geheimnis. Oeffentlich bekennt er sich erst vor dem Hohenpriester zu seiner messianischen Würde. Seiner Predigt vom Reiche Gottes liegt also das Messianitätsbewusstsein zwar zu Grunde. Bei den Zuhörern setzt er aber die Kenntnis der Stellung, welche ihm zukommt, nicht voraus. Der Glaube, den er verlangt, hat nichts mit seiner Person zu thun, sondern er bezieht sich nur auf die Botschaft von der Nähe des Reichs. Erst der vierte Evangelist stellt die Geschichte so dar, als handelte es sich um die Persönlichkeit Jesu.
Nun können wir nicht ermessen, inwieweit seine Würde für solche, die ein aufgewecktes Verständnis hatten, in seiner Verkündigung durchschien. Eines ist sicher: bis in die Zeit nach der Aussendung hat niemand im entferntesten daran gedacht, in ihm den Messias zu erkennen. Bei Cäsarea Philippi antworten die Jünger ihm nur, dass das Volk ihn für einen Propheten oder für den Vorläufer Elias halte, und sie selbst wissen nicht anders. Denn Petrus hat, wie Jesus selbst sagt, seine Kenntnis nicht aus dem Wirken und Reden seines Meisters erschlossen, sondern er verdankt sie einer übernatürlichen Offenbarung.
Nach dieser Fundamentalthatsache müssen die synoptischen Notizen beurteilt werden. Zuerst stehen dazu eine Reihe matthäischer Stellen in Spannung.
Mt 9 27-31, in der galiläischen Parallele zur Blindenheilung in Jericho, wird berichtet, dass ihn zwei Blinde durch den ganzen [S. 35] Ort mit dem Ruf »Davidssohn« verfolgt haben. Was dann die Warnung Jesu, »dass es niemand erfahre«, bedeuten soll, bleibt allerdings dunkel.
Mt 12 23 raunen sich die Leute nach einer wunderbaren Heilung zu, ob das nicht der Davidssohn sei.
Mt 14 33 fallen die Jünger nach dem Erlebnis auf der See im Schiff vor ihm nieder und sprechen: »du bist wahrhaftig Gottes Sohn.«
Mt 15 22 redet die Kananäerin ihn als den Davidssohn an, während sie bei Markus ihm einfach zu Füssen fällt und um Hülfe bittet.
In allen diesen Stellen liegt matthäisches Sondergut vor, das einer sekundären litterarischen Schicht angehört. Für die Geschichte Jesu haben sie keine Bedeutung, wohl aber für die Geschichte der Geschichte Jesu. Sie zeigen uns nämlich, wie die spätere Zeit immer mehr dazu kam, sein Leben von der Voraussetzung aus darzustellen, dass nicht nur er sich als Messias wusste, sondern dass auch die andern diesen Eindruck von ihm hatten.
An zweiter Stelle handelt es sich um die Anrede der Dämonischen. Nach Mk 3 11 warfen sich die unreinen Geister, so oft sie ihn erblickten, vor ihm nieder und riefen ihn als Gottessohn an (vgl. auch Mk 1 24 und Mk 5 7). Zwar wehrte er diesen Rufen und gebot Schweigen. Hätten wir aber nicht die unumstösslich sichere Kunde, dass während seiner ganzen galiläischen Wirksamkeit das Volk nichts weiter wusste, als dass er ein Prophet oder der Elias sei, so müssten wir annehmen, dass diese Dämonenrufe die Leute auf seine Würde irgendwie aufmerksam machten. So aber ersehen wir gerade aus der Nichtbeachtung der Dämonenrufe mit Bestimmtheit, wie weit man davon entfernt war, in ihm den Messias zu vermuten. Wer glaubte denn dem Teufel und dem irren Gerede Besessener?
An dritter Stelle handelt es sich um den Ausdruck »Menschensohn«. Hat Jesus ihn vor Cäsarea Philippi als Selbstbezeichnung gebraucht, so liegt darin in jedem Falle eine messianische Andeutung, denn jeder musste diesen Daniel'schen Ausdruck auf die Persönlichkeit der Endzeit beziehen.
Als Selbstbezeichnung vor Cäsarea Philippi verwendet ihn Jesus bei Markus zweimal (Mk 2 10 und 2 28) und in einer Reihe matthäischer Sonderstellen (8 20, 11 19, 12 32, 12 40, 13 37 u. 41 und 16 13). Auch für die Beurteilung dieser Stellen muss man [S. 36] von dem festen Punkt, der in der Antwort der Jünger bei Cäsarea Philippi gegeben ist, ausgehen.
Entweder hat Jesus den Ausdruck damals noch nicht gebraucht. Dann sind diese Menschensohnstellen chronologisch verfrüht oder es handelt sich um rein litterarische Erscheinungen.
Oder aber er hat den Ausdruck schon gebraucht. Dann muss er es in einer solchen Weise gethan haben, dass niemand auf den Gedanken kommen konnte, er nehme die Würde des Daniel'schen Menschensohns für sich in Anspruch.
Das Problem der zweiten Periode ist noch schwieriger. Die Jünger wissen um sein Geheimnis, aber sie dürfen es niemand offenbaren. Wie steht es aber mit dem Volk? War diesem jetzt eine Ahnung von der messianischen Würde Jesu aufgegangen?
Das Problem hat es also mit drei Thatsachen zu thun.
1. Die ganze Diskussion in den jerusalemitischen Tagen dreht sich in keiner Weise um die messianische Würde Jesu, sondern es handelt sich um gesetzliche Thesen und um Tagesfragen. Man hat bisher viel zu wenig Gewicht darauf gelegt, dass weder das Volk noch die Schriftgelehrten irgendwie zu ihm als der messianischen Persönlichkeit Stellung nehmen. Wie ganz anders wären die jerusalemitischen Tage gewesen, wenn es sich darum gehandelt hätte: ist er der Messias — ist er es nicht? Kann er es sein — kann er es nicht sein? In Wirklichkeit ist er nur die Autoritätsperson des galiläischen Volkes, vor welche die Hauptstadtgelehrten ihre Schulfragen bringen, sei es in aufrichtiger Gesinnung, sei es in der perfiden Absicht, seine Autorität zu vernichten.
2. In dieser zweiten Periode hat Jesus das Volk nur einige Tage um sich gehabt: vom Jordanübergang bis zu seinem Tode. Während dieser Zeit hat er ihnen keine Eröffnung über seine Messianität gemacht, auch keine Anspielung, die sie dahin verstehen konnten und mussten. Die gedungenen Zeugen wissen nichts derartiges vorzubringen. Das Bemerkenswerte an ihrer Aussage, worauf man auch viel zu wenig Gewicht zu legen geneigt ist, besteht ja gerade darin, dass sie ihn in keiner Weise beschuldigen, Messias sein zu wollen. Für sie erschöpft sich seine frevelhafte Prätention in dem respektwidrigen Ausspruch über den Tempel. Man stelle sich die Gerichtsverhandlung vor, wenn die gedungenen Ankläger in Jesu Reden messianische Anspielungen auf sich selbst entdeckt hätten!
3. Von hier aus kommt man notwendig zu dem Urteil, dass er für das Volk in Jerusalem bis zur letzten Stunde war, was er in Galiläa gewesen: der grosse Prophet oder der Vorläufer, in keiner Weise aber der Messias! Damit vertragen sich aber zwei Thatsachen nicht.
Der Einzug in Jerusalem war — der gewöhnlichen Auffassung zufolge — eine messianische Ovation. Also musste das Volk die Würde Jesu ahnen.
Der Hohepriester stellte die Frage an ihn, ob er der Messias wäre. Also wusste er um Jesu Ansprüche.
Es handelt sich hier um die klare Frage: galt Jesus in den jerusalemitischen Tagen als messianischer Prätendent oder nicht? Man darf sich diese Frage nicht dadurch verdunkeln, dass man von einem mehr oder weniger klaren »Ahnen« in dieser Sache redet. Das »Ahnen der Messianität Jesu« ist eine moderne Erfindung. Eine Volksmasse wäre nicht von dunkelm geheimnisvollem Ahnen hin- und herbewegt worden, sondern es hätte sich um Glauben oder Nichtglauben gehandelt. Wer dafür hielt, er sei der Messias, musste mit ihm durch Feuer und Tod gehen, der Herrlichkeit entgegen. Wer nicht dafür hielt, solche Prätention bei ihm aber auch nur ahnte, der musste das Signal geben, den Gotteslästerer zu steinigen. Ein Drittes gab es nicht.
Die allgemeinen Thatsachen sprechen dafür, dass Volk und Pharisäer in den jerusalemitischen Tagen Jesu keine messianischen Prätentionen beilegten, ebensowenig wie früher. Nur bleibt dann der Einzug in Jerusalem, als messianische Ovation verstanden, ein Rätsel, und ebenso ist es unerklärlich, wie der Hohepriester darauf kommt, ihn nach seiner Messianität zu fragen.
Entweder verhält es sich hiermit so, wie man gewöhnlich annimmt. Dann muss man auf jedes geschichtliche Verständnis der letzten öffentlichen Periode Jesu verzichten. Es geht nicht an, dass er am Anfang (Einzug in Jerusalem) und am Ende derselben (Frage des Hohenpriesters vor Gericht) für den Messias gehalten wurde, während die dazwischen liegenden jerusalemitischen Tage davon nicht das geringste wissen.
Oder man hat den Einzug und die Frage des Hohenpriesters geschichtlich missverstanden. Galt die Ovation dem messianischen Prätendenten? Sprach der Hohepriester in seiner Frage etwas aus, worum alle wussten? Hat er die behauptete Messianität aus Jesu Leben, Wirken und Reden erschlossen — oder wusste er [S. 38] vielleicht nur durch Verrat um das innerste Geheimnis Jesu, das nur den Vertrauten seit Cäsarea Philippi bekannt war?
In seiner vollen Schwierigkeit erhält das Messianitätsproblem folgende Formulierung: Wie war es möglich, dass Jesus sich von Anfang an als Messias wusste und dennoch seine Messianität in seiner öffentlichen Predigt vom Reich bis zum letzten Augenblick nicht zur Geltung kommen liess? Wie konnte dem Volke auf die Dauer verborgen bleiben, dass diese Reden vom messianischen Bewusstsein aus gesprochen waren? Jesus war ein Messias, der es während seiner öffentlichen Wirksamkeit nicht sein wollte, nicht zu sein brauchte und nicht sein durfte, um seine Mission zu erfüllen! So stellt die Geschichte das Problem.
2. Jesus der Elias, durch die Solidarität mit dem Menschensohn.
Welche Würde konnte und musste das Volk Jesu auf seine öffentliche Wirksamkeit hin beilegen? Das ist die Frage, um die es sich jetzt handelt.
Der Messias und das messianische Reich gehören unzertrennlich zusammen. Wenn daher Jesus ein gegenwärtiges messianisches Reich gepredigt hätte, wäre zugleich die Notwendigkeit an ihn herangetreten, den Messias kenntlich zu machen; er hätte damit beginnen müssen, sich vor dem Volk als Messias zu legitimieren.
Nun war aber seine Predigt vom Reich futurisch; damit war vollständig ausgeschlossen, dass jemand darauf kommen konnte, in ihm den Messias zu vermuten. War das Reich futurisch, so war es auch der Messias. Wenn Jesus dennoch messianische Ansprüche hatte, so lag dieser Gedanke dem Volk vollständig fern, denn seine Reichspredigt schloss auch die leiseste derartige Mutmassung aus. Darum konnten auch die Dämonenschreie die Leute nicht auf die richtige Spur bringen.
Vollends unmöglich gemacht waren derartige Mutmassungen durch die Art, wie Jesus von dem Messias als futurischer Persönlichkeit in der dritten Person redet. Den Jüngern kündigt er bei der Aussendung an, dass der Menschensohn erscheinen wird, ehe sie mit den Städten Israels zu Ende sein werden (Mt 10 23). Mk 8 38 verheisst er dem Volk das baldige Erscheinen des Menschensohns zum Gericht und das Kommen des Reiches Gottes in Kraft. Ebenso redet er noch in Jerusalem von dem Gericht, das der [S. 39] Menschensohn abhalten wird, wenn er in seiner Herrlichkeit umgeben von den Engeln erscheinen wird (Mt 25 31).
Nur die Jünger nach der Offenbarung zu Cäsarea Philippi und der Hohepriester nach dem »Ja« Jesu konnten eine persönliche Beziehung zwischen ihm und dem Menschensohn, von dessen Kommen er sprach, statuieren, da sie um sein Geheimnis wussten. Sonst aber blieben für die Hörer Jesus von Nazareth und der, von welchem die Rede war, der Menschensohn, zwei vollständig verschiedene Persönlichkeiten.
Vor dem Volk deutet Jesus nur an, dass der Menschensohn mit ihm, der ihn verkündigt, absolut solidarisch ist. In dieser Form allein ragt seine eigene gigantische Persönlichkeit in seine Predigt des Reiches Gottes hinein. Nur wer sich zu ihm, dem Verkündiger des Kommens des Menschensohnes, unter allen Umständen bekennt, der wird am Gerichtstag als zum Reich gehörig erfunden werden. Jesus wird nämlich vor Gott und vor dem Menschensohn für ihn eintreten (Mk 8 38-9 1; Mt 10 32-33). Man muss bereit sein, das Liebste aufzugeben, um ihm nachzufolgen, denn nur so wird man seiner wert (Mt 10 37 u. 38). Darum ist Jesus betrübt, als der reiche Jüngling sich nicht entschliessen kann, seinen Reichtum aufzugeben, um ihm nachzufolgen (Mk 10 22), denn nun kann er am Gerichtstag nicht für ihn einstehen, damit er als zum Reich Gottes gehörig erfunden werde. Doch hofft er von der schrankenlosen Allmacht Gottes, dass dieser Reiche trotzdem zum Reich eingehe (Mk 10 17-31). Wenn also dieser, weil Jesus nicht für ihn eintreten kann, nicht sicher ist, »das ewige Leben zu ererben« (Mk 10 17), so sind doch die, welche, zu ihm und seiner Botschaft sich bekennend, den Tod erleiden, gewiss, ihr Leben zu bewahren, d. h. bei der Totenauferstehung zum Reich zu gehören (Mk 8 37). Darum preist er am Eingang der Bergpredigt diejenigen selig, welche um seinetwillen Schmähung und Verfolgung erdulden, weil sie dadurch, wie die Sanftmütigen und die Barmherzigen, zum Reiche Gottes vorbestimmt sind (Mt 5 11 f.).
Vom Standpunkte Jesu aus bietet diese absolute Solidarität zwischen Gott und dem Menschensohn einerseits und ihm andererseits kein Rätsel, denn sie basiert auf seinem messianischen Selbstbewusstsein; er kann so reden, weil er sich bewusst ist, selbst der Menschensohn zu sein. Anders war es für das Volk und die Jünger vor der Offenbarung zu Cäsarea Philippi. Wie kann Jesus [S. 40] von Nazareth in einer so selbstbewussten, souveränen Weise den Menschensohn mit ihm selbst für absolut solidarisch proklamieren? Diese Behauptung zwang das Volk zur Reflexion über seine Persönlichkeit. Wer war derjenige, dessen Erscheinung machtvoll aus dem vormessianischen in den messianischen Aeon hineinragte, dass Gott und der Menschensohn die, welche sich zu ihm bekannt hatten, in das Reich aufnahmen, wenn dieses Bekenntnis nicht durch die mangelnde sittliche Würdigkeit seinen Wert einbüsste, wie er einmal ausdrücklich warnend erklärte? Nur einer Persönlichkeit kam die Bedeutung zu, die Jesus für sich in Anspruch nahm: Elias, dem gewaltigen Vorläufer; denn seine Erscheinung erstreckte sich aus dem jetzigen in den messianischen Aeon und verband beide miteinander. Darum hielt das Volk dafür, Jesus sei der Elias. Darin sprach sich die höchste Würdigung aus, welche seine Persönlichkeit den Massen abnötigen konnte. Es handelte sich dabei nicht um eines der in der sekundären evangelischen Geschichtserzählung so beliebten Missverständnisse, sondern das Volk konnte nach Jesu Auftreten und nach seiner Verkündigung zu keinem andern Urteil über ihn kommen.
3. Jesus der Elias durch die Zeichen, die von ihm ausgehen.
Um sich die Stellung der Zeitgenossen zur Persönlichkeit und zum Wirken Jesu begreiflich zu machen, muss man sich von zwei falschen Voraussetzungen, mit denen wir immer unbewusst operieren, befreien. Zum ersten richtete sich die Erwartung damals nicht auf den Messias, sondern auf den geweissagten Vorläufer. Zum zweiten hat niemand in dem Täufer irgendwie den Vorläufer vermutet. Durch diese beiden Voraussetzungen verderben wir uns die historische Perspektive.
Das Erscheinen des Messias mitsamt der grossen Krise, welche er herbeiführt, macht das überweltliche Drama aus, das der Welt bevorsteht. Aber ehe der Vorhang aufgeht, muss unter den harrenden Menschen jemand erstehen, der den Prolog zum Stück spricht, um dann, sobald der Vorhang in die Höhe geht, den überirdischen Grössen sich beizugesellen, welche die Handlung des Dramas leiten. Darum wartet man zunächst nicht auf das Emporgehen des Vorhangs und die Erscheinung des Messias, sondern auf den berufenen Sprecher des Prologs. Es galt, das Auftreten des Vorläufers zu signalisieren, [S. 41] um zu wissen, welche Stunde der Zeiger der Weltuhr zeigte.
Nun war aber der Elias noch nicht erschienen, denn der Täufer hatte sich nicht als solchen legitimiert. Dazu fehlte ihm die übernatürliche Kraftbekundung. Zeichen und Wunder gehörten aber notwendig zur Epoche, welche dem Reich unmittelbar voranging. Allgemeine Geistbegabung und Prophezeiung, Wunder am Himmel und auf der Erde: das trifft ein, bevor der Tag Gottes kommt. So bestimmte es der Prophet Joël (3 1 ff.). In der Pfingstpredigt beruft sich Petrus auf diese Stelle (Akt 2 17-22). Aus der übernatürlich ekstatischen Rede sollen sie erkennen, dass man dem Ende der Tage entgegengeht. Der getötete Jesus ist von Gott zum Messias erhöht in der Auferstehung und das Reich wird bald einbrechen.
Diese Joëlstelle wurde also auf die unmittelbar vormessianische Wunderzeit bezogen, in welcher nach der Weissagung des Maleachi der Vorläufer auftreten sollte (Mal 3 23 u. 24). Der gleiche Kehrvers hielt zudem noch diese beiden Grundstellen der vormessianischen Erwartung zusammen. Mal 3 23 = Joël 3 4: »Vor dem Kommen des Tages des Herrn, den grossen und schrecklichen.« Der Vorläufer ohne Wunderzeichen in einer wunderlosen Zeit war also undenkbar.
Nun bestand für die Zeitgenossen der charakteristische Unterschied zwischen Johannes und Jesus gerade darin, dass der eine einfach auf die Nähe des Gottesreiches hinwies, während der andere seine Predigt durch Zeichen und Wunder bekräftigte. Man hatte das Bewusstsein, mit Jesus in die Zeit der Wunder zu treten. Er war der Täufer, aber ins Uebernatürliche übersetzt. Als nach der Aussendung sein Auftreten und seine Zeichen zugleich mit dem Tode des Täufers bekannt wurden, da sagte man: Der Täufer ist vom Tod erstanden. Darum antworteten ihm die Jünger zu Cäsarea Philippi, man halte ihn für den Elias oder für den Täufer (Mk 8 28). Als Herodes von ihm hörte, liess er sich's nicht nehmen, dass er der Täufer sei. »Der Täufer ist von den Toten auferstanden und deshalb wirken die Wunderkräfte in ihm« (Mk 6 14).
Auch die Bedeutung, die Jesus den Zeichen beilegte, musste die Zuhörer darauf führen, dass man sich in der Vorläuferaera befand. Ihre Bedeutung besteht nämlich darin, die Nähe des messianischen Reiches zu bekräftigen. Die Leute sollen ihm um [S. 42] der Zeichen willen glauben und Busse thun auf das Reich Gottes hin.
Die Zeichen sind eine Gnade Gottes, durch welche er die Menschen aufmerksam machen will, welche Stunde es ist. Wer dann keine Busse thut, der ist verdammt. So geht es den Leuten von Chorazin, Bethsaida und Kapernaum. Wer aber gar den »heiligen Geist« lästert und der widergöttlichen Macht die Zeichen zuschreibt, der hat keine Vergebung ewiglich. Dieses Verbrechens hatten sich die jerusalemitischen Schriftgelehrten in Galiläa schuldig gemacht (Mk 3 22 ff.). Diejenigen aber, welche sich nicht verstockten, hielten dafür, das Reich Gottes stehe vor der Thür und Jesus sei der Vorläufer, weil man offenbar in die Zeit der Zeichen eingetreten war, von der die Schrift geweissagt hatte.
4. Die Dämonenbekämpfung und das Geheimnis des Reiches Gottes.
Für Jesus bedeuteten die Zeichen die Reichsnähe noch in einem höheren als dem rein zeitlichen Sinn. Durch die Dämonenbekämpfung ist er sich bewusst, auf das Kommen desselben einzuwirken. Hier spielt das Geheimnis des Reiches Gottes mit herein. Dieser Gedanke ist in dem Gleichnis enthalten, mit welchem er die Verdächtigungen der jerusalemitischen Schriftgelehrten zurückweist (Mk 3 23-30).
Es erschöpft sich nämlich nicht in dem Gedanken, dass die bösen Geister ihre Herrschaft nicht untergraben, indem der eine sich gegen den andern erhebt; in dem Schlusswort begegnet uns nämlich unvermutet das »jetzt und dann« aus dem Geheimnis des Reiches Gottes: »Keiner kann in das Haus des Starken einbrechen und ihm seinen Besitz rauben, wenn er nicht zuvor den Starken bindet, und alsdann mag er sein Haus ausplündern.« Die Dämonenaustreibung bedeutet also für Jesus das Binden und das Unschädlichmachen der widergöttlichen Macht. Diese Thätigkeit steht deshalb, wie die sittliche Erneuerung im Geheimnis des Reiches Gottes, mit dem Anbrechen des Reiches in kausalem Zusammenhang. Durch die Dämonenüberwindung ist Jesus der Gewaltthätige, der das Reich herbeinötigt; denn, wenn die widergöttliche Macht gebunden ist, dann tritt der Augenblick ein, wo die Herrschaft von ihr genommen wird. Damit dies geschehen kann, muss sie erst unschädlich gemacht werden. Darum gibt [S. 43] Jesus den Jüngern bei der Aussendung nicht nur den Befehl, die Nähe des Reiches zu verkündigen, sondern auch die Vollmacht über die Dämonen (Mt 10 1). In jenem Augenblick der höchsten eschatologischen Erwartung sendet er sie als die Gewaltthätigen aus, welche die letzten Streiche führen sollen. Die Busse, welche durch ihre Predigt gewirkt wird, und die Ueberwindung der widergöttlichen Macht in den Dämonischen nötigen zusammen das Reich herbei.
So drücken die Gleichnisse vom Geheimnis des Reiches Gottes (Mk 4), das Gleichnis in Jesu Apologie an die Pharisäer (Mk 3 23-30) und das Gleichnis in der Würdigungsrede über den Täufer (Mt 11 12-15) denselben Gedanken aus. Die beiden letzteren begegnen sich sogar im drastischen Bild der Vergewaltigung, weshalb ihnen auch der Begriff des »Raubes« gemeinsam ist (Mk 3 27 = Mt 11 12).
Für das Bewusstsein Jesu waren also die Dämonenheilungen in das Geheimnis vom Reich Gottes hineingestellt. Dem Volk aber genügte es, den rein zeitlichen Zusammenhang zu erfassen.
5. Jesus und der Täufer.
Wir haben oben gesehen, dass niemand in dem Täufer den Elias erkennen konnte, weil seine zeichenlose Thätigkeit und Reichspredigt der schriftgemässen Vorstellung der Vorläuferepoche nicht entsprachen. Nur einer machte eine Ausnahme, indem er ihm diese Würde zuerkannte: Jesus! Er war der erste, welcher dem Volk eine geheimnisvolle Andeutung machte, jener sei der Vorläufer: »Wenn ihr es fassen mögt, so ist er selbst Elias, der Kommen-Sollende« (Mt 11 14). Er ist sich aber bewusst, damit ein unbegreifliches Geheimnis auszusprechen, das ihnen ebenso dunkel bleibt, wie das damit zusammenhängende Wort von den Gewaltthätigen, die seit den Tagen des Täufers das Reich herbeinötigen (Mt 11 12). Darum beschliesst er diese beiden Sprüche mit dem Orakelwort: Wer Ohren hat zu hören, der höre (Mt 11 15).
Das Volk aber war weit entfernt zu begreifen, dass der in der Gewalt des Herodes befindliche Täufer die Persönlichkeit sein könne, die auf der Schwelle der vormessianischen zur messianischen Periode stand. So verhallte das geheimnisvolle Wort Jesu und das Volk blieb dabei, Johannes sei wirklich ein Prophet gewesen (Mk 11 32).
Auch die Oberen konnten zu keinem Schluss über die Persönlichkeit des Täufers kommen. Darum unterlagen sie Jesu, als sie ihn über die Tempelreinigung zur Rede stellen wollten (Mk 11 33).
Mit den Jüngern verhielt es sich nicht anders; sie waren von sich aus unfähig, in Johannes den Elias zu erkennen. Beim Abstieg vom Verklärungsberg kommen ihnen Bedenken über die Möglichkeit der Messianität Jesu und über die Möglichkeit der Totenauferstehung, die er in seiner Rede berührt hatte. Dadurch wurde ja die Gegenwärtigkeit der messianischen Aera vorausgesetzt, und diese konnte noch nicht angebrochen sein, denn »Elias muss zuvor kommen, wie die Pharisäer und Schriftgelehrten darthun« (Mk 9 9-11). Darauf antwortet ihnen Jesus, dass Johannes dieser Elias war, wenn er auch in der Menschen Gewalt geliefert wurde (Mk 9 12 u. 13).
Wie war Jesus zur Ueberzeugung gekommen, dass der Täufer der Elias war? Durch einen notwendigen Rückschluss von seiner eigenen Messianität aus. Weil er sich als Messias wusste, musste jener der Elias sein. Zwischen beiden bestand eine notwendige Wechselbeziehung. Niemand konnte wissen, dass der Täufer der Elias war, ohne diese Erkenntnis von der Messianität Jesu herzuleiten. Niemand konnte auf den Gedanken kommen, Johannes sei der Elias, ohne zugleich in Jesu den Messias sehen zu müssen. Denn nach dem Vorläufer blieb für eine zweite derartige Erscheinung kein Raum. Nun wusste niemand, dass Jesus sich für den Messias hielt. Also sah man in dem Täufer einen Propheten und fragte sich, ob Jesus nicht der Elias wäre. Die geheimnisvollen Schlusssätze der Würdigungsrede über den Täufer hatte niemand in ihrer vollen Tragweite verstanden. Für Jesus allein war Johannes der verheissene Elias.
6. Der Täufer und Jesus.
Wie stand der Täufer zu Jesus? Wenn er sich bewusst war, der Vorläufer zu sein, so musste er in Jesus den Messias mutmassen. Dies setzt man gewöhnlich voraus und lässt ihn als Vorläufer bei Jesus anfragen, ob er der Messias sei (Mt 11 2-6). Diese Annahme scheint uns ganz natürlich, weil wir uns beide immer in dem Verhältnis Vorläufer-Messias vorstellen.
Darüber vergessen wir aber eine ganz naheliegende Frage. Hat der Täufer sich selbst als den Vorläufer, als den Elias gefühlt? [S. 45] Dem Volk gegenüber hat er in keiner Aeusserung einen derartigen Anspruch erhoben. Hartnäckig erkennt es in ihm nur einen Propheten. Auch während seiner Gefangenschaft kann er nichts derartiges beansprucht haben, denn noch in Jerusalem urteilt das Volk nicht anders, als dass er ein Prophet gewesen.
Wenn irgendwie die Ahnung durchgedrungen wäre, dass er die Eliasgestalt repräsentierte, wie hätte man dann allgemein auf den Gedanken kommen können, Johannes sei ein Prophet, Jesus der Elias? Dass dies die allgemeine Ansicht auch nach dem Tode des Täufers war, bezeugt die Antwort der Jünger zu Cäsarea Philippi.
Die Täuferanfrage unter der Voraussetzung betrachten, dass der Vorläufer frägt, ob Jesus der Messias sei, heisst sie in eine vollkommen unberechtigte Perspektive rücken, da gar nicht zu erweisen ist, ob Johannes sich für den Vorläufer hielt. Also ist auch gar nicht ausgemacht, ob seine Frage sich auf die messianische Würde bezieht. Das umstehende Volk, da es Johannes nicht für den Vorläufer hielt, musste sie ganz anders auffassen, nämlich: bist du der Elias?
Nun wird aber durch die gewöhnliche Perspektive ein charakteristisches Detail in der Perikope selbst verdeckt, nämlich, dass Jesus dieselbe Bezeichnung, die der Täufer in der Anfrage auf ihn anwandte, nun seinerseits wieder auf den Täufer anwendet! Bist du der Kommen-Sollende? frägt der Täufer. Jesus antwortet: Wenn ihr es fassen mögt, so ist er selbst Elias, der Kommen-Sollende! Bei den Reden ist also die Bezeichnung des »Kommen-Sollenden« gemeinsam, nur dass wir in der Anfrage des Täufers sie eigenmächtig auf den Messias beziehen. Dieses für die naive Perspektive so ganz natürliche Verfahren wird aber als unberechtigt erkannt, sobald man weiss, dass es sich eben nur um Perspektive, nicht um die reellen Massstäbe handelt. Denn dann gewinnt plötzlich das »er selbst« in der Antwort Jesu eine ungeahnte Bedeutung; »er selbst ist der Elias«, der Kommen-Sollende! Dieser Rückweis zwingt uns, in der Anfrage des Täufers unter dem Kommen-Sollenden nicht den Messias, sondern, wie in der Antwort Jesu, den Elias zu verstehen.
»Bist du der erwartete Vorläufer?« so lässt der Täufer Jesum fragen. »Wenn ihr es fassen mögt, ist er selbst dieser Vorläufer«, sagt Jesus zum Volk, nachdem er ihnen von der Grösse des Täufers geredet.
Durch diese Rückbeziehung bekommt nun die Scene ein viel intensiveres Kolorit. Zunächst wird klar, warum Jesus nach dem Weggang der Gesandten über den Täufer redet. Er fühlt sich genötigt, das Volk in wirkungsvoller Steigerung von der Vorstellung, jener sei ein Prophet (Mt 11 9), zu der Ahnung zu bringen, er sei der Vorläufer, mit dessen Auftreten der Zeiger der Weltuhr sich der verhängnisvollen Stunde nähert, auf den sich das Wort »von dem, der den Weg bereitet« bezieht und von dem die Schriftgelehrten sagen, »dass er zuerst kommen muss« (Mk 9 11).
Johannes nämlich war mit seiner Anfrage in der messianischen Zeitrechnung zurück. Seine Abgesandten erkundigen sich nach dem Vorläufer in dem Augenblick, wo Jesu Zuversicht, dass das Reich unmittelbar hereinbrechen wird, aufs höchste gestiegen ist. Er hat ja seine Jünger ausgeschickt und ihnen in Aussicht gestellt, dass die Erscheinung des Menschensohnes sie auf dem Weg durch die Städte Israels überraschen könne. Die Stunde ist schon viel weiter vorgerückt — das will Jesus dem Volk in der »Würdigungsrede über den Täufer« zu verstehen geben, wenn sie es begreifen können.
Zu seinem Urteil über Jesus war Johannes auf demselben Wege gekommen, wie das Volk. Als er nämlich von den Zeichen und Thaten Jesu hört (Mt 11 2), da steigt ihm der Gedanke auf, ob dieser nicht etwa mehr wäre, als ein Busse predigender Prophet. So schickte er zu ihm hin, um darüber Gewissheit zu haben.
Damit rückt aber die Verkündigung des Täufers in ein ganz anderes Licht. Er hat nie auf den kommenden Messias, sondern auf den erwarteten Vorläufer hingewiesen. So erklärt sich die Verkündigung »von dem, der nach ihm kommen wird« (Mk 1 7 u. 8). Auf den Messias angewandt, bleiben die von ihm gebrauchten Ausdrücke dunkel. Sie statuieren nämlich nur einen Gradunterschied, nicht eine totale Differenz zwischen ihm und dem Angekündigten. Wenn er vom Messias redete, wären diese Ausdrücke, in welchen er den Kommenden, trotz des gewaltigen Rangunterschieds, immer noch mit sich selbst vergleicht, unmöglich. Er denkt sich den Vorläufer wie ihn selbst, taufend und die Busse auf das Reich hin verkündigend, aber nur unverhältnismässig grösser und mächtiger. Statt mit Wasser wird er mit dem heiligen Geist taufen (Mk 1 8).
Dies kann nicht auf den Messias gehen. Seit wann tauft der Messias? Sodann aber findet die berühmte allgemeine Geistesausgiessung nicht in, sondern vor der messianischen Aera statt! Bevor der gewaltige Tag des Herrn kommt, wird er seinen Geist ausgiessen über alles Fleisch, und Zeichen und Wunder werden am Himmel geschehen (Joël 3 1 ff.). Bevor der gewaltige Tag des Herrn kommt, wird er Elias, den Propheten, schicken (Mal 3 23). Diese beiden Hauptstellen über die grossen Vorereignisse der Endzeit verbindet der Täufer in Gedanken und kommt so zur Vorstellung des Vorläufers, der mit dem heiligen Geiste taufen wird! Man sieht dabei, welch übernatürliches Licht die Gestalt des Vorläufers in der damaligen Vorstellung umfliesst. Darum fühlt sich Johannes so klein vor ihm.
Für die Antwort befand sich Jesus in einer schweren Lage. Indem er fragen liess: bist du der Vorläufer, oder bist du es nicht? hatte ihm der Täufer eine falsche Alternative gestellt, auf die er weder ja noch nein antworten konnte. Sein Messianitätsgeheimnis wollte er den Gesandten auch nicht anvertrauen. Er antwortet daher mit dem Hinweis auf die Nähe des Reiches, die sich in seinen Thaten offenbart. Zugleich rückt er seine eigene Persönlichkeit machtvoll in den Vordergrund. Nur derjenige kann selig werden, der zu ihm steht und kein Aergernis an ihm nimmt. Er will damit dasselbe sagen, was er auch dem Volk Mk 8 38 vorhält: Die Zugehörigkeit zum Reich ist abhängig von dem Ausharren bei ihm.
Die merkwürdige, ausweichende Antwort Jesu an den Täufer, in welcher die Exegese von jeher besondere Finessen entdecken zu müssen glaubte, erklärt sich also einfach aus einer Zwangslage! Er konnte nicht direkt antworten. Darum gab er diesen dunkeln Bescheid. Der Täufer sollte daraus entnehmen, was er wollte und konnte. Uebrigens hatte es ja keine Bedeutung, wie er ihn verstand. Die Ereignisse werden ihn lehren, denn die Zeit ist ja schon viel weiter vorangeschritten als er annimmt, und der Hammer hebt schon zum Stundenschlag aus.
Es wird uns sehr schwer von dem Gedanken loszukommen, als ob der Täufer und Jesus zu einander als Vorläufer und Messias gestanden hätten. Nur durch eine angespannte Ueberlegung gelangt man zur Einsicht, dass bei unserer Perspektive die beiden Grössen in diesem Verhältnis stehen, weil wir die Messianität Jesu voraussetzen, dass man aber, um ihre historischen Beziehungen [S. 48] zu entdecken, die richtige Perspektive berechnen und in Anschlag bringen muss.
Solange man noch irgendwie in der alten Perspektive befangen ist, wird man der vorliegenden Untersuchung nicht gerecht. Man meint dann nämlich, es handle sich um »den Vorläufer des Vorläufers« und den Vorläufer, also eine geistreiche Multiplizierung des Vorläufers mit sich selbst. Das ist falsch ausgedrückt. Ein busspredigender Prophet, Johannes der Täufer, weist auf die machtvolle Vorläufergestalt des Elias hin und, als er im Gefängnis von den Zeichen Jesu hört, frägt er sich, ob dieser nicht der Elias sei und ahnt nicht, dass jener sich für den Messias halte und er selbst deshalb in der Geschichte hinfort als der Vorläufer bezeichnet würde. Dies ist der geschichtliche Thatbestand.
Mit dem Augenblick aber, wo die Geschichtsbetrachtung von der Gewissheit ausgeht, dass Jesus der Messias war, verschiebt sich der geschichtliche Thatbestand notwendig. Die Evangelien zeigen diese Verschiebung in steigendem Masse an. In dem Anfangssatz des Markus wird das Maleachicitat von dem bahnbereitenden Vorläufer (Mal 3 1) schon auf Johannes angewandt. Bei Matthäus hört der Täufer im Gefängnis »die Werke des Messias« (Mt 11 2). Handelt es sich hier nur um das unreflektierte Hereinspielen einer neuen Betrachtungsweise, so hat das vierte Evangelium daraus ein Prinzip gemacht und stellt die Geschichte konsequent unter der Voraussetzung dar, dass, weil Jesus der Messias war, der Täufer der Vorläufer war und sich als solcher auch fühlen musste. Der historische Täufer sagt: ich bin nicht der Vorläufer, denn dieser ist unverhältnismässig grösser und mächtiger als ich. Nach dem vierten Evangelium könnten die Leute mutmassen, er sei Christus. Er muss daher sagen: ich bin nicht Christus (Joh 1 20)!
So hat sich das Verhältnis unter der neuen Perspektive vollständig verschoben. Die Person des Täufers ist historisch unkenntlich geworden. Zuletzt hat man noch den modernen Zweifelsmann aus ihm gemacht, der halb an Jesu Messianität glaubt, halb nicht glaubt. In diesem Hangen und Bangen soll gar die Tragik seines Daseins bestehen! Nun darf man ihn aber mit Zuversicht aus der Reihe der uns Modernen so interessanten, am tragischen Halbglauben zu Grunde gehenden Persönlichkeiten tilgen. Jesus hat ihm das erspart. Denn so lang er lebte, verlangte er von niemand den Glauben an seine Messianität — und war es doch!
7. Der Blinde zu Jericho und die Ovation beim Einzug in Jerusalem.
Ist der Einzug in Jerusalem eine messianische Ovation? Das hängt einmal davon ab, wie man die Rufe des Volkes deutet, sodann aber von der Auffassung der Scene zwischen Jesus und dem Blinden. Handelt es sich dort wirklich um die Begrüssung als Davidssohn, die er nun nicht mehr ablehnt, sondern stillschweigend annimmt, sodass das Volk zur Erkenntnis gelangt, für wen er sich halte: dann ist die Folgerung unabweislich, dass es eine messianische Ovation war.
Für die Herausarbeitung der ursprünglichen Situation in der Schilderung des Einzugs sind die Detailunterschiede zwischen Markus und den Seitenreferenten von weittragender Bedeutung. Bei Markus haben wir zwei klar unterschiedene Jubelrufe. Der erste gilt der gegenwärtigen Person Jesu: »Hosianna, gelobt sei der »Kommen-Sollende« im Namen des Herrn« (Mk 11 9). Der zweite bezieht sich auf das erwartete Kommen des Reichs: »Gelobt sei das kommen-sollende Reich unseres Vaters David; Hosianna in der Höh'.« Von dem Davidssohn ist also gar nicht die Rede!
Anders bei Matthäus. Dort ruft das Volk: »Hosianna dem Sohne Davids; gesegnet sei der Kommen-Sollende im Namen des Herrn; Hosianna in der Höh'« (Mt 21 9). Wir haben also hier nur den Ruf, welcher der Person Jesu gilt. Das Reich wird nicht erwähnt; dafür jubelt man dem Davidssohn und zugleich dem Kommen-Sollenden zu.
Der lukanische Bericht kommt nicht in Betracht, da er mit Reminiscenzen aus der Vorgeschichte operiert: »Gesegnet der König, der im Namen des Herrn kommt. Friede im Himmel und Ehre in der Höh'« (Luk 19 38).
In seiner Darstellung deutet also Matthäus den Kommen-Sollenden auf den Davidssohn. Direkte Beweise, dass dieser aus Psalm 118 25 ff. stammende Ausdruck zur Zeit Jesu auf den Messias angewandt wurde, besitzen wir nicht. Wohl aber hat es sich gezeigt, dass sowohl der Täufer als auch Jesus ihn auf den Vorläufer Elias anwenden. Also ist es ungeschichtlich, wenn Matthäus das Volk in einem Atem dem Kommen-Sollenden und dem Davidssohn zujubeln lässt.
Markus hat auch hier in seinem Detail die ursprüngliche Situation festgehalten. Das Volk jubelt Jesus als dem »Kommen-Sollenden«, [S. 50] d. h. dem erscheinenden Vorläufer zu und singt ein »Hosianna in der Höh'« dem Reich, welches bald auf Erden herabkommen wird. Gerade der Unterschied zwischen dem Hosianna und dem Hosianna in der Höh' ist bezeichnend, sofern das erste auf den gegenwärtigen Vorläufer, das zweite auf das himmlische Reich geht. Der sekundäre Charakter der matthäischen Darstellung tritt darin zu Tage, dass er dem Davidssohn und dem Kommen-Sollenden ein Hosianna und zugleich Hosianna in der Höh' gelten lässt, wobei der Messias also einmal auf Erden, das andere Mal noch im Himmel vorausgesetzt wird! Hier zeigt sich deutlich, dass dem zweiten Hosianna ursprünglich das Reich beigehört.
Der Einzug in Jerusalem galt also nicht dem Messias, sondern dem Vorläufer. Dann ist es aber unmöglich, dass das Volk die Scene mit dem Blinden dahin verstanden hat, als nähme hier Jesus die Anrede »Davidssohn« entgegen.
Auch hier handelt es sich um synoptisches Detail, durch welches die Scene total verändert wird. Der Ruf über den Davidssohn ist dabei gefallen. Die Frage ist nur, ob ihn das Publikum als Anrede auffassen konnte und musste. Bei Matthäus und Lukas trifft dies zu, bei Markus ist es ausgeschlossen.
Nach der matthäischen Scenerie sitzen zwei Blinde am Wege und rufen: erbarme dich unser, Sohn Davids (Mt 20 30).
Bei Lukas lautet der Ruf: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner (Luk 18 38). Darauf bleibt Jesus vor ihm stehen, redet ihn an und heilt ihn.
Bei Markus sitzt der blinde Bettler, Sohn des Timäus, hinter der Menge am Wege. Jesus sieht ihn nicht, er kann ihn nicht anreden, sondern er hört nur eine Stimme, die mitten aus dem Gewühl vom Boden zu ihm dringt, wo einer über den Davidssohn um Hülfe ruft. Er bleibt stehen und schickt, man solle ihn holen! Man geht der Stimme nach und findet ihn am Boden sitzend. Steh' auf, er ruft dich! sagen sie zu ihm. Er wirft sein Kleid ab, springt auf und drängt sich durch die Menge zu ihm. Als Jesus ihn so auf sich zukommen sieht, kann er gar nicht wissen, dass dieser Mann blind ist! Er muss ihn also fragen, was ihm fehlt. Die Distanz, der Aufenthalt, das Schicken nach ihm, das behende Herbeikommen: alles dies ist bei Matthäus ausgefallen. Er hat die Situation vereinfacht: [S. 51] Jesus stösst auf die beiden am Weg und redet sogleich mit ihnen. Nur hat er aus dem ursprünglichen Sachverhalt die Frage, wo es denn fehle, beibehalten, die zwar bei Markus thatsächlich nötig ist, bei ihm aber ganz unbegreiflich bleibt, da Jesus sehen muss, dass er es mit zwei Blinden zu thun hat!
Lag aber eine solche Distanz zwischen Jesus und dem Blinden, so konnte niemand auf den Gedanken kommen, er beziehe den monotonen Ruf über den Davidssohn als Anrede auf sich! Es war eben nur ein lästiger Ruf, den die Umstehenden ihm vergebens zu verwehren suchten. Man legte ihm so wenig Bedeutung bei, als den Dämonenrufen — wenn man ihn überhaupt verstand.
Die Anrede des Bettlers lautet ganz anders und zeigt, dass er ebensowenig wie das Volk Jesum für den Messias hält: »Rabbi, dass ich sehend werde.« Er war für ihn also der Rabbi aus Nazareth.
Hält man sich diese Situation vor, so ersieht man, dass die Umstehenden in keiner Weise auf den Gedanken kommen konnten, Jesus nehme hier messianische Huldigungen entgegen. Es war aber das erste Zeichen, das er wieder that, seitdem er aus der Einsamkeit herausgetreten war. Damit legitimiert er sich vor der Festkarawane als der Vorläufer, für den ihn die Anhänger in Galiläa hielten, ehe er sich plötzlich in die Stille nach dem Norden zurückzog. Nun bricht der Jubel los und sie bereiten ihm als dem Vorläufer die Ovation beim Einzug.
Bei dem Nachweis über den eigentlichen Charakter dieses Ereignisses handelt es sich um ein anscheinend geringfügiges Detail, dem nicht jedermann geneigt sein möchte, die erforderliche Bedeutung beizulegen. Demgegenüber ist an folgendes zu erinnern:
1. In der Darstellung, welche die Messianität Jesu voraussetzte, musste sich wie von selbst die Sache im Detail dahin verschieben, dass es sich um einen messianischen Einzug handelt. Dies ist bei Matthäus der Fall. Bewusste Absicht des Schriftstellers liegt nicht vor.
2. Die Schilderung des Markus zeigt eine solche Ursprünglichkeit den Seitenreferenten gegenüber (man denke an die Taufgeschichte und an den Bericht des letzten Mahles), dass man nicht leicht der Eigentümlichkeit seiner Notizen ein zu grosses Gewicht beilegen kann, besonders wenn sich daraus eine so anschauliche Situation ergibt, wie es hier der Fall ist.
3. Mit der Behauptung, der Beweis sei nicht erbracht, dass es sich um eine Ovation an den Vorläufer handle, ist nichts gethan. Dann gilt es nämlich darzuthun, wie unter der Voraussetzung, dass sie wirklich dem Messias galt, die Verhandlungen in den jerusalemitischen Tagen gar nicht auf eine vorausgesetzte messianische Anmassung reflektieren und die gedungenen Ankläger sich nicht auf solche Anmassungen berufen. Was hätte der römische Befehlshaber gethan, wenn einer unter den Hochrufen des Volks als Davidssohn in die Stadt eingezogen wäre?
4. Die historische Erkenntnis wird uns hier besonders schwer, weil wir immer meinen, die Zeichen und Wunder bekräftigten für die Zeitgenossen die Messianität Jesu. Damit stehen wir auf dem Standpunkt der johanneischen Geschichtsdarstellung. In der Vorstellung der Zeitgenossen Jesu braucht aber der Messias keine Zeichen, sondern er wird offenbar in seiner Macht! Die Zeichen hingegen gehen auf die Zeit des Vorläufers!
5. Auch unsere Uebersetzung wirkt beeinträchtigend. Der ἐρχόμενος bezeichnet in allen Stellen eine für jene Zeit scharf ausgeprägte Persönlichkeit. Man muss daher überall dieses Wort dementsprechend übersetzen und es nicht einmal als Substantiv, ein andermal (in der Einzugsgeschichte) wieder als Verbalform übersetzen, wie es gerade am bequemsten ist. »Kommen-Sollender« ist der Vorläufer, weil er vor dem messianischen Gericht im Namen Gottes kommen soll, um alles in Ordnung zu bringen.
Es bleibt also dabei: Bis zu dem Bekenntnis vor dem hohen Rat galt Jesus öffentlich für den Vorläufer, wofür er schon in Galiläa gehalten worden war.
Siebentes Kapitel.
Nach der Aussendung. Litterarische und historische Probleme.
1. Die Seereise nach der Aussendung.
Es ist sehr schwer, sich nach den synoptischen Berichten ein klares Bild von den Ereignissen zu machen, welche auf die Aussendung folgten. Wann sind die Jünger zurückgekehrt? Wo hat sich Jesus während ihrer Abwesenheit aufgehalten? Welcher Art waren die Erfolge der Jünger? Welches waren die Ereignisse [S. 53] zwischen ihrer Rückkehr und dem Aufbruch nach dem Norden? Wird durch diese Ereignisse motiviert, warum Jesus sich mit ihnen in die Einsamkeit zurückzieht?
Auf diese Fragen geben die Berichte keine Antwort. Dazu kommt noch ein rein litterarisches Problem. Der Zusammenhang zwischen den einzelnen Scenen ist hier merkwürdig zerrissen. Fast scheint es, als ob der Faden der Geschichtserzählung hier abbräche. Erst vom Augenblick des Aufbruchs zur Reise nach Jerusalem an stehen die Scenen wieder in einem natürlichen und klaren Zusammenhang.
Zunächst handelt es sich um zwei offenbare Doubletten: die Speisungsberichte mit nachfolgender Seefahrt (Mk 6 31-56 = Mk 8 1-22). Beidemale wird Jesus auf einer Reise längs des Sees von der Volksmenge beim Anlegen ans Land in einsamer Gegend eingeholt. Dann kehrt er in die galiläischen Orte auf dem Westufer zurück. Hier, in seinem gewohnten Wirkungskreis, trifft er mit den pharisäischen Sendlingen aus Jerusalem zusammen. Sie stellen ihn zur Rede. In der Erzählungsreihe der ersten Speisungsgeschichte handelt es sich um das Händewaschen (Mk 7 1-23), in der der zweiten um die Zeichenforderung (Mk 8 11-13). Im Gefolge der ersten Erzählungsreihe steht der Aufbruch nach Norden, wo er in der Gegend von Tyrus und Sidon mit der Kanaanitin zusammentrifft (Mk 7 24-30). In der zweiten folgt auf das Zusammentreffen mit den Pharisäern die Reise nach Cäsarea Philippi (Mk 8 27).
Wir haben hier also zwei selbständige Darstellungen derselben Epoche im Leben Jesu. Dem Plane nach decken sie sich vollständig; nur differieren sie in der Auswahl der berichteten Ereignisse. Diese beiden Erzählungsreihen sind wie prädestiniert miteinander verbunden, statt einander gleichgesetzt zu werden. Jede erzählte Nordreise beginnt und endigt nämlich mit einem Aufenthalt in Galiläa. Mk 7 31: Nachdem er weggegangen aus dem Gebiet von Tyrus, ging er über Sidon an den galiläischen See; Mk 9 30 u. 33: Und sie gingen weg von da (gemeint ist Cäsarea Philippi) und wandelten durch Galiläa hin und sie kamen nach Kapernaum. Man ist also an dem Ende einer Erzählungsreihe wieder an dem Ausgangspunkt der andern. Verbindet man daher die eine Rückkehr aus dem Norden mit dem Anfang der andern Erzählungsreihe, so hat man äusserlich betrachtet eine ganz natürliche Fortsetzung, nur dass Jesus jetzt [S. 54] unbegreiflicherweise gleich wieder nach dem Norden muss, statt dass die Rückkehr nach Galiläa ein Teil der Jerusalemreise ist! Diese schliesst sich in dieser Anordnung dann erst an die zweite Rückkehr an.
In dieser rückläufigen Bewegung der beiden Erzählungsreihen liegt es begründet, dass sie, obwohl Parallélcyklen, sich doch in einer Folge aneinanderschliessen. Der jetzige Text zeigt ihre vollständige Harmonisierung. Nicht nur dass die zweite Speisungsgeschichte auf die erste durch »wiederum« (Mk 8 1) Rücksicht nimmt: der Ausgleich ist sogar soweit vorangeschritten, dass Jesus in einem Wort an die Jünger beide voraussetzt (Mk 8 19-21)! Wie weit sich dieser Prozess schon in der mündlichen Ueberlieferung vollzogen hatte und was auf das Konto der endgültigen litterarischen Zusammenfügung kommt, das lässt sich nicht mehr ausmachen.
Nur der erste Cyklus ist vollständig. Jesus fährt mit den Jüngern nordöstlich der Küste entlang und kehrt dann wieder nach der Landschaft Genezareth zurück (Mc 6 32 45 53). Der zweite ist unvollständig und etwas in Unordnung geraten.
Jesus ist von der Seereise zum Westufer zurückgekehrt. Mk 8 10 ff. entspricht Mk 6 53 ff. u. 7 1 ff.; Dalmanutha liegt auf dem Westufer. Statt dass er aber nun direkt nach Norden aufbricht, folgt zuerst wieder eine Fahrt nach dem Ostufer (Mk 8 13). Erst von Bethsaida zieht er dann mit ihnen nach Norden (Mk 8 27 ff.). Der erste Cyklus hingegen erzählt diese Seefahrt nach Bethsaida als Episode der grossen Uferreise in unmittelbarer Folge auf die Speisungsgeschichte (Mk 6 45 ff.). Nun zeigt aber auch die zweite Erzählungsreihe, dass dies der ursprüngliche Zusammenhang war, denn auch hier, wie in der ersten, bezieht sich das Gespräch beim Landen auf die vorhergegangene Speisung. Mk 6 52: »Denn sie waren nicht zur Einsicht gekommen über den Broten, sondern ihr Herz war verstockt«. Mk 8 19-21: »Da ich die fünf Brote gebrochen habe — da ich die sieben gebrochen habe — versteht ihr noch nicht?« Es ist also unmöglich, dass zwischen dieser Fahrt und der Speisung alle Auftritte, die sich auf dem Westufer abgespielt haben, dazwischen liegen. Das Denken aller ist ja noch von dem grossen Ereignis beherrscht. Die neue Seereise des zweiten Cyklus ist nichts anderes als die ursprüngliche Fortsetzung der Fahrt von dem Platz der Speisung nach Bethsaida.
Damit ist der Parallelismus der beiden Erzählungsreihen erwiesen. Die Ereignisse verlaufen in der Folge: Uferfahrt vom Westufer aus, Speisung, Weiterfahrt nach dem Nordosten, »Meerwandeln« resp. Gespräch im Boot, Ankunft in Bethsaida, Rückkehr nach der Landschaft Genezareth, Diskussion mit den Pharisäern, Aufbruch mit den Jüngern nach dem Norden.
2. Das Abendmahl am See Genezareth.
Die Predigt der Jünger von der unmittelbaren Nähe des Reiches muss einen grossen Erfolg gehabt haben. Eine gewaltige Menge von solchen, die der Kunde glauben, scharen sich um Jesus. Er hat eine von der hochgradigsten eschatologischen Erwartung beseelte Gemeinde um sich. Sie lassen ihn nicht los. Um mit den Jüngern allein zu sein, besteigt er ein Schiff. Er gedenkt sich nach dem Nordostufer zurückzuziehen. Die Menge aber, als sie erfährt, dass er sich entfernen will, strömt allerorts zusammen und folgt am Strande. Mk 6 32 u. 33: »Es war eine Menge Leute da, die kamen und gingen; und sie hatten nicht einmal Zeit zu essen. Und sie gingen zu Schiff hin beiseits an einen einsamen Ort; und viele sahen sie hingehen und erkannten sie. Und sie liefen von allen Städten aus zu Fuss dahin zusammen und kamen ihnen zuvor«.
Sie treffen ihn in einsamer Gegend und umringen ihn alsbald. Die Stunde der Mahlzeit kommt. In den Berichten von der wunderbaren Speisung ist uns das Mahl, das sie feierten, erhalten. Es handelte sich um ein feierliches Kultmahl! Nach weihevollem Dankgebet lässt Jesus durch seine Jünger das von ihm gebrochene Brot unter die Menge verteilen. Mit Ausnahme der beiden Gleichnisse haben wir absolut denselben feierlichen Vorgang wie beim Abendmahl. Er teilt persönlich Speise unter die Tischgenossenschaft aus. Die Schilderung der Brotausteilung hier entspricht vollständig dem ersten Abendmahlsakt. Mk 6 41: Er nahm die Brote, segnete sie, zum Himmel aufblickend, brach sie und gab sie den Jüngern, sie ihnen vorzusetzen. Mk 14 22: Er nahm das Brot, segnete und brach es und gab es ihnen.
In der feierlichen Austeilungshandlung liegt also das Wesen sowohl jener Mahlzeit am Strand als auch des letzten Mahls mit den Jüngern begründet. Der Name Abendmahl geht auf beide, denn auch jenes Mahl am See fand in der Abendstunde [S. 56] statt. Mk 6 35: Und wie es schon spät wurde, traten seine Jünger zu ihm etc. Hier setzt sich die Mahlgemeinschaft aus der grossen Menge der Reichsgläubigen zusammen, beim letzten Mahl ist sie auf den Jüngerkreis beschränkt. Die Feier aber war dieselbe.
Hier ist sie nun in einen Wunderbericht verzerrt, weil das Kultmahl, das Jesus am See improvisiert, als ein Sättigungsmahl aufgefasst wird. Dass er den geringen Vorrat, der zu Händen war, die für ihn und seine Jünger bestimmte Speise der Menge feierlich austeilte, ist historisch. Dass dieses Mahl ihnen die abendliche Mahlzeit ersetzte, trifft ebenfalls zu. Dass die Menge davon aber durch einen übernatürlichen Vorgang satt wurde, das gehört zum Wundercharakter, welchen die spätere Zeit der Feier beilegte, weil man sich ihre Bedeutung nicht zurechtlegen konnte.
Der historische Vorgang ist also folgender: Die Jünger verlangen, Jesus solle das Volk entlassen, damit sie sich sättigen. Für ihn aber ist es nicht der Augenblick, an irdische Mahlzeit zu denken und dafür auseinanderzugehen, denn die Stunde ist nahe, wo sie alle um ihn zum messianischen Mahl versammelt sein werden. Darum will er nicht, dass sie jetzt gehen, sondern, ehe er sie entlässt, heisst er sie sich lagern. An die Stelle der Sättigungsmahlzeit setzt er ein feierliches Kultmahl, bei dem die irdische Sättigung keine Rolle spielt, sodass die für ihn und seine Jünger bestimmte Speise ausreicht.
Weder die Jünger noch die Menge verstehen, was vorgeht. Als Jesus nachher im Schiff die Rede auf die Bedeutung der Mahlzeit bringt — dies allein kann der historische Sinn der dunkeln Notizen Mk 6 52 und Mk 8 14-21 sein — zeigt sich, dass sie nichts begriffen haben.
Er hielt also ein Kultmahl ab, dessen Sinn ihm allein klar war. Er achtete es nicht für nötig, ihnen das Wesen der Feier zu erklären. Die Erinnerung aber an jene geheimnisvolle Abendmahlzeit am einsamen Seestrand lebte in der Ueberlieferung lebendig weiter und wuchs zum Bericht der wunderbaren Speisung aus.
Worin bestand für Jesus der feierliche Charakter der Austeilung? Die Mahlgemeinschaft trägt eschatologischen Charakter. Das Volk, das sich am See um ihn gesammelt, erwartet mit ihm das Anbrechen des Reiches. Indem er nun an die Stelle der gewöhnlichen [S. 57] Sättigungsmahlzeit ein Kultmahl setzt, wo er unter Danksagung zu Gott ihnen Speise austeilt, da handelt er aus seinem messianischen Selbstbewusstsein heraus. Als derjenige, welcher sich Messias weiss und bei dem unmittelbar bevorstehenden Einbrechen des Reiches ihnen als solcher geoffenbart werden wird, teilt er denjenigen, welche er demnächst beim messianischen Mahl um sich erwartet, feierlich Speise aus, als wollte er ihnen damit ein Anrecht auf Teilnahme an jener zukünftigen Feier geben. Die Zeit der irdischen Mahlzeiten ist vorbei; darum hält er mit ihnen die Vorfeier des messianischen Mahles. Sie aber verstanden es nicht, denn sie konnten nicht ahnen, dass derjenige, welcher ihnen so weihevoll Speise in Danksagung austeilte, sich als Messias wusste und als solcher handelte.
In diesem Zusammenhang fällt nun ein Licht auf das Wesen des Abendmahls zu Jerusalem. Dort repräsentieren die Jünger die reichsgläubige Gemeinschaft. Jesus teilt ihnen im Verlauf jener letzten Mahlzeit unter Danksagungswort Speise und Trank aus. Nun wissen sie aber, was er von sich hält. Er hat ihnen sein messianisches Geheimnis enthüllt. Sie können daraus die Beziehung seiner Austeilung auf das messianische Mahl ahnen. Er selbst gibt seinem Handeln diese Bedeutung, indem er die Feier mit dem Hinweis auf die demnächstige Wiedervereinigung beschliesst, wo er mit ihnen den Wein neu trinken wird in seines Vaters Reich!
Das Abendmahl am See und das Abendmahl zu Jerusalem entsprechen sich also vollkommen, nur dass Jesus bei letzterem den Jüngern das Wesen der Feier andeutet und zugleich in den beiden Gleichnissen den Leidensgedanken zum Ausdruck bringt. Das Kultmahl war dasselbe: eine Vorfeier des messianischen Mahles im Kreise der reichsgläubigen Genossenschaft. Jetzt versteht man erst, wie das Wesen des Abendmahls von den Gleichnissen unabhängig sein kann.
3. Die Woche zu Bethsaida.
Während der Feier war Jesus tief ergriffen. Darum drängte er zum Aufbruch und entliess das Volk. Er selbst zog sich auf einen Berg zurück, um im Gebet allein zu sein. Am Strande zu Bethsaida, wohin er ihnen zu rudern befohlen hatte, traf er die Seinen wieder. Im Kampf mit Sturm und Wellen wähnten sie [S. 58] eine überirdische Erscheinung auf sie zukommen zu sehen, als sie seine Gestalt am Strande erblickten. So sehr standen sie noch unter dem Eindruck der gewaltigen Persönlichkeit, welche voll geheimnisvoller Hoheit der Menge feierlich Speise ausgeteilt und dann die Feier plötzlich abgebrochen hatte (Mk 6 45-52).
Wohin hatte er die Menge entlassen? Was thaten sie in Bethsaida? Wie lang blieben sie dort? Unser Text berichtet nur, dass sie wieder nach Genezareth zurückkehrten.
Nun bietet aber die synoptische Geschichtserzählung für die Zeit vor dem Aufbruch nach Jerusalem (Mk 9 30) ein schweres litterarisches Problem. Mk 8 27-33 befindet sich Jesus allein mit seinen Jüngern hoch im Norden auf heidnischem Gebiet; von dort bricht er auch 9 30 ff. zum raschen Zug durch Galiläa nach Jerusalem auf. »Sie zogen von dort weg und nahmen ihren Weg durch Galiläa; er wollte aber nicht, dass jemand davon wusste.« Zwischen die Messianitätserklärung und diesen Aufbruch fällt nun eine Scene (Mk 8 34-9 29), wo er von einer grossen Volksmenge umgeben erscheint. Er verlässt sie mit den Intimen, um nachher wieder zu ihr zurückzukehren. Nirgends wird berichtet, wie dieses Volk plötzlich auf heidnischem Land sich zu ihm findet. Ebensowenig erfahren wir, wie es ihn wieder verlässt, dass er Mk 9 30 ff. allein mit den Jüngern und unerkannt durch Galiläa ziehen kann.
Aber nicht nur die Volksmenge kommt unerwartet, sondern die ganze Scenerie verändert sich. Man befindet sich in bekannter Gegend, denn Jesus geht mit den Jüngern »ins Haus«, während das Volk draussen bleibt (Mk 9 28)!
Der litterarische Zusammenhang, in dem das Stück steht, ist absolut unmöglich, denn es kann nicht auf heidnischem Boden, sondern nur in Galiläa spielen! Da aber Jesus nachher Galiläa nur im Fluge und incognito berührt, so gehört es in die galiläische Periode vor den Aufbruch nach dem Norden und zwar in die Zeit nach der Rückkehr der Jünger, da er dort von einer ständigen Volksmenge umgeben ist und dabei mit den Jüngern die Einsamkeit aufsucht!
Die Situation lässt sich aber mit Sicherheit noch genauer bestimmen. Jesus wohnt in einer Ortschaft (Mk 9 28), in deren Nähe ein Berg sich befindet, zu dem er sich mit den Intimen begibt (Mk 9 2). Dies passt aber alles mit absoluter Sicherheit auf den Aufenthalt in Bethsaida. Der Berg, den er mit den drei [S. 59] Intimen aufsucht, ist der Berg am Nordstrand des Sees, auf dem er gebetet in der Nacht, da er nach Bethsaida kam!
Das Stück Mk 8 34-9 29 gehört also in die Tage von Bethsaida! Es ist nicht mehr auszumachen, durch welchen Prozess es in den vorliegenden, unmöglichen litterarischen Zusammenhang geriet. Von Einfluss auf diese Einreihung wird gewesen sein, dass sich an die Leidensweissagung in Cäsarea Philippi (Mk 8 31-33) am natürlichsten das eindringliche Wort von der Leidensnachfolge der Anhänger anzuschliessen schien (Mk 8 34-9 1).
Zudem hatte die Umbildung des Berichts von dem Zusammentreffen Jesu mit seinen landenden Jüngern in eine Wundererzählung den natürlichen Anschluss des Berichts von dem am folgenden Morgen eintretenden Ereignisse erschwert. Und doch setzt Mk 8 34 ff. die Massnahmen des vorhergehenden Abends voraus (Mk 6 45-47). Jesus hat das Volk entlassen, sich selbst in die Einsamkeit zurückgezogen und ist mit den Jüngern im Dunkel der Nacht in Bethsaida eingetroffen, wo sie im Hause (Mk 9 28) Herberge haben. Am andern Tage ruft er das Volk mit den Jüngern um sich (Mk 8 34) und redet zu ihnen von der Selbstverleugnung, die in seiner Nachfolge gewillt sein muss, Schande, Hohn und Spott zu erdulden, um bei ihm auszuharren. Dieses Verhalten wird durch die Nähe der Ankunft des Menschensohnes gerechtfertigt, der in Solidarität mit Jesu richten wird.
Den Beschluss dieser mahnenden Rede bildet ein Wort »von dem Hereinbrechen des Reiches Gottes mit Macht«, d. h. der eschatologischen Realisierung desselben. In der jetzigen Form ist es abgeschwächt: einige von den Umstehenden werden den Tod nicht schmecken, bevor jener Augenblick eintritt. Als Abschluss dieser Rede muss es aber gelautet haben: Ihr, die ihr hier steht, werdet in Bälde den grossen Augenblick des gewaltsamen Einbruchs des Reiches Gottes erleben! So passt diese ernste Rede in Bethsaida zu den Erwartungen, die Jesum und die Menge um ihn bewegten.
Sechs Tage nach jener Rede in Bethsaida nimmt er die Intimen mit sich und führt sie auf den Berg, wo er am Abend nach dem grossen gemeinschaftlichen Kultmahl in der Einsamkeit gebetet. Bei ihrer Rückkehr finden sie die andern Jünger vom Volk umgeben; trotz der von ihnen auf ihrem Wanderzug durch [S. 60] die Ortschaften Israels bewiesenen Vollmacht über die Dämonen werden sie nicht Herr über einen Besessenen, der ihnen zugeführt worden. Jesus geht mit dem Vater und dem Besessenen abseits; in dem Augenblick, wo das Volk herbeiläuft (Mk 9 25-27), beginnt die Krisis, nach der Jesus den wie tot daliegenden Knaben bei der Hand fasst und aufrichtet.
So enthält dieses merkwürdige eingeschobene Stück Mk 8 34-9 29 einen anschaulichen Bericht über den ersten und letzten Tag der Woche, die er damals zwischen der Rückkehr der Jünger und dem Aufbruch nach dem Norden in Bethsaida verbrachte.
Erst jetzt wird ganz klar, wie unhistorisch die Ansicht ist, dass Jesus Galiläa infolge des wachsenden Widerstandes und des zunehmenden Abfalls verlassen habe. Im Gegenteil: es ist die Zeit der höchsten Triumphe. Eine reichsgläubige Volksmenge hängt ihm an und verfolgt ihn überall. Kaum landet er am Westufer, so sind sie schon wieder da. Ihre Zahl ist noch gewachsen und wächst immer fort (Mk 6 53-56). Dass sie ihn verlassen, dass sie auch nur die geringste Regung des Zweifels oder Abfalls gezeigt haben: davon wissen die Texte nichts. Nicht das Volk verlässt ihn, sondern er verlässt das Volk.
Das thut er nicht aus Angst vor den jerusalemitischen Sendlingen, sondern er führt nur aus, was er schon seit der Rückkehr der Jünger im Sinne hatte. Er will allein sein. Das Volk hatte diese Absicht vereitelt, indem es ihm bei der Seefahrt am Ufer folgte. Auf das Westufer zurückgekehrt, sieht er sich wieder umgeben. Weil er das Alleinsein mit den Jüngern für absolut notwendig hält und weil es ihm in Galiläa nicht gelingt, deswegen verschwindet er plötzlich und begibt sich auf heidnisches Gebiet. Die Nordreise ist keine Flucht, sondern sie verfolgt denselben Zweck wie die Seereise.
Achtes Kapitel.
Das Messianitätsgeheimnis.
1. Vom Verklärungsberg nach Cäsarea Philippi.
Nach Cäsarea Philippi ist die Verklärungsscene bedeutungslos und unverständlich. Die drei Intimen erfahren nicht mehr über Jesus, als was Petrus schon bekannt und Jesus daraufhin bestätigt hat. So ist die ganze Perikope nichts als eine angehängte [S. 61] Apotheose mit einem dunkeln Gespräch, der keine geschichtliche Bedeutung zukommt.
Spielt die Scene aber, wie oben litterarisch nachgewiesen ist, in den Wochen nach der Aussendung, vor Cäsarea Philippi, nicht auf dem Berg der Legende, sondern auf dem Berg in der Einsamkeit des Seeufers bei Bethsaida, dann ist mit einem Schlage aus der bedeutungslosen Anhangsapotheose zur Offenbarung des Messiasgeheimnisses ein galiläisches Ereignis von weittragender historischer Bedeutung geworden, das die Scene zu Cäsarea Philippi erklärt, nicht umgekehrt! Was wir die Verklärung Jesu nennen, ist in Wirklichkeit nichts anderes als die Offenbarung des Messiasgeheimnisses an die drei Intimen! Einige Wochen später folgt dann die Eröffnung an die Zwölfe.
Diese Offenbarung an die Intimen ist uns als Wundergeschichte überliefert. Sie hat dieselbe Umbildung erfahren, wie alle Ereignisse auf jener Fahrt längs des Nordstrandes. Wie die Speisungsgeschichte und die Begegnung Jesu mit seinen Jüngern im Abenddunkel, so steht auch die Scene auf dem Berg unter dem Eindruck der intensivsten eschatologischen Erregtheit. Darum ist der historische Vorgang im einzelnen nicht mehr klar. Elias und Moses, die Persönlichkeiten, welche die Endzeit ankündigen, erscheinen ihnen. Inwiefern haben dabei ekstatische Zustände, verbunden mit Glossolalie, mitgespielt? Die jetzige Schilderung lässt auf derartiges schliessen (Mk 9 2-6). Inwiefern wiederholt sich in der Stimme aus den Wolken das Erlebnis Jesu bei der Taufe Jesu? Mk 9 7: »Dies ist mein lieber Sohn, auf ihn höret.«
Zwischen der Taufe und der Verklärung besteht ein innerer Zusammenhang. Beidemal handelt es sich um einen Zustand der Verzückung, in dem das Geheimnis der Persönlichkeit Jesu offenbar wird. Das erste Mal war es für ihn allein. Hier nehmen auch die Jünger daran teil. Wie weit sie selbst hingerissen waren, ist nicht klar. Fest steht, dass in einem Zustand der Betäubung, aus dem sie erst am Ende der Scene erwachen (Mk 9 8), die Gestalt Jesu ihnen von überirdischem Glanz und Herrlichkeit umstrahlt erscheint und sie eine Stimme hören, er sei Gottes Sohn. Der Vorgang erklärt sich nur aus der gewaltigen eschatologischen Aufregung.
Es ist merkwürdig, dass die Offenbarwerdung des Messiasgeheimnisses immer an derartige Zustände geknüpft erscheint. [S. 62] Bei der Pfingstrede, wo Petrus die Messianität Jesu öffentlich verkündigt, handelt es sich auch um Glossolalie. Freilich hatte er diesen Zustand schon erlebt, als ihm die Offenbarung auf dem Berg bei Bethsaida wurde. Auch Paulus befindet sich in Verzückung, als er die Stimme aus den Wolken hört.
Wir haben oben dargethan, dass niemand durch Jesu Auftreten oder durch seine Reden jemals auf den Gedanken kommen konnte, er halte sich für den Messias. Die Frage dreht sich nicht darum, wie die Leute seine Messianität ignorieren konnten, sondern woher Petrus zu Cäsarea Philippi und der Hohepriester in der Gerichtsscene im Besitz des Geheimnisses Jesu sind.
Die Verklärungsscene löst die erste Frage. Petrus weiss, dass Jesus »Sohn Gottes« ist aus der Offenbarung, die ihm mit den andern beiden Intimen auf dem Berg bei Bethsaida geworden ist. Darum antwortet er mit einer solchen Sicherheit auf die gestellte Frage (Mk 8 29). Der matthäische Text fügt sogar noch ein Wort bei, in dem Jesus auf das Erlebnis, wo ihm diese Erkenntnis zu teil geworden, anspielt. Mt 16 17: Selig bist du Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut hat es dir nicht geoffenbart, sondern der Vater im Himmel.
Aber auch die auf die Antwort des Petrus folgende Scene zeigt, dass es sich um ein beiden gemeinsames Geheimnis handelt. Auf die Eröffnung Jesu, dass er in Jerusalem sterben müsse, fährt Petrus heftig und rücksichtslos auf ihn ein, nimmt ihn zur Seite und redet mit ihm in aufgeregter Weise. Als Jesus sieht, dass die übrigen Jünger aufmerksam werden, reisst er sich mit einem harten Wort von ihm los, indem er ihn den Versucher nennt, der nicht Gottes Dinge, sondern Menschendinge sinne (Mk 8 32 u. 33).
Warum die Aufregung des Petrus über die Eröffnung Jesu von der Todesreise nach Jerusalem? Weil sie neu hinzukommt zu dem, was ihm aus jener Scene auf dem Berg bei Bethsaida bekannt ist. Nun darf er aber davon vor den andern Jüngern nicht reden, weil Jesus den Intimen verboten hatte, jenes Ereignis zu erwähnen. Darum nimmt er ihn bei Seite. Jesus aber kann, da die andern aufmerksam werden, sich mit ihm nicht darüber auseinandersetzen, sondern er gebietet ihm leidenschaftlich erregt Schweigen.
Nur der Zusammenhang mit der Verklärungsscene erklärt die charakteristischen Züge des Ereignisses zu Cäsarea Philippi. [S. 63] Die allgemein im Gebrauch befindlichen psychologischen Noterwägungen über die schnelle Auffassungskraft des Petrus und sein lebhaftes Temperament können nicht im geringsten erklären, warum er allein mit solcher Sicherheit zur Erkenntnis der Messianität Jesu gekommen, um sie alsbald wieder so misszuverstehen, dass er mit Jesus darob in heftiges Gerede kommt. Warum gehen beide mit einander abseits? Warum belehrt ihn Jesus nicht, sondern lässt ihn mit hartem Scheltwort stehen?
An sich ist also die ganze Scene zu Cäsarea Philippi ein Rätsel. Nimmt man aber an, dass die Verklärungsscene vorausgegangen ist, so löst sich das Rätsel und die Scene wird bis ins kleinste Detail verständlich. Der Offenbarung an die Zwölf ging die Kundgebung des Messiasgeheimnisses an die Intimen voraus.
2. Der futurische Charakter der Messianität Jesu.
Die Offenbarung des Messiasgeheimnisses änderte vorläufig nichts in dem Verhalten der Jünger zu Jesu. Sie sind nicht vor ihm in den Staub gesunken, als ob nun aus dem Menschen, den sie gekannt, eine überirdische Erscheinung geworden wäre. Nur eine gewisse Scheu legen sie in der Folge an den Tag. Sie wagen ihn nicht zu fragen, wenn sie seine Worte nicht verstehen (Mk 9 32), sondern sie gehen neben ihm her als solche, die wissen, dass er ein grosses Geheimnis in sich trägt.
War nun Jesus vom Tag der Offenbarung seines Messiasgeheimnisses an für sie der Messias? Er war es noch nicht. Man muss sich immer wieder erinnern, dass das Reich und der Messias unzertrennlich zusammengehören. Nun war das Reich noch nicht erschienen, also auch der Messias nicht. Die Eröffnung Jesu bezieht sich auf den Zeitpunkt des Anbrechens des Reichs. Wann jene Stunde schlagen wird, dann wird er als Messias erscheinen, dann wird seine Messianität in Herrlichkeit geoffenbart werden. Das war das Geheimnis, welches er den Jüngern feierlich bekannt gab.
Jesu Messianität war ein Geheimnis nicht nur, weil er davon zu sprechen verboten hatte, sondern auch wegen ihrer besonderen Art, sofern sie erst in einem bestimmten Zeitpunkt real wurde. Es handelt sich um eine nur in seinem Selbstbewusstsein vollziehbare Vorstellung. Darum konnte und [S. 64] brauchte das Volk nicht darum zu wissen. Es genügte, dass sein Wort und seine Zeichen sie zum Glauben an die Nähe des Reiches bekehrten, denn mit dem Anbruch des Reiches wurde ihnen auch seine Messianität offenbar.
Es ist fast unmöglich, das Messianitätsbewusstsein, wie es Jesus seinen Jüngern als Geheimnis offenbarte, in moderne Begriffe zu fassen. Mag man es als eine Identität zwischen ihm und dem erscheinenden Menschensohn beschreiben, mag man es als eine Kontinuität, die beide Persönlichkeiten verbindet, auffassen, oder mag man es sich als ein virtuelles Vorhandensein der Messianität denken: keine von diesen modernen Anschauungen kann das messianische Selbstbewusstsein Jesu, wie es die Jünger verstanden, wiedergeben.
Uns fehlt nämlich das »jetzt und dann«, welches ihr Denken beherrschte und eine eigenartige Duplicität des Selbstbewusstseins bedingte. Was wir Identität, Kontinuität und virtuelle Anlage nennen, das ging in ihrer Vorstellung in einer für uns ganz unfassbaren Weise ineinander über. Jede Persönlichkeit dachte sich selbst in zwei ganz verschiedenen Zuständen, sofern sie sich nämlich jetzt in der vormessianischen und dann in der messianischen Aera wusste. Aussprüche, welche wir nur nach der Einheit des Selbstbewusstseins deuten, verstanden sie ganz von selbst nach dem ihnen geläufigen doppelten Selbstbewusstsein. Wenn ihnen also Jesus das Geheimnis seiner Messianität offenbarte, hiess das für sie nicht, er sei der Messias, wie wir Modernen es verstehen müssten, sondern es bedeutet für sie, dass ihr Herr und Meister derjenige war, der im messianischen Aeon als Messias geoffenbart werden würde.
Auch sich selbst dachten sie in dieser Doppelheit des Selbstbewusstseins. Jedesmal, nachdem Jesus ihnen eröffnet, dass er vor Antritt seiner Herrschaft leiden müsse, machen sie sich Gedanken, was sie sein werden im zukünftigen Aeon. Darum folgen auf die Leidensweissagungen die Scenen, in denen sie sich streiten, wer von ihnen der grösste sein wird im Himmelreich, oder welchen die Ehrenplätze zu Seiten des Thrones zufallen werden. Bis dahin aber bleiben sie, was sie sind, und Jesus, was er ist, ihr Lehrer und Meister. »Meister« reden ihn die Zebedaiden Mk 10 35 an. Als Lehrer soll er versprechen und gewähren, was sich erfüllen wird, wenn das Reich und damit seine Messianität geoffenbart sein wird.
In diesem Sinne ist also das Messianitätsbewusstsein Jesu futurisch. Weder für ihn noch für die Jünger lag darin etwas Auffälliges. Im Gegenteil: es entsprach ganz der jüdischen Vorstellung von dem verborgenen Werden und Wirken des Messias (vgl. Weber, System der altsynagogalen Theologie, 1880. S. 342-446). Jesu irdische Laufbahn ging seiner Messianität in Herrlichkeit voraus. Der Messias musste irdisch und unerkannt auftreten und wirken, er musste lehren und durch Thun und Leiden ein vollendeter Gerechter werden. Dann erst sollte die messianische Aera mit dem Gericht und der Aufrichtung des Reichs anbrechen. Von Norden sollte der Messias kommen. Jesu Zug von Cäsarea Philippi nach Jerusalem war der Lauf des unerkannten Messias zur Erlangung seiner Herrlichkeit.
So stand er als werdender Messias mitten drin in der messianischen Erwartung seines Volkes. Er durfte sich ihm nicht offenbaren, denn die Zeit seines verborgenen Wirkens war noch nicht vorüber. Darum predigte er die Nähe des Reiches Gottes.
Aus seinem futurischen Messianitätsbewusstsein heraus berührt er im Tempel die messianische Dogmatik der Schriftgelehrten, als wollte er sie auf das Geheimnis, das dahinter steckt, aufmerksam machen. Die Pharisäer sagen: der Messias ist Davids Sohn. David aber nennt ihn seinen Herrn. Wie kann er da noch sein Sohn sein (Mk 12 35-37)?
Davids Sohn, also ihm unterstehend, ist der Messias, wenn er in diesem Aeon, aus irdischem Geschlecht geboren, verborgen wirkt und wird. Davids Herr, wenn er beim Anbruch des zukünftigen Aeons als Messias in Herrlichkeit geoffenbart wird. Es liegt Jesu fern, die messianische Dogmatik der Pharisäer anzugreifen. Sie ist richtig, denn die Schrift lehrt so. Nur können sie die Pharisäer selbst nicht erklären, da sie nicht deuten können, wie einmal der Messias Davids Sohn, das andere Mal Davids Herr ist.
Dieser Ausspruch an das Volk im Tempel — erst Matthäus hat daraus eine Vexierfrage gemacht — steht auf derselben Stufe wie das Urteil über den Täufer. Wer es zu fassen vermöchte, in welcher Vollmacht jener taufte, dass er nämlich der Elias war, wer begreifen könnte, wie der Messias einmal Davids Sohn, dann wieder Davids Herr ist — der wüsste auch, wer der ist, der so redet. Wer Ohren hat zu hören, der höre!
3. Der Menschensohn und der futurische Charakter der Messianität Jesu.
Der Ausdruck »Davidssohn« enthält also ein Rätsel. Darum gebraucht ihn Jesus nie, wenn er von seiner Messianität spricht, sondern immer redet er von sich als dem »Menschensohn«. Diese Bezeichnung war also besonders geeignet, um sein Messianitätsbewusstsein wiederzugeben.
Er hat es auf diesen Ausdruck abgesehen. Jede messianische Bezeichnung, die ihn betreffend gefallen ist, korrigiert und erläutert er durch »Menschensohn«.
Nachdem es in der Scene auf dem Berg den Jüngern aufgegangen ist, dass er »Gottessohn« sei, redet er beim Abstieg zu ihnen von sich als dem »Menschensohn« (Mk 9 7-9).
Petrus proklamiert ihn vor den andern als »den Gesalbten« (Mk 8 29). Gleich fährt Jesus fort, sie über das Schicksal »des Menschensohns« (Mk 8 31) zu belehren.
Bist du Christus, der Sohn des Hochgelobten? frägt ihn der Hohepriester (Mk 14 61). Ihr werdet sehen den »Menschensohn« sitzend zur Rechten der Kraft und kommend auf den Wolken des Himmels, antwortet Jesus. Das will heissen: Ja. In der zweiten und dritten Leidensweissagung (Mk 9 30-32 und Mk 10 32-34) ebenso wie in dem Wort vom Dienen (Mk 10 45) kehrt überall derselbe Ausdruck wieder.
Die Messianitätsbezeichnung »Menschensohn« ist futurischen Charakters. Sie bezieht sich auf den Augenblick, wo der Messias auf den Wolken des Himmels zum Gericht erscheinen wird. In diesem Sinne hatte Jesus zum Volk und zu den Jüngern vom Kommen des Menschensohnes von jeher geredet. Bei der Aussendung weist er die Seinen auf die unmittelbare Nähe des Tages des Menschensohnes hin (Mt 10 23). Dem Volk redet er von dem Kommen des Menschensohnes, um es zu vermahnen, bei ihm, Jesus, auszuhalten (Mk 8 38).
Dabei sind er und der Menschensohn für die Jünger und das Volk zwei ganz verschiedene Persönlichkeiten. Der eine ist eine irdische, der andere eine überirdische Gestalt; der eine gehört dem jetzigen, der andere dem messianischen Zeitalter an. Zwischen beiden besteht Solidarität, indem der Menschensohn für die eintreten wird, welche zu Jesus, dem Verkündiger seines Kommens, gestanden sind.
Von diesen Stellen muss man ausgehen, um die Bedeutung des Ausdrucks in Jesu Munde zu verstehen. Wer um sein Geheimnis nicht weiss, für den sind Jesus und der Menschensohn verschiedene Personen. Wem er aber sein Geheimnis offenbart hat, für den besteht ein persönlicher Zusammenhang zwischen beiden. Jesus ist der, welcher am messianischen Tag als Menschensohn erscheinen wird. Die Offenbarung zu Cäsarea Philippi besteht darin, dass Jesus seinen Jüngern offenbart, in welchem persönlichen Verhältnis er zum erscheinenden Menschensohn steht. Als der, welcher Menschensohn sein wird, kann er Petri Bekenntnis, dass er Messias sei, bestätigen. Seine Antwort auf die Frage des Hohenpriesters ist in demselben Sinn bejahend. Er ist Messias: das werden sie sehen, wenn er als Menschensohn auf den Wolken des Himmels erscheint.
»Menschensohn« ist also der adäquate Ausdruck für seine Messianität, so lange er als Jesus von Nazareth in diesem Aeon auf seine zukünftige Würde zu reden kommt. Wenn er daher zu den Jüngern von sich als dem Menschensohn spricht, so setzt er dabei das Doppelbewusstsein voraus. »Der Menschensohn muss leiden und wird dann von den Toten auferstehen«: das will heissen: »als solcher, der Menschensohn sein wird bei der Totenauferstehung, muss ich leiden«. Ebenso ist das Wort vom Dienen zu verstehen: als solcher, der als Menschensohn zu der höchsten Herrschaft im messianischen Aeon berufen ist, muss ich jetzt am tiefsten mich im Dienen erniedrigen (Mk 10 45). So sagt er vor der Gefangennahme: die Stunde ist gekommen, dass der, welcher Menschensohn sein wird, in Sünderhände überantwortet wird (Mk 14 21 u. 41).
Damit ist das Menschensohnproblem klargestellt. Eine geläufige Selbstbezeichnung war der Ausdruck nicht, sondern eine hoheitsvolle Art, mit welcher er in den grossen Momenten seines Lebens zu den Eingeweihten von sich als dem zukünftigen Messias sprach, während er für die andern von dem Menschensohn als einer von ihm unterschiedenen Grösse redete. In allen Fällen aber zeigte der Zusammenhang an, dass er von einer zukünftigen Grösse redete, denn in all diesen Stellen wird entweder die Auferstehung oder das Erscheinen auf den Wolken des Himmels erwähnt. Die philologischen Bedenken treffen hier also nicht zu. Eingeweihte und Uneingeweihte mussten aus der Situation verstehen, [S. 68] dass er von einer bestimmten Persönlichkeit der Zukunft redete und nicht von dem Menschen allgemein, wenn auch der Ausdruck beidemal derselbe war.
Ganz anders steht es mit einer Reihe von Stellen, wo der Ausdruck als reine, unmotivierte Selbstbezeichnung, als einfache Umschreibung von »Ich« vorkommt. Hier bestehen alle kritischen und philologischen Bedenken unbedingt zu Recht.
Mt 8 20: Der Menschensohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege. Mt 11 19: Der Menschensohn ist gekommen, isset und trinket (im Gegensatz zum Täufer). Mt 12 32: Die Lästerung wider den heiligen Geist ist noch schwerer als die Schmähung des Menschensohnes. Mt 12 40: Der Menschensohn wird drei Tage in der Erde sein, wie Jonas im Bauch des Fisches. Mt 13 37 u. 41: Der Menschensohn ist der Säemann; der Menschensohn ist der Herr, der den Befehl zur Ernte gibt. Mt 16 13: Wer sagen die Leute, dass der Menschensohn sei?
Hier ist der Ausdruck philologisch unmöglich. Denn wenn Jesus ihn so gebraucht hätte, mussten ihn die Hörer einfach vom »Menschen« verstehen. Nichts zeigt an, dass es sich um die künftige messianische Würde handelt! Hier bezeichnet er ja seinen gegenwärtigen Zustand damit! »Menschensohn« ist aber eine Messiasbezeichnung futurischen Charakters, da man dabei immer an das Kommen auf den Wolken denkt, entsprechend Dan 7 13-14. Zudem wissen die Jünger in allen diesen Stellen damals noch gar nicht um das Geheimnis Jesu. Der Menschensohn ist für sie noch eine von ihm ganz unterschiedene Persönlichkeit. Die Einheit des Subjekts ist ihnen ja noch unbekannt! Also konnten sie nicht verstehen, dass er hierbei von sich rede, sondern sie mussten alles auf den Menschensohn beziehen, von dessen Kommen er auch sonst sprach! Damit wären aber die Stellen alle sinnlos, da sie voraussetzen, es handle sich um eine Selbstbezeichnung seinerseits!
Historisch und philologisch ist es also unmöglich, dass Jesus den Ausdruck als unmotivierte, selbstverständliche Selbstbezeichnung gebraucht haben kann. Als Selbstbezeichnung, sofern [S. 69] er von sich im Hinblick auf seine künftige messianische Würde redete, konnten es erst die verstehen, welche um sein Geheimnis wussten. Darum sind alle Stellen, in denen er sich vor Cäsarea Philippi (für die Intimen vor der Verklärung) als Menschensohn bezeichnet, unhistorisch. Historisch sind für jene Zeit nur solche, wo er von dem Menschensohn als einer mit ihm nicht identischen zukünftigen Erscheinung redet (Mt 10 23 und Mk 8 38). Die oben erwähnten Stellen, welche den Ausdruck als unmotivierte Selbstbezeichnung bieten, sind also nicht historisch, sondern nur aus einem litterarischen Prozess heraus verständlich. Wie kommt es, dass eine spätere Periode der evangelischen Geschichtserzählung diesen Ausdruck als »Selbstbezeichnung Jesu« ansah?
Dies beruht auf einer Verschiebung der Perspektive. Sie machte sich in dem Augenblick bemerkbar, wo man die Geschichte Jesu von dem Gedanken aus zu schreiben begann, dass er auf Erden schon der Messias war. Denn nun verlor man das Bewusstsein, dass für die irdische Existenz Jesu seine Messianität selbst etwas Futurisches war und dass er sich mit dem Ausdruck Menschensohn eben als futurischen Messias bezeichnete. Weil nun historisch feststand, dass er von sich als Menschensohn geredet, bemächtigte sich die Geschichtserzählung dieser emphatischen Selbstbezeichnung. Ohne eine Ahnung davon zu haben, dass sie nur für ganz bestimmte Worte und Situationen passte, verwandte man sie auf beliebige Stellen, wo er von sich selbst sprach, und schuf damit diese philologischen und historischen Unmöglichkeiten.
Dieser falsche Gebrauch beruht also auf einem litterarischen Prozess von ausgesprochen sekundärem Charakter. Es verhält sich damit, wie mit der unhistorischen Verwendung des Ausdrucks Davidssohn bei Matthäus. Dazu stimmt, dass auch die fraglichen Menschensohnstellen einer sekundären Schicht des Matthäus angehören.
Vor allem bekunden diesen Charakter: die Umformung der einfachen Frage zu Cäsarea Philippi (Mt 16 13), die Deutung des Gleichnisses vom Säemann (Mt 13 37 u. 41) und die falsche Auslegung des Jonaswunders (Mt 12 40).
Ebenso sekundär ist die Darstellung der Rede über die Sünde wider den heiligen Geist, wo ein Unterschied zwischen der Lästerung wider den heiligen Geist und der wider den Menschensohn [S. 70] statuiert wird (Mt 12 32), während doch in dem Gedanken Jesu beides auf dasselbe hinauskommt, da es die bewusste Verstockung gegen die in ihm wirkenden Kräfte des nahen Reichs bedeutet. In den Stellen Mt 8 20 und Mt 11 19 ist der Ausdruck unmotiviert, da Jesus dort nur sagen will: ich habe nicht, da ich mein Haupt hinlege, ich esse und trinke im Gegensatz zu dem asketischen Verhalten des Täufers.
Eine eigene Bewandtnis hat es mit den beiden unhistorischen Menschensohnstellen im Markustext.
Mk 2 10: Der Menschensohn hat das Recht, auf Erden Sünden zu erlassen. Mk 2 28: Der Menschensohn ist Herr des Sabbattages.
Das Sekundäre besteht darin, dass Jesus den Ausdruck als Selbstbezeichnung gebraucht haben soll. Historisch ist, dass er ihn in jenem Zusammenhang gebraucht hat, entweder vom Menschensohn als einer dritten, eschatologischen Grösse oder vom Menschen überhaupt. Beidemal gibt es einen Sinn.
1. Der Mensch als solcher kann durch die Heilung die Sündenvergebung auf Erden bekunden.
Der Mensch als Mensch ist Herr des Sabbattages.2. Im Hinblick auf den kommenden Menschensohn findet jetzt schon Sündenvergebung auf Erden statt, wie die Heilung zeigt.
Im Hinblick auf das Kommen des Menschensohns ragt jetzt schon ein Höheres in die gesetzliche Sabbatbeobachtung hinein. Vor dem Höheren verschwindet das Gesetz. Das zeigt der Fall Davids.
Wie man sich die Stellen auch zurechtlegen mag, eines ist klar: hier hat der Ausdruck historisch vorgelegen und die Aussage Jesu irgendwie motiviert. Sekundär ist nur, dass jetzt der Ausdruck als Selbstbezeichnung erscheint, während Jesus vom Menschen oder vom Menschensohn geredet hat. So stehen diese Stellen auf der Schwelle vom geschichtlichen zum litterarisch-ungeschichtlichen Gebrauch des Wortes »Menschensohn«.
Von hier aus erfasst man erst die eigentliche Schwierigkeit des Menschensohnproblems. Je tiefer bisher die Untersuchung ging, in desto weitere Ferne schien die Lösung zu rücken. Dies rührte daher, dass keine Ueberlegung eine Scheidung unter den so ungleichwertigen Stellen herbeiführen konnte. So blieben die litterarische und die historische Seite des Problems unlösbar verquickt. [S. 71] Mit dem Augenblick aber, wo man von dem Studium des Messianitätsbewusstseins Jesu aus entdeckt, dass der Ausdruck Menschensohn der einzige war, in welchem er das Geheimnis seiner futurischen Würde aussprechen konnte, ist auch die Scheidung gegeben. Historisch sind alle Stellen, wo der danielisch-eschatologische Charakter des Ausdrucks wirksam ist, unhistorisch alle diejenigen, wo dies nicht der Fall ist. Zugleich erklärt sich durch die Verschiebung in der Perspektive, wie für eine spätere Geschichtserzählung der Ausdruck im Munde Jesu nur die Bedeutung einer unmotivierten Selbstbezeichnung haben konnte, die in allen Situationen, wo er von sich selbst sprach, angebracht schien.
Endlich löst sich auch das letzte Rätsel. Warum verschwindet der Ausdruck in der Sprache des Urchristentums? Warum bezeichnete niemand den Messias als Menschensohn (ausser Akt 7 56), da ihn doch Jesus ausschliesslich für seine Würde gebraucht hatte? Das rührt daher, dass »Menschensohn« der messianische Ausdruck nur für eine klar bestimmte Episode des messianischen Dramas war. Menschensohn war der Messias in dem Augenblick, wo er auf den Wolken des Himmels der Welt zum Gericht und zur Herrschaft offenbar wurde. An jenen Augenblick dachte Jesus ausschliesslich, weil er erst von da an für die Menschen Messias war. Das Urchristentum aber erblickte, weil sich eine Zwischenzeit einschob, Jesum als Messias droben im Himmel zur Rechten Gottes. Er war schon der Messias und wurde es für sie nicht erst mit dem Augenblicke der Erscheinung des Menschensohns. Weil sich also auch hier die Perspektive verschoben hatte, gebrauchte man den allgemeinen Ausdruck »Messias«, nicht das auf eine besondere Scene hinweisende »Menschensohn«.
Jesus hätte sich ungenau ausgedrückt, wenn er gesagt hätte: ich bin der Messias; denn er war es erst mit seinem überirdischen Erscheinen als Menschensohn. Im Urchristentum hätte man sich ungenau ausgedrückt, wenn man gesagt hätte: Jesus ist der Menschensohn. Denn nach der Auferstehung war er der Messias zur Rechten Gottes, dessen Erscheinen als Menschensohn man erwartete.
4. Die Totenauferstehung und der futurische Charakter der Messianität Jesu.
Welche Bedeutung haben die Auferstehungsweissagungen? Es fällt uns schwer, anzunehmen, dass Jesus so präcis ein solches Ereignis vorhergesagt habe. Weit eher scheint es uns erklärlich, dass seine allgemeinen Aussagen von einer Herrlichkeit, die seiner wartete, ex eventu in Auferstehungsweissagungen redigiert worden seien.
Diese Kritik ist berechtigt, solange man meint, mit der geweissagten Auferstehung handle es sich um ein isoliertes Ereignis in der Existenz Jesu. Das ist aber nur für unser modernes Bewusstsein der Fall, weil wir auch in der Auferstehungsfrage uneschatologisch denken. Für Jesus und die Jünger hatte aber die Auferstehung, von der er redete, eine ganz andere Bedeutung. Sie war ein messianisches Ereignis, welches den Anbruch der ganzen zukünftigen Herrlichkeit bedeutete. Wir müssen auch hier vom Modernen, Apotheosenhaften in der geweissagten Auferstehung abstrahieren. Das zeitgenössische Bewusstsein verstand diese »Rehabilitierung« als Offenbarung seiner Messianität beim Anbruch des Reichs. Wenn also Jesus von seiner Auferstehung sprach, dachten die Jünger an die grosse messianische Auferstehung, in der er als Messias auferstehen würde.
In dieser Hinsicht ist das Gespräch beim Abstieg vom Berg nach der Verklärungsscene entscheidend. Er redet dort den Intimen zum erstenmal von »der Auferstehung des Menschensohnes von den Toten« (Mk 9 9). Sie können sich aber »die Auferstehung des Menschensohnes« ohne Zusammenhang mit der messianischen Auferstehung gar nicht denken. Ihre Aufmerksamkeit ist ganz von dem messianischen Ereignis, das ihnen Jesus damit in Aussicht stellt, gefangen genommen. Sie machen sich deshalb Gedanken über die Totenauferstehung. Wie verhält es sich damit (Mk 9 10)? Die Bedingungen dafür sind nämlich, soviel sie sehen, noch nicht gegeben. Der Elias ist ja noch nicht erschienen (Mk 9 11). Jesus beruhigt sie mit dem Hinweis, dass er schon da war, wenn ihn die Menschen auch nicht erkannt haben. Er meint den Täufer (Mk 9 12-13).
Dieses Gespräch, in dem man sonst überhaupt keine fassliche Gedankenfolge statuieren kann, wird also in dem Augenblick [S. 73] vollständig durchsichtig und natürlich, wo man bemerkt, wie die Jünger die von Jesus in Aussicht gestellte Auferstehung nur in demselben Gedanken mit der grossen, allgemeinen, messianischen Auferstehung denken können! Darum wirft diese Rede beim Abstieg ein helles Licht auf die spätere Leidens- und Auferstehungsweissagungen, weil wir hier im stande sind, die Gedanken und Erwägungen, die diese Worte im Herzen der Jünger wachriefen, zu kontrollieren. Ueberdies fehlt in dieser »Auferstehungsweissagung« die Erwähnung der drei Tage, die gerade den Anlass zum Einsetzen der Kritik in den folgenden Leidensweissagungen bietet. In dieser Hinsicht stimmt das Wort beim Abstieg mit dem letzten Ausspruch vor dem Hohenpriester überein. Beiden fehlt die zeitliche Bestimmung, wann die Auferstehung oder das Erscheinen auf den Wolken des Himmels statthaben wird. In dem messianischen Ereignis fällt beides zusammen: Auferstehung und Kommen auf den Wolken bedeuten nur die Offenbarung seiner Messianität am grossen Auferstehungstag.
Diese Erwartung der eschatologischen Totenauferstehung beherrschte das Bewusstsein Jesu und seiner Zeitgenossen. Er setzt sie in seinen jerusalemitischen Reden voraus. Die Reichserwartung und der Glaube an die bevorstehende Totenauferstehung gehören eng zusammen. Es ist, wie schon früher bemerkt wurde, ein perspektivischer Fehler, den Gedanken Jesu, wenn er vom kommenden Reich spricht, eine Orientierung nach vorwärts zu geben, als bezöge es sich auf kommende Generationen. So denkt der moderne Geist. Bei ihm war es gerade umgekehrt. Beim Reich handelt es sich um die vergangenen Generationen! Sie erstehen zum Gericht, welches das Reich einleitet.
Die Totenauferstehung ist die Vorbedingung zur Reichserrichtung. Dadurch werden alle Generationen der Welt aus ihrer zeitlichen Folge herausgehoben und für das Urteil Gottes als gleichzeitig gesetzt. So verlangt z. B. gerade das Gleichnis vom Weinberg Gottes (Mk 12 1-12) die Annahme der Totenauferstehung. Die ganze Geschichte Israels wird dort in dem Verhalten der Pächter beschrieben. Jesus redet von den Generationen Israels von den Tagen der Propheten bis zu der gegenwärtigen, der seine Warnung gilt. Im Gleichnis aber ist es nur eine Generation, weil das ganze Volk in seinen aufeinanderfolgenden Geschlechtern als Kollektivgrösse vor Gott tritt, wenn es [S. 74] sich um das Gericht handelt; es ist dann als Ganzes in der Auferstehung erstanden.
Ebenso erklärt es sich, dass für den Gerichtstag dem Geschlecht derer von Sodom noch ein erträglicheres Los in Aussicht gestellt wird als dem gegenwärtigen von Kapernaum (Mt 11 23-24).
Wer das Kommen des Reichs erwartete, der glaubte auch an die bevorstehende Totenauferstehung. Darum richtet sich der Angriff der Sadducäer gerade auf diese Frage. Wenn Jesus ihnen antwortet, »dass, wenn sie von den Toten auferstehen, sie weder freien noch gefreit werden, sondern sein werden, wie die Engel im Himmel« (Mk 12 25), so ist dies von dem Zustand im Reich Gottes zu verstehen, in das sie durch die Totenauferstehung eingehen.
In letzter Linie war die »Totenauferstehung« nur die Art, wie sich die Veränderung der ganzen Existenzform an denjenigen vollzog, die schon in den Tod gesunken waren. Durch das Kommen des Reiches Gottes wird aber die irdische Existenzform überhaupt in eine damit nicht zu vergleichende andere erhoben. In dieser Hinsicht erleben auch diejenigen, welche vor dem Ereignis nicht in den Tod sinken, eine »Auferstehung«, denn auch ihre Daseinsweise wird plötzlich durch eine höhere Macht in eine andere verwandelt, welche sie nun mit denen teilen, die aus dem Tod erweckt sind. Verglichen mit dieser neuen Existenzform ist die vorhergehende indifferent. Es ist gleich, ob man aus dem irdischen Dasein oder aus dem Totenschlaf in die messianische Seinsweise eingeht! Im Verhältnis zur letzteren ist alles Sein »Tod«. Sie allein ist »Leben«.
Darum redet Jesus zu den Lebenden von dem Weg, der zum »Leben« führet (Mt 7 14). Er empfiehlt, eher ein Glied dieses Leibes daran zu geben, wenn es sich um das »Leben« handelt, als bei der Auferstehung nicht an der messianischen Existenz teil zu haben (Mt 18 8 u. 9). Der reiche Jüngling frägt, was er thun soll, »um das ewige Leben zu ererben«. Als er der erhaltenen Weisung nicht folgen will, ist Jesus sehr betrübt, weil es so schwer ist, dass ein Reicher »in das Gottesreich eingehe« (Mk 10 17 u. 25).
Diese Entwertung der irdischen Daseinsform geht bis zur Darangabe des irdischen Lebens überhaupt, um des Lebens im zukünftigen Aeon gewiss und versichert zu werden. Darum erklärt [S. 75] Jesus, wo er von der Nachfolge in Leiden und Schmach redet, dass »wer sein Leben retten will, der wird es verlieren«. Das heisst: Wer sich aus Angst für sein irdisches Dasein unwürdig macht, dass der Menschensohn vor Gott für ihn eintrete, der verwirkt dadurch das messianische Leben, das mit der Totenauferstehung anhebt (Mk 8 35).
Wenn das Reich anbricht, ist es einerlei, ob man in einem lebendigen oder in einem toten Leib existiert. Diese Erwägung allein gibt das richtige Verhalten in der Verfolgung an. Darum sagt Jesus zu den Jüngern bei der Aussendung: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die »Seele« aber nicht vermögen zu töten; fürchtet euch hingegen vor dem, der vermag sowohl die »Seele« als auch den Leib zu verderben in der Hölle (Mt 10 28).
Dieselbe Verbindung der urchristlich eschatologischen Erwartung mit der Totenauferstehung findet sich in klassischer Weise bei Paulus (1 Kor 15 50-54). Es handelt sich hier gar nicht um genuin paulinische Gedanken, sondern um eine urchristliche Anschauung, welche schon Jesus ausgesprochen hat. Fleisch und Blut, ob belebt oder unbelebt, können in keiner Weise am Reich teil haben. Darum wenn die Stunde schlägt, wo die Toten unvergänglich auferstehen, werden auch die Lebendigen in diese Unvergänglichkeit verwandelt.
Die Totenauferstehung ist die Brücke vom »Jetzt« zum »Dann«. Auf ihr beruht die Doppelheit des Selbstbewusstseins. Wenn daher Jesus von seiner Auferstehung sprach, gliederten die Jünger dieses Wort in einen grossen Zusammenhang ein. Es bedeutete für sie die allgemeine Auferstehung, wo auch sie in die Existenzform des Reiches Gottes auferstehen würden. Wohl erwarteten sie seine Auferstehung: aber nicht als »Osterereignis«, sondern als den Anbruch des messianischen Reiches. Als Auferstandener sollte er offenbar werden, wenn er auf den Wolken des Himmels als Menschensohn ankäme und den grossen messianischen Tag heraufführte.
Für unser Empfinden verhält sich der Tod Jesu zur Auferstehung wie die Dissonanz zu ihrer Auflösung. Bei der Entwertung jeglicher Seinsform vor der messianischen Aera lag auf dem Tod, für das Empfinden der Jünger, ein viel schwächerer Accent. Es handelt sich für sie um einen unendlichen ewigen Accord mit einem kurzen, irdischen Vorschlag.
Wo wir ein Nebeneinander von Messianitätserklärung, Leidensvorhersagung und Auferstehungsweissagung sehen, erfassten sie eine viel straffere Gedankenverbindung. Sie erblickten alles im messianischen Licht. Darum entnahmen sie seiner Rede nicht drei verschiedene Thatsachen: 1. dass er Messias sei, 2. dass er leiden und sterben müsse, 3. dass er auferstehen werde, sondern sie bedeutete für sie: unser Meister wird nach seinem Tod, bei der Auferstehung, als Menschensohn geoffenbart werden. Zugleich machen sie sich Gedanken, was dann sie wohl sein werden und welche Würde ihnen in der neuen Existenz zufallen wird.
So erklärt sich, wie ihre messianische Vorstellung durch den Gedanken »des leidenden und sterbenden Messias« nicht vollständig umgeworfen wurde. Jesus hat ihnen weder den leidenden, noch den sterbenden, noch den auferstehenden Messias geoffenbart, sondern er hat ihnen von dem erscheinenden Menschensohn geredet und ihnen offenbart, dass er es sein werde, wenn er im Leiden hier sich vollendet haben würde.
Man kann es nie genug betonen, dass damit seine Messianität vollständig in der Bahn der volkstümlichen Anschauung sich bewegte. Das Drama in seinem Leben beruht nicht darin, dass seine Messianität der gewöhnlichen Erwartung entgegenlief und daraus sich nun Konflikte ergaben, die seinen Tod herbeiführten. Das ist erst die Anschauung des vierten Evangeliums. Der historische Jesus beanspruchte die Messianität erst vom Augenblick der Totenauferstehung an.
Diese Auffassung der altsynoptischen Messianitätseröffnungen Jesu wird durch die urchristliche Vorstellung absolut gefordert. Das Urchristentum setzt voraus, dass Jesu Messianitätsbewusstsein, als er zu den Jüngern redete und noch als er dem Hohenpriester Antwort gab, futurisch war! Denn auch die Petrusreden in Akt datieren die Messianität erst von seiner Auferstehung an. Bis dahin war er Jesus von Nazareth. Nur ist an die Stelle des Kommens auf den Wolken des Himmels der vorläufige Zustand des Sitzens zur Rechten Gottes getreten. »Jesum den Nazarener, einen Mann, ausgewiesen von Gott her bei euch mit gewaltigen Thaten und Wundern und Zeichen (Akt 2 22), ihn hat Gott auferweckt (Akt 2 32) und hat ihn zum Herrn und zum Messias gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt« (Akt 2 36).
Dieses Zeugnis der urchristlichen Auffassung der Messianität Jesu ist allein schon so gewichtig, dass es die ganze synoptische Ueberlieferung, wenn sie anders redete, zum Schweigen bringen würde. Wie sollte man es begreifen, dass die Jünger verkündeten, Jesus sei durch seine Auferstehung in sein messianisches Dasein eingegangen, wenn er ihnen schon auf Erden von seiner Messianität als gegenwärtiger Würde geredet hätte! Nun entsprechen sich aber die altsynoptische Tradition und die Auffassung des Urchristentums vollkommen. Beide erklären einstimmig: Jesu Messianitätsbewusstsein war futurisch!
Besässen wir dieses Zeugnis nicht, so wäre uns die Erkenntnis seiner historischen Persönlichkeit auf immer verschlossen. Denn nach seinem Tode stellen sich alle Voraussetzungen ein, die dahin wirken, das Bewusstsein von dem futurischen Charakter seiner Messianität ausser Kraft zu setzen. Seine Auferstehung als Messias fiel mit dem Beginn der messianischen Aera in der Totenauferstehung zusammen: so war die Perspektive für die Jünger vor seinem Tod. Nach dem Tode wurde seine Auferstehung als Messias ein Faktum für sich. Jesus war Messias vor der messianischen Aera! Das ist die folgenschwere Verschiebung in der Perspektive. Darin beruht das Tragische, zugleich aber auch das Grossartige in der Erscheinung des Christentums überhaupt.
Das urchristliche Bewusstsein machte die grössten Anstrengungen, die Kluft zu überwinden und Jesu Auferstehung dennoch als Anbruch der messianischen Aera in der allgemeinen Totenauferstehung aufzufassen. Man suchte sich begreiflich zu machen, dass es sich gleichsam um die etwas in die Länge gezogene Zwischenpause zwischen den beiden Auftritten des ersten Akts des Dramas handelte. Eigentlich aber stand man schon in der messianischen Auferstehung. So ist für Paulus Jesus Christus durch die Totenauferstehung als Messias erwiesen, »der Erstling der Entschlafenen« (I Kor 15 20). Auf diesem Gedanken beruht überhaupt die ganze paulinische Theologie und Ethik. Weil man sich in dieser Zeit befindet, sind die Gläubigen eigentlich mit Christo begraben und mit ihm auferstanden durch die Taufe. Sie sind die »neue« Kreatur, sie sind die »Gerechten«, deren »Bürgertum« im Himmel ist. Erst von diesem Grundgedanken aus erfasst man die Einheit in [S. 78] der für uns sonst so mannigfach zusammengesetzten Gedankenwelt Pauli.
Die christliche Geschichtsüberlieferung suchte sich anders zu behelfen. Sie nahm eine Art Vorauferstehung an, die mit der Auferstehung Jesu zusammenfiel. Dieser lieh sie die Farben des messianischen Tages. Mt 27 50-53 ist uns eine solche Zurechtlegung in Legendenform erhalten. Mit Jesu Kreuzestod bricht das neue Weltalter an. Nach seinem Verscheiden zerreisst der Tempelvorhang und Erdbeben, die Zeichen der Endzeit, erschüttern die Erde; die Felsen zersplittern; die Gräber thun sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen werden auferweckt. Nach Jesu Auferstehung gehen sie aus den Gräbern heraus in die heilige Stadt und erscheinen vielen. So hält diese Erzählung daran fest, dass im Anschluss an Jesu Tod mit seiner Auferstehung die allgemeine Totenauferstehung unter den Anzeichen des messianischen Tages erfolgte — jedoch nur als eine Art Vorspiel.
Die Zeit war eben mächtiger als die ursprünglichen Anschauungen. Unerbittlich schob sie sich wie ein auseinandertreibender Keil zwischen Jesu Auferstehung und die erwartete allgemeine Auferstehung am messianischen Tag und zerstörte mit dem zeitlichen auch den kausalen Zusammenhang im ursprünglichen Sinne. Die Messianität Jesu stand aus der Vergangenheit fest. Für die, welche sich dazu bekannten und zugleich das Reich als zukünftig erwarteten, schwand das Bewusstsein, dass in Jesu Verkündigung seine Messianität und das Reich zukünftige, koïncidierende Ereignisse waren. Man fing an, die evangelische Geschichte unter dem Gesichtspunkt zu betrachten: Jesus war der Messias. Die Ueberschrift zu dieser neuen Geschichtsauffassung hat Paulus geschrieben. Sie heisst »Jesus Christus«: die Würde des Auferstandenen wird mit der historischen Persönlichkeit in einem Begriff verbunden. Der vierte Evangelist hat die Konsequenz daraus gezogen und die Geschichte Jesu so dargestellt, als ob er auf Erden als Messias aufgetreten wäre.
Es ist die Aufgabe der historischen Forschung, sich von der religiösen unhistorischen Perspektive für einen Augenblick zu emancipieren und die synoptischen Berichte in die richtige Stellung zu rücken. Dann erst, wenn man das Futurische in Jesu Messianitätsbewusstsein erfasst hat, versteht man, warum er [S. 79] seine Würde den Jüngern als ein »Geheimnis« offenbart hat, warum er sich dabei als Menschensohn bezeichnete und in welchem Sinne er von seiner Auferstehung sprach.
5. Der Verrat des Judas — die letzte Bekanntgebung des Messiasgeheimnisses.
Was hat Judas eigentlich verraten? Nach den Schilderungen unserer Evangelien sieht es so aus, als hätte er dem Synedrium angegeben, wo sie zu einer bestimmten Stunde Jesum fassen könnten. Wenn nun auch diese Angabe des Orts eine Rolle bei dem Verrat des Judas gespielt hat, so war dies nur nebensächlich. Wo Jesus sich aufhielt, konnten sie jederzeit erfahren, da er nichts that, um sein Kommen und Gehen zu verheimlichen. Wenn sie ihn also greifen wollten, so brauchten sie ihm bei seinem Weggang am Abend aus Jerusalem nur einen Späher nachzusenden, um über seinen Aufenthalt orientiert zu sein. Dafür hätten sie keinen aus dem intimen Kreis gebraucht.
Nun lag aber die Hauptschwierigkeit auf einem ganz andern Gebiet. Nicht ihn zu verhaften, sondern ihn zu verurteilen wollte ihnen nicht gelingen, denn sie konnten nichts gegen ihn aufbringen. Sie befanden sich ihm und seinem Anhang gegenüber in der unbequemen Lage, in die jedes ehrbare Kirchenregiment notwendig einmal kommt: die Leute waren ihnen zu fromm, unordentlich fromm, indem sie mit zu grossem Enthusiasmus glaubten, was die andern mit Mässigung und Ordnung in ihrem Bekenntnis mitfühlten, dass nämlich das Reich nahe sei. Aus der Vorläuferwürde, die das Volk Jesu beilegte, konnten sie keine Verurteilung gewinnen, denn durch seine Zeichen hatte er diese Würde bewährt. Ueberdies hatte er diese Würde nie öffentlich für sich in Anspruch genommen. Dennoch war die Art, wie er auftrat, für sie in höchstem Masse gefährlich. An der Spitze des frommen Volkes terrorisierte er sie. Darum hätten sie sich seiner gern entledigt und konnten es nicht.
Man versteht die Haltung und die Schwierigkeiten des Synedriums nur, wenn man immer bedenkt, dass aus der ganzen Wirksamkeit Jesu niemand auf den Gedanken gekommen war, er könne sich für den Messias halten. So wussten sie nichts gegen ihn vorzubringen und waren darauf angewiesen, ihn in Reden zu fangen, um ihn beim Volke zu diskreditieren, was ihnen nicht gelang.
Da erscheint Judas bei ihnen und gibt ihnen die tödliche Waffe in die Hand. Als sie hörten, was er ihnen kund that, »freuten sie sich«, denn jetzt war er in ihre Hand gegeben. Nun sucht Judas einen geeigneten Augenblick, um ihnen den Verratenen in die Hände zu liefern (Mk 14 11).
Was er ihnen verraten hatte, ersieht man aus der Gerichtsverhandlung. Die Zeugen der Pharisäer können nichts vorbringen, woraufhin man ihn verurteilen kann. Als aber die Zeugen abgetreten sind, stellt der Hohepriester an Jesus direkt die Frage, ob er der Messias sei. Für solche Ansprüche Jesu konnten sie die erforderlichen Zeugen nicht aufbringen — denn es gab keine. Der Hohepriester befindet sich hier im Besitz des Geheimnisses Jesu. Das war der Verrat des Judas! Durch ihn wusste das Synedrium, dass er etwas anderes zu sein beanspruchte, als wofür ihn das Volk hielt, ohne dass er dagegen Einspruch erhob.
Aus dem verratenen Geheimnis von Cäsarea Philippi gewannen sie die entscheidende Anklage. Der Prophet der Endzeit, Elias, zu sein, das war keine Gotteslästerung. Aber zu behaupten, Messias zu sein, das war Frevel! Die Perfidie in der Anklage lag darin, dass der Hohepriester Jesus ohne weiteres unterschob, er hielte sich so, wie er vor ihm stand, für den Messias. Das wies Jesus aber zurück mit dem stolzen Wort von seinem Erscheinen als Menschensohn. Nichtsdestoweniger wurde er wegen Gotteslästerung verurteilt.
Wir haben also drei Offenbarungen des Messianitätsgeheimnisses, die unter sich eng zusammenhängen, so, dass jede folgende die vorhergehende voraussetzt. Auf dem Berg bei Bethsaida wird den drei Intimen das Geheimnis offenbart, welches Jesus in der Taufe aufgegangen war. Das war nach der Erntezeit. Einige Wochen später wird es den Zwölfen bekannt, indem Petrus zu Cäsarea Philippi die Frage Jesu aus dem, was er vom Verklärungsberg her weiss, beantwortet. Von den Zwölfen verrät einer das Geheimnis an den Hohenpriester. Diese letzte Offenbarung des Geheimnisses war verhängnisvoll, denn sie führte den Tod Jesu herbei. Er wurde als Messias verurteilt, obwohl er nie als solcher aufgetreten war.
Neuntes Kapitel.
Das Geheimnis des Leidensgedankens.
1. Die vormessianische Drangsal.
Der Hinweis auf das Leiden gehört naturgemäss zur eschatologischen Verkündigung. Eine Zeit unerhörter Drangsal muss dem Kommen des Reiches vorhergehen. Aus diesen Wehen wird der Messias herausgeboren. Das war eine überall verbreitete Ansicht: anders konnte man sich die Ereignisse der Endzeit nicht denken.
Danach muss man die Worte Jesu deuten. Es zeigt sich dann, dass er bei seiner Reichspredigt den Gedanken der Enddrangsal scharf hervorgehoben hat. Wir nehmen immer an, dass, wenn er von Verfolgungen, welchen die Seinen entgegengehen, spricht, damit das gemeint sei, was sie nach seinem Tode allein und verwaist auf Erden durchmachen müssten. Das ist vollständig falsch. Nach seinem Tode wird Jesus Messias durch die Auferstehung, und dann bricht die Reichsherrlichkeit an. Nicht was sie nach seinem Tode ausstehen müssen, sondern was sie im Reich sein werden, das beschäftigt die Gedanken der Jünger auf dem Weg nach Jerusalem.
Wo er von Leiden und Verfolgung spricht, handelt es sich um Drangsale, die seine Anhänger mit ihm erdulden müssen vor dem Reichsanbruch. Gemeint ist der letzte Ansturm der widergöttlichen Weltmacht, der über diejenigen hereinfluten wird, welche in der Erwartung des Gottesreiches die Repräsentanten der göttlichen Macht in der widergöttlichen Welt sind. Darum bildet Jesus den Mittelpunkt, auf den hin sich die Drangsal konzentriert. Er ist der Fels, der die Wogen aufbranden lässt. Wer von der grossen Weltflut nicht mitgerissen werden will, muss sich an ihn anklammern.
Wenn er sagt, dass seine Mission nicht sei, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert, wenn er von dem Aufruhr redet, den er heraufführt, wo die heiligsten irdischen Bande sich lösen müssen, wo man mit dem Kreuz beladen ihm nachfolgen muss und das eigene Leben für nichts achten (Mt 10 34-42), — dann meint er die grosse Verfolgung der Endzeit. Wer das Reich Gottes herbeinötigt, der führt auch jene herauf, denn das Reich und der Messias erstehen ja aus ihr.
Darum überall der grelle Akkord in den messianischen Harmonien! Er beschliesst die Seligpreisungen mit dem Hinweis, dass sie selig sind, wenn sie gehasst und verfolgt werden und alles Böse um seinetwillen über sie geredet wird. Dann haben sie gerade Grund zur Freude und zum Jubel, denn in dem, was sie erdulden müssen, offenbart sich ihre Zugehörigkeit zum Gottesreich. Während sie von der Weltmacht noch drangsaliert werden, ist der Lohn schon im Himmel bereitet (Mt 5 11 u. 12).
»Verkündet, dass das Reich nahe herbeigekommen ist«, sagt er den Jüngern bei der Aussendung. Zugleich aber bereitet er sie eindringlich auf die Enddrangsal vor, denn der Zeiger der Weltuhr steht nahe an der grossen Stunde. Sie müssen es wissen, damit sie nicht meinen, es widerfahre ihnen etwas Fremdes, wenn sie von der Weltmacht zur Verantwortung gezogen werden, wenn sich um sie her Aufruhr und Verfolgung erhebt und ihrem Leben Gefahr droht. Sie müssen es wissen, damit sie nicht irre an ihm werden und ihn verleugnen und an ihm Aergernis nehmen, wenn er in der Menschen Gewalt gegeben wird, denn er selbst als machtvoller Verkündiger des Reiches hat diesen Aufruhr angeregt. Wenn aber die Weltmacht zu siegen scheint, dann steht Gott mit seiner Allmacht darüber. Nicht die, welche den Leib töten, muss man fürchten, sondern den allmächtigen Herrn, welcher beim Gericht Seele und Leib verdammen kann in die Hölle. In diesem letzten Aufruhr richtet die Weltmacht sich selbst; nach dem Gericht kommt das Reich. Das ist der Grundgedanke der Aussendungsrede.
Auch die Botschaft an den Täufer schliesst mit einem solchen Hinweis. Das Reich ist nahe, lässt er ihm sagen; meine Predigt, Zeichen und Wunder bekräftigen es: und zur Seligkeit kommt, wer sich nicht an mir ärgert, d. h. wer in der vormessianischen Drangsal zu mir steht.
Am eindringlichsten aber ergeht das Wort von der schweren Zeit an die, welche sich auf die Predigt der Jünger hin in gläubiger Reichserwartung um ihn versammelt haben. Bei einbrechender Dämmerung hat er mit ihnen das grosse Abendmahl am See gefeiert. Als der, welcher sich als Messias weiss, hat er ihnen feierlich Speise dargereicht und sie damit, ohne dass sie es ahnen, zu Teilnehmern am messianischen Mahle geweiht. Am folgenden Morgen aber ruft er sie zu Bethsaida um sich und ermahnt sie zur Hingabe des Lebens in der Drangsal. Wer sich [S. 83] seiner und seiner Worte schämt in der Erniedrigung, welche durch die ehebrecherische und sündige Welt über ihn kommen wird, den wird auch der Menschensohn nicht anerkennen, wenn er in der Herrlichkeit seines Vaters, von seinen Engeln umgeben, erscheinen wird (Mk 8 35-38).
2. Der Leidensgedanke in der ersten Periode.
Der Leidensgedanke gehört also von Anfang an zur Verkündigung Jesu. In der Enddrangsal sollten sie mit ihm durch Leiden hindurch der Herrlichkeit entgegengehen: so verstanden ihn seine Zuhörer. Nur wussten sie nicht, dass der, mit welchem sie leiden sollten, als Messias geoffenbart werden würde.
In Jesu messianischem Selbstbewusstsein bekam nun der Leidensgedanke, auf ihn bezogen, eine geheimnisvolle Bedeutung. Die Messianität, welche ihm in der Taufe aufging, war nicht ein Besitz, ein Gegenstand der Erwartung, sondern in der eschatologischen Vorstellung war von selbst gegeben, dass er durch Leiden hindurch in der Bewährung werden müsse, was er der Bestimmung nach war. Sein Messianitätsbewusstsein war nie ohne Leidensgedanke! Das Leiden ist der Weg zur Offenbarung der Messianität!
Was er in diesem Aeon lebte, das stellte das verborgene Wirken und Werden des Messias dar. Dabei war aber das Leiden vorgesehen. Es war jüdische Lehre, dass der Messias voll von Züchtigungsleiden sein müsse: denn die Leiden sind nötig, um ein vollendeter Gerechter zu werden (Weber S. 343).
Dieses Messianitätsbewusstsein Jesu zeigt dieselbe sittliche Vertiefung wie seine Eschatologie. In der gewohnten Modernisierung desselben wird vorausgesetzt, dass er den grössten Teil seiner Wirksamkeit nicht ans Leiden dachte, sondern dass erst die hämische Feindschaft der Schriftgelehrten ihm diesen Gedanken aufnötigte. So bekommt seine Messianität in der ersten Periode einen ethisch-idyllischen, in der zweiten einen modern-resignierten Charakter. Das historisch-eschatologische Bild ist aber lebendiger, tiefer und sittlicher zugleich. Jesus hat sich hinsichtlich seines Messianitätsbewusstseins nicht »entwickelt« durch Aufnahme des Leidensgedankens. Von Anfang an weiss er sich als Messias, nur insofern er entschlossen ist, durch das Leiden zur Vollendung geläutert zu werden. Als der, [S. 84] welcher einst im neuen Aeon herrschen soll, muss er zuvor in die Gewalt der widergöttlichen Macht gegeben werden, um sich dort zur göttlichen Herrschaft zu bewähren. Aus diesem messianischen Selbstbewusstsein heraus beschwört er die um ihn sind, dass sie bei ihm aushalten, damit er sie als die Seinen anerkennen kann, wenn die Herrlichkeit anbricht. So beherrscht der thätige ethische Zug, der die Tiefe des Geheimnisses des Reiches Gottes ausmacht, auch das Messianitätsgeheimnis.
Das geschichtliche Problem stellt sich nun so: In der ersten Periode hat Jesus viel häufiger, und zwar öffentlich, den Leidensgedanken ausgesprochen als in der zweiten. Jede grössere Rede schliesst mit einem solchen Hinweis. Den Seinen war der Gedanke vertraut, ihn in der Drangsal erniedrigt zu sehen. Dennoch aber bedeutet die Eröffnung zu Cäsarea Philippi für die Jünger etwas Neues und ist es thatsächlich auch. Es handelt sich dort nämlich nicht mehr um ein Leiden des machtvollen Reichspredigers mit den Seinen in der Enddrangsal, sondern derjenige, welcher Messias sein wird, leidet. Dieses Leiden aber verläuft nicht mehr in der allgemeinen Enddrangsal, sondern Jesus leidet allein und zwar handelt es sich um ein rein irdisch-geschichtliches Ereignis. Er wird dem hohen Rat überantwortet und von diesem zum Tode verurteilt! Das war das Neue, was den Jüngern ein Geheimnis blieb.
3. Die »Versuchung« und die göttliche Allmacht.
In dem Leidensgedanken zeigt sich ein eigentümliches Schwanken. Einmal erscheint der Tod als absolute Notwendigkeit; dann wieder, z. B. in Gethsemane, kennt Jesus doch wieder eine Möglichkeit, dass ihm das Leiden erspart bleiben kann. Nun besteht aber der Leidensgedanke ohne Rücksicht auf irdischen Erfolg oder Misserfolg. Also darf auch das Schwanken damit nicht in Verbindung gesetzt werden. Als Jesus nach Jerusalem zog, um zu leiden, da hegte er nicht in einem Winkel seines Herzens den Gedanken, dass Gott durch seine Allmacht dennoch vielleicht den Gang zum Siegesgang machen könnte und er durch ihn über die Pharisäer und den hohen Rat triumphieren könnte. Das wäre nach seinem Empfinden »menschlich« gedacht gewesen. Denn er kann in Sachen des Reiches Gottes nicht den Widerstand der Schriftgelehrten und die göttliche Allmacht gegeneinandersetzen: es handelte sich ja um ein göttliches Drama, in [S. 85] welchem sie nur Statisten mit zugewiesener aktiver Rolle waren, wie die Lanzknechte, welche ihn auf ihr Geheiss griffen. Das Schwanken muss also in dem göttlichen Willen selbst begründet sein.
Es ist das Spezifische in der Anschauung Jesu, dass der göttliche Wille einerseits zwar die Ereignisse des messianischen Dramas vorher planmässig in der bekannten Form bestimmt, andererseits demselben wieder frei gegenübersteht. Durch den einmal festgelegten messianischen Schematismus ist die dahinterstehende göttliche Allmacht in keiner Weise gebunden! Sie kennt überhaupt keine Bestimmungen.
Von dieser Allmacht erwartet Jesus z. B., dass sie auch diejenigen, welche wegen ihres Verhaltens die Zugehörigkeit zum Reich verwirkt haben, dennoch in den seligen Zustand aufnehmen könne. Nach den geltenden Bestimmungen ist es zwar unmöglich, dass die Reichen zum Leben eingehen können. Aber bei Gott sind alle Dinge möglich (Mk 10 27).
Es gilt der Satz: Wer mit dem zukünftigen Messias herrschen will, muss mit Jesus leiden. Aber er wagt es doch nicht, den beiden Intimen, Jakobus und Johannes, die Thronplätze zu versprechen, obwohl er ihnen zutraut, dass sie sein Leiden teilen werden. Er könnte damit Gottes Allmacht vorgreifen (Mk 10 35-40).
So liegt auch die Enddrangsal zwar in dem göttlich bestimmten Verlauf des messianischen Dramas. Aber es steht in Gottes unbeschränkter Allmacht, dass er sie ausschalte und das Reich ohne diese Prüfungszeit anbrechen lasse. Darum dürfen die Menschen Gott darum bitten, er möge jene schweren Stunden der Bewährung vorübergehen lassen. Jesus weist sie dazu an in demselben Gebet, wo er sie um das kommende Reich bitten lehrt. Man erfleht den Endzustand, in welchem sein Name geheiligt wird und sein Wille auf Erden geschieht wie im Himmel; aber zugleich bittet man ihn, er möge die Menschen nicht in »die Versuchung« führen, sie nicht in die Gewalt des Bösen geben, sie nicht nötigen, ihre Sünden durch das Beharren in der Enddrangsal zu sühnen: sondern sie durch seine Allmacht der Gewalt des Bösen entreissen, wenn sich die widergöttliche Welt zum letztenmal aufbäumt beim Kommen des Reiches, um das sie beten. Das ist der innere Zusammenhang der letzten drei Bitten des Vaterunsers.
Das Herrengebet trägt also in den drei ersten und den drei letzten Bitten rein eschatologischen Charakter. Wir haben denselben Kontrast wie in den Seligpreisungen, der Aussendungsrede, der Botschaft an den Täufer und den Scenen bei Bethsaida. Zuerst handelt es sich um das Kommen des Reichs, dann um die Enddrangsal. Aus dem Herrengebet ersehen wir aber, dass es dafür keine absolute Notwendigkeit gibt, sondern dass sie nur relativ in Gottes Allmachtswillen bedingt ist.
Sie stellt nämlich die höchste Form der Busse auf das Gottesreich hin dar. Wer sich darin bewährt, der leistet Sühne für seine Vergehungen im widergöttlichen Aeon. Unter Kampf und Leiden ringt man sich von ihr los, um Träger des göttlichen Willens im Gottesreich zu sein. Das ist kollektivistisch zu denken. Die reichsgläubige Gemeinschaft als solche leistet die Sühne. Der Einzelne vollendet und bewährt sich darin. So ist es Gottes Wille. Jesus aber betet mit ihnen zu Gott, er möge in seiner Allmacht ihnen die Schuld ohne Sühne vergeben, wie sie ihren Schuldnern vergeben. Das will heissen: sühneloses, reines Erlassen. Er möge sie nicht durch die »Versuchung« hindurchführen, sondern sie geradewegs der Weltmacht entreissen.
Nur so versteht man, wie Jesus in seinem Wirken Sündenvergebung voraussetzt und doch hier darum besonders bittet, und wie er von einer Versuchung redet, die von Gott kommt. Es handelt sich eben um den allgemeinen messianischen Schulderlass und um die messianische Drangsalsversuchung. Darum bilden diese Bitten den Beschluss des Reichsgebets.
Was er hier mit der Allgemeinheit bittet, das erfleht er für sich, als die Stunde für ihn gekommen. In Gethsemane fällt er vor Gott nieder. In ergreifendem Gebet beruft er sich auf Gottes Allmacht: Abba, Vater, alles ist dir möglich (Mk 14 36). Er möge den Leidenskelch an seinen Lippen vorüberführen, ohne dass er davon kosten muss. Auch die schlafenden Intimen rüttelt er auf, sie sollen wach bleiben und zu Gott beten, dass er ihnen die Versuchung ersparen möge, denn das Fleisch ist schwach.
4. Der Leidensgedanke in der zweiten Periode.
Mit der Offenbarung zu Cäsarea Philippi hören alle Hinweise auf, dass die Gläubigen mit ihm durch Drangsal müssen. Dem Geheimnis zufolge, das er den Jüngern mitteilt, leidet nur [S. 87] er allein. In Jerusalem richtet er weder an das Volk noch an die Jünger ein eindringliches Wort von der Leidensnachfolge. Ja, er nimmt geradezu zurück, was er früher gesagt. Am Morgen nach dem Abendmahl am See hatte er die Seligkeit derer, welche er zum messianischen Mahl geweiht, davon abhängig gemacht, dass sie ihm ins Leiden nachfolgen. Den Teilnehmern des Abendmahls zu Jerusalem sagt er gelassen voraus, dass sie sich in der Nacht alle an ihm »ärgern« werden! Er knüpft auch keine Verdammnis daran — denn es ist in der Schrift also bestimmt! Steht nicht geschrieben: »ich werde den Hirten schlagen und die Schafe werden sich zerstreuen?« Darum, wenn sie sich auch an ihm ärgern, wenn sie ihn auch verlassen, in seiner Herrlichkeit wird er sie doch um sich sammeln und als Messias — denn das ist er als Auferstandener — vor ihnen herziehen nach Galiläa (Mk 14 26-28).
Was er früher von allen gefordert, das mutet er jetzt nicht einmal dem zu, der sich vermisst, allein bei ihm auszuhalten. »Ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen«, sagt er zu Petrus (Mk 14 29-31).
Diese Wandlung muss mit der Form, welche der Leidensgedanke in der zweiten Periode annimmt, zusammenhängen. Es muss eine Veränderung in der Vorstellung von der Enddrangsal eingetreten sein. Die andern sind von der Bewährung befreit, Jesus leidet allein, und zwar besteht die Erniedrigung in dem Tod, welchen die Schriftgelehrten über ihn verhängen. Darin wirkt sich jetzt die Enddrangsal aus. Seine Gläubigen bleiben verschont. Er leidet für sie, denn er gibt sein Leben hin als eine Sühne für viele.
Wie ihm dieses Geheimnis aufgegangen nach der Aussendung in den Tagen der Einsamkeit, darüber hat er sich nicht geäussert. Die Form des Leidensgeheimnisses aber zeigt, dass zwei Erlebnisse auf ihn eingewirkt haben.
Zunächst der Tod des Täufers. Jener war für ihn der Elias. Wenn er von Menschenhand vor der messianischen Aera getötet wurde, so war das Gottes Wille und deshalb in dem messianischen Drama vorgesehen. Das geschah, während die Jünger fort waren. Seine Botschaft hat den Täufer vielleicht nicht mehr erreicht. Darüber muss er nun ins Klare kommen. Deshalb will er sich mit den Seinen in die Einsamkeit zurückziehen.
Wie sehr ihn der Gedanke des Todes des Vorläufers beschäftigte, ersieht man aus dem Gespräch nach der Offenbarung an die Intimen. Es war in der Schrift bestimmt, dass der Elias so von Menschenhand umkomme. So steht auch über den Menschensohn geschrieben, dass er viel leiden und verworfen werden müsse (Mk 9 12-13).
Bisher hatte er nur in allgemeinen Zügen von der Enddrangsal als einem Ereignis der Endzeit geredet. Nun hat sie sich aber als historisches Ereignis an dem Vorläufer vollzogen. Das ist ein Fingerzeig, wie sie sich an ihm selbst vollziehen wird.
Dieser Fingerzeig kam gerade zu der Zeit, als er durch die Ereignisse zum Nachdenken über die Enddrangsal gezwungen wurde. Nach der Rückkehr der Jünger hatte er dieselbe für die allernächste Zeit erwartet. Sie blieb aber aus. Noch mehr: damit blieb auch das Reich aus! Bei der Aussendung hatte er den Jüngern gesagt, sie würden auf dem Weg von den anbrechenden Wehen überrascht. Die Erscheinung des Menschensohnes würde statthaben, ehe sie mit den Städten Israels zu Ende wären: — und sie waren zurückgekehrt, ohne dass die Wehen begonnen hatten und das Reich angebrochen war.
Die Kunde, mit der sie zu ihm zurückkehrten, zeigte aber, dass alles bereit war. Schon war die gottwidrige Macht gebrochen, denn sonst wären ihnen die unsauberen Geister nicht unterthan gewesen. Das Reich war herbeigenötigt durch die Busse seit den Tagen des Täufers. Auch hier war das Mass voll; das zeigte die Menge, die sich in gläubiger Erwartung um ihn scharte. So war alles bereitet — und doch kam das Reich nicht! Die Verzögerung des eschatologischen Kommens des Reiches, das war das grosse Erlebnis, welches ihn damals immer wieder in die Einsamkeit trieb, ob er sich Klarheit darüber erränge.
Ehe das Reich kommen konnte, musste die Drangsal eintreffen. Sie blieb aber aus. Man musste sie also herbeiführen, um so das Gottesreich herbeizunötigen. Busse und Knechtung der widergöttlichen Macht thaten es nicht allein, sondern es musste noch ein Stärkerer zu den Gewaltthätigen hinzutreten: der zukünftige Messias, der an sich die Enddrangsal heraufführte in der Form, wie sie sich schon an dem Elias erfüllt hatte. So geht das Geheimnis des Reiches Gottes in das Geheimnis des Leidensgedankens über.
Die Vorstellung der Enddrangsal enthielt den Gedanken der Sühne und der Läuterung. Alle die, welche für das Reich bestimmt waren, mussten in der Standhaftigkeit gegen die sich zum letztenmal aufbäumende Weltmacht die Vergebung der im weltlichen Aeon begangenen Schuld erringen. Denn durch diese Schuld waren sie der widergöttlichen Macht noch verfallen. Sie bildete ein Gegengewicht, welches das Kommen des Reiches aufhielt.
Nun führte aber Gott die Drangsal nicht herauf. Und doch musste die Sühne geleistet werden. Da ging es Jesus auf, dass er als zukünftiger Menschensohn die Sühne an sich vollziehen müsse. Derjenige, welcher einst als Messias über die Gläubigen herrschen wird, der erniedrigt sich jetzt unter sie und dient ihnen, indem er sein Leben zur Sühne für viele dahingibt, damit das Reich für sie anbreche. Das ist seine Mission in dem Zustand, welcher seiner überirdischen Herrlichkeit vorausgeht. »Dazu ist er gekommen« (Mk 10 45). Er muss leiden für die Sünden derer, welche zu seinem Reich bestimmt sind. Um dies auszuführen, zieht er hinauf nach Jerusalem, dass er dort von der Obrigkeit zu Tode gebracht werde, wie der Elias, der ihm vorangegangen, durch des Königs Henker umkam. Das ist das Geheimnis des Leidensgedankens. Jesus ist wirklich für die Sünden der Menschen gestorben, wenn auch in einem andern Sinn, als es die Anselm'sche Theorie annimmt.
5. Jes 40-66: Das Leidensgeheimnis in der Schrift geweissagt.
»Wie steht geschrieben über den Menschensohn? Dass er viel leiden muss und verachtet werden« (Mk 9 12). Die neue Form des Leidensgedankens stammt aus der Schrift. In dem Bild des leidenden Gottesknechtes erkannte Jesus sich wieder. Dort fand er seinen Leidensberuf vorgebildet.
Um aber zu verstehen, wie ihm sein Geheimnis aus der Schrift erstand, muss man das Bild des leidenden Gottesknechtes in den grossen Rahmen stellen, in welchem es erscheint. Der modern-historische Lösungsversuch vermag dies nicht. Er beschränkt sich auf den Gedanken der dienenden Dahingabe. Sobald man es aber einmal erfasst hat, dass Jesu Leidensgedanke eschatologisch war, dann sieht man auch, in welchem grossen Zusammenhang die Erscheinung des leidenden Gottesknechtes für ihn stehen [S. 90] musste. Darnach war Jes 40-66 nichts anderes, als die weissagende Darstellung der Ereignisse der Endzeit, in denen er sich mitten drin wusste.
Die Schrift hebt an mit der Verkündigung, dass die Gottesherrschaft nahe ist. Der Wegbereiter tritt auf. Er ruft, dass das Irdische vergeht, wenn der Herr, Lohn und Vergeltung austeilend, in seiner Herrlichkeit erscheint. Die Zeit bricht an, wo er seine Herde sammelt und den Friedenszustand heraufführt (Jes 40 1-11).
Der Auserwählte ist da. Er verkündet die Gerechtigkeit in Wahrheit. Gott hat seinen Geist auf ihn gelegt (Jes 42 1 ff.). Er soll das Recht gründen auf Erden; die Gestade harren auf seine Lehre. Bevor aber die Herrlichkeit anbricht und der Träger des göttlichen Geistes in Kraft und Gerechtigkeit über die Völker regieret, muss er durch einen Zustand der Erniedrigung hindurch.
Die andern verstehen nicht, warum er geschmäht wird. Sie meinen, Gott habe ihn verstossen und wissen nicht, dass er ihre Krankheiten trägt, durchbohrt wird ob ihrer Vergehen und zerschlagen ist ob ihrer Verschuldung. Der Gequälte ist demütig und öffnet seinen Mund nicht. Ob der Vergehen des Volks wird er zu Tode getroffen. Dann wird ihn aber der Herr verherrlichen. Vom Mutterleib hat er ihn dazu berufen. Er ist bestimmt, Jakob zurückzuführen und Israel zu erretten. Das Licht der Völker soll er werden, damit die Rettung Gottes sei bis ans Ende der Welt (Jes 49 1 ff., 52 12 ff., 53 1 ff.)
Auf die Schilderung der Leiden des Gottesknechtes folgt die Beschreibung des Gerichts über die ganze Welt und Israel (Jes 54-65). Am Ende aber bricht die Herrlichkeit Gottes hervor. Er thront über dem neugeschaffenen Himmel und über der neugeschaffenen Erde (Jes 65 u. 66). Wenn das Gericht vollzogen ist, dann bricht der Jubel an, denn die Seligen aus der ganzen Welt, aus allen Geschlechtern und Nationen, werden sich um ihn sammeln und ihm Verehrung darbringen.
Man muss die dramatische Einheit in diesen Kapiteln erfassen, um mit einer Persönlichkeit mitempfinden zu können, welche hier den geheimnisvollen Hinweis auf die Dinge der Endzeit suchte. Damit geht Jesu Leidensgedanke vollständig in dem deuterojesaianischen auf. Wie der Knecht Gottes, ist auch er zum Herrschen in Herrlichkeit bestimmt. [S. 91] Aber zuerst tritt er still und unerkannt als Verkündiger auf, der Gerechtigkeit wirket. Dabei muss er durch das Leid und die Erniedrigung hindurch, ehe Gott den herrlichen Endzustand anbrechen lässt. Was er erduldet, ist eine Sühne für die Schuld der andern. Dies ist ein Geheimnis zwischen Gott und ihm. Die andern können und brauchen es nicht zu verstehen, denn wenn die Herrlichkeit anbricht, dann werden sie erkennen, dass er für sie gelitten hat. Darum brauchte und durfte Jesus dem Volk und den Jüngern sein Leiden nicht erklären. Es musste ein Geheimnis bleiben: so stand es in der Schrift. Auch denen, welchen er das Kommende voraussagte, sprach er es nur als Geheimnis aus. Bei seinem Erscheinen als Menschensohn musste ihnen die Binde von den Augen fallen. In der Herrlichkeit des Reiches erkennen sie dann, dass er gelitten, damit sie verschont würden und Friede hätten. Dieses Geheimnis ist nur retrospektiv von der erreichten Herrlichkeit aus erfassbar.
Darum macht es nichts, wenn die Seinen sich in seiner Erniedrigung von ihm abwenden und die Menschen an ihm irre werden, als ob Gott ihn züchtigte. Die Schrift rechnet es ihnen nicht zum Frevel an, sondern sie hat es also bestimmt. So heisst es in dem Augenblick, wo ihm das Leidensgeheimnis aus der Schrift aufgeht, nicht mehr: wer in der Erniedrigung sich meiner schämt, der ist verdammt, sondern: ihr werdet euch alle an mir ärgern — wobei er weiss, dass sie bei der Auferstehung um ihn versammelt sein werden.
Unter dem Einfluss von Deuterojesaia hat sich also der Gedanke der allgemeinen Enddrangsal in das persönliche Leidensgeheimnis Jesu umgesetzt.
6. Das »Menschliche« im Leidensgeheimnis.
An dem innersten Grundzug des Leidensgedankens ist durch das Leidensgeheimnis der zweiten Epoche nichts verändert worden. Für Jesus bleibt das Leiden auch in dieser Form vor allem die sittliche Bewährung der Würde, die ihm bestimmt ist.
Die Drangsal trägt jetzt aber die konkreten Züge eines bestimmten Ereignisses. Aus dem messianischen Enddrama zieht er sie gleichsam in die menschliche Geschichte herunter. Darin liegt etwas Prophetisches auf die Zukunft des Christentums: nach seinem Tode löst sich das ganze messianische [S. 92] Enddrama in menschliche Geschichte auf. Diese Entwicklung hat mit dem »Leidensgeheimnis« begonnen.
So kommt es auch, dass das Leidensgeheimnis, verglichen mit dem Leidensgedanken der ersten Periode, menschlichere Züge trägt. Es liegt etwas von mitfühlender Nachsicht in dem Gedanken, dass er für die Reichsgenossen die Sühne im Leiden leistet, damit ihnen die Bewährung, in welcher sie vielleicht schwach werden könnten, erspart bleibt. »Und führe uns nicht in die Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen«: diese Bitte ist nun in seinem Leiden erfüllt.
Dieses tief Menschliche tritt besonders in Gethsemane zu Tage. Nur über den drei Intimen schwebt die Möglichkeit, dass sie mit ihm durch das Leiden und die Versuchung hindurchmüssen. Die Zebedaiden vermassen sich, um die Anwartschaft auf die Thronplätze zu erwerben, mit ihm den Leidenskelch zu trinken und mit ihm die Leidenstaufe zu empfangen — und er stellte es ihnen in Aussicht (Mk 10 38-40). Petrus aber verschwor sich, ihn nicht zu verleugnen; wenn auch alle zurückwichen, wollte er doch mit ihm sterben (Mk 14 31). Diese drei hat er mit sich genommen bis zum Ort hin, wo er betet. Während er zu Gott fleht, dass der Leidenskelch an ihm vorübergehe, erfasst ihn eine bangende Angst um die Intimen. Wenn Gott sie nun wirklich mit ihm durch das Leiden sendet, werden sie bestehen, wie sie es sich zutrauten? Darum sorgt er sich um sie in der schweren Stunde. Zweimal rafft er sich auf, weckt sie aus dem Schlaf, dass sie wach bleiben und zu Gott beten, dass er sie nicht in die Versuchung führt, wenn er auch ihm den Kelch nicht erspart; denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Das ist vielleicht der ergreifendste Zug in Jesu Leben. Man hat gewagt, Gethsemane die schwache Stunde Jesu zu nennen: in Wirklichkeit ist es aber gerade die Stunde, wo seine überweltliche Grösse in seinem tiefmenschlichen Mitfühlen offenbar wird.
7. Der Leidensgedanke im Urchristentum. Die Verschiebung der Perspektive.
Jesus nahm das Leidensgeheimnis, welches den Genossen des Reiches offenbar werden sollte, mit sich in den Tod. Das Reich brach aber nicht an. So erklärt es sich, dass er die Jünger zwar auf sein Leiden hingewiesen hat, dass sie aber, als das Ereignis [S. 93] eingetreten war, keine Deutung dafür wussten. Dennoch mussten sie sich damit auseinandersetzen, indem sie sich die Thatsachen nach den Andeutungen, die sie im Gedächtnis hatten, zurechtlegten. So ist der Leidensgedanke des Urchristentums viel ärmer als das Leidensgeheimnis Jesu.
Die Erklärung konzentrierte sich hauptsächlich auf eine Thatsache: Infolge des Leidens und der Auferstehung von den Toten ist er der Messias. In diesem Sinne sind das Leiden und die Erhöhung in der Schrift vorherbestimmt.
Während das Leidensgeheimnis den Tod in die engste zeitliche und kausale Verbindung mit dem Anbruch des Reiches setzt, ist für das Urchristentum das vergangene Ereignis als solches Gegenstand der Erklärung, weil das Reich nicht eingetroffen ist und sich mit dem zeitlichen auch der ursprüngliche kausale Zusammenhang gelöst hat.
Nun hatte Jesus in Hinsicht auf seinen Tod auch von Sühne und Sündenvergebung geredet. Durch die Ereignisse war aber der Gedanke, den er damit verband, vollständig unmöglich geworden. Die unbestimmte Mehrheit, welche die Sühne auf sich beziehen sollte in der Erkenntnis, dass er für sie gelitten, war ja noch gar nicht gegeben, denn das Reich war noch nicht erschienen. Von jenem Standort allein aber konnte man es erfassen, dass er für die Genossen die Drangsalssühne geleistet habe.
In der Zwischenzeit lagen die Dinge ganz anders: an Stelle der »vielen« waren »die Gläubigen« getreten. Die, welche an die Messianität Jesu glauben, haben Sündenvergebung: dieser Satz bildete, wie die Pfingstpredigt zeigt, einen Bestandteil der urapostolischen Verkündigung (Akt 2 38). Inwiefern man aber dadurch Sündenvergebung hatte, darin bestand das Problem. Dieses war aber historisch unlösbar, denn die Sündenvergebung des Leidensgeheimnisses ging nicht auf die an Jesus-Christus Gläubigen, sondern auf die Reichsgenossen. Mögen daher alle Erklärungen der Bedeutung des Leidens von Paulus bis auf Ritschl jede für ihre Zeit religiös noch so wahr und tief sein: den Gedanken Jesu können sie unmöglich erfassen, weil sie von einer ganz andern Voraussetzung ausgehen.
Da nun aber doch alle sich geschichtlich legitimieren wollten, so erlebt man das merkwürdige Schauspiel, dass Jesu die [S. 94] verschiedensten Deutungen seines Leidens in den Mund gelegt wurden, von denen aber keine auch nur annähernd erklären kann, wie aus einer solchen Anschauung die urchristlich-apostolische Wertung des Todes hervorgehen konnte. Das zeigt sich auch bei dem modern-historischen Lösungsversuch. Wenn Jesus seinen Jüngern die ethische Bedeutung seines Todes verständlich machte, warum beschränkt sich die urchristliche Leidenserklärung auf die Schriftgemässheit des Leidens und auf die »Sündenvergebung«?
Auf diese Frage bleibt der modern-historische Lösungsversuch die Antwort schuldig. Der eschatologisch-historische hingegen vermag die notwendige Verkümmerung des Leidensgedankens Jesu im Urchristentum perspektivisch zu berechnen. Er weist nach, welche Momente des Leidensgeheimnisses nach dem Tod allein noch zu Recht bestehen konnten. Weil er die urchristliche Deutung in dem Zusammenhang mit dem Gedanken Jesu erfasst, darum ist der eschatologisch-historische Lösungsversuch der richtige.
Die Aufhebung des kausalen Zusammenhangs zwischen dem Tod Jesu und der Realisierung des Reichs war für die urchristliche Eschatologie verhängnisvoll. Mit dem Leidensgeheimnis ging auch das Geheimnis des Reiches Gottes unter. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die Eschatologie gerade den spezifisch »christlichen« Charakter, den Jesus ihr gegeben hatte, verliert. Das ethisch-thätige Moment, durch welches sie versittlicht wurde, fällt weg. So ist die urchristliche Eschatologie durch Jesu Tod »entchristlicht«. Dadurch sinkt sie wieder auf das Niveau der zeitgenössisch-jüdischen herunter. Das Reich ist wieder Gegenstand reiner Erwartung! Dass die sittliche Umkehr aktiv auf sein Kommen einwirkt: dieses Geheimnis war mit Jesus ins Grab gesunken. Jetzt that man Busse und leistete die sittliche Erneuerung in Erwartung des Gottesreichs, wie zu des Täufers Zeit.
Diese Entchristlichung tritt gerade in der Frage der Enddrangsal zu Tage. Nach dem Leidensgedanken der ersten Periode sollten die Gläubigen mit dem zukünftigen Messias leiden; nach dem der zweiten wollte er die Drangsal für sie erdulden. Im Urchristentum erwarten die Gläubigen die Drangsal vor dem Erscheinen des Messias, wie es in der zeitgenössischen Vorstellung der Fall war. Denn Jesu Leidensgeheimnis war [S. 95] ihnen nicht bekannt. Darum gehören ihnen die jüdischen Apokalypsen gerade wie den andern Juden, nur mit dem Unterschied, dass der gekreuzigte Jesus der erscheinende Messias sein soll. Nur durch die Person Jesu war die urchristliche Eschatologie also noch »christlich«, nicht mehr durch seinen Geist, wie es im Geheimnis des Reiches Gottes und im Leidensgeheimnis der Fall gewesen war.
Darnach muss man »die synoptische Apokalypse« (Mk 13) beurteilen. Mögen auch einzelne eschatologische Sprüche darin von Jesus stammen, die Rede als solche ist notwendig unhistorisch. Sie zeigt die Perspektive der Zeit nach dem Tode. In den jerusalemitischen Tagen konnte Jesus von keiner allgemeinen Enddrangsal vor dem Kommen des Menschensohnes reden. Die synoptische Apokalypse steht in direktem Widerspruch zu dem Leidensgeheimnis, da dieses ja die allgemeine Enddrangsal gerade aufhebt. Sie ist also unhistorisch. Apokalyptische Reden mit Hinweis auf die Enddrangsal gehören in die galiläische Periode zur Zeit der Aussendung. Die Aussendungsrede ist die historische synoptische Apokalypse. Von einer Drangsal nach seinem Tod hat Jesus den Seinen nie etwas gesagt, denn sie lag ausserhalb seines Gesichtskreises.
Mit dem Tod, gerade durch denselben, war also die Eschatologie, obwohl die urchristliche Gemeinde noch ganz darin lebte, thatsächlich abgethan. Sie war bestimmt, aus der christlichen Weltanschauung hinausgedrängt zu werden, denn sie war »entchristlicht«, weil sie mit dem Geheimnis des Reiches Gottes und des Leidensgedankens das innere ethische Leben eingebüsst hatte, welches ihr durch Jesus eingehaucht worden war. Ein Baum, der mitten in der Blütenpracht an der Wurzel getroffen wird — so war es ihr Schicksal, abzuwelken und zu verdorren, wenn man es vorerst auch noch nicht merkte, dass sie dem Untergang geweiht war. Indem die Geschichte in der Folgezeit zwangsweise eine uneschatologische christliche Weltanschauung schuf, hat sie nur vollzogen, was in dem Gesetz der Dinge mit Jesu Tod schon bestimmt war.
Jesu Tod das Ende der Eschatologie! Der Messias, der es auf Erden nicht war, das Ende der messianischen Erwartung! Die Weltauffassung, in der er lebte und predigte, war eschatologisch; die »christliche Weltauffassung«, die er durch seinen [S. 96] Tod begründet, führt die Menschheit für immer über die Eschatologie hinaus! Das ist das grosse Geheimnis in der christlichen Heilsökonomie.
Für ihn und die Seinen war sein Tod, gemäss der eschatologischen Weltanschauung, nur eine Uebergangsthatsache. Sobald aber das Ereignis eingetreten war, wurde es die bleibende Centralthatsache, auf der sich die neue uneschatologische Weltauffassung aufbaute. Im Urchristentum waren das Alte und das Neue noch nebeneinander.
Die Anhänger Jesu glaubten an das Kommen des Reichs, weil seine machtvolle Persönlichkeit die Kunde bekräftigte. Die Gemeinde nach dem Tode glaubte an seine Messianität und erwartete das Kommen des Reichs. Wir glauben, dass in seiner ethisch-religiösen Persönlichkeit, wie sie sich in seinem Wirken und Leiden offenbart, der Messias und das Reich gekommen sind.
Es verhält sich damit wie mit dem Lauf der Sonne. Ihr Glanz bricht hervor, während sie noch hinter den Bergen steht. Die dunkeln Wolken röten sich von ihrem Schein und in phantastischen Gebilden spielt sich der Kampf zwischen Licht und Finsternis ab. Noch ist die Sonne selbst nicht sichtbar, sondern sie ist nur da, sofern die Helligkeit von ihr ausgeht. Die Sonne hinter dem Morgenrot: so erschien die Persönlichkeit Jesu von Nazareth den Zeitgenossen in der vormessianischen Aera.
In dem Augenblick, wo der Himmel im intensivsten Kolorit erglüht, steigt sie über den Horizont auf. Damit aber fängt die Farbenpracht an langsam abzunehmen. Die phantastischen Gebilde verblassen und versinken, weil die Sonne selbst die Wolken, in denen sie sich spiegelt, auflöst. Die aufgehende Sonne über dem Horizont, so erschien »Jesus Christus« der urchristlichen Gemeinde in ihrer eschatologischen Erwartung.
Die Sonne zur Mittagszeit: so erscheint er uns. Wir wissen nichts von Morgen- und Abendrot, sondern wir sehen nur die weisse Helligkeit, die alles durchleuchtet. Weil sie aber jetzt für uns in diesem Licht erstrahlt, dürfen wir uns nicht auch den Sonnenaufgang so vorstellen, als wäre sie als leuchtende Scheibe in Mittagsklarheit über dem Horizont aufgestiegen. Unsere moderne Anschauung über den Tod Jesu ist wahr, in ihrem innersten Wesen wahr, weil sie seine sittlich-religiöse Persönlichkeit in den Gedanken unserer Zeit wiedergibt. Wenn wir sie aber so in die [S. 97] Geschichte Jesu und des Urchristentums zurücktragen, thun wir dasselbe, als wenn wir einen Sonnenaufgang ohne Morgenrot malen wollten.
In der wahren historischen Erkenntnis liegt eine befreiende und fördernde Macht. Unser Glaube baut sich auf der Persönlichkeit Jesu auf. Zwischen unserer Weltanschauung und derjenigen, in welcher er lebte und wirkte, liegt aber eine tiefe, wie es scheint, unüberbrückbare Kluft. Man sah sich deshalb genötigt, seine Persönlichkeit gleichsam aus seiner Weltanschauung herauszureissen und ihr einen Strich ins Moderne zu geben.
Dadurch kam aber eine eigentümliche Unlebendigkeit und Zwitterhaftigkeit in das Bild seiner Person. Man erhielt ein Zwitterwesen, halb modern, halb antik. Mit dem Modernen übertrug man auch die moderne Psychologie auf ihn, ohne sich immer vollständig klar zu machen, dass sie nicht auf ihn anwendbar ist und ihn notwendig verkleinert. Denn sie ist hergenommen von Durchschnittswesen, die aus Meinungen zusammengeflickt sind und sich nur in stetiger Entwicklung erfassen und beobachten. Jesus ist aber eine übermenschliche Persönlichkeit aus einem Guss.
So beruht die moderne Dogmatik auf einer historischen und psychologischen Gewaltthat, weil sie nicht nachweisen kann, warum wir das Recht haben, Jesum aus seiner Zeit herauszulösen, seine Persönlichkeit in unsere modernen Gedanken zu übersetzen und ihn als »Messias« und »Gottessohn« ausserhalb des jüdischen Rahmens aufzufassen.
Die wahre geschichtliche Erkenntnis aber gibt der Dogmatik ihre volle Bewegungsfreiheit wieder! Sie bietet ihr die Persönlichkeit Jesu dar in einer eschatologischen und doch ihrem Wesen nach durch und durch modernen Weltanschauung, weil er sie mit seinem gewaltigen Geiste durchdrungen hat.
Dieser Jesus ist viel grösser als der modern gedachte: er ist wirklich eine überirdische Persönlichkeit. Mit seinem Tode vernichtet er die Form seiner Weltanschauung, indem seine Eschatologie unmöglich wird. Damit gibt er allen Geschlechtern und allen Zeiten das Recht, ihn in ihren Gedanken und Vorstellungen zu erfassen, dass sein Geist ihre Weltanschauung durchdringe, wie er die jüdische Eschatologie belebte und verklärte.
Darum darf sich die moderne Dogmatik gerade auf Grund der wahren geschichtlichen Erkenntnis frei bewegen, ohne die immerwährende kleinliche geschichtliche Rücksichtnahme, welche heutzutage oft zum Schaden der geschichtlichen Wahrhaftigkeit beobachtet wird. Die Dogmatik soll nicht um einen Pflock grasen. Sie ist frei, denn sie hat unsere christliche Weltanschauung allein auf die Persönlichkeit Jesu Christi zu gründen, ohne Rücksicht zu nehmen auf die Form, in welcher sie sich in ihrer Zeit auswirkte. Er selbst hat ja diese Form mit seinem Tod zerstört. Die Geschichte fordert die Dogmatik zu dieser Ungeschichtlichkeit auf.
Als Jesus verschieden war, sagte der römische Hauptmann, »wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen« (Mk 15 39). So wird seine Würde mit dem Augenblick seines Todes frei für alle Zungen, für alle Nationen und für alle Weltanschauungen.
Zehntes Kapitel.
Abriss des Lebens Jesu.
Das »Leben Jesu« beschränkt sich auf die letzten Monate seines Daseins. Zur Zeit der Sommeraussaat trat er auf und starb am Kreuz zu Ostern des folgenden Jahres.
Seine öffentliche Wirksamkeit zählt nach Wochen. Die erste Periode reicht von der Aussaat bis in die Erntezeit; die zweite umfasst die Tage des Auftretens zu Jerusalem. Den Herbst und den Winter verbrachte er auf heidnischem Gebiet, allein mit seinen Jüngern.
Vor ihm war der Täufer aufgetreten und hatte mit Nachdruck auf die Nähe des Reiches und die vormessianische Erscheinung des gewaltigen Vorläufers hingewiesen, mit dessen Auftreten die Geistesausgiessung statthaben sollte. Nach Joël war dies, mit andern Wundern, das Zeichen, dass der Gerichtstag unmittelbar bevorstand. Johannes selbst hielt sich nie für diesen Vorläufer; auch das Volk kam nicht auf diesen Gedanken, denn er hatte die Zeit der Wunder nicht heraufgeführt. Er sei ein Prophet: das war die allgemeine Meinung.
Ueber Jesu frühere Entwicklung wissen wir nichts. Alles liegt im Dunkeln. Nur eines steht fest: Während der Taufe ging ihm das Geheimnis seines Daseins auf, dass er nämlich derjenige sei, [S. 99] den Gott zum Messias bestimmt hatte. Mit dieser Offenbarung ist er fertig; eine Entwicklung hat er nicht mehr durchgemacht. Denn nun stand ihm fest, dass er bis zum nahen Anbrechen der messianischen Aera, wo seine Würde ihm in Herrlichkeit zufiel, als der unerkannte und verborgene Messias auf das Reich hin zu wirken habe und sich mit den Seinen in der Enddrangsal bewähren und läutern müsse.
Der Leidensgedanke war also mit dem Messianitätsbewusstsein selbst gegeben, wie mit der Reichserwartung die Vorstellung der vormessianischen Drangsal unlösbar zusammenhängt. Irdische Ereignisse konnten Jesu Werdegang nicht beeinflussen. Durch sein Geheimnis stand er über der Welt, wenn er auch jetzt noch als Mensch unter Menschen wandelte.
Sein Auftreten und seine Verkündigung gehen nur auf die Reichsnähe. Seine Predigt ist die des Johannes, nur dass er sie durch Zeichen bekräftigt. Obwohl sein Geheimnis seine ganze Verkündigung beherrscht, darf niemand darum wissen, denn er muss unerkannt bleiben, bis der neue Aeon anbricht.
Wie sein Geheimnis, so ist auch seine ganze Ethik durch das »jetzt und dann« beherrscht. Es handelt sich um die Busse auf das Reich Gottes hin und den Erwerb der Gerechtigkeit, welche dazu befähigt: denn nur die Gerechten ererben das Reich. Diese Gerechtigkeit ist höher als die des Gesetzes, denn er weiss, dass das Gesetz und die Propheten weissagten bis Johannes: mit dem Täufer aber befindet man sich in der Vorläuferperiode unmittelbar vor dem Reichsanbruch.
Darum muss er, als künftiger Messias, jene höhere Sittlichkeit verkünden und wirken. Die geistig Armen, die Sanftmütigen, die da Leid tragen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, die Mitleidigen, die reinen Herzens sind, die Friedfertigen: diese alle sind selig, weil sie in dieser Eigenschaft zum Reich bestimmt sind.
Hinter dieser ethischen Verkündigung steht das Geheimnis des Reiches Gottes. Was, von dem Einzelnen geleistet, sittliche Erneuerung in Vorbereitung auf das Reich ist, das bedeutet, von der Gemeinschaft gewirkt, eine Thatsache, durch welche seine Realisierung auf übernatürliche Weise herbeigeführt wird. So durchdringen sich Individual- und Sozialethik in dem grossen Geheimnis. Wie die überreiche Ernte durch [S. 100] Gottes Wundermacht geheimnisvoll auf die Aussaat folgt, so kommt auch das Reich Gottes auf Grund der sittlichen Erneuerung durch die Menschen, aber ohne ihr Zuthun.
In dem Gleichnis ist auch die zeitliche Koïncidenz enthalten. Er sprach es zur Aussaat und erwartete das Reich zur Erntezeit. Die Natur war Gottes Uhr. Mit der letzten Aussaat hatte er sie zum letztenmal gestellt.
Das Geheimnis des Reiches Gottes ist die überirdische Verklärung der altprophetischen Ethik, in welcher der herrliche Endzustand auch nur auf Grund der sittlichen Umkehr Israels von Gott heraufgeführt wird. In souveräner Art vollzieht Jesus die Synthese zwischen Daniel'scher Apokalyptik und prophetischer Ethik. Es handelt sich bei ihm nicht um eschatologische Ethik, sondern seine Weltanschauung ist ethische Eschatologie. Als solche ist sie modern.
Auch die Zeichen und Wunder fallen unter eine doppelte Betrachtungsweise. Für das Volk sollen sie nur die Predigt von der Reichsnähe bekräftigen. Wer jetzt nicht glaubt, dass die Zeit so weit ist, hat keine Entschuldigung. Die Zeichen und Wunder verdammen ihn, denn sie bekunden offenbar, dass es mit der widergöttlichen Macht zu Ende geht.
Hinter dieser Behauptung steht aber für Jesus das Geheimnis des Reiches Gottes. Als die Pharisäer die Zeichen selbst der Teufelsmacht zuschreiben wollten, deutet er in einem Gleichnis das Geheimnis an. Durch seine Thaten bindet er die widergöttliche Macht, wie man über einen Starken zuerst herfällt und ihn unschädlich macht, ehe man daran denken kann, ihm seinen Besitz zu rauben. Darum gibt er den Jüngern bei der Aussendung zugleich mit dem Predigtauftrag die Vollmacht über die unreinen Geister. Sie sollen die letzten Streiche führen.
Als Drittes gehört zur Reichspredigt der Hinweis auf die vormessianische Drangsal. Die Gläubigen müssen darauf vorbereitet sein, mit ihm durch jene Zeit der Bewährung hindurchzugehen, wo sie in der Standhaftigkeit gegen den letzten Ansturm der Weltmacht sich als die Auserwählten des Gottesreiches erweisen. Auf seine Person hin wird sich dieser Ansturm konzentrieren; darum muss man bei ihm ausharren bis zum Tod. Nur das Sein im Gottesreich ist Leben. Der Menschensohn wird darnach richten, ob sie bei ihm, Jesus, ausgehalten haben oder nicht. So wendet sich Jesus am Schluss der Seligpreisungen an die Seinen [S. 101] mit den Worten: »Selig seid ihr, wenn die Menschen euch um meinetwillen verfolgen«. Die Aussendungsrede wird zu einer Ausführung über die Drangsal. Das letzte Wort in der Botschaft von der unmittelbaren Reichsnähe an den Täufer lautet: »Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.« Die Menge, mit welcher er das Abendmahl am See gefeiert hat, beschwört er am Morgen zu Bethsaida, bei ihm auszuharren, auch wenn er ein Gegenstand der Verachtung und des Spotts in der sündigen Welt sein wird: ihre Seligkeit hängt davon ab.
Diese Drangsal bedeutet zugleich mit der Bewährung auch noch eine Sühne. Sie ist im messianischen Drama vorgesehen, weil Gott von den Reichsgenossen eine Sühne für ihre Vergehungen in diesem Aeon verlangt. Aber er ist allmächtig. In dieser Allmacht bestimmt er über die Zugehörigkeit zum Reich, über die Stelle, die einer darin einnimmt, ohne an irgend welche Bestimmung gebunden zu sein. So ist auch die Notwendigkeit der Enddrangsal im Hinblick auf seine Allmacht nur relativ. Er kann sie den Menschen erlassen.
Darauf beziehen sich die drei letzten Bitten des Vaterunsers. Nachdem Gott angefleht worden, er möge das Reich senden, dass sein Name geheiligt werde und sein Wille auf Erden geschehe, wie im Himmel, dürfen die Menschen ihn bitten, ihnen die Vergehungen zu verzeihen und die »Versuchung« zu ersparen, indem er sie der Gewalt des Bösen direkt entreisst.
Dies war der Inhalt von Jesu Verkündigung in der ersten Periode. Er hielt sich während derselben am nördlichen Ufer des Sees auf. Chorazin, Bethsaida und Kapernaum waren die Hauptstätten seiner Wirksamkeit. Von dort unternahm er über den See hin einen Zug in das Gebiet der zehn Städte und eine Reise nach Nazareth.
Gerade in den Städten seiner Hauptwirksamkeit stiess er auf Unglauben. Der Fluch, den er über sie aussprechen muss, bezeugt es. Zudem waren ihm die Pharisäer aufsässig und suchten ihn gerade wegen seiner Wunder beim Volk zu diskreditieren. In Nazareth erfuhr er, dass ein Prophet nichts gilt in seinem Vaterlande.
So war die galiläische Periode nichts weniger als eine glückliche. Diese äusseren Misserfolge bedeuteten aber nichts für das Kommen des Reiches. Die ungläubigen Städte richteten nur sich selbst. Um die Nähe des Reiches zu ermessen, hatte Jesus andere, [S. 102] geheimnisvolle Anzeichen. An diesen erkannte er, dass die Zeit da war. Darum sandte er seine Jünger aus, gerade auf dem Rückweg von Nazareth — denn es war Erntezeit.
Durch ihre Predigt und durch ihre Zeichen drang die Kunde von seiner machtvollen Persönlichkeit überall hin. Jetzt beginnt die Zeit der Erfolge! Johannes im Gefängnis hörte davon und sandte seine Jünger, sie sollten ihn fragen, ob er derjenige sei, »welcher kommen sollte«, denn aus den Wundern schloss er, dass die Zeit des machtvollen Vorläufers, den er verkündigt hatte, da sei.
Jesus that Zeichen, seine Jünger hatten Macht über die Geister. Wenn er vom Gericht sprach, betonte er, dass der Menschensohn mit ihm solidarisch wäre und nur den anerkännte, der zu ihm, Jesus, gestanden hätte. Das Volk hielt deshalb dafür, er könne der sein, nach dem man ausschaute, und der gefangene Täufer wollte darüber Gewissheit haben.
Jesus kann ihm nicht sagen, wer er ist. »Die Zeit ist sehr vorgeschritten« — das ist der Inhalt seines Bescheids. Nachdem die Gesandten fort sind, wendet er sich an das Volk und deutet in geheimnisvoller Rede darauf hin, dass die Stunde schon weiter vorgerückt sei, als jener in seiner Frage ahnte. Die Vorläuferzeit hat mit dem Auftreten des Täufers selbst angefangen. Seither wird das Gottesreich gewaltsam herbeigenötigt. Der Frager selbst ist der Elias, wenn sie es begreifen mögen.
Die Menschen vermochten es nicht zu fassen, dass der Gefangene der Elias war. Sie verstanden die Zeit nicht, als er mit seiner Predigt auftrat. Das liegt aber nicht allein daran, dass jener keine Wunder that, sondern an der Verstocktheit ihrer Herzen. Unvernünftige Kinder sind sie, die nicht wissen, was sie wollen. Jetzt ist einer da, der Zeichen thut — aber auch dem glauben sie die Nähe des Reiches nicht. So schliesst der Fluch über Chorazin und Bethsaida die »Würdigungsrede über den Täufer« ab.
Die Entsendung der Jünger war die letzte That zur Herbeiführung des Reiches. Als sie daher zurückkommen, ihm ihren Erfolg künden und berichten, wie sie Gewalt über die bösen Geister hatten, heisst das für ihn: es ist alles bereit. So erwartet er jetzt den Reichsanbruch für die unmittelbarste Zukunft, nachdem es ihm schon fraglich gewesen war, ob die Jünger [S. 103] vor diesem Ereignis zu ihm zurückkehren würden. Er hatte ihnen ja gesagt, dass die Erscheinung des Menschensohnes sie ereilen würde, ehe sie mit den Städten Israels zu Ende wären.
Sein Werk ist gethan. Nun verlangt es ihn, sich zu sammeln und mit den Seinen allein zu sein. Sie besteigen ein Schiff und fahren längs des Strandes nach Norden zu. Die Menge aber, welche sich auf die Predigt der Jünger hin um ihn gesammelt hatte, um mit ihm das Reich zu erwarten, folgt ihnen am Ufer nach und überrascht sie am einsamen Strand, wo sie gelandet.
Als es Abend geworden, wollten die Jünger, dass er das Volk entlasse, damit sie in den umliegenden Flecken Speise zu sich nähmen. Für ihn ist aber die Stunde zu heilig, um durch ein irdisches Mahl entweiht zu werden. Bevor er sie daher entlässt, heisst er sie sich lagern und hält mit ihnen eine Vorfeier des messianischen Mahles. Er, der künftige Messias, teilt der Gemeinschaft, welche um ihn versammelt ist, um die Ankunft des Reiches zu erwarten, feierlich Speise aus, indem er sie damit geheimnisvoll zur Teilnahme an der nahen Vollendungsfeier weiht. Da sie sein Geheimnis nicht wussten, verstanden sie sein Handeln nicht, ebensowenig wie die Jünger. Sie begriffen nur, dass es etwas gewaltig Ernstes bedeutete und machten sich ihre Gedanken darüber.
Darauf entliess er sie. Den Jüngern befahl er an den Strand von Bethsaida zu fahren. Er selbst zog sich auf den Berg zum Gebet zurück und folgte dann längs des Strandes zu Fuss. Als ihnen seine Gestalt im Dunkel der Nacht erschien, da glaubten sie, unter dem Eindruck der Feier, wo er in geheimnisvoller Hoheit vor ihnen stand, seine überirdische Erscheinung nahe sich auf den bewegten Wogen, gegen die sie zur Landung ankämpften.
Am Morgen nach dem Abendmahl am See sammelt er Volk und Jünger um sich zu Bethsaida und vermahnt sie, bei ihm auszuharren und ihn nicht zu verleugnen in der Erniedrigung.
Sechs Tage später geht er mit den drei Intimen auf den Berg, wo er einsam gebetet hatte. Dort wird er ihnen als der Messias geoffenbart. Auf dem Heimweg verbietet er ihnen, etwas davon zu sagen, bis er bei der Auferstehung in der Glorie des Menschensohns offenbart würde. Sie aber vermissen noch die Erscheinung des Elias, der doch kommen müsse, bevor die Totenauferstehung statt habe. Bei der Würdigungsrede über den Täufer, [S. 104] wo die geheimnisvolle Andeutung fiel, waren sie ja nicht zugegen gewesen. Ihnen muss er daher jetzt klar machen, dass der Enthauptete der Elias war. An seinem Schicksal dürfen sie keinen Anstoss nehmen, denn also war es bestimmt. Auch der, welcher Menschensohn sein wird, muss viel leiden und verspottet werden. So will es die Schrift.
Das Reich, welches Jesus in unmittelbarer Nähe erwartete, blieb aus. Für die evangelische Geschichtsüberlieferung war diese erste eschatologische Verzögerung insofern verhängnisvoll, als nun alle Vorgänge um die Aussendung herum unverständlich wurden, weil das Bewusstsein verloren ging, dass die intensivste eschatologische Erwartung damals Jesus und seine Umgebung beseelte. Darum ist gerade diese Zeit in den Berichten verwirrt und dunkel, besonders da einzelne Vorgänge auch den damaligen Teilnehmern rätselhaft blieben. So wurde in der Ueberlieferung das Kultmahl am See zur »wunderbaren Speisung« in einem ganz andern Sinn, als es Jesus gemeint hatte.
Auch die Motive seines Verschwindens werden damit unverständlich. Es scheint sich um eine »Flucht« zu handeln, während andererseits die Berichte in keiner Weise andeuten, wie es so weit gekommen. In der Einsicht in die beiden sich entsprechenden Höhepunkte der eschatologischen Erwartung liegt der Schlüssel zum historischen Verständnis des Lebens Jesu. Während den jerusalemitischen Tagen kehrt wieder, was in den Tagen zu Bethsaida schon einmal dagewesen. Ohne diese Annahme klafft zwischen der Aussendung und dem Zug nach Jerusalem eine Lücke in der evangelischen Ueberlieferung. Die Geschichtsschreibung sieht sich gezwungen, eine Periode des galiläischen Niedergangs zu erfinden, um den Zusammenhang der berichteten Thatsachen herzustellen, als fehlte hier ein Stück in unseren Evangelien. Das ist der schwache Punkt aller »Leben Jesu«.
Mit der Rückkehr in die Landschaft Genezareth entzieht sich Jesus den Pharisäern und dem Volk, um mit seinen Jüngern allein zu sein, wie es schon seit ihrer Rückkehr von der Missionswanderung sein vergebliches Bestreben war. Es ist unumgänglich nötig, denn er muss über zwei messianische Thatsachen ins Klare kommen.
Warum ist der Täufer von seiner Obrigkeit hingerichtet worden, ehe die messianische Zeit angebrochen?
Warum bleibt das Reich aus, da doch die Anzeichen seines Einbrechens da sind?
In der Schrift geht ihm das Geheimnis auf: Gott führt das Reich herauf ohne allgemeine Enddrangsal. Derjenige, den er zur Herrschaft in Herrlichkeit bestimmt hat, vollzieht sie an sich, indem er als ein Uebelthäter gerichtet und verurteilt wird. Dafür gehen die andern frei aus: er leistet die Sühne für sie. Mögen sie immerhin glauben, Gott strafe ihn, mögen sie an dem, welcher ihnen die Gerechtigkeit gepredigt, irre werden, — wenn nach seinem Leiden die Herrlichkeit anbricht, dann werden sie sehen, dass er für sie gelitten.
So las Jesus im Propheten Jesaia, was Gott über ihn, den Auserwählten, bestimmt hatte. Das Ende des Täufers zeigte ihm an, in welcher Form ihm diese Verurteilung beschieden war: er sollte von seiner Obrigkeit vor allem Volk als ein Missethäter zu Tode gebracht werden. Dazu musste er hinaufziehen nach Jerusalem für die Zeit, da ganz Israel sich dort versammelte.
Als daher die Zeit zur Osterreise kam, brach er mit seinen Jüngern auf. Ehe sie von dannen zogen, fragte er sie, für wen er bei den Leuten gelte. Sie wussten nur zu antworten, dass man ihn für den Elias halte. Petrus aber, in der Erinnerung an die Offenbarung auf dem Berg bei Bethsaida, sagt: du bist der Gottessohn. Daraufhin thut ihnen Jesus sein Geheimnis kund. Gewiss, er ist der, welcher als Menschensohn bei der Auferstehung geoffenbart werden wird. Vorher aber ist ihm bestimmt, den Hohenpriestern und Aeltesten zur Verurteilung und zum Tod überantwortet zu werden. Gott will es also. Darum ziehen sie nach Jerusalem.
Petrus hält sich über diese neue Eröffnung auf, denn in der Offenbarung auf dem Berg war nicht die Rede davon gewesen. Er nimmt Jesum bei Seite und dringt heftig auf ihn ein. Darauf wird er von ihm hart zurechtgewiesen, dass er menschliche Erwägungen laut werden lässt, wo Gott redet.
Diese Reise nach Jerusalem war der Todeszug zum Siege. In dem Leidensgeheimnis lag das Geheimnis des Reiches Gottes geborgen. Sie zogen hinter ihm her und wussten nur, dass er nachher, wenn ihm also geschehen wäre, Messias sein würde. Es bangte ihnen vor dem, was kommen sollte; sie verstanden nicht, warum es also sein musste, und scheuten sich, ihn zu fragen. Vor [S. 106] allem gingen aber ihre Gedanken auf den Zustand im nahen Reich. Wenn er einmal Messias war, was würden dann sie sein? das beschäftigte ihren Sinn und davon redeten sie untereinander. Er aber wies sie zurecht und deutete ihnen an, warum er leiden müsse. Nur durch Erniedrigung und dienende Dahingabe wird man bereitet, im Gottesreich zu herrschen. Darum muss der, welcher als Menschensohn die Herrschaft im Reich ausüben wird, jetzt für die vielen mit seinem Leben in dienender Hingabe eine Sühne leisten.
Mit dem Betreten des jüdischen Gebiets beginnt die zweite öffentliche Periode. Er ist wieder vom Volk umgeben. In Jericho wartet die Menge auf ihn, um ihn beim Durchzug zu sehen. Durch die Heilung eines blinden Bettlers, des Sohnes des Timäus, erweist er sich ihnen als der grosse Vorläufer, für den man ihn schon in Galiläa gehalten hatte. Die jubelnde Menge bereitet ihm einen feierlichen Einzug. Als dem, welcher der Weissagung zufolge vor dem Messias herkommt, singen sie ihm Hosianna. Dem Reich aber, welches in Bälde erscheinen wird, gilt das Hosianna in der Höh'. Damit ist wieder die Situation der grossen Tage am Seestrand erreicht: Jesus wird von der reichsgläubigen Menge umdrängt.
Die Belehrung, welche die jerusalemitischen Gleichnisse enthalten, bezieht sich auf die Nähe des Reiches. Es sind Warnrufe, die zugleich eine Drohung für die enthalten, welche sich gegen die Kunde verstocken. Nicht die Frage: ist er der Messias? ist er es nicht? bewegte die Geister, sondern: ist das Reich so nah, wie er sagt, oder nicht?
Die Pharisäer und Schriftgelehrten wussten nicht, welche Stunde es geschlagen hatte. Sie zeigten eine gänzliche Unempfindlichkeit für die Nähe des Reichs, denn sonst hätten sie ihm nicht Fragen zur Beantwortung vorgelegt, die gerade durch die vorgeschrittene Zeit gegenstandslos geworden waren. Was kommt denn noch auf den Kaiserzins an? Was sollen die spitzfindigen sadducäischen Argumente gegen die Möglichkeit der Totenauferstehung? Bald ist ja mit dem Reichsanbruch die irdische Herrschaft gerade so gut wie die irdische Menschennatur abgethan!
Ja, wenn sie die Zeichen der Zeit verständen! Er gibt ihnen zwei Fragen auf, die sie zum Nachdenken bringen sollen, damit sie es merken, dass sie in der Zeit eines grossen Geheimnisses [S. 107] stehen, von dem sich ihre Schriftgelehrsamkeit nicht träumen lässt.
In welcher Vollmacht wirkte der Täufer? Wenn sie es wüssten, dass er der Vorläufer war, wie es Jesus schon dem Volk gegenüber geheimnisvoll angedeutet hatte, dann wüssten sie auch, dass die Stunde des Reiches geschlagen hat.
Wie ist der Messias bald Davids Sohn, also unter ihm, bald Davids Herr, also über ihm? Wenn sie das erklären könnten, dann verständen sie auch, dass der, welcher niedrig und unerkannt auf das Reich Gottes hinwirkt, als Herr und Messias geoffenbart werden wird.
So aber ahnen sie nicht einmal, dass die messianischen Hinweise Geheimnisse bergen. Mit ihrer Gelehrsamkeit sind sie blinde Blindenleiter, die das Volk, statt es für das Reich empfänglich zu machen, verstocken und statt die neue Sittlichkeit, welche zum Reich gerecht macht, aus dem Gesetz herauszulesen, in kleinlicher Veräusserlichung ihr entgegenarbeiten und das Volk mit sich ins Verderben ziehen. Darum: Wehe den Pharisäern und Schriftgelehrten!
Zwar auch unter ihnen gibt es noch solche, welche ein offenes Auge behalten haben. Derjenige, welcher ihn nach dem grossen Gebot gefragt hat und seiner Antwort zustimmt, der ist »verständig« und deshalb »nicht fern vom Reich Gottes«, denn er gehört dazu, wenn es erscheint.
Die Masse aber der Pharisäer und Schriftgelehrten versteht ihn so wenig, dass sie seinen Tod beschliessen. Auf Jesu Auftreten hin brachten sie keine wirksame Anklage fertig. Ein respektloses Wort über den Tempel: das war alles. Da verriet ihnen Judas das Geheimnis. Jetzt war er verurteilt.
In der Nähe des Todes richtet sich Jesus zu derselben sieghaften Grösse auf, wie in den Tagen am Seestrand: denn mit dem Tod kommt das Reich. Damals hatte er mit den Gläubigen die Vorfeier des messianischen Mahles gehalten; so erhebt er sich jetzt am Ende der letzten irdischen Mahlzeit und teilt den Jüngern feierlich Speise und Trank aus, indem er sie mit erhobener Stimme, nachdem der Becher zu ihm zurückgekehrt ist, darauf hinweist, dass dieses das letzte irdische Mahl gewesen ist, weil sie in Bälde zum Mahl in des Vaters Reich vereinigt sein werden. Zwei entsprechende Gleichnisworte deuten das Leidensgeheimnis an. Für ihn sind Brot und Wein, die er ihnen bei der [S. 108] Vorfeier darreicht, sein Leib und sein Blut, weil er durch die Hingabe in den Tod das messianische Mahl heraufführt. Das Gleichniswort blieb den Jüngern dunkel. Es war auch nicht auf sie berechnet, es sollte ihnen nichts verdeutlichen — denn es war ein Geheimnisgleichnis.
Wie nach dem Abendmahl am See, sucht er auch jetzt, da die grosse Stunde naht, die Einsamkeit auf, um zu beten. Er trägt die Drangsal für die andern. Darum darf er den Jüngern voraussagen, dass sie in der Nacht sich alle an ihm ärgern werden — und er braucht sie nicht zu verdammen, denn die Schrift hat es so bestimmt. Welch unendlicher Friede liegt in diesem Wort! Ja, er tröstet sie: nach der Auferstehung will er sie um sich sammeln und ihnen in messianischer Herrlichkeit vorausziehen nach Galiläa, die Strasse zurück, auf welcher sie ihm im Todesgang gefolgt sind.
Noch steht es aber in Gottes Allmacht, die Drangsal auch für ihn auszuschalten. Darum, wie er einst mit den Gläubigen gebetet »und führe uns nicht in die Versuchung«, so bittet er jetzt für sich, Gott in seiner Allmacht möge den Leidenskelch an seinen Lippen vorübergehen lassen. Zwar, wenn es Gottes Wille ist, fühlt er sich stark genug, ihn zu trinken. Nur für die Intimen bangt ihm. Die Zebedaiden haben sich vermessen, um die Thronplätze zu erlangen, den Leidensbecher mit ihm zu trinken und die Leidenstaufe mit ihm zu empfangen. Petrus verschwor sich, bei ihm auszuhalten, auch wenn er mit ihm sterben müsste. Er weiss nicht, wie Gott über sie bestimmt hat, ob er ihnen auferlegen wird, was sie auf sich nehmen wollten. Darum heisst er sie in seiner Nähe bleiben. Und während er Gott für sich anfleht, gedenkt er ihrer und weckt sie zu zweien Malen, dass sie wach bleiben und Gott anflehen, er möge sie nicht durch »die Versuchung« hindurchführen.
Beim drittenmal war die Schar mit dem Verräter nahe. Die Stunde ist gekommen: darum richtet er sich in seiner ganzen hoheitsvollen Grösse auf. Er ist allein, die Seinen fliehen.
Das Zeugenverhör ist nur ein Scheinverhör. Nachdem sie abgetreten, stellt der Hohepriester unvermittelt die Frage wegen der Messianität. »Ich bin's«, sagt Jesus, indem er sie auf die Stunde verweist, wo er als Menschensohn auf den Wolken des Himmels, umgeben von den Engeln, erscheinen [S. 109] wird. Darum wurde er wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilt.
Am 14. Nisan Nachmittags, da man abends das Passahlamm ass, schrie er laut auf und verschied.
Nachwort.
Die Urteile über diese realistische Darstellung des Lebens Jesu können sehr verschieden sein, je nach dem dogmatischen, historischen oder litterarischen Standort der Kritik. Nur den Zweck des Buches mögen sie nicht antasten: der modernen Zeit und der modernen Dogmatik die Gestalt Jesu in ihrer überwältigenden heroischen Grösse vor die Seele zu führen.
Das Heroische geht unserer Weltanschauung, unserem Christentum und unserer Auffassung der Person Jesu ab. Darum hat man ihn vermenschlicht und erniedrigt. Renan hat ihn zur sentimentalen Figur entweiht, feige Geister wie Schopenhauer wagten es, sich auf ihn zu berufen für ihre entnervende Weltanschauung, und unsere Zeit hat ihn modernisiert, indem sie sein Werden und seine Entwicklung psychologisch zu begreifen gedachte.
Wir müssen dazu zurückkehren, das Heroische in Jesu wieder zu empfinden, wir müssen vor dieser geheimnisvollen Persönlichkeit, die in der Form ihrer Zeit weiss, dass sie auf Grund ihres Wirkens und Sterbens eine sittliche Welt schafft, welche ihren Namen trägt, in den Staub gezwungen werden, ohne es auch nur zu wagen, ihr Wesen verstehen zu wollen: dann erst kann das Heroische in unserem Christentum und in unserer Weltanschauung wieder lebendig werden.
Hellenica World Literatur, Deutsch